Traugott Wendelin -  - E-Book

Traugott Wendelin E-Book

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Beschreibung

Rosa Mayreder (1858-1938), österreichische Schriftstellerin, Kulturphilosophin, Vorkämpferin der Frauenbewegung hat viele Essays, Romane, Novellen, Sonette u.a. veröffentlicht. Ihr berühmtestes Werk ist "Zur Kritik der Weiblichkeit", das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Tatjana M. Popovic´ , Nachlaßverwalterin und Herausgeberin der österr. Autoren Felix Braun, Käthe Braun-Prager, Hans Prager und Rosa Mayreder hat diese Novelle mit einem Nachwort und Anmerkungen herausgegeben. Es geht hier um einen jungen, sonderlichen Beamten, der die Tochter seines Vorgesetzten liebt, die vor ihrem tyrannischen Vater aus dem Haus flüchtet.

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Sage mir: was uns erwartet,

Wenn Erfüllung sich uns bot,

Was kein Traum enthüllt, o sage,

Ist es Leben, ist es Tod?

(Gesang von Merene aus Traugott Wendelin

Frönst du wie andre Frauen eitlem Hange,

Treibst du mit mir ein frevlerisches Spiel?

Du lockst mich an, wenn ich entfliehen will,

Du weichst zurück, wenn ich nach dir verlange.

O Weib, o Weiber! Auge, Lippe, Wange,

Der ganze holde Leib – ein Paradies,

Das Gott dem einfältigen Manne ließ,

Darinnen eure Seele wohnt als Schlange.

Zuweilen möcht‘ ich gläubig vor dir knien,

Dann wieder möcht‘ ich mit Gewalt, mit List

Dir endlich vom Gesicht die Maske ziehen.

In Haß und Liebe ist mein Herz zerrissen!

Ob du ein Engel oder Dämon bist,

Du rätselhaftes Weib, das will ich wissen!

Sonett von Rosa Mayreder

Inhaltsverzeichnis

Kommentar von Rosa Mayreder

Traugott Wendelin

Nachwort der Herausgeberin

Biographische Daten

Bibliographie

Anmerkungen

Zeichnung von Rosa Mayreder

Zur Herausgeberin

Kommentar von Rosa Mayreder zur Veröffentlichung der Novelle Sonderlinge (jetzt Traugott Wendelin) im Hillger-Verlag 1921

„Mit der Novelle Sonderlinge trat ich zum ersten Mal als Schriftstellerin vor die Öffentlichkeit. Ich hatte mein sechsunddreißigstes Jahr zurückgelegt, als sie in einem jetzt vergriffenen Novellenband erschien; nahezu vierzehn Jahre verflossen, seit ich sie geschrieben hatte. Denn über meiner literarischen Laufbahn waltete ein Unstern. In einem engbürgerlichen Kreise aufgewachsen – mein Vater war Wirt – stand ich ganz außerhalb aller Beziehungen zur Literatur. Meine Ehe mit einem Architekten brachte mir zwar mannigfaltige Förderung auf dem Gebiete der bildenden Kunst, der ich als Malerin angehöre; mit meinen schriftstellerischen Arbeiten blieb ich aber dauernd auf mich selbst angewiesen. So kam es, daß ich erst durch meine Essays Zur Kritik der Weiblichkeit (1905) und meine Sonette Zwischen Himmel und Erde (1908), nachdem ich schon zwei Novellenbände und zwei Romane herausgegeben, sowie den Text zu Hugo Wolf’s Oper Der Corregidor verfaßt hatte, allgemeine Anerkennung fand.”

Wien, im Juli 1918 - Rosa Mayreder

TRAUGOTT WENDELIN

Auf der Promenade vor dem Tor zeigte sich seit einem Vierteljahr ein fremder, junger Mann. Nicht gerade nach der letzten Mode, aber sehr sorgfältig angezogen, Hut und Rock und Schuhe peinlich blank gebürstet, tadellos behandschuht, einen Spazierstock mit elfenbeinernem Knopf in den Händen, so tauchte er regelmäßig um dieselbe Zeit auf und ging mit hygienischer1 Gründlichkeit zwei Stunden spazieren. Bei einbrechender Dämmerung verschwand er. Obwohl er noch nirgends einen Besuch gemacht hatte und weder Gasthaus, noch Kaffeehaus besuchte, war es der schönen Welt, die sich auf der Promenade traf, nicht unbekannt geblieben, daß der junge Fremde Doktor Traugott Wendelin war, einer der jüngsten Beamten bei Gericht, der aber, von Hause aus bemittelt, schon unter die heiratsfähigen Männer der Stadt zählte.

