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Matt Kearns hat zwei Möglichkeiten: kämpfen oder verstecken. Die Kreatur im alten Obstgarten wird den Rest übernehmen. Drei Tage zuvor kam er an seinem Lieblingsplatz dieser Welt an, einer kleinen Hütte auf Michigans oberer Halbinsel. Der Plan war, den Tod seines Vaters zu betrauern und herauszufinden, was sein eigenes Leben für ihn bereithielt. Nun kämpft er für dieses Leben. Ein unsichtbares Wesen hält ihn gefangen. Jedes Mal, wenn Matt zu fliehen versucht, wird er von einer unsichtbaren Kraft zurückgezogen. Allein und ohne Hoffnung auf Rettung, muss Matt den Fängen dieses Jägers entkommen. Aber wie soll man sich von etwas befreien, das man nicht sehen kann? -------------------------------------------------------- "Sehr gut. Ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen..." [Lesermeinung] "Die Geschichte ist ungewöhnlich … schaurig spannend, die Stimmung bedrückend." [Lesermeinung] "Ich bin bin heilfroh das ich es gekauft habe. Das Buch ist wirklich spitze" [Lesermeinung]
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Seitenzahl: 447
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This Translation is published by arrangement with Michael Hodges Title: THE PULLER. All rights reserved.
überarbeitete Ausgabe Originaltitel: THE PULLER Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert Übersetzung: Andreas Schiffmann
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-635-1
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Für Sarah und diejenigen unter uns, die mitfühlen können.
Die Pausenglocke läutete und erschreckte Matt Kearns mit ihrem kalten metallischen Geklirr. Er klappte sein Biologiebuch zu und eilte aus dem Klassenzimmer. Während die letzten Sekunden des schrillen Lärms auf dem Flur nachhallten, spürte er, dass etwas nicht stimmte. Er konnte es an nichts Konkretem festmachen, sondern wusste es einfach.
Die große Glasdoppeltür am Ende des Flurs lockte ihn, weil sie aus dem Betongrab führte, das sich Walnut Grove High nannte. Als er sie mit einem Fuß aufstieß, fiel Sonnenlicht auf seine Haut. Endlich.
»Hi, Matt«, grüßte Amber Lynne. Sie lehnte an der Ziegelsteinmauer und kaute Bubblicious mit Wassermelonengeschmack; das roch er von dort aus, wo er stand.
»Hey«, erwiderte er.
»Hast du was von dem Riesenstress drüben auf dem Sportplatz mitgekriegt?«, fragte sie, bevor sie eine Blase machte.
Plopp!
»Viel Geschrei«, fuhr sie fort. »Die Jungs streiten sich wohl. Du weißt ja, wie deinesgleichen so ist.« Amber verdrehte ihre Augen.
Matt bückte sich, um den Aufschlag seiner Jeans von der Lasche seines rechten Stiefels zu ziehen, wozu er sein Biobuch an die Wand lehnte. Während er zum Sportplatz hinüberlief, versammelte sich eine kleine Menschenmenge auf dem gemähten Rasen, größtenteils Lacrossespieler in voller Montur. Viele von ihnen erhoben ihre Stimmen. Als er die Gruppe erreichte, drängelte sich Matt in die Mitte.
»Mach das Mistvieh fertig!«, rief Abe Johnson.
»Haha, er weiß nicht, was er machen soll!«, belustigte sich eine andere männliche Stimme. Dann stimmte Betsy Armstrong mit ein, deren angsterfüllte Stimme unangenehm wie immer klang: »Pass auf seine Zähne auf! Er hat ja so viele!«
Während sich Matt nach vorn kämpfte, jaulte und wimmerte etwas in der Mitte des Pulks: ein trauriger, flehentlicher Laut, der ihn umgehend tiefer ins Geschehen zog. Als er den inneren Kreis erreichte, stand dort Mike Armstrong im Lacrossetrikot mit allem Zubehör und drückte etwas mit seinem Schläger zu Boden. Matt stellte sich neben ihn und schaute am Schaft hinunter zum Netz.
Ein Kojote.
Ein großer Kojote mit einem schönen, dichten Fell.
Mike Armstrong stützte sich mit vollem Gewicht – satte 220 Pfund – auf den Schläger und hielt das Tier so von der Flucht ab. Als es versuchte, seinen Kopf herauszuziehen, versetzte Mike dem Schläger einen kräftigen Ruck, bis der verstörte Kojote nachgab. Matt beschlich das unsägliche Gefühl, der Blödmann habe seine helle Freude.
Der Kojote jaulte und knurrte, während sein Brustkorb bebte. Seine bronzefarbenen Augen blickten düster durch die Netzmaschen – ein anmutiger Gefangener, der einen verheerenden Fehler begangen hatte. Alle paar Sekunden bleckte das Tier seine Zähne, wobei seine Oberlefze zitterte.
Matt fasste die Menge ins Auge, rote und verzogene Gesichter, aus deren Mündern Speichel spritzte, während sie johlten. Etwas überkam ihn, ein unerklärlicher Druck. Das irre Gegröle trat in den Hintergrund, die Farben der Gesichter und Kleider verblassten zu Schwarz-Weiß. Das Gras blutete dunkles Rot, der Himmel setzte sich in Grau ab. Mike Armstrong erschien in Schwarz-Weiß, sodass die Glaskörper seiner Augen hell hervorstachen. Alles, außer der Kojote, hatte die Farbe gewechselt. Sein sandbraunes Fell schillerte in der Sonne, seine Zunge leuchtete hellrosa. Dann nahm Matt alles in Zeitlupe wahr – das Kläffen, die ausgestreckten Arme, das Geschrei.
Ein zweiter Schüler mit Lacrosseausrüstung trat aus der Menge hervor: Ben Jacobsen, das Sport-Ass von Walnut Grove und ein ausgemachtes Hohlbrot. Er stürzte auf das Tier zu, während er weit mit dem Schläger über seinem Kopf ausholte. Vergiss es, dachte Matt. Er stieß ihn zur Seite, doch Ben behielt seinen Schwung und drosch auf den Schädel des Kojoten.
»Gib ihm Saures!«, bellte irgendein Kerl. »Schaff dieses Ungeziefer von unserem Platz!«
Matt erholte sich von seinem missglückten Angriff und riss Ben den Lacrosseschläger aus der Hand.
Einen Moment lang stand der Junge da und beäugte Matt ungläubig. »Was glaubst du, was du hier tust, Mann?«, fragte er, während er einen Arm zurückzog, um ihn zu boxen. Matt wich aus, indem er sich duckte, und schlug mit dem Schaft quer über Bens Knie, die dabei ekelhaft knirschten. Er brach zusammen, hielt sich die Beine und brüllte. Sein Gezeter vereinte sich mit dem Jaulen und Knurren des Kojoten. Glänzendes Blut verklebte nun dessen Kopffell.
Mike fuhr ungerührt damit fort, den Schädel des Tiers niederzudrücken. Es trat mit den Hinterläufen aus, warf Gras und Erde hoch.
Matt fuhr herum und ließ Bens Schläger auf Mikes Kopf krachen, was von einem hohlen Klonk begleitet wurde. Nachdem Mike kurz um sein Gleichgewicht gerungen hatte, hob er seinen eigenen Schläger hoch und schwang ihn hinter sich, wobei er Matt auf der Schulter traf und beiseite stieß.
Die Mienen im Rund verloren ihren kaltherzigen Ausdruck selbstgefälliger Überlegenheit und entglitten in Bestürztheit.
»Knöpf ihn die vor, Mike! Er hat es gewagt, dich zu schlagen«, empörte sich Betsy Armstrong.
Da er ihretwegen glaubte, eine Chance zu erkennen, holte Mike abermals weit aus und traf Matt genau am Kiefer. Die Umgebung verschwamm und drehte sich, während Matts Ohren klingelten, doch dann richtete sich alles wieder.
»Das hättest du besser bleiben lassen«, brüllte Mike mit starrem Blick, während er mit hoch über seinem puterroten Gesicht erhobenem Schläger zu einem weiteren Hieb ausholte. Sein siegesgewisser, wutschnaubender Blick nahm jedoch fassungslose Züge an, die schließlich mit einem Schrei entglitten, der jedes Hollywoodsternchen stolz gemacht hätte.
