Traum vom besseren Leben - Gaby Hauptmann - E-Book

Traum vom besseren Leben E-Book

Gaby Hauptmann

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Beschreibung

Eine Frau, ein Gasthof – und eine bewegende Geschichte Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, der »Hirschen« hat eine dunkle Zeit überstanden. Nun wollen Anna und ihr Mann August nach vorn blicken, die Ärmel hochkrempeln und ein neues Kapitel mit ihrem Gasthof aufschlagen. Doch das Leben hat anderes mit ihnen vor – Anna stirbt sehr überraschend. Und trotz aller Trauer über ihren Verlust muss August eine Frage klären: Wer übernimmt den »Hirschen«? Seine älteste Tochter Maria wäre eine perfekte Wahl, aber sie ist Witwe. Und ohne den richtigen Mann ist die Aufgabe nicht zu lösen. Aber August glaubt zu wissen, wo die Antwort auf diese Frage liegt ...

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

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Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: imageBROKER / Karl-Heinz Schein / Getty Images und Shutterstock.com

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Prolog

Frühjahr 1950

Verlockung

Illusion

Wiedersehen

Schmetterlinge

Ernüchterung

Aufregung

Gerüchte

Tiefe Gedanken

Große Bürde

Marias Plan

Marias Geburtstag

Neuigkeiten

Die nächsten Tage

Familienplausch

Hochzeit

Störfeuer

Verwegene Idee

Vive la France

Anschlag

Entdeckung

Überraschung

Der Beweis

Ränkespiele

Zuversicht

Drohung

Schlagabtausch

Der Plan

Schlimme Nachricht

Der Artikel

Unfall

Freudentag

Muttergefühle

Steckborn

Neue Energie

Volksabstimmung

Erkenntnisse

Augusts Streich

Heiligabend

Fasnet

Die Familie wächst

Die Welt dreht sich

Alefanz

Ein später Gast

Die Geschichte hinter der Geschichte

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Widmung

Für Renate und Peter Fischer – aus einem lockeren Gespräch über meinen damals neuen Roman »Nur ein toter Mann ist ein guter Mann« wurde eine achtundzwanzigjährige enge Freundschaft.

Prolog

Frühjahr 1950

Karl drehte sich um, als die Ladenglocke hinter ihm klingelte. Er hatte gerade einen Schweinenacken aus der Wurstküche hereingetragen, den er für den Verkauf vorbereiten wollte, und legte ihn ab, als er sah, wer seinen Fleischerladen betreten hatte.

»Grüß dich, August.«

Karl wischte sich die Hände an seiner weißen Schürze ab. Dann schüttelten sich die beiden Männer über die Wursttheke hinweg bedeutsam die Hände, während sie sich in die Augen sahen.

»Mein Beileid«, sagte Karl. »Anna war eine wunderbare Frau. Immer tüchtig, immer hilfsbereit, immer freundlich.«

»Ja«, erwiderte August langsam, »ja, das war sie.«

Sie schwiegen. Dann räusperte sich August. »Und nun ist das Problem, dass sie fehlt. Nicht nur mir, der Familie, sondern natürlich auch … als Wirtin!«

Karl nickte. »Wie ich hörte, ist ja Maria zu euch in den ›Hirschen‹ zurückgekehrt.«

»Ja«, sagte August, »Annas Tod ist ja auch schon wieder eine Weile her …«

»Ja, entschuldige«, unterbrach ihn Karl schnell, »ich habe es seither einfach nicht nach Horn geschafft …«

August winkte ab.

»Maria ist eben meine Älteste, da lag es nahe, bei fünf Töchtern. Zudem ist sie ja Witwe, nachdem ihr Mann im Krieg gefallen ist.«

»Wenige Monate nach ihrer Hochzeit«, ergänzte Karl nachdenklich und nickte wieder.

August zuckte mit den Achseln. »Das Leben spielt sein eigenes Spiel. Aber nun …«, er hob den Blick und sah Karl in die Augen, »braucht sie einen Mann. Und ich einen Schwiegersohn.«

Karl runzelte kurz die Stirn.

»Sie braucht einen Mann? Oder sie will einen Mann?«

»Das kannst du sehen, wie du willst.« August machte eine kurze Pause. »Du wärst schon der passende Schwiegersohn, finde ich.«

»Ich?« Karl starrte August überrascht an.

»Ja, gefällt sie dir denn nicht?«

»Doch, ich …« Karl fiel im Moment nichts dazu ein. Er hörte seine Schwester im Nebenraum rumoren und senkte die Stimme. »Das ist doch nicht dein Ernst?«

»Doch, gerade schon!«

»Es ist ja nicht nur«, Karl holte Luft, »dass sie mir gefallen muss, ich muss ihr ja auch gefallen.« Er stutzte. »Weiß sie überhaupt von deiner Absicht?«

August zuckte noch einmal die Schultern. »Du lädst sie demnächst mal zum Essen ein. Dann ergibt sich das.«

Karl schüttelte den Kopf.

»Du heckst da einen Plan aus …« Er drehte sich nach seiner Schwester um, die mit einer Wurstplatte hereinkam.

»Oh, grüß Gott, August«, sagte sie. »Das war wirklich eine schöne Beerdigung. Dazu so ein schöner Frühlingstag, Anna hätte es gefallen.« Sie stellte die Platte in die Auslage. »Gott sei ihrer Seele gnädig.« Sie blickte auf. »Was können wir für dich tun?«

»Danke«, sagte August, »es war nur ein kurzer Plausch mit deinem Bruder.«

»Plausch?« Irma sah ihren Bruder fragend an.

Der zuckte die Achseln, während August sich zum Gehen wandt. »Euch beiden noch einen schönen Tag«, wünschte er und war draußen.

Verlockung

Es war ein schöner Sommertag, geradezu geschaffen für ein paar Stunden, in denen man nur im warmen Gras sitzen und in die langsam dahinziehenden Wolken hinaufschauen wollte. Genau das tat Maria und lehnte sich dabei an die warmen Quadersteine der Kirche, die hoch über der kleinen Ortschaft Horn thronte.

Sie beobachtete eine kleine Eidechse, die über die unebenen Steine flitzte und an einer sonnigen Stelle verharrte.

Ihr gefällt es auch, dachte Maria und spähte an dem Tier vorbei die Kirchenmauer entlang, ob Horst wohl kommen würde. Versprochen hatte er es ihr nicht, aber er wusste, dass dies ihr Lieblingsplatz war – wann immer sie sich von der Arbeit frei machen konnte, war sie hier.

Maria zog die Beine an und strich den geblümten Stoff ihres neuen Sommerkleides über den Knien glatt. Ihre jüngere Schwester Cecil hatte es für sie genäht. Sie hatte die Schnittmuster in der neuen Zeitschrift Burda-Moden entdeckt und war nun ganz wild darauf, alle möglichen Vorlagen auszuprobieren und für jede ihrer vier Schwestern ein todschickes Kleid, wie sie sagte, zu schneidern.