Er wohnte bei einer ältlichen Dame, die wegen ihrer beschränkten Einkünfte nicht jene Stellung in der Gesellschaft behaupten konnte, zu welcher sie ihre Abkunft berechtigte. Sie war weitläufig mit ihm verwandt; er nannte sie Tante und teilte das eingezogene2 Leben, das sie führte. Im Amte genoß er die volle Gunst seiner Vorgesetzten; sogar die Aufmerksamkeit des Präsidenten hatte er auf sich gezogen. Und da dieser als ein finsterer, wortkarger Mann von fast menschenfeindlicher Unzugänglichkeit galt, fühlte sich Traugott Wendelin geneigt, diese Auszeichnung auf Rechnung seiner ungewöhnlichen Anlagen und Leistungen zu setzen.

Die Strenge und Herbheit seines Gönners war ihm sehr sympathisch; er erschien ihm als das Vorbild eines pflichtgetreuen, tüchtigen Staatsbeamten. Nur in einem Punkte stimmten diese beiden nicht überein. So nett und sauber der Junge sich trug, so verwahrlost war der Alte. Ein wilder Bart wuchs ihm struppig um das Gesicht bis an die Augen hinauf, borstige Strähnen3 grauen Haares hingen ihm auf den Rockkragen herab; wenn er ein Buch ergriff, schlugen seine Fingernägel vernehmlich auf, denn sie glichen den Krallen eines Raubtieres in ihrer schwarzen Ungepflegtheit und manchmal enthüllte eine hastigere Bewegung bedenkliche Defekte an den Kleidern, die unordentlich an seinem gedrungenen Körper hingen. Aber dieser äußerliche Unterschied beeinträchtigte nicht auf die Dauer das Verhältnis, welches sich zwischen dem Vorgesetzten und dem Subalternen4 entwickelte.

Eines Tages geschah es sogar, daß der Präsident Traugott einlud, ihn zu besuchen. Auf einen so besonderen Beweis von Wohlwollen war dieser nicht gefaßt; er sah sich dadurch einigermaßen in Verlegenheit gesetzt. Und zwar hauptsächlich wegen der Gerüchte, die über das Heim des Präsidenten herumgingen und mit welchen die Tante die Lobeserhebungen des Neffen zu dämpfen pflegte. Der Präsident bewohnte für sich allein ein altes Haus an der Stadtmauer, über das die Tante nunmehr Traugott ausführlich die bedenklichsten Aufschlüsse erteilte. Seit Jahren habe kein Fremder diese Schwelle betreten.

Das Haus drohte einzustürzen, der Garten sei eine pfadlose Wildnis, und es nehme die gesamte Einwohnerschaft höchlich5 Wunder, daß der Präsident und seine Sippe, bestehend aus einer Tochter und einer hinfälligen, halbtauben Magd, noch nicht vom Ungeziefer aufgefressen worden sei. Denn jeder Mensch könne sich schon aus der Erscheinung des Präsidenten einen Begriff machen, wie es dort um die Reinlichkeit bestellt sein müsse; zudem habe man vor einiger Zeit bei hellem Tage eine Maus aus einem Fenster auf die Straße springen gesehen, und deswegen sei für das Haus des Präsidenten der Name Mäuseburg aufgekommen.

Da Traugott die alte Dame für eine in allen gesellschaftlichen Angelegenheiten der Stadt wohlunterrichtete Persönlichkeit halten durfte, war er nicht wenig beunruhigt. Er hatte vor Schmutz und Unordnung eine fast ängstliche Scheu; und nun sollte er als Gast in eine so schlimme Wirtschaft geraten! Einen anderen Übelstand erblickte er in dem Dasein einer Tochter. Über diese konnte die Tante nur sehr unzureichende Auskunft geben. Sie wußte nicht einmal deren Alter. Denn die Frau des Präsidenten sei schon tot gewesen, als er vor weit länger als einem Jahrzehnt an seinen jetzigen Posten gekommen war, und sie konnte sich nicht entsinnen, welches Alter die Kinder damals gehabt hätten.

Die ältere Tochter habe vor mehreren Jahren nach einem Örtchen im Gebirge geheiratet; die andere werde niemals erblickt, weder auf der Straße, noch am Fenster, weshalb zu vermuten stehe, daß sie von abschreckendem Äußern oder mit irgendeinem Schaden behaftet sei. Denn bei aller Sonderbarkeit des Präsidenten könne man unmöglich annehmen, daß er aus bloßer Willkür das Mädchen im Hause eingeschlossen halte. Im allgemeinen gelte der Präsident überall als Menschenfeind, dem niemand gerne nah käme. Nachdem die Tante diesen Bericht „nach bestem Wissen und Gewissen“, wie sie beteuerte, gegeben hatte, riet sie dem Neffen auf das dringendste, doch vorher noch bei anderen seine Erkundigungen einzuziehen.