Vom Boden nämlich grollte es nun erbittert, und zwar immer vehementer, einhergehend mit einem Geräusch wie von Fleisch, das zerriss. Der Kojote hatte sich aus dem Lacrossenetz befreit und verbiss sich in Mikes Knöchel, durchtrennte eine Sehne wie eine Schere einen Faden. Während das Tier Rache an dem angeschlagenen Spieler übte, fielen Matt dessen Augen auf, die zwar vor Zorn schwelten, aber auch eine gewisse Weisheit vermittelten, womit er nie gerechnet hätte. Schnauze und Fell waren mit Blut besudelt, doch ob es sich um sein eigenes Blut oder das von Mike Armstrong handelte, konnte Matt nicht sagen.
Der Sportler wandte sich von ihm ab, um sich von dem Kojoten zu befreien, brach aber zusammen, als er sein Gewicht auf den Fuß mit der gerissenen Sehne verlagerte. Während er am Boden brüllte, blieb das blutige Gelenk erschlafft liegen. Als sich Mike an die Wunde fassen wollte, schnappte das Tier nach seiner Hand. Als er sie zurückzog, hatte er nur noch drei Finger.
Unverständlich fluchend kroch Ben Jacobsen zu dem Kojoten und schlug ihm seinen Schläger einhändig auf den Schädel. Der Vierbeiner wich heulend zurück und schüttelte seinen blutüberströmten Kopf, sodass die Gesichter der Zuschauer dunkelrote Spritzer abbekamen. Dann glotzte er Matt an, hob seine Schnauze und nieste zweimal. Schließlich humpelte er zu der Baumreihe am Rand des Sportplatzes.
Die Schüler hinter Matt wurden still, bis man nur noch Mike Armstrongs wehleidiges Wimmern und Ben Jacobsens tränenersticktes Schluchzen hörte.
Als Matt den Lacrosseschläger losließ, polterte das Holz auf den Boden wie ein Knochen beim Ausbeinen eines Walkadavers.
Mike schaute düster zu ihm auf, die Lippen angeschwollen und schmierig. »Arschloch!«
Dann rückte ihm Betsy Armstrong auf die Pelle und wackelte mit einem Zeigefinger vor seinem Gesicht. Sie roch nach Wäschestärke und Schminke. »Ich rufe die Polizei«, drohte sie. »Du hast kein Recht, Sportler anzugreifen.« Sie lief zu Mike hinüber, besah seine Fingerstümpfe und schrie: »Dafür wirst du büßen! Sieh dir seine Hand an! Er wird nicht mehr spielen können! Sieh sie dir an!«
Matt blendete Betsy aus und schaute zur Südseite des Platzes hinunter. Dort saß der Kojote vor den Bäumen und beobachtete Matt mit heraushängender Zunge. Dann schlich er ins Grün, wo sein buschiger Schwanz über den Gräsern pendelte, bis er verschwunden war.
Matt ging davon aus, dass das Tier keine bleibenden Schäden davongetragen hatte, sondern nur die eine oder andere Beule am Kopf. Während er sich selbst humpelnd von der perplexen Menge entfernte, blendete die Welt langsam wieder von Schwarz-Weiß auf Farbe über. Verkehrsgeräusche strömten auf ihn ein wie kühle Wellen.
***
Wie sich herausstellte, hatte sich Ben Jacobsen ein Bein gebrochen und ein Knie verstaucht. Seine Karriere als Highschoolsportler stand auf der Kippe. Mike Armstrongs Finger wurden nie gefunden. Matt nahm an, dass der Kojote sie gefressen, sie wie Chicken McNuggets aus dem Rasensalat des Sportplatzes gepickt hatte. Mike musste sich wegen der Sehne operieren lassen und auf eine langwierige Heilung einstellen.
Als Matt das alles erfuhr, wurde er dennoch nicht reumütig. Sie hatten Unrecht getan, und er war eingeschritten, um das Richtige zu tun. Sein Vater hatte ihm oft gesagt, das Letzteres viel schwieriger sei.
Und sein Vater sollte recht behalten.
Matt machte sich eher Gedanken wegen eines Trappers, den die Stadt angeheuert hatte. Der Kojote sollte eingeschläfert werden – eine feige Beschönigung von umgebracht, vermutlich per Kopfschuss mit einem Kleinkaliber. Er fragte sich, woher man wissen wollte, welcher Kojote es war. Am Ende würden sie mehrere töten, um den einen zu finden.
Die Polizei hatte ihn zu Hause aufgesucht und verhört, aber niemand erstattete Strafanzeige. Laut Aussage einiger Schüler war Matt zuerst angegriffen worden, was ihn jeglicher Schuldigkeit enthob. Auf Walnut Grove High sah man das anders; Matts Eltern wurden vom Schulrat zu einer außerordentlichen Anhörung einberufen.
Rektor Anderson war ein kleiner Mann mit einer Vorliebe für Dreiteiler. Er hatte eine Glatze und trug deshalb ein Toupet. Seine dicken Wangen erinnerten an jene von Streifenhörnchen, wenn sie Körner sammelten. »Du bist immer ein guter Schüler gewesen, Matt – kein Einserkandidat, aber dennoch gut. Wir haben alle Aussichten für dich hier auf Walnut Grove in Betracht gezogen, gelangen aber zu dem Schluss, dass es am besten für dich ist, die Schule zu wechseln.« Nachdem er dies gesagt hatte, leckte er an seinem Daumen und Zeigefinger, um die Seiten der Schülerakte umzublättern.
Matt lehnte sich in seinem Stuhl zurück, während er seine Wanderstiefel, die Absätze und Spitzen, aneinander rieb.
»Und ein vorübergehender Ausschluss vom Unterricht?«, flehte Mrs. Kearns, die ein zerknülltes, von Tränen feuchtes Papiertaschentuch in ihrer kleinen Faust hielt. »Unser Sohn wurde angegriffen.« Sie war eine Frau von zurückhaltender Schönheit, und ihre Bitte ließ Rektor Anderson nicht unberührt.
Allerdings war er nicht in der Stimmung, sich überreden zu lassen. »Uns wurde mitgeteilt, Ben Anderson und Mike Armstrong würden gemeinsam Klage einreichen, sollte Matt nicht der Schule verwiesen werden«, erklärte er.
Mrs. Kearns runzelte ihre Stirn. »Na und? Das können sie nicht tun, nicht wahr, John?«, fragte sie, indem sie ihren Mann mit feuchten Augen anschaute.
Matts Vater nickte. Big John, so nannten sie ihn. In dieser Situation war er aber nicht ›big‹ genug, um irgendetwas zu unternehmen. »Doch, können sie, aber wir können Einspruch dagegen erheben«, erwiderte er. »Die Sache ist noch nicht vorbei.«
Rektor Anderson seufzte. »Ich fürchte, das ist sie wohl, Mr. Kearns. Wir haben alle denkbaren Optionen ausgeschöpft.«
Matt verfolgte das alles mit, ohne den Mund zuzubekommen, enttäuscht angesichts der Tatsache, dass Rechtschaffenheit zu einem Verweis führte. Er bedachte den Rektor mit einem stechenden Blick und zeigte mit einem Finger auf den Tisch. »Sie wollen mir weismachen, ich muss die Schule verlassen, weil ich mich selbst und ein hilfloses Tier verteidigt habe? Ich war in Gefahr, Mr. Anderson – und habe die Würde der Schule bewahrt, indem ich etwas gegen geistesgestörtes Verhalten unternahm. Bitte, ich tue alles, um das wiedergutzumachen.«
»Tut mir leid«, entgegnete Rektor Anderson und richtete seine aufgeweckten Augen von Matt zu dessen Vater. »Ihnen ist doch bewusst, dass Bens Eltern beide in der Strafverteidigung tätig sind, oder? Die Schule möchte einen langwierigen Rechtsstreit vermeiden, und Sie, glaube ich, ebenso.« Er richtete sich in seinem Ledersessel auf, zufrieden mit der Spitze, die er gerade abgefeuert hatte.
Nachdem es totenstill im Raum geworden war, standen die Kearns auf. Matts Mutter legte ihrem Sohn sanft eine Hand auf die Schulter und flüsterte: »Komm jetzt, Matthew, es ist Zeit zu gehen.«
Dies war das Ende von Matt Kearns Laufbahn auf der Walnut Grove High. Er suchte sich eine Schule mit Schwerpunkt Computertechnik, um sein viertes Highschooljahr hinter sich zu bringen. Die Kurse absolvierte er mit links und erhielt sein Abschlussdiplom im Juni.