So hatte Maria hübsche Garderobe, und das war ihr sehr recht, denn schließlich wollte sie Horst, dem etwas eigenwilligen Maler aus dem kleinen Weiler oberhalb von Horn, gefallen. Sie verschränkte ihre Arme auf den Knien und legte das Kinn auf ihren Unterarmen ab. Ihr Blick glitt den Hang hinunter zum See, der verlockend glitzerte, wanderte über die vereinzelten Boote hinüber zum Schweizer Ufer und von dort aus weiter zu den schroffen Felsgipfeln der Alpen, die sie undeutlich in der Ferne sah. Die sommerliche Hitze ließ die Luft flirren, und da sich kein Lufthauch regte, wurde es Maria langsam zu heiß. Auch die kleine Eidechse hatte sich inzwischen ein Schattenplätzchen zwischen den Steinen gesucht.

Gerade wollte Maria ein bisschen enttäuscht aufstehen, um wieder an ihre Arbeit zu gehen, als sie Schritte auf dem Kies hörte. Und kurz darauf bog Horst um die Ecke. Er trug eine modische weite Bundfaltenhose und ein weißes Hemd, das er nachlässig hineingestopft hatte. Seine dichten, dunkelblonden Haare hatte er über der Stirn zurückgestrichen, und wie er so auf sie zukam, erinnerte er sie an diesen jungen Schauspieler aus Amerika, Lex Barker, der ihre Schwestern gerade so verrückt machte. Aber es stimmte ja auch, so ein Typ Mann war einfach aufregend. Und Horst war es auch.

Sie spürte ihr Herz schneller schlagen.

»Wartest du schon lange?«

Er warf ihr einen Blick zu, der ihr durch Mark und Bein ging, dann hauchte er ihr die Andeutung eines Kusses auf den Mittelscheitel und setzte sich neben sie. »Ich hatte endlich mal einen Kunden, der echtes Interesse zeigt.«

»Oh, Horst«, sagte sie schnell und war versucht, nach seiner Hand zu greifen, hielt sich aber zurück, »das wäre einfach himmlisch, wenn deine Bilder ankommen würden …«

»Endlich ankommen würden!«, sagte er in etwas trotzigem Ton. »Verdient hätten sie es ja schon lange!«

Maria erwiderte nichts. Sie konnte mit seinen abstrakten Gemälden nicht so sehr viel anfangen. Eine blaue Leinwand mit ein paar gelben Klecksen als sich im Wasser spiegelnde Sonne vermittelten ihr eben nicht die Schönheit des Bodensees, den sie zu ihren Füßen sah, so sehr sie sich auch bemühte.

Aber sie war verliebt, und deshalb wünschte sie ihm vor allem ganz viele Käufer, denn das war es, was er am dringendsten brauchte. Und, das hatte sie sich bereits in vielen Tagträumen ausgemalt, es könnte auch die Basis für sie beide sein. Das war ihr sehnlichster Wunsch.

Horst legte eine Hand auf ihr Knie.

»Schöner Stoff«, sagte er. »So lebensfroh. Tolle Farben. Rot und gelb, Sommerfarben!« Er lächelte ihr zu. »Es passt zu dir, frisch und immer gut gelaunt. Und so ein fröhliches Kleid macht ja auch gute Laune.«

Maria freute sich, aber noch mehr hätte sie sich gefreut, wenn er etwas Nettes über sie gesagt hätte. Über das, was in dem Kleid steckte.

»Hättest du Lust, mich heute Abend zu besuchen?«, wollte er wissen, »Auf ein Gläschen Wein? Im Atelier?«

Das war verlockend, aber auch gefährlich. Horst wohnte in seinem Atelier, wobei das Wort wohl etwas hochtrabend für die umgebaute Scheune war, in der es im Winter ordentlich zog, wie Horst ihr verraten hatte. Das konnte sie sich gut vorstellen, erlebt hatte sie es noch nicht, denn sie hatte ihn erst vor knapp vier Wochen kennengelernt und bisher nur einmal kurz bei ihm Kaffee getrunken – und sich ziemlich rasch in seine unkonventionelle Lebensweise verliebt. Und in ihn.

Trotzdem … ein Glas Wein, sein Bett in der Nähe, ihre Gefühle, sie traute sich selbst nicht. Aber sie war auch nicht sicher, was er für sie empfand. Ging es um eine kleine Romanze oder um mehr?

»Maria?«, fragte er nach.

Sie wandte ihm das Gesicht zu.

»Ich erwarte dich!«

Er war so nah, duftete nach einem herben Rasierwasser, und es war so schön, seinen Arm zu spüren, der sie an sich zog. Als er sie küsste, dachte sie, dass sie heute Abend jeden späten Gast aus der Wirtschaft jagen würde, nur um in seinen Armen liegen zu können.

Als Maria eine halbe Stunde später die schmale Kirchgasse zum »Hirschen« hinunterging, hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie so lange ausgeblieben war, aber fand das Leben schön. Sie war dreißig Jahre alt, seit fünf Jahren Witwe. Sie hatte Alois geliebt und als er 1945 auf Fronturlaub kam, hatten sie geheiratet, und sie war zu ihm nach Öhningen gezogen.

»Es wird nichts mehr passieren«, hatte er ihr während der wenigen Tage daheim versichert. »Egal, was sie jetzt noch propagieren, es wird keinen Sieg für Deutschland geben! Das Spiel ist aus!«

Maria hatte ihren Zeigefinger erschrocken auf seinen Mund gelegt, die Wände hatten Ohren. Und auf Volksverhetzung stand der Tod. Er hatte gelacht und sie in die Arme genommen.

»Bald bin ich wieder da, und dann können wir unser Eheleben so richtig genießen. Keiner will mehr diesen sinnlosen Kampf!«

»Sinnlos war es schon immer!«, hatte Maria geantwortet. »Max, der Bruder meiner Mutter, ist sinnlos im Ersten Weltkrieg gestorben. Er war noch so jung und liegt irgendwo in Frankreich verscharrt.«

»Ich weiß!« Alois hatte sie auf die Stirn geküsst. »Das war furchtbar für deine Familie. Jeder Tod ist furchtbar!« Und dann hatte er ihr direkt in die Augen gesehen. »Du trägst meinen Ring. Und wir beide werden es schaffen!«

Kurz danach war sie Witwe geworden. Und der Krieg zu Ende. Es war so unfassbar gewesen. Doch nun waren über fünf Jahre vergangen, es war Hochsommer 1950, und in ihr pochte das Gefühl, wieder leben zu wollen. Ausgehen, fröhlich sein, lieben. Nicht nur arbeiten, wie sie es seit dem Tod der Mutter im »Hirschen« tat. Sie war nicht nur für das Florieren des Wirtshauses zuständig, sondern auch für den Haushalt, die Landwirtschaft und ihre vier jüngeren Schwestern. Sie war die Älteste, und es war ihre Aufgabe, ihre Pflicht, sie wusste es. Und trotzdem war es eine große Bürde, die ihr da auferlegt worden war.

Mama, dachte sie, du bist einfach viel zu früh gegangen. An Überanstrengung gestorben in den Kriegsjahren, hatte ihr Vater gesagt. All die vielen evakuierten Frauen und Kinder, die nach der Bombardierung deutscher Städte im »Hirschen« zwangsuntergebracht waren, dazu die ständige Überwachung durch die Gestapo, und nach dem Krieg kamen die Flüchtlinge und nach ihnen auch noch die Franzosen, die den »Hirschen« besetzten, bevor sie ihr Quartier im nahen Marbach aufschlugen. Das alles war zu viel, Anna erlitt einen Nervenzusammenbruch, an dessen Folgen sie starb. Vielleicht, hatte ihr Vater gesagt, vielleicht, wenn es die richtige Medizin gegeben hätte … aber trotz seiner Beschaffungskünste konnte ihr Vater die nötige Arznei nicht auftreiben.