Traugott hielt es für unschicklich, sich bei seinen Kollegen um die Verhältnisse des Vorgesetzten zu erkundigen; und da er keinen anderen Umgang hatte, kam der Sonntag heran, ohne daß er authentischere6 Nachrichten erfahren hätte. So schickte er sich nicht mit freudigen Erwartungen zu seinem Besuche an; er überlegte eine Weile, ob er seinen besten Rock in dieses übelberufene Haus tragen solle. Nachdem er sich für den mittelmäßigen, der im Vergleich mit den Anzügen des Präsidenten immer noch ein Staatskleid war, entschieden hatte, machte er sich auf den Weg, von den Segenswünschen der Tante begleitet.

Das Haus des Präsidenten lag am äußersten Ende der Stadt auf der Anhöhe. Ringsherum wohnten kleine Handwerksleute. Die Gasse mit dem holperigen Pflaster hatte ein dürftiges Aussehen; sie war öde, eng und schmutzig. Ehe Traugott den rostigen Türklopfer ergriff, spähte er zu den Fenstern hinauf, an denen manche Scheibe nicht mehr ganz war. Weit und breit zeigte sich keine lebende Seele; nur auf dem niedrigen Dache des Nachbarhauses sonnte sich eine Katze. Laut dröhnte der Klopfer durch die sonntägliche Stille; Traugott empfand einiges Unbehagen, als schlürfende Schritte im Flure hörbar wurden.

Aber die Magd, die ihm öffnete, war noch ganz rüstig und hörte auch nicht so schlecht, wie er nach der Schilderung der Tante erwartet hatte. Sie führte ihn eine zerspellte7 Holztreppe hinauf, die unter den Schritten knarrte, eine offene Galerie entlang, welche einen malerischen Ausblick auf altes Gemäuer und in die schattigen Wipfel des Gartens gewährte. Traugott fühlte sich nicht beglückt von dem Zauber der Altertümlichkeit, der hier webte; er hätte die Mauern frischer getüncht, die unebenen Dielen besser gebohnt8, die Einrichtungsstücke neu poliert gewünscht. Aber auf den altmodischen Möbeln lag kein Stäubchen, die Gläser und Schalen auf der Kommode blinkten, und Traugott gewann den Eindruck, daß hier im Innern dennoch eine ordnende, freundliche Hand walte.

Die Magd hatte ihn in dem kahlen und düstern Gemach, in welchem er diese Beobachtungen anstellte, einen Augenblick allein gelassen; dann kam sie zurück und bat ihn, ins nächste Zimmer zu treten. Dort saß der Präsident an einem Tische mit einem weiblichen Wesen, das der Türe den Rücken zukehrte. Traugott machte eine tadellose Verbeugung. Der Präsident begrüßte ihn trocken, ohne seinen Platz zu verlassen; die Tochter erhob sich und wendete sich dem Besucher zu. Da verlor Traugotts Haltung ihre elegante Sicherheit. Er starrte dem Mädchen betroffen ins Gesicht, stotterte einige unverständliche Worte, faßte sich für einen Moment, geriet aber sofort wieder in eine nie empfundene Verlegenheit.

Zu seinem Glücke schien der Präsident das Auffallende dieses Benehmens nicht zu merken; er lud ihn ein, sich auf einen Stuhl neben ihn zu setzen, und verwickelte ihn ohne jede Einleitung in ein Gespräch über Dinge, von denen Traugotts Gymnasiallaufbahn nur spärliche Begriffe zurückgelassen hatte, wie zum Beispiel die Astronomie. Daher beschränkte sich Traugott auf die Rolle eines stummen Zuhörers. Er bemerkte, daß die Bücher, welche auf dem Tische lagen, Lehrbücher waren und schloß daraus, daß der Präsident seiner Tochter eben Unterricht in den Gegenständen, mit denen er ihn jetzt zu unterhalten strebte, erteilt hatte. Dieses schöne häusliche Verhältnis machte eine so angenehme Wirkung auf ihn, daß alles, was die übrige Häuslichkeit zu wünschen übrigließ, in seinen Augen vollständig verschwand.