Zwei Wochen später berichteten ein paar Ortsansässige, gesehen zu haben, wie der Trapper aus der Gegend verschwunden sei, und auf der Ladefläche seines Pick-ups hätten leere Käfige gerappelt.
Matt Kearns starrte durch die Windschutzscheibe hinaus, wo die Scheinwerfer des Wagens der Dunkelheit Michigans trotzten. Motten und Fliegen schwirrten an der schrägen Böschung entlang in den Lichtkegeln. Er öffnete das Türfenster einen Spaltbreit und atmete tief ein. Ströme frischer Luft kräuselten die Ecken dreier Fotos, die mit Klebeband an seinem Armaturenbrett befestigt waren. Die grün glimmenden Anzeigen beleuchteten die Bilder, als seien es Museumsstücke. Das erste zeigte seinen Vater und ihn jeweils beim Einholen eines gerade gefangenen Bachsaiblings, das zweite seine frühere Freundin Stacey und das dritte seinen Hund von damals, als er noch ein kleiner Junge gewesen war: Elmo.
Keiner von ihnen lebte mehr.
Sein Vater war an Lungenkrebs gestorben, seine Ex einem Säufer namens Ed Higgins zum Opfer gefallen; dieser hatte sie im trunkenen Zustand überfahren, als sie durch den Ruger Park gejoggt war. Sie hatte Musik gehört und den besoffenen Tölpel nicht bemerkt. Elmo – der gute alte Elmo – hatte auch unter Krebs gelitten, doch er war nicht so leise aus dem Leben geschieden wie Matts Vater. Dies hatte zum Wesen des Shih Tzu gepasst, seinem übertriebenen, ja nahezu verrückten Beschützerinstinkt.
Matt seufzte und sog die Luft der Northwoods ein, die ihm seit je dabei half, klare Gedanken zu fassen. Er packte das Lenkrad fest und seufzte noch einmal.
Kleinlastwagen konnten einen fertigmachen. Jedenfalls war es seinerzeit so gewesen, bevor sie sich zu Luxussofas auf Rädern gemausert hatten. Matt mochte hingegen solche althergebrachten Modelle, die einem auf dem Highway den Allerwertesten massierten und Forstwege wie nichts bewältigten, genauso wie der Pick-up, den er gerade fuhr, einen verlässlichen, betagten Toyota mit Allradantrieb, den sein Vater ihm vermacht hatte. Matt schüttelte seinen Kopf und musste zur Abwechslung unweigerlich schmunzeln. Er fuhr zu seiner heiß geliebten Hütte, um neun Tage lang Ruhe und Frieden zu genießen.
Die Reise von Chicago dauerte knapp acht Stunden und war ereignislos verlaufen, bis er den Ottawa National Forest erreicht hatte. Der Ottawa, wie ihn die Einheimischen kurz nannten, erstreckte sich über ungefähr eine Million Morgen unerschlossenes, bundesstaatliches Land an der Grenze zwischen Wisconsin und Michigan. Lange Waldabschnitte mit Rot- und Strauchkiefern sowie Espen bestimmten das Landschaftsbild. Matt machte diesen Abstecher unter anderem zum Angeln auf dem Black River, einem reißenden Strom mit Schieferbett und zahlreichen Wasserfällen. Es war September, also laichten flussaufwärts die Silberlachse und warteten nur darauf, jeden funkelnden Köder zu schlucken, den man in die sauberen Tümpel warf. Der zweite Grund für die Reise war Trauer. Stacey hatte diese Welt 64 Tage zuvor verlassen, Elmo 120, und sein Vater schon vor sechs Monaten. Matt glaubte, der Kummer habe ihn endgültig um den Verstand gebracht, und selbst seiner Mutter war aufgefallen, dass es ihm schlecht ging. Sie hatte darauf bestanden, dass er nach Norden fuhr. Dies war die Gegend, wo Matt Matt sein konnte.
Ich werde zu alt für solche Fahrten, dachte er, obwohl er erst 21 war. Viel wahrscheinlicher hatten die drei Stunden Schlaf in der vergangenen Nacht etwas mit seiner Müdigkeit zu tun. Vielleicht.
Als Matt den Ottawa erreichte, nahm die Dichte der Kiefern zu. Die Forstbehörde ließ die hohen Bäume am Fahrbahnrand gern stehen, wohingegen sie den Wald dort, wo Reisende nicht hinsahen, unbeeindruckt abholzte. Würde man sich 50 Yards tief in den Wald bewegen, würde man auf Stümpfe und Kahlschläge stoßen. Ferner sähe man eine Fülle gestutzter Pappeln und anderer wuchernder Laubbäume. Diese nahmen dem Urwald aus Weymouthskiefern und Hemlocktannen den Platz weg, die in den Northwoods überwogen. Matt hatte als Kind weite Teile des Gebiets erkundet und es im Lauf der Jahre zu seinem zweiten Zuhause erkoren. Auf Wanderungen durch die Schluchten und über die Felsgrate der Huron Mountains trainierte er für gewöhnlich seine Beine.
Obwohl sie abgeholzt wurden, boten der Ottawa und die Hurons weiterhin Wölfen einen Lebensraum. Heimische Bärenmarder und Berglöwen waren längst aus dem Ökosystem getilgt worden – die Folgen von ausufernder Fallenstellerei und Verfolgung bestimmter Arten. Mr. Emerson, der Biologiedozent seines Community Colleges, war stets von Matts Kenntnissen bezüglich Fauna und Flora angetan gewesen, was oft zu ausgedehnten Gesprächen über die obere Halbinsel von Michigan geführt hatte. An diese Momente aus seiner Studienzeit erinnerte er sich gern – den Austausch mit Lehrern, wenn man ihnen auf Augenhöhe begegnete, einfach wie einem anderen Erwachsenen während einer Unterhaltung.
Das dichte Straßennetz in einst unbefahrbaren Wäldern führte zur Ausrottung vieler Raubtierarten durch Wilderei. Ehemals verkehrsfreie Bereiche wurden über Jahrzehnte hinweg zunichtegemacht. Das übrige Land ohne Straßen beschränkte sich auf wenige staatlich geschützte Wildgebiete von je etwa 20.000 Morgen.
Matt hatte vor, sich die faszinierenden Hurons weiter zu erschließen, auch weil er die Möglichkeit spannend fand, sie könnten durchaus das älteste Gebirge der Welt und irgendwann einmal so hoch wie die Rocky Mountains gewesen sein. Heute beliefen sie sich auf lediglich 2.000 Fuß hohe Steinkuppen, aber für ihn ging seit je etwas Faszinierendes von ihnen aus. Vereinzelte Bestände aus uralten Hemlocktannen ragten aus Klüften und von granitbedeckten Erdböden empor, windgepeitschte Rotkiefern wurzelten an Steilwänden. Diese Orte waren das Gegenteil des Mittleren Westens: malerisch; abgelegen. Die alte Jagdhütte, zu der Matt just in diesem Augenblick fuhr, stand in einem weiten, bewaldeten Tal im Schatten der Hurons, durchzogen vom Black River sowie dessen zahllosen Wasserfällen und glitzernden Tümpeln. Das ›Büdchen‹ – so ihr Spitzname – war von einer aufgegebenen Apfelplantage umgeben, deren Bäume jetzt nur noch winzige, saure Früchte hervorbrachten. An die Felder grenzte ein Wald aus Espen, Erlen, Balsamtannen und Fichten. Bachquellen und Sümpfe versorgten den Fluss das ganze Jahr über mit Wasser, befeuchteten sein Bett selbst im Sommer und Herbst, wenn es auszutrocknen drohte. Westlich der Hütte lag Twenty Mile Bog, ein imposantes Moor. Der Rest der Gegend bestand aus dichtem Wald, der Heimat von Fischmardern, Schwarzbären, Wölfen und Eulen. Diese Tiere machten die Northwoods zu dem, was sie waren. Zu wissen, dass sie noch existierten, brachte Matt zum Lächeln. Kam man aus den Chicagoer Vororten, waren sie ein Paradies, das vor Leben und Abenteuermöglichkeiten nur so strotzte.
Matt fuhr mit einer Hand durch sein braunes Haar und suchte Musik passend zur Finsternis, die übers Land kroch. Im schwindenden Licht leuchteten die Armaturen wie Steuerpulte in einem Raumschiff.
Green Day? Neil Young, äh … noch nicht. Pink Floyd? Prima. Wenn die Generation seiner Eltern eine Sache richtig gemacht hatte, dann Rockmusik – und die war nicht nur gekonnt, sondern in vielerlei Hinsicht ein Tritt in den Hintern.