Maria schüttelte die Gedanken ab und stieß die hintere Wirtshaustür zur Küche auf.

»Ich bin wieder da«, rief sie und hätte es sich auch schenken können, denn niemand war da, der den Gruß hätte erwidern können. Und so band sie sich ihre Schürze um und sah auf die Uhr. Bald würden die ersten Kaffee- und Kuchengäste kommen, zudem musste sie Vorbereitungen für den Abend treffen. Die allgemeine Aufbruchsstimmung war auch auf die Höri geschwappt, auf die malerische Halbinsel zwischen Radolfzell und Stein am Rhein.

Der »Hirschen« hatte seit Monaten stetig stärkeren Zulauf, was am schönen Platz nahe dem Bodenseeufer, aber auch am guten Essen lag. Und Marias Küche war beliebt, das Kochen hatte sie bei ihrer Mutter gelernt, die eine ausgezeichnete Köchin gewesen war. Und während sie das Gemüse aus der Speisekammer holte, wurde Maria wieder einmal klar, sie liebte den »Hirschen«, hier war sie mit ihren Schwestern aufgewachsen, hier hatten sie ihre Jugendjahre erlebt.

Es war alles gut – nur, dass sie für eigene Entscheidungen nicht frei war.

Maria dachte an Horst. Wie könnte das zusammengehen, sie als Wirtin und er als Künstler? Warum nicht, überlegte sie im selben Atemzug. Sie würden sicherlich eine Lösung finden, wenn er sie liebte … Und das würde sie heute Abend herausfinden.

Die Fleischbrühe köchelte, es stiegen kleine Blasen auf, und Maria schöpfte gerade den Schaum ab, als Hilde hereinkam. Manchmal erschien es Maria etwas seltsam, denn Hilde hatte schon auf sie aufgepasst, als sie zwei war. Maria war damals mit ihren Eltern aus Steckborn nach Horn gekommen, und Anna und August hatten sich als junge Eheleute in das Abenteuer »Hirschen« gestürzt, nachdem sie 1922 den Kaufvertrag unterschrieben hatten.

Hilde, das Nachbarmädchen, hatte damals nicht nur auf sie, sondern später auch auf ihre jüngeren Schwestern aufgepasst. Für Maria war sie mehr ältere Schwester denn ihre Mitarbeiterin, die für den »Hirschen« arbeitete.

»Der Garten ist schon fast voll besetzt«, erklärte Hilde und zog die beiden Kuchen aus dem Ofen, die sie am Morgen gebacken hatte. »Mal sehen. Gedeckter Apfelkuchen mit Streusel und gemischter Beerenkuchen. Der Zwetschgenkuchen gestern war in kürzester Zeit weg. Eigentlich sollten wir drei Kuchen täglich backen, es werden immer mehr Gäste.«

»Das Wirtschaftswunder lässt grüßen.« Maria zog eine Augenbraue hoch. »Alle wollen gut essen …«

»… und einen gestandenen Mann haben«, ergänzte Hilde und deutete einen riesigen Bauch an.

»Der nichts anderes als furchtbar fett ist«, setzte Maria noch eins drauf. Sie lachten beide.

»Nichts für uns«, sagte Hilde, deren Mann groß und hager war.

Maria dachte an Horst und nickte.

»Sie verwechseln Dicksein mit Erfolg. Na ja.« Sie seufzte, denn erfolgreich war Horst leider nicht. Bisher, tröstete sie sich sofort. Vielleicht fehlte ihm nur die richtige Frau, die hinter ihm stand.

»Deine Kuchen sind eben richtig gut«, sagte sie zu Hilde, die sie gerade in gleich große Teile schnitt. »Und wenn du fünf machen würdest, wären die spätestens um fünf auch alle weg.«

Hilde wiegte den Kopf. »Ist mir aber zu langweilig. Ich helfe dir nachher lieber Spätzle schaben und die Kartoffelbällchen vorbereiten. Dabei kann man die Gedanken so herrlich schweifen lassen.«

»Wohin schweifen sie denn?«, wollte Maria wissen und hievte den Korb mit Kartoffeln auf die Arbeitsfläche ihres großen Tisches.

»Warum du so schönes kastanienbraunes Haar hast und ich nur so eine fahle Hundefarbe.«

»Unsinn!« Maria warf ihr einen Blick zu. »Das glaubst du ja wohl selbst nicht. Du bist dunkelblond, das ist eine sehr ansprechende Farbe!« Wieder gingen ihre Gedanken kurz zu Horst. »Also, worum kreisen deine Gedanken wirklich?«

»Ob meine beiden Racker auch brav die Hausaufgaben machen!«

Maria schüttelte den Kopf. »Das glaube ich dir nicht.«

Hilde richtete Sahne und Rührgerät für die Schlagsahne her, dann sah sie auf. »Also gut. Sie kreisen um dich!«

»Um mich?«

Maria warf ihr einen Blick zu. »Warum denn um mich?«

»Na«, Hilde machte eine allumfassende Bewegung. »Mit dem allem hier. Dem ganzen Betrieb, der Feldwirtschaft, Haushalt, deine Geschwister … Du bist mit allem doch ganz schön alleine gelassen!«

Maria holte tief Luft. »Mag sein. Aber das war Mama auch. Es war uns bloß nicht so klar, weil immer alles so reibungslos lief.«

Hilde nickte. »Und weil sie sich nie beklagt hat, nie etwas gefordert hat, dem August nie … entschuldige … in den Hintern getreten hat, ist sie am Schluss an Erschöpfung gestorben. Das macht mir Sorgen!«

Maria erstarrte. Sie musste sich kurz sammeln.

»Sorgen?«, fragte sie nach und fügte schließlich hinzu: »Und was schlägst du vor?«

»Du brauchst jemanden an deiner Seite. Am besten einen Koch, damit du dich um alles andere kümmern kannst. Oder einen Landwirt, der irgendwie alles kann. Jedenfalls kannst du nicht alle Last dieses Unglücks auf deinen …«, sie zögerte, »zarten Schultern tragen. Das kann nicht gut gehen.«

»Ach, Hilde.«

Gerührt putzte Maria ihre Hände an der Schürze ab und ging auf ihre Freundin zu. Hilde kam ihr entgegen, und kurz darauf lagen sie sich in den Armen.

»Es ist so gut, dass es dich gibt«, sagte Maria, den Tränen nah.

»Es ist auch gut, dass es dich gibt!«, echote Hilde und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Wir brauchen einen geeigneten Mann für dich!«

»Wäre eine Frau nicht geeigneter?«

Hilde musste lachen. »Stimmt. Aber eine Frau heiraten?«

Maria löste sich von Hilde und zuckte die Achseln. »Dann hätte Horn jedenfalls mal eine waschechte Sensation!«

Hilde griff nach der Kuchenplatte. »Hältst du mir mal kurz die Türe auf? Ich denke, da draußen stehen sie schon Schlange.«

Erst abends kam Maria wieder dazu, über Hildes Worte nachzudenken. Am besten einen Koch oder einen Landwirt, hatte sie gesagt. Wäre ihr Horst eine Hilfe? Natürlich nicht. Eher wäre er neben ihren Schwestern eine weitere Aufgabe, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass er je eine Familie würde ernähren können. Vielleicht tat sie ihm aber auch unrecht? Vielleicht fehlte tatsächlich nur eine treibende weibliche Kraft?