Als er sich von seiner ersten Bewegung erholt hatte, wagte er es, einen verstohlenen Blick auf die Tochter zu werfen. Ihr Anblick aber erneuerte die unbegreifliche Erschütterung seiner ganzen, sonst so ruhigen und soliden Gemütsverfassung. Er erinnerte sich nicht, jemals eine so anziehende weibliche Erscheinung gesehen zu haben. Ihre blauen Augen unter dunklen Brauen waren gedankenvoll auf ihren in lehrhaftem Tone weitersprechenden Vater geheftet; sie schien ihm aufmerksam zu folgen, aber ihre Mienen behielten dabei einen ergreifenden Zug sinnender Schwermut, der mit den jugendlich runden Formen ihres Gesichtes seltsam kontrastierte. Sie konnte ihr achtzehntes Jahr noch nicht überschritten haben, und die Jugend blühte auf ihren Wangen in den zartesten Tönen.

Als Traugott wieder den Präsidenten ansah, begriff er nicht recht, wie dieser häßliche, struppige Mann, der dickbäuchig und schwerfällig, ohne Halsbinde und mit herabgetretenen Hausschuhen in seinem ledernen Armstuhl lehnte, zu einer so liebreizenden Tochter kommen könne; aber diese merkwürdige Tatsache erhöhte seinen Respekt entschieden. Überhaupt war Traugott geneigt, alles, was hier vorging, zugunsten seines Vorgesetzten zu deuten. Daß derselbe immer fortredete, beinahe ohne von seiner Anwesenheit Notiz zu nehmen, und während des Redens häufig unangenehm schnaubte, auch wiederholt gähnte, ohne den Mund mit der Hand zu bedecken, legte er als Eigenheiten aus, die jedem Gelehrten gestattet sind. Aus dem gleichen Grunde fand er es nicht verletzend, daß der Präsident, als er seine Rede beendigt hatte, ihn ohne weitere Umstände fortschickte, indem er seiner Tochter befahl, den Gast hinabzubegleiten. Diese zeigte sich ohne Befangenheit dazu bereit. Desto größer war Traugotts Verlegenheit. Mit jeder anderen jungen Dame hätte er wohl ein Gespräch einzuleiten gewußt; aber was sollte er mit diesem weltfremden, schönen Kinde reden?

Das Gespräch über astronomische Probleme konnte er nicht gut fortsetzen; und so suchte er vergeblich nach einem passenden Worte, während sie die holprigen Gänge und Treppen leichtfüßig vor ihm herging. Daß er ihre Gestalt unausgesetzt betrachtete, erhöhte seine Geistesgegenwart keineswegs. Warum fesselten ihn diese kastanienbraunen Haare so sehr, die im Genick als ein zusammengebundenes Lockenbüschel auf einen breiten, weißen Kragen fielen, und diese Löckchen über ihrer Stirne, die von rückwärts als eine dunkle Aureole9 über ihrem Scheitel sichtbar waren? Warum dieses kleine, rotangehauchte Ohr, das einzige, was er von ihrem abgewendeten Gesichte sehen konnte? Erst an der Türe raffte er sich auf und gab in wohlgesetzten Worten der Hoffnung Ausdruck, sein Besuch möge ihr nicht allzu lästig gefallen sein. Da sah sie ihn mit ihren gedankenvollen Augen erstaunt an und sagte freundlich:

„Allzu lästig? Gar nicht lästig!“

Die Tante war wenig zufrieden mit den Auskünften, die der Neffe über die Mäuseburg von sich gab. Einsilbig versetzte er auf ihre dringende Erkundigung nach den dort herrschenden Zuständen: „Es ist nicht so arg“, doch versäumte er nicht, nachdrücklich hinzuzufügen: „Der Präsident ist ein ausgezeichneter Mann, ein ganz ausgezeichneter Mann.“

Sie aber nahm die Gelegenheit wahr, ihn einige Bemerkungen hören zu lassen, die ihr über seine eigene Person zu Ohren gekommen waren; denn sie bediente sich ihrer verwandtschaftlichen Rechte mit Vorliebe in dieser Richtung. Er wäre das vollendetste Muster eines jungen Mannes, sagte sie, ein Spiegel aller erdenklichen guten Eigenschaften, nur eines fehle ihm zur Vollkommenheit: die Geselligkeit. Warum er sich denn nicht bemühe, in die guten Kreise der Stadt eingeführt zu werden, warum er so eingezogen die Tage seiner Jugend verbringe? Das schikke sich doch nicht für einen jungen Mann, der im übrigen ganz dazu gemacht sei, eine Zierde jeder Gesellschaft zu bilden. Und da er noch immer nicht heraus wollte mit der Sprache, ließ sie ihn merken, sie habe ihn ein wenig im Verdacht jener albernen Eitelkeit, von welcher junge Leute zuweilen befallen würden, der Eitelkeit, als ein Sonderling zu erscheinen. In der Tat sei er auch in der Stadt bereits als ein solcher verschrien.