Matt schob eine CD in den Pioneer-Spieler, woraufhin Let There Be More Light durch die Boxen waberte.
Er kurbelte die Scheibe zu einem Drittel herunter und erfreute sich an der kühlen Northwoods-Luft. Kein Vergleich zum Chicago und dessen Umgebung …
Der Toyota-Pick-up rollte auf dem leeren Highway 2 entlang. Die Bewohner der Gegend hockten entweder zu Hause vor ihren Fernsehern oder in einer Kneipe ihrer Wahl, deren Namen üblicherweise ›Northwoods Tavern‹ lautete, jeweils mit vorangestelltem Namen des Inhabers. Eine der Vorzüge dieses wilden Landstrichs bestand in seiner dünnen Besiedlung, was das Fahren auf verlassenen Straßen reizvoll machte.
Als er an der Heizungslüftung drehen wollte, sprang ein stämmiger Weißwedelhirsch vor den Wagen. Matt trat auf die Bremse und hielt das Lenkrad fest. Die Reifen quietschten, woraufhin der Gestank von verbranntem Gummi seine Nase jucken ließ. Das unglückselige Tier blökte wie ein Schaf, als seine linke Flanke an der Fahrerseite der Motorhaube vorbeischrammte. Es machte Augen groß wie Untertassen, während es hastig die Böschung hinauf zwischen die Fichten sprang. Der Pick-up kam schrillend zum Halten, und Qualm von den Reifen stieg im Scheinwerferlicht auf. Das Knattern des Vierzylinders und die Stereoanlage blieben die einzigen Geräusche in der plötzlichen Stille.
Matt öffnete das Türfenster ganz. Von dem Hirsch fehlte jede Spur. Er drehte die Musik leiser, griff zu der schweren Stabtaschenlampe unter seinem Sitz und stieg aus, um den Kühlergrill zu untersuchen. Kein sichtbarer Schaden, weder Blut noch Fellhaare … sicherheitshalber ging er zur Böschung hinüber und leuchtete den Graben aus, gut 50 Yards in beide Richtungen vor und hinter dem Auto. Hätte er das Tier gefunden, wäre es auf die eine oder andere Art von ihm erlöst worden. Matt hasste es, wenn jemand Wild überfuhr, ohne zurückzuschauen und sich zu vergewissern, dass es nicht mehr litt. Eins zu überrollen bedeutete schließlich nicht, dass es sofort tot war. Ein Jahr zuvor hatte er im Glacier-Nationalpark – er war mit Stacey dort gewesen – ein europäisches Eichhörnchen gesehen, das von einem Auto mit 40 Meilen pro Stunde in einer 25er-Zone erfasst worden war, allerdings nur die Hinterläufe. Das Tier hatte gezirpt und gekreischt, sich tapfer ein paar Fuß vorangeschleppt, bevor es auf dem Asphalt liegen geblieben war, immer noch lebendig. Ein Artgenosse war auf die Fahrbahn gehuscht und hatte versucht, das lahme Eichhörnchen wegzuziehen. Matt erinnerte sich daran, das Drama entsetzt mit angesehen zu haben: das verzweifelte Geschnatter des gesunden Tiers und die qualvollen Laute des verletzten. Als Ersteres aufgegeben hatte, war er wieder in seinen Wagen gestiegen und über das leidende Tier gefahren, um sein Leben zu beenden, ehe es ihm noch schlimmer ergehen konnte.
Dieses Eichhörnchen hatte er nie vergessen. Manchmal rief er es sich wieder ins Gedächtnis, die hervorgetretenen Augen; manchmal bildete er sich ein, es zirpen zu hören, um andere vor der Gefahr zu warnen, während sich sein auffallend zimtbraunes Fell im Wind sträubte und die kleine, rosafarbene Zunge heraushing wie ein zarter Pflanzenkeim. Am schlimmsten aber fand er, wie es mit offenem Maul zu ihm aufgeschaut und dabei ein wenig von seinen Zähnen gezeigt hatte, die Angst in seinen Augen, kurz bevor es vom Tod hinweggerafft worden war. Dieses Erlebnis hatte Matt dazu bewogen, vieles zu hinterfragen, unter anderem Gott; welcher Gott würde zulassen, dass so etwas geschah? Es ergab überhaupt keinen Sinn, obwohl ihm andererseits generell vieles schleierhaft war, vor allem in Bezug auf Regeln und das Verhalten von Menschen wie ihm selbst oder angeblichen Autoritätspersonen. Er rieb sich ständig an der Welt auf, egal wie sehr er sich ums Gegenteil bemühte. Er fühlte sich den Geschöpfen der Wälder auf vielerlei Weise stärker verbunden als seinen Mitmenschen – ausgenommen diejenigen, denen er schon nahestand.
Mancher mochte dies als verstörend empfinden oder für introvertiert halten, doch für Matt war es die Wirklichkeit. So nahm er es mit eigenen Augen wahr und spürte es in seinem Herzen. Aber als Einzelgänger konnte man ihn auch nicht bezeichnen. Er besaß Freunde – zwar nicht viele, dafür aber echte. Oft erkannte er diese Unruhe, diese leise Angst im Umgang mit anderen, was vermutlich der Grund dafür war, dass er bei einem überschaubaren Freundeskreis blieb und sich selten auf neues gesellschaftliches Terrain begab.
Was er vorzog, waren Wanderungen durch die Wildnis. Mit seiner verstorbenen Freundin Stacey hatte es ihn in Nationalparks verschlagen, den Glacier in Montana und den Yellowstone in Wyoming. Bisweilen waren sie während der Ferien im Frühjahr losgezogen, wenn es das Gros der Jugend an sonnige Strände trieb. In den Parks traf man weniger Mensch, ob bei Schnee oder trockenem Wetter. In den Wäldern und Bergen konnte sich Matt selbst denken hören, die Arme ausbreiten und entspannen.
Mich ausgeglichen fühlen.
Die Natur draußen in Montana war noch unberührt. 20.000 Morgen Wildnis waren dort nichts; man fand ein Geflecht aus zwei Millionen Morgen vor und konnte Jahre damit verbringen, es zu erkunden. In den Northwoods beziehungsweise dem Ottawa National Forest stieß man immer wieder auf Forststraßen; weniger als ein Prozent Primärwald war übrig geblieben, und die meisten Tiere, die in den Northwoods gelebt hatten, sah man so gut wie gar nicht mehr. Aus unerfindlichem Grund aber vermittelte dieser Ort Matt immer noch ein starkes Gefühl von Heimat. Er mochte – nein, liebte ihn: all die kleinen Bäche, die zwischen den Bäumen glitzerten; Stachelschweine, die flapsig im Geäst herummachten, und Weißkopfadler im Flug von einem verborgenen See zum nächsten.
Ein Vorteil der Northwoods war die nur achtstündige Fahrt vom Stadtrand Chicagos aus; die Reise zum Yellowstone hingegen dauerte 22 Stunden. Für jemanden mit geregelter Arbeit machte dies den entscheidenden Unterschied aus. Im Sommer schuftete Matt sechs Tage die Woche im Bauunternehmen Stinston. Der Job war mitunter zwar anstrengend, tat ihm aber wohl. Matt hielt sich unter allen Umständen lieber draußen auf, als bei stickiger Luft in einem Büro zu sitzen.
»Du musst flügge werden«, hatte ihm sein Vater oft vorgehalten.
In irgendeiner kleinen Arbeitswabe ging das nicht; kein Platz. Für die Highschool beziehungsweise deren computerorientierte Alternative hatte das Gleiche gegolten; beide Anstalten waren ihm immerzu wie Gefängnisse vorgekommen. Als noch schlimmer hatte er ihren Mangel an Fenstern empfunden. Das einzige natürliche Licht war an den Enden der langen Flure eingefallen, zaghaft fast, wie um zu sagen: »Da will ich nicht rein.« Folglich hatte das Licht im Freien auf ihn gewartet, genauso wie die Northwoods. Trat er hinaus, fühlte er sich wie neugeboren.
Bei aller Abneigung hatte er sich trotzdem auf der Highschool bewährt, im Footballteam gespielt, gute Noten bekommen und mit hübschen Mädchen angebandelt … bis zu dem Zwischenfall. Darüber redete er weder gern, noch wollte er überhaupt daran zurückdenken. Am deutlichsten erinnerte er sich in diesem Zusammenhang daran, wie ihn sein Vater angeschaut hatte, als er an jenem schicksalhaften Tag nach Hause gekommen war. John hatte das Haus daraufhin überstürzt verlassen. Seine Frau – jederzeit diejenige, die Löcher kittete und Risse übermalte – hatte Matt in den Arm genommen, nachdem ihr Mann hinausgestürmt war.