Sie erinnerte sich an ihr Versprechen, das sie sich am Mittag selbst gegeben hatte: Sie würde heute Abend herausfinden, was Horst wirklich für sie empfand. Ob es nur eine Liebelei war. Oder ob er ernste Absichten hatte. Vielleicht wusste er es ja selbst noch nicht so genau. Aber sie. Und sie war gewillt, ihm da auf die Sprünge zu helfen.

Es war kurz nach neun, als Maria ihre Schürze abnahm und den Rest Emml überließ, einer resoluten Frau um die fünfzig, die abends einsprang, wenn Hilde alleine nicht mehr nachkam oder wenn es zu spät wurde.

»Geh nur«, winkte sie, »mit der gierigen Meute werde ich auch alleine fertig!«

Das war ihr leicht anzusehen, dachte Maria, denn Emmls kräftige Statur und ihre entschlossene Miene hatten schon so manchen späten Zecher vor die Wirtshaustür gebracht.

»Danke«, Maria winkte ihr zu und war froh, dass Emml nicht nachfragte. Nur ihr Blick unter dem tief in die Stirn gezogenen Kopftuch zeigte Maria, dass sie es doch gern gewusst hätte.

Maria ging schnell hinaus und traf in der Scheune, wo sie ihr Fahrrad aus der Ecke herausschob, auf ihren Vater.

»Holla!« August musterte sie. »Wohin des Weges?«

»Und was machst du da in der Ecke?«, stellte sie die Gegenfrage.

»Luftschnappen ist nicht schlecht«, sagte er schnell. »Zumal an so einem lauen Sommerabend. Aber es dunkelt schnell, pass also auf!«

»Aufpassen? Auf lauernde Banditen am Straßenrand?«

»Du bist eine hübsche junge Frau …«

»Danke«, sagte Maria und schwang sich auf ihr Fahrrad. Über Augusts dunkle Geschäfte hatte ihre Mutter schon geklagt. Und seit es Penicillin in der Schweiz gab, in Deutschland aber nicht, versorgte August die Kliniken und Arztpraxen, wie es hinter vorgehaltener Hand hieß. Früher, hatte ihre Mutter erzählt, waren es die Gegauf-Nähmaschinen aus Steckborn, die er über den See geschmuggelt hat. Immer gemeinsam mit Hans-Ueli. Mehr wollte Anna davon gar nicht wissen, zumal sie an ihrem fünften Hochzeitstag mit August und Hans-Ueli auf der Rückfahrt von Steckborn fast ertrunken wäre, als das Boot von Grenzpolizisten beschossen worden war.

Jedenfalls hatte August nach dem Krieg, als es noch kaum etwas gab, für eine volle Kasse gesorgt, und das war bei einer siebenköpfigen Familie Gold wert, das hatte ihre Mutter immer wieder betont. Vor allem, weil der »Hirschen« nach der Zwangsrekrutierung und französischen Besetzung wirtschaftlich schlimm am Boden gelegen hatte.

Anna hatte nie nachgefragt, und das wollte Maria auch in Zukunft nicht tun.

Gedankenverloren war sie die fünf Kilometer geradelt und schneller in dem Weiler, in dem Horst wohnte, angekommen als gedacht.

Es war eine kleine Ansammlung von Häusern, sie standen eng aneinandergeschmiegt, und im hintersten, mit Blick auf die weiten Wiesen, hatte Horst sein Atelier. Maria war bisher nur einmal hier gewesen, ziemlich am Anfang hatte sie ihn einmal begleitet, hatte einen Kaffee bei ihm getrunken, aber vor lauter Aufregung kaum etwas wahrgenommen. Außer eben, dass es mehr einer ausgebauten Scheune als einem wirklichen Haus glich.

Ihr Puls raste, als sie ihr Fahrrad neben den Eingang an die Hauswand lehnte, also hielt sie zur Beruhigung kurz den Atem an, strich sich durch die Haare und rieb kurz ihre Wangen, um sie rosiger werden zu lassen, schließlich klopfte sie.

»Komm rein, die Tür ist offen.«

Das war nicht gerade die romantische Begrüßung, die sie sich erhofft hatte, aber Maria schob die Türe auf und trat ein. Vom kurzen Flur ging es ins Atelier, wo sie überrascht stehen blieb.

Kerzenlicht, wohin sie sah, ein einziges Geflacker. Sie versuchte, sich zu orientieren, dann sah sie ihn. Horst kam ihr mit einem Glas Wein entgegen.

»Willkommen in meinem Reich.«

Er reichte ihr das Glas.

»Danke.«

Maria nahm es und wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Wie sollte sie ihn begrüßen? Und was hatte er denn da an? Ein schwarzes, fließendes Gewand. Einen Morgenmantel?

»Hab ich dich erschreckt?«

»Nein, nein«, erwiderte sie schnell. »Ich muss mich nur … ich bin überrascht.«

»Komm.« Er reichte ihr die Hand und führte sie zwischen den Kerzen, die am Boden standen, durch den Raum hindurch. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das zuckende Licht, und sie erkannte, worauf er zusteuerte. Auf einem kleinen Tisch neben dem großen Bett hatte er ein längliches Holzbrett mit aufgeschnittener Wurst und gewürfeltem Käse gerichtet, daneben stand eine Flasche Wein.

»Komm, setz dich«, sagte er und rückte ihr den Stuhl zurecht.

Maria versuchte, ihre Fassung wiederzugewinnen.

»Gefällt es dir?«, wollte er wissen.

»Ja, so etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte sie, »es ist aufregend.«

»Aufregend ist gut!«

Horst hob sein Glas, um mit ihr anzustoßen. Das Kerzenlicht warf unheimliche Schatten auf sein Gesicht, und hätte sie es nicht besser gewusst, hätte er auch das »Phantom der Oper« sein können, zumindest hatte sie ihn sich beim Lesen des Romans so vorgestellt.

»Es ist schön, dich hier bei mir zu wissen«, sagte er, und Maria spürte einen Schauder, der ihr über den Rücken lief. Was war es? Sie konnte es nicht deuten.

Sie tranken einen Schluck, dann senkte sich Schweigen über sie. Maria suchte krampfhaft nach einem Thema, aber ihr fiel nichts ein.

»Was denkst du?«, fragte Horst, der noch immer regungslos da saß.

»Ich denke«, antwortete Maria langsam, »dass ich gerade nichts denke.«

»Aufregend, hast du gesagt. Oder ist dir das eher unheimlich?«

Er machte eine Handbewegung über das Lichtermeer.

»Ich weiß nicht.« Maria überlegte. »Ja. Nein … eigentlich …« Sie ließ den Satz in der Luft hängen.

»Begib dich in eine andere Sphäre.« Er sah sie unbewegt an. »Mach dich frei von der Anziehungskraft, von der Schwere der Erde, den kleinkarierten Aufgaben des Alltags.«

Maria schluckte und rutschte auf ihrem Stuhl in eine andere Position.

Horst stand langsam auf. Wie er so in seinem schwarzen Seidenmantel, von Kerzen beschienen, dastand, glaubte sie wirklich an etwas Überirdisches, an eine andere Macht.