„Wie?“ rief er entrüstet. „Ich ein Sonderling? Was um Himmels willen tue ich denn, daß ich in diesen unangenehmen Ruf kommen konnte? Ich bin doch kaum länger als ein Vierteljahr hier; als ich kam, trug ich noch Trauer, um meine gute Mutter – ist es da nicht selbstverständlich, daß ich mich zurückgezogen habe? Gewiß, liebe Tante: niemand kann weniger ein Sonderling sein wollen als ich; mein höchster und eigentlich einziger Ehrgeiz ist vielmehr, ein korrekter, normaler Mensch zu sein. Alles, was ich tue, geschieht wirklich nur in dem Bestreben, möglichst gut mit jedermann auszukommen.“

„Nun ja, lieber Neffe“, sagte die Tante, noch nicht zufriedengestellt, „das ist ein sehr löbliches Bestreben; aber was haben wir denn davon, wenn Sie sich von aller Geselligkeit ausschließen, um gerade nur mit dem Präsidenten zu verkehren?“

Traugott versetzte ablehnend: „Ach, liebe Tante, ich glaube nicht, daß meine bescheidene Persönlichkeit Gegenstand irgendwelcher Aufmerksamkeit ist.“ Und als die Tante eifrigst widersprach – so eifrig, daß sie in Traugott die Vermutung erweckte, sie habe irgendein persönliches Interesse daran, ihn in die Gesellschaft der Stadt einzuführen – fragte er: „Ja sagen Sie mir, wenn man schon mich für einen Sonderling hält, als was gilt dann der Präsident?“

„Als ein Narr“, antwortete die alte Dame ohne Umschweife. Damit hatte sie sich’s aber mit Traugott verscherzt. Er unterdrückte eine ärgerliche Antwort, weil er unverbrüchlichen Respekt vor dem Alter und vor der öffentlichen Meinung hegte, und begnügte sich, mit einem Seufzer zu sagen: „Wer es doch allen recht machen könnte!“

Nach vierzehn Tagen oder mehr verfehlte10 der Präsident nicht, seinen Schützling zum Abendbrot einzuladen. Nun war es für Traugott ernstlich Zeit, sich darüber Rechenschaft zu geben, welchen Zweck diese Einladungen hätten. Es kostete ihm nicht viel Nachdenken, bis er zur Gewißheit gelangte, sein Vorgesetzter verfolge dabei ein Heiratsprojekt; allerdings erleichterte ihm sein Herz diesen Ideengang. Sein Herz? Hatte er denn je seinem Herzen solche Rechte gestattet? Hatte er es nicht immer als eine lächerliche und unwürdige Kinderei betrachtet, wenn ein Mann sich auf den ersten Anblick hin in ein weibliches Wesen verliebte und sogleich an eine dauernde Verbindung dachte? Daher konnte er sich nun nicht eingestehen, daß er verliebt sei; aber ebenso unmöglich war es ihm, eine auffallende Sympathie für das liebliche Kind in der Mäuseburg aus seinem Innern wegzuleugnen.

An sie zu denken, sich ihre anmutige Gestalt und ihre schwermütige Miene ins Gedächtnis zurückzurufen, war ihm während dieser vierzehn Tage eine angenehme Beschäftigung gewesen; ja in den vier Worten, die sie zu ihm gesagt hatte, lag für ihn ein geheimnisvoller, unwiderstehlicher Zauber. Da es aber nach seiner Ansicht in der Welt nichts unlösbar Geheimnisvolles geben durfte, suchte er seine Gefühle ohne alle sentimentalen Illusionen auf die wahre Ursache zurückzuführen und sagte: Sie ist reif zur Ehe, und ich bin reif zur Ehe – welcher Vorgang könnte also natürlicher sein, als diese gegenseitige Anziehung? Auf diese Weise schien ihm seine Verständigkeit salviert;11 denn Verständigkeit vor allem dünkte ihm ein Kennzeichen der korrekten Menschen. Er überlegte auch bereits alle Für und Wider einer Heirat, damit er, falls seine Erwägungen ungünstig ausfielen, sich noch beizeiten ohne Eklat zurückziehen könne.

Aber die Tochter des Präsidenten war als eine entsprechende Partie zu erachten, jung, hübsch, wohlerzogen, unverdorben – und so verfügte er sich mit starker Seele in das Haus seines Vorgesetzten, überdies entschlossen, die kleinen Ungeschicklichkeiten seines Benehmens wettzumachen und sich ins beste Licht zu setzen.