»Ist besser so, Matthew«, hatte sie gesagt. »Er kommt schon wieder zurück; die Zeit heilt auch diese Wunde.«
Sie sollte recht behalten, wie so oft: Die Zeit heilte diese Wunde tatsächlich, auch wenn sie nichts gegen den Krebs seines Vaters ausrichten konnte. Big John hatten sie ihn genannt … Big John war Raucher gewesen, Raucher aus Leidenschaft – und Big John hatte es nicht bei Lights belassen, sondern gleich zu Marlboro Red gegriffen, zwei Päckchen täglich.
Big Johns Hände waren breit gewesen, ›big‹ wie auch alles andere an ihm. Er hatte viel von sich selbst gehalten, aber falls nötig, auch aufbauende Worte gefunden. Er war derjenige gewesen, der Matt die Natur nahegelegt, ihn zu Kurzreisen in den Norden bewogen hatte. Die Bonsai-Trips, wie sie sie genannt hatten, waren spontane, dreitägige Abstecher hinauf zum Büdchen. Sein Vater hatte für gewöhnlich am vorausgegangenen Abend gepackt: Kühlboxen und Taschen voller Rauchwurst, Konserven, Kartoffelpuffer, Camping- und Angelausrüstung. Die alten Flanellschlafsäcke waren so dick gewesen, dass sie die Hälfte der Ladefläche des Pick-ups eingenommen hatten. Da schon alles einen Tag zuvor erledigt gewesen war, hatten sie gleich um 15 Uhr aufbrechen können, wenn Big Johns Schicht bei der Telefongesellschaft zu Ende war. Im Kommunikationswesen hatte sich der Mann ziemlich gut ausgekannt; er war von der Army ausgebildet worden, sogar eine Weile in der Türkei stationiert gewesen und hatte unter Schweigepflicht an mehreren streng geheimen Funkstörprojekten gearbeitet.
»Du brauchst nur zu wissen, dass Leute nicht wollen, dass du weißt, was ich weiß«, hatte er, darauf angesprochen, stets entgegnet.
Ab und an hatte Matt bemerkt, dass sein Vater unaufrichtig gewesen war, nämlich an seiner hochgezogenen Oberlippe und den weit aufgerissenen Augen. So hatte er sich aber nie verhalten, wenn sein Sohn auf die Armee zu sprechen gekommen war. Darüber hatte er sich immer ausgeschwiegen, sogar auf seinem Sterbebett.
Die Bonsai-Trips waren auf die Arbeitswoche zugeschnitten gewesen. Da sie sich freitagnachmittags um drei auf den Weg gemacht hatten, waren sie nach acht Stunden Fahrt zur Hütte noch zu einer ordentlichen Mütze Schlaf gekommen. In der Regel waren sie den ganzen Samstag geblieben und sonntagabends gegen 19 Uhr abgereist. Bis drei Uhr morgens hatten sie es nach Hause geschafft – zeitig genug für drei, vier Stunden Schlaf, bevor John wieder zur Arbeit aufgestanden war.
Matts Freunde hatten sich oft darum gestritten, mit in den Norden kommen zu dürfen, und gelegentlich hatte sein Vater auch wirklich einigen erlaubt, sie zu begleiten. Dann hatte er ihnen hinten auf dem Pick-up Feldbetten zurechtgemacht, ermöglicht dank eines Wohnmobilaufsatzes für die Ladefläche. Matt und seine Freunde hatten dann durch die Heckscheibe beobachtet, wie die Welt zu ihren Füßen vorbeigezogen war.
Während Matt die östliche Baumgrenze mit der Taschenlampe absuchte, fielen ihn nur die langen Äste der Fichten und vereinzelte Spinnennetze ins Auge, doch der Hirsch war verschwunden. Wird schon nichts passiert sein, dachte er. Er war nicht zum ersten Mal glimpflich davongekommen, hatte sogar schon einen Paarhufer angefahren, in der Nähe von Big Timber in Montana. Die Gegend war als Wildstraße bekannt, da dort am Fuße der Crazy Mountains viele Maultierhirsche lebten. Auch damals war das Tier verschwunden, doch er hatte angenommen, es würde sterben, als er die demolierte Vorderseite des Wagens gesehen hatte. Das war jedoch in einer anderen Gegend gewesen, weit weg vom Ottawa und den Hurons – einem Land, das nicht von Straßen zerfurcht wurde.
Er kehrte zum Pick-up zurück und stieg ein. Die Kiste hatte zwar schon fast 200.000 Meilen auf dem Buckel, startete aber noch klaglos. Der alte Toyota 4x4 hatte ihn durch die Highschoolzeit begleitet, viele seiner Freundinnen mitgenommen, ihn zur Arbeit auf den Bau gebracht und zahllose Campingtrips bestritten. Die Karosserie setzte Rost an, und der Auspuff lärmte trotz Dämpfer, egal wie oft er daran herumschraubte. Auch in Sachen Beschleunigung ließ die Mühle zu wünschen übrig. Matt ging davon aus, dass sie bald den Geist aufgeben würde; gut möglich, dass dies ihre letzte Reise war.
Der kleine Vierzylindermotor schnurrte im Einklang mit dem wirren Quaken von Sumpffröschen. Matt lächelte erneut. Endlich wieder in den Northwoods mit seinem getreuen Schlachtross. Er rieb mehrmals über das graue Plastik des Armaturenbretts, wobei nur noch ein »braver Junge« fehlte, um den Eindruck zu bestätigen, es sei ein Pferd. Matt fühlte sich zwar leicht schrullig deswegen, aber das war ihm egal.
Der Pick-up rollte weiter über den leeren Highway durch die Nacht. Die Hütte war noch eine Fahrtstunde entfernt, doch er würde sie erreichen; das hatte er noch immer getan.
Die frische Waldluft machte Matt jedes Mal heißhungrig. Er schnappte sich die Packung Kekse mit Oblaten und Schokoladenguss, die er von seiner Mutter mitgenommen hatte. Hin und wieder schaute er vor seinen Ausflügen bei ihr vorbei. Er mochte den Geschmack ihres Essens und wie es bei ihr in der Küche roch. Selbst wenn er Besorgungen machte und exakt die gleichen Kekse kaufte, schmeckten diese einfach nicht so. Dahinter musste irgendeine Form von Hexerei stecken, die nur Mütter beherrschten.
Seine Mutter war nach Johns Tod in eine Eigentumswohnung außerhalb der Stadt gezogen. Matt durfte vorerst im Familienhaus bleiben, während es für den Verkauf vorbereitet wurde. Allerdings ließ sich immer etwas vorschieben, um die Makler hinzuhalten …
Für ihn war seine Mutter zu allen Zeiten jene große, hübsche Frau mit den dunklen Haaren. Seine Trainer, als er noch in einer Baseballnachwuchsmannschaft gewesen war, hatten sie ständig angehimmelt. Oft war er gefragt worden, ob sie wirklich seine Mutter sei. Das hatte er bei den ersten 50 Malen noch witzig gefunden, es war aber so oft geschehen, dass er irgendwann nicht mehr darauf geantwortet, sondern die Fragenden bewusst stirnrunzelnd angeschaut hatte. Nähen war das Lieblingshobby seiner Mutter, und dem hatte sie sogar ein ganzes Zimmer gewidmet. Sie gewann zuweilen Kostümwettbewerbe zu Halloween, wonach sie die Preise an Matt und seine Schwester Andrea abtrat. In einem Jahr war es eine Playstation gewesen, und er erinnerte sich noch daran, bis ein Uhr nachts aufgeblieben zu sein, um mit Andrea Resident Evil zu spielen, während aufbrausender Oktoberwind Laub gegen die Glastür der Veranda geweht hatte.
Matt besuchte seine Mutter aber nicht nur unter kulinarischen Gesichtspunkten. Elmo, das Haustier seiner Kinderjahre, hatte seit dem Tod seines Vaters dort gelebt. Er war Matt sehr ans Herz gewachsen, weshalb er ihn zu langen Spaziergängen mitgenommen und mit vielen Leckereien verwöhnt hatte.