Sie war sich nur nicht sicher, ob gut oder böse.

»Dies hier«, und Horsts Stimme klang beschwörend dunkel, »ist eine Illusion. Eine Form von Kunst.«

Nachdem Maria nicht antwortete, fuhr er fort. »Wenn du eine Weile über die vielen Flammen hinwegsiehst, die sich bewegen, züngeln, zischen, lebendig scheinen, dann beginnt sich auch deine Fantasie zu regen, entwirft Bilder, nimmt dich mit.«

Maria versuchte es, sah an ihm vorbei über die Flammen hinweg, aber sie sah nur sehr viele Kerzen, die Horst irgendwie auf die Bretterdielen des Fußbodens geklebt hatte. Und in ihr regte sich ein völlig anderes Gefühl – sie saßen in einer Scheune. Was, wenn eine der Kerzen umkippte und sich die Flamme in das viele Holz fraß? Sie hatte erlebt, wie der »Hirschen« im April 1927 abgebrannt war, da war sie gerade acht Jahre alt gewesen. Die am Holz leckenden hohen Flammen würde sie ihr Lebtag nicht vergessen, das Ächzen der gewaltigen Balken, als sie zusammenbrachen und der mächtige Dachstuhl herabstürzte.

Sie wollte gerade aufstehen, da begann Horst eine Kerze nach der anderen zu löschen. In die plötzliche Dunkelheit hinein knipste er eine Lampe an. Das grelle Licht ließ Maria blinzeln, und sie schirmte ihre Augen mit der Hand ab.

Horst kam lächelnd auf sie zu.

»Verstehst du, was ich meine? Kunst hat Flügel, Kunst muss frei sein, Kunst ist eine Göttin der Uneingeschränktheit, der Unvoreingenommenheit, ist transzendental. Raum und Zeit sind reine Formen menschlicher Intuition, sagt Kant. Oder klarer, er bestreitet, dass wir die Wahrnehmung der Dinge besitzen können, wie sie in sich selbst sind.«

Horst nahm sein Weinglas vom Tisch und ging zum Bett, dort legte er sich hin und klopfte aufs Laken.

»Komm, Maria, erzähle etwas über dich. Wir kennen uns nun seit vier Wochen, aber eigentlich kennen wir uns noch gar nicht.«

Maria drehte sich auf ihrem Stuhl nach ihm um. »Also, ich …«

»Komm doch! In meinem Arm liegt es sich bequemer.«

»Mein Leben ist«, begann Maria und kam sich plötzlich furchtbar normal vor, »einfach ganz anders als deines. Ich … na ja, eigentlich bin ich nun Wirtin. Und stehe einem Haushalt vor … und …«

Horst unterbrach sie. »Ich möchte dich malen. So, wie du mich jetzt ansiehst. Etwas unsicher, etwas eingeschüchtert und doch mit der Stärke einer Frau, einer Frau mit der Kraft des Universums.«

Maria dachte an das Bild, von dem ihr Vater heute noch sprach. Der berühmte Maler Hans Sturzenegger hatte ihre Mutter in ihren Jugendjahren in Steckborn gemalt. Es war wohl eine zufällige Begegnung am Bodenseeufer gewesen, wie Anna ihren Töchtern erzählt hatte, und dunkel konnte sich Maria noch an dieses prachtvolle Gemälde im schwarzen Rahmen erinnern. Sie hatte als Kind oft davorgestanden, weil es so schön war und Anna so mädchenhaft im Sand saß. Das Bild war bei dem schicksalhaften Brand leider auch in Flammen aufgegangen.

»Weißt du, dass Hans Sturzenegger meine Mutter gemalt hat? Sie war damals so etwa 18 Jahre alt.«

»Hans Sturzenegger? Ein berühmter Mann. Leider schon gestorben. Ein Maler der alten Schule.« Er wies zu seinen Bildern, die überall standen oder hingen. »Realismus ist aber nicht meine Sache. Wir leben in einer Zeit des Umbruchs, abstrakter Expressionismus in Amerika, informelle Kunst und Tachismus in Europa, Kubismus, Surrealismus, neue Denkweisen, neue Stile, Experimente sind gefragt, jeder muss einen Weg finden, jeder Maler muss Überzeugung in das legen können, was er tut und auf die Leinwand bringt.«

»Hast du reiche Eltern?«

Marias spontane Frage brachte Horst zum Stirnrunzeln.

»Wie kommst du jetzt darauf?«

Von irgendwas musste man ja auch in einer solch verrückten Welt leben, hatte sie sich einfach gedacht. Sie wusste aber nicht, wie sie es nun vorsichtig formulieren könnte.

»Du wohnst und arbeitest hier auf der Höri. Aber wir haben vor allem Landwirte hier. Die hängen sich höchstens ein Kruzifix in die Essecke. Gehört deine Kunst nicht eher in eine Großstadt? Nach Berlin?«

Horst schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Es ist ein begnadetes Stückchen Erde, um als Maler zu arbeiten«, sagte er schließlich. »Hier finde ich die Inspiration. Und, du weißt ja, ich bin nicht der einzige Künstler, der auf der Höri lebt … Schriftsteller, Maler, Denker, Dichter, die Höri zieht sie alle an.«

»Ja«, Maria nickte, »das mag schon sein … aber von irgendwas müssen auch Maler und Denker leben.«

»Von Luft und Liebe?«, spöttelte Horst, richtete sich auf und fasste nach ihrem Arm. »Jetzt komm schon. Lass uns die Welt ein bisschen öffnen. Über unseren kleinen Horizont hinausblicken.«

Maria schwankte. Sein Blick war verführerisch, sein Mund zum Küssen nah. Und doch sollte sie besser …

»Ich tu dir nichts«, beschwor er. »Lass dich einfach sinken.«

Und das tat sie. Maria machte den kleinen Schritt zum Bett hinüber, streifte ihre Schuhe ab und legte sich in seine Arme.

»Schon besser«, sagte er, und sie spürte das weiche Material seines Morgenmantels an ihren nackten Oberarmen. Es war ein sinnlicher Stoff, fand sie.

Horst roch an ihrem Hals.

»Du riechst so gut. Nach Frische, nach wilden Blumen, nach Kräutern im Sommerwind. Dein Duft schenkt mir Inspiration.«

Maria wagte nicht, darauf etwas zu antworten. Sie befürchtete, es hätte einfach nur platt geklungen.

»Was inspiriert dich, Maria?«, fragte er dann und begann an ihrem Ohrläppchen zu knabbern.

»Oh!«, entfuhr es ihr, denn das war eine Stelle, die kleine, spitze Stromschläge durch ihren ganzen Körper sandte. Sie wand sich.

»Horst«, sagte sie und spürte seine warme Hand leicht über ihren Hals bis zu ihrer Brust gleiten, wo sie liegen blieb.

»Gibt es etwas Schöneres als einen Frauenkörper?«, hörte sie ihn sagen und machte sich darauf gefasst, dass er nun doch mehr wollen könnte, als nur über den kleinen Horizont hinauszublicken, aber er ließ seine Hand auf ihrer Brust liegen und forschte nicht weiter.

»Wenn du jemand anderes sein könntest, wer wolltest du sein?«, wollte er wissen.