Zuletzt war jedoch kein Elmo mehr in der Wohnung seiner Mutter gewesen. Seine Asche stand nun bei Matt zu Hause auf der Ecke der Kleiderkommode, eine Urne aus rotem Aluminium mit Blumenmuster.
Meile um Meile leuchteten die Scheinwerfer die Landschaft aus. Am Waldrand an der westlichen Böschung blitzten zwei Augen auf – ein Waschbär. Diese waren hier früher nicht heimisch gewesen, doch Matt hatte gelesen, dass der Klimawandel sie nach Norden drängte. Er warf einen Blick auf die Gegenfahrbahn; kein Verkehr. Seine Mutter rügte ihn ständig, dass er sich zu dicht am Mittelstreifen halten würde. »Halt Abstand von der linken Spur«, pflegte sie mit flehentlichem Blick zu sagen. Es war ja nicht so, dass einem etwas anderes übrig geblieben wäre; die meisten Straßen in den Northwoods hatten zwei Spuren, also musste man direkt neben dem Gegenverkehr fahren.
Die Temperatur fiel, und dichter Nebel legte sich über den Asphalt. Matt atmete kalte Luft ein, während er hinunter in den vierten, dann den dritten und zweiten Gang schaltete. Er starrte in die diesige Nacht, um die Julip Road nicht zu verpassen. Der üppige Nadelwald machte es nicht leicht, doch nach weiteren 500 Fuß an Farnen und Espen vorbei schälte sich die Abzweigung aus dem Nebel. Kies war auf den Asphalt gerutscht, vom Regen heruntergespült aus dem Mittelgebirge.
Matts zuverlässiger Allradpanzer überrollte die Steinchen mühelos und schleuderte sie hinter sich hoch. Das Gefälle war so steil, dass er geradeaus in den vernebelten Himmel blickte.
Julip Road würde ihn in die höheren Lagen führen, fort aus dem Tiefland am Rande des oberen Sees. Je weiter er hinauffuhr, desto näher rückten die Espen und Fichten zu beiden Seiten. Durch den Nebel strahlten die Scheinwerfer schwach wie Taschenlampen unter einer Decke. Die Bäume standen wie alte Würdenträger im Dunkeln, und ihre Äste ragten über die zerklüftete Böschung wie zu einem heidnischen Gruß. Frösche sprangen aus Pfützen auf der Straße, um rasch vor dem Licht und den Reifen zu flüchten. Wühlmäuse huschten über den Belag wie Zeichentricktiere, warfen ihre Pfoten hinter sich hoch. Matt bremste. Wieder ließ er die Scheibe hinunter und streckte seine Nase in den Wind, der den süßen Duft von Schwertlilien und intensiven Erdgeruch herantrug.
Nach acht Meilen immer schmaler werdender, holpriger Straße blieb Matt stehen und bog rechts ab. Diese Auffahrt war unbefestigt und bestand aus zwei Spurrillen, die unter goldenem Gras verborgen lagen. Bald fiel das Licht der Scheinwerfer auf eine kleine Lichtung und eine heruntergekommene Holzhütte. Von einer riesigen Espe daneben stürzte ein großer Virginia-Uhu herab und verschwand im Nebel.
Als Matt sicher war, dass der Pick-up auf einigermaßen ebenem Grund stand – die Handbremse musste repariert werden –, stellte er den Motor ab und legte den ersten Gang ein. Beim Aussteigen in die frische Nachtluft hörte er den Uhu hinter der Nebelwand am Rand der Apfelfelder rufen. Der Wind war durchsetzt mit dem honigsüßen Aroma von Schafgarbe.
Matt nahm seinen blauen Rucksack hinter der Sitzbank des Autos hervor und wankte auf die Tür der Hütte zu.
Einschlafprobleme habe ich heute Nacht bestimmt nicht, dachte er.
Iron Daily Nachrichten, 21. Februar 2014 Was tötet die Elche?
Sandy Jones, Außenkorrespondentin Ironville, Michigan: Aktuelle Daten aus einer neuen Erhebung des Amtes für Bodenkultur zeigen, dass die Zahl der Elche in Michigan weiter abnimmt.
Die Luftbildauswertung offenbart einen starken Rückgang in diesem Jahr, genau genommen einen Gesamtbestand von 1.000 Elchen gegenüber 2.000 im letzten Jahr. Offizielle Stellen haben noch keine genaue Ursache bestimmt, obwohl der Klimawandel und eine Zeckenplage als mögliche Gründe untersucht werden.
Forscher behaupten, noch keinen so drastischen Schwund erlebt zu haben. Die Behörden leiten das Nötige in die Wege, um die Elchjagdsaison zu unterbrechen, bis man einen Auslöser erkennen kann. In den Rathäusern mehrerer Städte der Region wird man Sitzungen halten, um eine Erklärung für das Verschwinden des Elchs zu finden und über ein mögliches Ende der Jagdsaison abzustimmen.
Die Regierung betont, zur Panik bestehe kein Anlass, und die Schätzung von Tierbeständen sei keine exakte Wissenschaft. Michael Eggerts, Feldbiologe des Amtes für Bodenkultur in Michigan, hat während der letzten 20 Jahre in diesem Bereich gearbeitet und war seinerzeit einer der Wegbereiter für die Wiedereinführung des Elchs im Bundesstaat. »Jawohl, die Elchbestände gehen zurück«, bestätigt Eggerts, »und ja, wir haben deswegen ernsthafte Bedenken, doch das bedeutet nicht, dass wir den Kopf verlieren dürfen.«
Michigan liegt an der südlichen Grenze der natürlichen Lebensräume des Elchs und könnte aufgrund der Erderwärmung unbewohnbar für ihn werden. Diese Tiere sind wärmeempfindlich, und die Temperaturkurve für die letzten 20 Jahre verläuft leicht nach oben …
Transkription des Beitrags »Der Elch« auf KBIL Ironville, 660 AM Ort: Ironville, Michigan KBIL »Der Elch«, 660 AM 20:30 Uhr bis 21:30 Uhr Sendung: Talk mit Jim Gibbons Programminformation: heißer Draht und coole Oldies
Radiomoderator Jim Gibbons, Ironville: Willkommen zurück, meine Damen und Herren. Heute können Sie wieder anrufen. Bitte drehen Sie Ihr Radio dabei leiser, damit wir kein Echo-Echo-Echo hören. Also gut, erster Anrufer, Sie sind live auf Sendung bei Talk mit Jim Gibbons. Bitte sagen Sie uns, woher Sie kommen und wie Sie heißen.
Anruferin: Hallo, Jim.
Jim: Würden Sie Ihr Radio bitte leiser drehen, gute Frau? Bei mir piept's im Ohr. Bitte geben Sie Ihren Standort und Namen an.
Anruferin: Ach je … Verzeihung vielmals … ist es jetzt besser? Hier spricht … ich heiße Betsy und wohne in Ironville.
Jim: Ja. Ja, das ist viel besser, Betsy. Danke, dass Sie heute an unserem Talk teilnehmen. Worüber möchten Sie reden?
Betsy: Also, ich wollte wissen, ob Sie morgen bei der Versammlung im Rathaus sprechen werden. Es geht um Baugenehmigungen; mein Ehemann und ich, wir wollen einen dritten Lagerschuppen auf unserem Grundstück, hinten am Waldrand, und die vom County meinen, dass die Erlaubnis dazu 100 Dollar kostet. Ich glaube nicht, dass das richtig ist, und möchte, dass Sie dort auftreten, um in unserem Namen zu sprechen.
Jim: Danke, Betsy, aber ich hatte nicht vor, mich bei dieser Versammlung einzubringen. Dennoch, erlauben Sie mir die Frage: Warum so viele Lagerschuppen?
Betsy: Mein Mann und ich, wir werfen nie irgendetwas weg. Er bewahrt all unsere alten Rollläden und Türen auf. Wenn er das Dach unseres Hauses repariert, behalten wir die alten Ziegel und legen sie dort ab. Außerdem brauchen wir mehr Platz für die Schneemobile und Motorskier unserer Enkel.
Jim: Aber was tun Sie denn mit den alten Ziegeln?
Betsy: Wir behalten sie.
Jim: Klar, doch benutzen Sie sie auch?
Betsy: Nein, wir legen sie beiseite für den Fall, dass wir sie einmal brauchen. Ich wette, Sie tun das Gleiche.
Jim: Äh, das tue ich nicht, Betsy, nein. Ich würde Ihnen raten, Ihr Gerümpel wegzuwerfen und keinen dritten Lagerschuppen zu bauen. Ist Ihnen das mal in den Sinn gekommen?
Betsy: Für wen halten Sie sich bitteschön, dass Sie uns vorschreiben wollen, was–
Jim: Alles klar, der Nächste bitte, Sie sind live im Talk auf Sendung.
Anrufer: Hallo Jim, hier spricht Erickson von der Huron Road im Norden.
Jim: Aber hallo, das ist ganz schön weit weg vom Schlag, Erickson, was? Ich wusste gar nicht, dass Sie uns dort oben empfangen können. Was liegt heute Abend bei Ihnen an?
Erickson: Ich wüsste gern, ob Ihnen die Sache mit den Elchen geläufig ist.
Jim: Ja, klar, ist sie. Soweit ich weiß, sterben sie wie die Fliegen. Die Presse gießt gerade Öl ins Feuer. Die Jäger reagieren gereizt, wohingegen Tierrechtler die Jagd unterbinden wollen.
Erickson: Genau. Hier oben hatten wir auch ein paar Elche; wir haben sie jeden Morgen an Harrys Weiher gesehen, aber jetzt lassen sie sich nur noch selten blicken. Sie benutzen die Straßen in dieser Gegend doch auch; haben Sie mal welche gesehen?
Jim: Nein, schon eine ganze Weile nicht mehr. Das ist mir auch recht; wer will schon einen Elch durch die Windschutzscheibe knutschen? Ich ganz bestimmt nicht. (Pause) Unser werter Produzent teilt mir gerade mit, dass der Biologe Eggerts am Dienstagnachmittag ein Interview auf 660 AM gibt. Schalten Sie dann ein?
Erickson: Auf jeden Fall, aber nur, weil ich hören will, ob der Kerl weiter lügt. (schweres Atmen)
Jim: (kichernd) Was meinen Sie mit lügen, Erickson? Weihen Sie uns doch bitte ein.
Erickson: Die Elche sterben nicht, weil es wärmer wird; ein anderes Tier tötet sie.
Jim: (kichert weiter) Woher wissen Sie das? Haben Sie Beweise?
Erickson: Mein Dad und ich, wir waren oben in den Hurons nahe Mill Bridge, um Beeren zu sammeln; wir fanden diese wirklich schönen Sträucher, die genug abwarfen, um alle unsere Eimer zu füllen. Dad ging den Hügel hinauf bis an den Rand des Felds, wo die hohen Hemlocktannen stehen. Dann schaute er hinab und schrie; so hab ich ihn noch nie erlebt.
Jim: (lacht) Und was war los, Erickson? Sah er Bigfoot oder die Reiter der Apokalypse?
Erickson: (keuchend nach langer Pause) Einen Elchkadaver. Der lag auf einem Ast 50 Fuß hoch im Baum. Jetzt sagen Sie mir, Jim, haben Sie je gesehen, dass ein Adler so etwas tut?
Jim: Nein, selbstverständlich nicht, aber in welche Richtung soll das hier gehen, Erickson? Falls Sie sich nur etwas ausgedacht haben, um Angst zu–
Erickson: Ich habe mir das nicht ausgedacht; es ist die Wahrheit, bei Gott, ich schwöre auf die Ehre meiner Mutter.
Jim: Hätte es kein Puma sein können? Die sind doch bekannt dafür, dass sie Beute auf Bäume ziehen.
Erickson: Hier gibt es schon seit 100 Jahren keine Pumas mehr.
Jim: So ungern ich es Ihnen gestehe, Erickson, aber ein Puma hört sich für mich vernünftiger an als alles andere. Sonst gibt es keine Erklärung.
Erickson: Ein Puma kann keinen Elch auf einen Baum ziehen. Nur ein Tier wäre dazu in der Lage – der Grizzly, doch den gibt es nur drüben im Westen. Kein Schwarzbär würde es schaffen, einen ausgewachsenen Elch 50 Fuß hoch auf einen Ast zu hieven. Das war ein schwerer Hirsch, Jim, und zu welchem Schluss gelangen wir, da es hier keine Pumas gibt?
Jim: Na, zu überhaupt keinem welcher Art auch immer. Aber noch mal, mein Freund: Wo bleibt der Beweis? Wir brauchen mehr als Ihr Wort. Sind Sie in Besitz einer Digitalkamera? Die hat doch heutzutage jeder. Konnten Sie das auf Video festhalten?
Erickson: Ich fuhr mit Pa zurück und borgte mir eine Kamera von John Lusten, der damit Videos für YouTube aufnimmt. Als wir zu dem Baum zurückkehrten, war der Kadaver weg.
Jim: Weg? Jetzt wollen Sie mir erzählen, dass ein toter Elch einfach so von einem Baum verschwindet?
Erickson: Erklären Sie mir, wie ein toter Elch überhaupt erst 50 Fuß hoch auf einen Baum kommt. Na los.
Jim: Mister, ich kann Ihnen sagen, wie ein toter Elch dort oben landen kann: durch IhreFantasie. Genau die hat ihn auf die Tanne gebracht. VielenDank, Erickson, dass Sie unseren Talk heute Abend mit Ihrer hanebüchenen Geschichte versüßt haben. Wer lieber Fakten erfahren möchte, schaltet am Dienstag zu unserem Interview mit dem Biologen Eggerts ein. Gleich geht's weiter bei Jim Gibbons, nachdem unsere lokalen Sponsoren Ihnen Verbraucherinformationen …
– Transkription Ende –
Nach einem reichhaltigen Frühstück mit Pfannkuchen und Kartoffelpuffern fuhr Matt auf der Julip Road weiter nach Norden. In diesem Jahr hatten die Erdhobel Schwerstarbeit geleistet, um die Straße sogar noch breiter zu machen und zu begradigen, damit die Schlepper für die Holzabfuhr durchkamen. Der Boden war so weit abgetragen, dass an manchen Stellen beschädigte Baumwurzeln aus der sandigen Böschung hervorragten wie mit Wachstumshormonen gefütterte Regenwürmer. Dergleichen sah man hier häufig, eine unverhohlene Respektlosigkeit gegenüber der Natur und ihren wilden Bewohnern.
Die frische Morgenluft kräftigte Matt. Ein paar Jahre zuvor hatte er sich auf der Internetseite der amerikanischen Umweltschutzbehörde über die Luftqualität im Land erkundigt; die Northwoods waren der Klasse 1 zugeordnet worden – die bestmögliche Bewertung. Bundesstaaten mit größeren Städten schnitten am schlechtesten ab, vor allem, wenn sich diese in Industrienähe befanden.
Der Toyota rumpelte bergauf in Richtung oberer See, vorbei an durch ausgefahrene Reifenspuren entstandene Schneisen, die wider den Naturschutz geschlagen worden waren und sich durch den Wald der oberen Halbinsel zogen, wie verirrte Arterien. Es gab kaum Stellen, wo kein Weg für Gelände- oder Holzlastwagen herführte. Man hatte die Wildnis längst weitgehend aus der Landschaft getilgt, wenn auch nicht in dem Sinn, wie die US-Forstbehörde sie definierte; in wahrer Wildnis gab es keine Straßen. Nun ja, einige wenige Orte waren übrig geblieben, und Matt kannte sie gut. Vom Büdchen aus war die Fahrt dorthin zwar beschwerlich, aber er suchte sie dennoch auf. Die Granithügel und Höhenzüge der Huron Mountains, die man von der Plantage aus sah, zählten dazu. Heute fuhr Matt in die entgegengesetzte Richtung, fort von den Hurons und hinunter zur Mündung des Black, wo er sein Glück beim Fliegenfischen versuchen wollte. Der Fluss war sauber und voller Forellen, stürzte jedoch mit aberwitzigem Gefälle von den Bergen in den oberen See. Er floss an der Ostgrenze des Grundstücks der Hütte vorbei, aber dieser Abschnitt lag weit oberhalb des einschneidenden Sturzes, der den Lachs daran hinderte, stromaufwärts zu schwimmen. Er hatte keine andere Wahl, als sich vor dem 30 Fuß tiefen Kliff zu sammeln. Unter dem Wasserfall rauschte ein eindrucksvolles Becken, das an drei Seiten von moosbewachsenen Vorsprüngen umgeben war. Diese ragten darüber auf, hier und dort gespickt mit einer stämmigen Hemlocktanne, die das Glück hatte, von der Axt verschont geblieben zu sein. Das Schieferbett machte Waten zu einer gefährlich rutschigen Angelegenheit, zumal das Gestein in gezackten Reihen aus dem Wasser stach wie die Knochenplatten eines Stegosaurus. An einigen Stellen zogen sich breite Rillen über 50 Fuß hinweg.