Maria entspannte sich. Er wollte also wirklich reden. Philosophieren hatte ihre Mutter das genannt. Und ihr verraten, dass sie Tagebuch schrieb, weil sie zwischendurch einen Gesprächspartner gebraucht hätte, der nicht nur über die Tagesarbeit redete. Und nun hatte sie, die Tochter, jemanden gefunden, der genau das tat.

»Ich habe noch nicht darüber nachgedacht.«

»Ich schon. Pablo Picasso. Nicht nur seine Kunst, sondern auch sein Leben ist atemberaubend.«

»Aber er …«, Maria dachte nach, »seine Kunst unterscheidet sich doch ziemlich von deiner?«

Sie deutete zu den einfarbigen Bildern mit den Klecksen, Strichen, Kreisen und Linien.

»Ich bin noch in der Entwicklungsphase…« Horst lachte und fuhr ihr mit seiner Nase spielerisch durch ihr Haar.

»Wie alt bist du eigentlich?« Jetzt wollte sie es genau wissen.

»28. Also habe ich noch etwas Zeit, um mich zu entwickeln. Und du?«

»Ich werde am 7. September 31.« Sie überlegte. »Ich fühle mich schon ziemlich entwickelt.«

Sie spürte, wie sich seine Hand kurz über ihre Brust wölbte. »Stimmt!«

»Ach, du…!« Maria musste lachen, und nach ihrem anfänglichen Unbehagen begann sie, die Situation zu genießen.

»Also, hast du nachgedacht, wer du gern sein möchtest?«, griff er den Faden nach einer Weile wieder auf, in der sie beide geschwiegen hatten.

»Eigentlich bin ich ganz gern ich selbst. Als Frau. Aber Wirtin? Ich hätte lieber eine andere Rolle.«

»Und welche?«

»Die einer verrückten jungen Malerin mit dem Pinsel quer im Mund und dazu ein sorgloses Leben.«

»Und das Ganze an meiner Seite, stimmt’s?«

Maria nickte still, ohne etwas zu sagen.

»Also quasi Olga.«

»Olga?«

»Olga Picasso!«

Illusion

Am nächsten Morgen erschien Maria die vergangene Nacht wie ein Traum. War das wirklich geschehen? Das Kerzenmeer, die Gespräche bis in den frühen Morgen, das Gefühl, irgendwie überirdisch zu sein?

Jetzt, da sie noch schlaftrunken im Bett lag und auf den Wecker sah, der gleich läuten würde, konnte sie die Stunden mit Horst nicht einordnen. Lag es am Rotwein? Immerhin hatten sie eine ganze Flasche getrunken. Und eigentlich hatte sie ja vor allem herausfinden wollen, ob er für die Ehe taugte.

Er war ein Freigeist, das hatte er ihr gesagt. Er wünsche sich eine echte Verbindung mit Maria, aber bitte ohne Verpflichtung. Was das heiße, hatte sie ihn gefragt, wie solle so eine Verbindung aussehen?

Liebe ohne Trauschein, war seine Antwort.

Liebe ohne Trauschein, das war auf die Dauer nicht möglich, das war ihr klar. Eine wilde Ehe. Und das in Horn. Womöglich noch mit Kindern, denn wer konnte das schon verhindern?

Sie nahm den Wecker und stellte ihn ab, sie wollte ihn nicht klingeln hören. Sie hasste dieses scheppernde Geräusch.

Und sie selbst, fragte sie sich, wie waren denn nun ihre Gefühle zu ihm?

Sie fand ihn noch aufregender als zuvor, das musste sie zugeben. So aus der Distanz war dieser Abend ungeheuerlich gewesen. Ungeheuerlich anders.

Maria dachte an Alois zurück. Obwohl es unfair war, die beiden zu vergleichen, waren die ersten Stunden mit Alois doch eher … hausbacken gewesen. In einer kleinen Wirtsstube am Tisch, wo sie am Anfang nach gemeinsamen Themen gesucht hatten. Tiefsinnige Gespräche, Maria wäre gar nicht auf die Idee gekommen. Und Alois schon zweimal nicht. Es ging um Alltägliches, um den Krieg, um Essensrationen und die Beschaffung von Dingen, die man zum Leben oder Arbeiten brauchte.

Aber es war auch eine andere Zeit gewesen.

Maria schlug die Decke zurück und sah zum Fenster. Die Sonne stieg langsam empor, färbte den Himmel hinter der Kirchturmspitze rötlich. Sie hörte unten auf der Wiese den Hahn krähen und gähnte herzhaft. Ihr Privileg war, dass sie oben im »Hirschen« ihr eigenes Zimmer hatte. Die beiden Schwestern nach ihr, Cecil und Trudi, waren mit ihren 27 und 26 Jahren schon ausgezogen, beide längst verheiratet. Lotti und Elli teilten sich seit vielen Jahren ein Zimmer, worüber sie immer wieder klagten, denn mit 24 und 23 Jahren fanden sie sich zu alt für ein Kinderzimmer. Aber es gab eben nicht mehr Platz. Ein weiteres Zimmer gehörte ihrem Vater, alles andere waren Gastzimmer. Und wenn im Sommer Hochbetrieb herrschte, mussten sie auch schon mal weichen, auf dem Speicher schlafen und ihre Zimmer zur Verfügung stellen. Bis heute hatten sie kein eigenes Haus, sondern wohnten noch immer im »Hirschen«.

Und wenn man es genau nahm, waren sie es von Kindesbeinen an so gewöhnt, und was man nicht anders kennt, vermisst man auch nicht. Zumindest hatte ihre Mutter das oft gesagt, wobei Maria ganz genau wusste, wie schön ihre Mutter Hildes Elternhaus gefunden hatte. Der Bauernhof mit der großen Wohnküche, in der meist die ganze Familie versammelt war, Hildes Eltern, die drei Brüder und häufig auch noch die ganze »Hirschen«-Kinderschar, weil Hilde schon als junges Mädchen auf die »Hirschen«-Kinder aufgepasst hatte und Hildes Eltern und ihre befreundet waren.

Maria seufzte, stand auf und zog ihr langes Nachthemd wieder in Form. Sie musste unruhig geschlafen haben, es war ganz verdreht. Dann streckte sie sich, zog ihren Morgenmantel an und ging zum Nebenzimmer, um zu klopfen.

»Lotti, Elli, aufstehen. Es ist Zeit!«

Die eine machte eine Ausbildung zur Sachbearbeiterin im Rathaus, und die andere arbeitete in einer Bäckerei. Und dazu mussten beide den Schulbus nach Radolfzell erwischen. Sie hörte nur unwilliges Stöhnen.

»Gibt’s schon Frühstück?«

»Kaffee?«

»Bis ihr unten seid, gibt es Kaffee«, erwiderte Maria, ging nach unten in die Küche, füllte die Kaffeemaschine mit Wasser und stellte sie an. Dann richtete sie für die beiden Butterbrote mit Marmelade, stellte alles auf den großen Küchentisch und ging nach oben, um sich anzuziehen. Als sie in ihrem Zimmer ihren baumwollenen Morgenmantel auszog, dachte sie kurz an Horsts Seidenmantel. »Ein japanischer Kimono sei das«, hatte er ihr erklärt. Von Hand bestickt. Aber dann gingen ihre Gedanken weiter.

Sie hatten sechs Hausgäste, also würde sie ein entsprechendes Frühstück auftischen, erfahrungsgemäß kamen alle etwa gegen neun Uhr in die Wirtsstube. Danach galt es den Mittagstisch zu richten, die Vorräte zu überprüfen, einen Speiseplan für die nächsten Tage aufzustellen und entsprechend einzukaufen. Gegen 10 Uhr würde Hilde kommen und ihre Kuchen backen. Dann mussten sie die Gästezimmer säubern und, falls es einen Wechsel gab, die Betten frisch beziehen. Und das Getreide war reif und musste eingebracht werden.

Außerdem schoss in Annas Gemüsegarten sicher auch schon alles ins Kraut. Falls das Unkraut ihn noch nicht überwuchert hatte.

Der Tag hatte begonnen.

Was wohl Horst gerade tat?

Hilde hatte frische Aprikosen und Pflaumen mitgebracht.

»Mal sehen, wer heute das Rennen macht«, sagte sie, während sie die beiden Körbe auf den Tisch stellte. »Gestern lag der Beerenkuchen vorn. Sonst stehen immer alle auf gedeckte Apfelkuchen. Seltsam, nicht?«

»Ich tippe mal auf Aprikosenkuchen, den bekommt man nicht überall.«

Hilde zuckte die Schultern und band sich ihr Kopftuch um.

»Und was gibt es bei dir Neues?«

Maria fühlte sich überrumpelt. Hatte sich ihr Besuch bei Horst etwa schon herumgesprochen? Wie konnte das sein?

»Na ja«, sagte sie, »was macht man an so einem schönen Augustabend? Was macht denn ihr? Du und dein Mann?«

»Toni?« Sie musste lachen. »Er ist der pure Romantiker, das kannst du dir ja vorstellen. Das Getreide muss rein, das war seine gestrige Liebeserklärung. Und das Wetter findet er wichtig, und er liebäugelt mit Sonne und Regen, je nachdem, was er für seine Felder gerade braucht.«

Maria lachte mit, doch offensichtlich machte das Hilde nachdenklich.

»Wie geht es denn dir?«, fragte sie mit leicht schief gelegtem Kopf. »Denkst du oft an Alois und wie es sein könnte, wenn er noch leben würde?«

Alois, dachte Maria. Was sollte sie nun sagen?

»Schöner wäre es zu zweit.« Maria stockte. »Aber es ist nun über fünf Jahre her, und das Leben geht weiter.«

Hilde nickte. »Ja, du bist noch jung, da kann noch allerhand passieren. Und ihr hattet keine Kinder, das macht die Sache vielleicht leichter.«

Maria füllte einen großen Topf mit Wasser. »Darüber habe ich nie nachgedacht. Aber du hast natürlich recht. Wäre es passiert, wäre das Kind jetzt schon vier …«

Sie wollte nicht darüber nachdenken, sie wusste auch nicht, welche Gefühle das auslösen könnte.

Hilde schwieg, wusch das Obst und begann, die Früchte zu entsteinen.

»Wie ist es denn bei euch beiden«, begann Maria nach einer Weile, in der jede konzentriert ihren Aufgaben nachgegangen war, »über was redet ihr denn, wenn ihr zusammen seid? Also, ich meine nicht Ernte oder Wetter?«

»Oje«, Hilde begann wieder zu lachen, »du meinst, so richtige Gespräche, wenn die Kinder nicht dabei sind?«

Maria nickte.

»Na, zunächst mal ist Toni sowieso nicht der gesprächige Typ. Zudem komme ich abends ja oft spät heim, die Kinder sind im Bett, und Toni schläft meist auch. Morgens ist er schon im Stall, und am Sonntag … ja, manchmal sind wir zum Kaffee bei meinen Eltern oder auch bei seinen, die Kinder spielen und abends beim Abendbrot …«, sie überlegte, »ja, eben doch Alltägliches. Aussaat, Ernte, eine kranke Kuh, irgendwas ist immer.« Sie richtete sich auf. »Wieso fragst du?«

»Ich«, Maria wusste nicht so richtig, wie sie es erklären sollte, »meine Mutter hat mir oft erzählt, dass sie jemanden vermisste, mit dem sie … philosophieren könne. Einfach über den Tellerrand hinausblicken, auf andere Sachen eben.«

Sie wandte sich von den halben Hühnchen ab, die sie gerade vorbereitete, und sah zu Hilde hinüber. »Mama sagte, sie habe deshalb in frühen Jahren Tagebuch geschrieben. Ihr habe oft jemand zu so einem Austausch gefehlt.«

Hilde nickte. »Ja, meine Mutter vermisst Anna auch. Sie sagt, Anna sei besonders gewesen. Deshalb wollten Vater und sie deine Eltern, damals, als sie frisch nach Horn kamen, auch gern unterstützen.«

»Das haben sie getan«, Maria lächelte versunken, »und du auch, Hilde. Ohne eure Hilfe … ich glaube, Mama wäre noch sehr viel früher erschöpft gewesen. Ihr wart eben immer für uns da.«

»Das war selbstverständlich.«

»Nein, eben nicht!«

»Doch! Für meine Eltern schon. Und für mich auch.«

Maria dachte an Hildes Eltern und wie schön sie es als Kind bei Christine und Ludwig in der großen Wohnküche gefunden hatte. Es war ein richtiges Zuhause gewesen. Warm – und immer fröhlich.

»Ach, Hilde«, entfuhr ihr ein Seufzer. »Es war eine harte, aber für uns Kinder eine wunderschöne Zeit, obwohl wir viel mitgeholfen und schon als Kinder viel gearbeitet haben!«

»Und nun bin ich 36«, sagte Hilde mit einem ungläubigen Kopfschütteln. »Habe einen Mann und selbst zwei Kinder. Manchmal kann ich es selbst kaum fassen.«

Maria bekam es den ganzen Tag nicht aus dem Kopf. Überall waren die Gesprächsthemen alltäglich. In jeder Ehe, an jedem Tisch, auch zwischen ihrem Vater und ihr. Und selbst, wenn sie sich mit ihren Schwestern unterhielt. Keine von ihnen schien das Bedürfnis zu haben, mal über sich selbst hinauszufliegen. Keine hatte Mamas Art im Blut.

War es das, was sie an Horst so anziehend fand? Mamas Art? Das Dach über sich zu öffnen und hinauszufliegen, weit weg, hoch zu den Sternen? Horst, der gestrige Abend, die Nacht. Das Lichtermeer, die Illusion, diese völlig andere Welt. War das verrückt?

Was ihr Vater sagen würde, ahnte sie: ein Spinner, völlig lebensuntüchtig.

War er vielleicht einfach am falschen Ort? Wenn er dort wäre, wo auch andere ihrer Intuition folgten, wie Picasso in Spanien oder in Frankreich, irgendwo am Meer, wo die Farben sicher anders waren als hier, heller, strahlender, stellte sie sich vor. Würde sie ihm folgen, wenn er es ihr anböte? Komm, Maria, lass uns frei sein. Ein Brot, etwas Käse, eine Flasche Rotwein, mehr braucht man nicht in diesen Ländern, in denen die Sonne scheint und das Leben nicht so freudlos ist wie hier, sondern ein täglicher, aufregender Tanz. Würde sie mitgehen? Wäre sie mutig genug?