Matt träumte oft von diesem Ort.
Manchmal erinnerte er sich nur vage an die Landschaftsdetails, zu anderen Zeiten klarten sie so weit auf, dass er Tautropfen sah, die auf dem hellgrünen Moos zusammenliefen. Dann wiederum kam es vor, dass Menschen erschienen, die ihm etwas bedeuteten und oft knietief im Becken unter Black Falls standen. Für gewöhnlich rief er nach ihnen, doch sie reagierten einfach nicht: seine Mutter und sein Vater; Stacey, seine Schwester; Freunde von der Highschool.
Als er endlich den Highway 5 erreichte, bog Matt rechts ab und überquerte den Black River, dessen klare Wasser aus dem Waldland sprudelten und in der Sonne funkelten. Nach 100 Yards auf der Fernstraße stieß er rechter Hand auf einen unbefestigten Parkplatz.
Er stieg aus, drückte auf den Hebel hinterm Sitz und zog den Nylonschlauch heraus, in dem seine vierteilige Fliegenrute steckte. Dann zog er seine gelbbraune Angeljacke an, fuhr mit einer Hand in die vordere Tasche rechts und nahm seine Schnur heraus. Die Rute war ein Geschenk von Stacey zum Dank für einen Ausflug nach Montana gewesen. Matt drückte die Rolle zusammen, während er die Erinnerung an sie verdrängte.
Er zog die burgunderrote Rute aus der Hülle und bewunderte die edle Verarbeitung. Als Nächstes befestigte er die Schnur am Rollenhalter und steckte den Blank zusammen, jedes Segment kleiner und leichter als das vorige.
Die Spitze fühlte sich in seiner Hand zerbrechlich an – ach was, in letzter Zeit kam ihm alles so vor. Er zog die Schnur durch die Rutenringe, wobei er darauf achten musste, dass sie nicht zurückrutschte. Als er sie durch den obersten geführt hatte, hielt er sie zwischen Daumen und Zeigefinger fest und straffte sie, sodass sich die Rolle abwickelte. Als das herausgezogene Stück lang genug war, knotete er ein Pattern daran, das sich in diesem Fluss bewährt hatte – eine Humpy mit rot-weißen Büscheln.
Seufzend verriegelte er den Pick-up und nahm den Pfad hinauf zu den Black Falls.
Der niedrig gelegene Wald am Huron bestand aus Birken, Espen und anderen Laubbäumen. Die meisten Bäume waren relativ klein, obwohl sie in Flussnähe üppiger wurden und ein großflächiges Laubdach bildeten. Blaubeersträucher und Frauenfarne besprengten den Waldboden. In der Vergangenheit hatten vor allem Weymouths- und Rotkiefern sowie Hemlocktannen in diesem Gebiet überwogen, gemischt mit vereinzelten Birken und Espen. Hier am Flussufer – jetzt vorm Abholzen geschützt – waren ein paar dieser großen Nadelbäume erhalten geblieben. Sie wirkten wie eine Laune der Natur, da ihre Stämme andere schmal erscheinen ließen und ihre Kronen weiter hinaufreichten als jene. Der erste dieser gewaltigen Bäume war eine 400 Jahre alte Hemlocktanne, die den Namen Lazarus erhalten hatte und den Beginn des Pfades durch den Black River Canyon markierte. Matt lehnte seine Fliegenrute gegen den Riesen und tätschelte liebevoll die Rinde. Dann richtete er seinen Blick ins Gewirr aus Zweigen und Nadeln. Hoch oben im Wipfel schnatterte unsichtbar ein Eichhörnchen. Matt schmunzelte.
Dieser Pfad war ihm gewissermaßen seit seiner Kindheit heilig. Sein Vater hatte ihn unzählige Male mit hinauf in den Black Canyon genommen. Während jener Wanderungen waren ihm die Wände der Schlucht viel höher und das Wasser tiefer vorgekommen.
Während er höher hinaufstieg, achtete er darauf, wo er mit den Filzsohlen seiner wasserdichten Stiefel auftrat. Bald wurde der Pfad steiler, sodass Matt den Kronen der Bäume näherkam, die weiter unten am Hang standen. Ein Helmspecht hüpfte an einem Stamm hinauf und krallte sich an der Rinde fest, so elegant wie an einer senkrechten Startbahn.
Der rauschende Strom wisperte Matt von unterhalb zu. Rechts erhaschte er zwischen Urwaldhemlocks, die an den Steilwänden hochschossen, Blicke auf den glitzernden Wasserfall.
»Willkommen zu Hause«, sagte er zu sich selbst.
Die Landschaft hatte für den Rest seines Lebens Wurzeln in ihm geschlagen – tief greifend, unwiderruflich.
Die Klamm rechts wurde steiler, sodass weniger Licht einfiel als auf den Grat, den er erklomm. 50 Fuß voraus stand der gedrungene Stumpf eines abgebrannten Baumes, die Wegmarke für den Abstieg zu den Black Falls. Matt hielt einen längeren Teil der Fliegenrute hinter sich und die Spitze nach oben. Nun ging er halb in die Hocke und rutschte an der Steilwand hinunter, wobei die Sachen in seiner Anglerweste klimperten wie ein geschüttelter Weihnachtsbaum. Während er nach unten stieg, zogen seine Stiefel Furchen in den Sandboden, der mit einer Schicht Kiefernnadeln bedeckt war. Ab und an zeterte ein Eichhörnchen und versuchte, ihn mit Tannenzapfen zu bewerfen. Er lachte. Hinterhältige Giftzwerge. Seit jener Episode mit den beiden Eichhörnchen im Glacier-Nationalpark verlangte ihm die Intelligenz dieser Tiere Respekt ab.
Das Fallbecken schimmerte in der Tiefe, während die Rückströmung zwischen zwei Hemlocktannen schäumte und strudelte. Noch 100 Fuß weiter, und er erreichte die felsige Landzunge am Rande des Bassins.
Als er jünger gewesen war, war er manchmal mit seinem Vater darin geschwommen. Das Wasser war fast das ganze Jahr über klar, nur nicht während der Überschwemmungen im Frühling. Zwei glatte Baumstämme standen aufrecht am Fuß des Sturzes parallel zur Schieferwand und reichten bis knapp an den oberen Rand. So war es schon, seit er sich erinnern konnte. Das Wasser, das über die Kante sprudelte, floss schräg zwischen zwei ausgehöhlten Rinnen im Schiefer ab. Glänzende Felswände verjüngten sich an drei Seiten zum Becken hin, überzogen mit Kiefernnadeln und Moos. Ein steiler Pfad wand sich links am Sturz nach oben und weiter flussaufwärts. Um diesen Weg zu erreichen, musste man als Wanderer ein Stück weit über aufragende Schieferplatten am Rande des beinahe vertikalen Hangs balancieren: jene Formation, die an den Rücken eines Stegosaurus erinnerte. Matt hatte sich mehrere Jahre zuvor – er war zwölf, vielleicht auch schon dreizehn gewesen – mehr oder weniger vergeblich daran versucht. In den Black River Canyon zu gelangen und wieder heraus, war schwierig; wer herkam, wollte auch wirklich hier sein.
Dankbar dafür, wieder auf flachem Grund zu stehen, setzte sich Matt dort, wo das Wasser am höchsten stieg, auf den ausgetrockneten Stumpf einer Zeder. Er öffnete seinen Rucksack, trank einen Schluck Limonade und suchte an der Oberfläche nach hochkommenden Fischen.
Nichts.
Er stand auf, trat langsam an den Rand des Bassins und kniete sich hin. Dies war etwas, das er im Lauf der Jahre gelernt hatte: Man wollte sich den Fischen nicht preisgeben; denn bemerkten sie einen, konnte man die Fliegenrute einpacken und nach Hause fahren. Nachdem Matt den Köder von der Halterung gelöst hatte, zog er die Schnur noch etwas länger, schwang die Rute nach hinten und neigte sie dann vorwärts. Das wiederholte er so lange, bis 30 Fuß Schnur durch die Luft segelten. Dann ein letzter Hieb, und sie schnellte in einer wohlgeformten Schlinge nach vorn. Die rot-weiße Humpy flog gerade und zielsicher, kräuselte das Wasser beim Auftreffen kaum.
Matt beobachtete den haarigen Köder.
Immer noch nichts.