Maria räumte auf der Terrasse einen der Tische ab und sprach freundlich mit den Gästen, aber sie tat es wie in Trance. Ihr Geist war woanders, und sie ertappte sich, wie sie mit dem Tablett in der Hand stehen blieb und zur Kirche hochsah. Ob er heute wohl gekommen war, am frühen Nachmittag dort gesessen hatte? Vielleicht in der Hoffnung, dass sie kommen würde?

Hirngespinste, sagte sie sich und riss sich zusammen.

»Ist etwas mit dir?«, wollte Hilde wissen, als Maria geistesabwesend eine Speise für einen Tisch richtete, den Hilde schon bedient hatte.

Maria zuckte zusammen.

»Ich weiß nicht«, sagte sie, »mir schießen heute ständig verrückte Gedanken durch den Kopf.«

»Vollmond«, erklärte Hilde und machte eine entsprechende Geste, »da spielen manche verrückt. Sogar die Kühe, sagt Toni.«

Maria nickte. »Ja«, sagte sie, »das ist eine Erklärung. Der gute alte Mond. Wenn er die Kraft für den Wechsel von Ebbe und Flut hat, dann ist kaum verwunderlich, dass er noch mehr bewirken kann.«

»Vielleicht gehst du heute einfach mal früh ins Bett?«

»Oder ich gehe zur Kirche hoch, setz mich an ihre Mauer und schau hoch zu ihm.«

»Brrr!« Hilde schüttelte sich. »Das wäre mir zu gruselig. Nein, da gehe ich dann doch lieber ins Bett und kuschle mich an Toni!«

Die nächsten Tage hatte Maria keine Zeit, um an ihren geheimen Treffpunkt an der Kirche zu gehen. War Horst dort gewesen? Und würde sie, weil sie nicht gekommen war, von ihm ein Zeichen bekommen? Und gerade, als sie sich entschieden hatte, abends einfach zu ihm hinzuradeln, kam Lotti mit einem verweinten Gesicht nach Hause. Sie wollte sich nach oben auf ihr Zimmer schleichen, aber Maria hielt sie auf.

»So früh? Was ist passiert, Lotti?«

»Ach, nichts!« Lotti versuchte sich an ihr vorbeizudrücken, doch Maria hielt sie am Arm fest.

»Lotti! Ich sehe doch, dass dich etwas bedrückt. Komm, wir gehen in meine Kammer, und du erzählst mir, was es ist.«

»Du hast doch gar keine Zeit«, schniefte Lotti und fuhr sich mit dem Handrücken unter der Nase entlang.

Wie jung sie aussieht, dachte Maria, mit ihren langen braunen Zöpfen, dem schmalen Gesicht und der zierlichen Figur. Wie verletzlich! Es war wieder einer der Momente, da sie einfach nur an ihre Mutter dachte. Oh, Mama, wo bist du nur?

»Doch, für dich habe ich Zeit.« Sie strich ihrer jüngeren Schwester kurz über die Wange. »Komm!«

In Marias kleiner Kammer setzten sich beide aufs Bett, und Maria warf einen Blick in den Spiegel, der gegenüber auf der Kommode stand. Zwei Schwestern, dachte sie. Wie oft hatten sie früher alle miteinander im Bett gelegen, herumgealbert, gebalgt und gelacht. Fern aller Sorgen. Sie seufzte kurz, legte einen Arm um Lottis Schultern und zog sie an sich.

»Wo drückt der Schuh?«

Aber statt einer Antwort weinte Lotti nur. Maria drückte ihren Kopf an sich, so wie es ihre Mutter getan hatte, wenn sich eine von ihnen das Knie aufgeschürft hatte.

»Na, na«, sagte sie, »es wird nicht so schlimm sein, es gibt nichts, was sich nicht heilen ließe.«

»Es lässt sich nicht heilen«, flüsterte Lotti, und Maria griff nach einem Taschentuch in ihrer Schürzentasche.

»Schnäuz dich erst mal. Und dann erzähl in aller Ruhe, was passiert ist.«

Es dauerte eine Weile, bis Lotti sich beruhigt hatte, und Maria dachte, obwohl sie sich das gleichzeitig verbot, an die vielen Gäste an den Tischen, doch schließlich sagte Lotti leise: »Die Bäckersfrau, sie konnte mich von Anfang an nicht leiden. Ich weiß nicht, warum, aber schon, als ich die Lehre bei ihrem Mann gemacht habe, war sie immer giftig. Sie trug mir mehr auf als den anderen, ich konnte ihr nichts recht machen, sie nannte mich eine typische Dorfgans, von der man ja nichts Besseres erwarten könne.«

»Hast du das Mama mal gesagt? Oder Vater?«

»Mama hatte genug um die Ohren. Und außerdem habe ich gehofft, dass es schon irgendwann besser werden würde. Aber es ist eigentlich nur schlimmer geworden.«

Sie zog kurz die Nase hoch, dann richtete sie sich auf.

»Und heute hat sie mich vor allen anderen beschuldigt, Geld aus der Kasse genommen zu haben! Ich! Ich würde so etwas nie tun!«

»Ja, da bin ich sicher…«, sagte Maria sanft. »Das glaubt ihr doch keiner!«

»Ich war so fassungslos«, sagte Lotti erregt, »ich bin einfach davongerannt!« Sie sah Maria an. »Und weißt du was? Da rief sie mir hinterher, ich bräuchte auch gar nicht mehr zurückzukommen!«

Maria nickte und nahm ihre kleine Schwester fest in die Arme.

»Mach dir keine Gedanken, wir finden eine Lösung!«

»Ich gehe dort nicht mehr hin.«

Maria wiegte sich mit Lotti leicht hin und her, so wie es Mütter mit ihren kleinen Kindern tun.

»Das brauchst du auch nicht. Wir finden etwas anderes für dich. Du hättest mir das viel früher sagen müssen.«

Lotti blieb stumm, offensichtlich genoss sie das Gefühl der Geborgenheit, und Maria spürte, wie sehr auch ihre Schwestern ihre Mutter vermissen mussten. Anna war stets der Fels in der Brandung gewesen. Sie hatte wenig Zeit und war von frühmorgens bis spätabends beschäftigt gewesen. Trotzdem hatte jede von ihnen die Gewissheit, dass sie da war. Und wenn es auch nur für eine kurze Umarmung, für einen aufmunternden Klaps war.

»Ist es jetzt wieder gut?«

Auch das waren die Worte ihrer Mutter.

Lotti wischte sich mit Marias Taschentuch die Tränen ab und nickte. »Ja, wenn ich dort nicht mehr hin muss, dann ist es gut.« Gleich darauf schien ihr ein anderer Gedanke zu kommen. »Und wenn sie mich anzeigt? Wegen Diebstahl?«

»Das ist lächerlich«, beruhigte sie Maria. »Aber ich denke mal, dass du noch Lohn bekommst. Es ist bald Ende des Monats, also werde ich hingehen und mit ihr reden.«

»Das tust du?«

»Das hätte ich sowieso gemacht.«

»Gut«, sagte Lotti und streckte sich, »dann helfe ich dir jetzt in der Küche. Du weißt, dass ich das kann.«

Wiedersehen

An diesem Tag schaffte Maria es nicht mehr, aber am nächsten. Sie hatte sich, wenn sie schon in Radolfzell sein würde, gleich eine ganze Einkaufsliste zusammengestellt, denn es gab immer etwas zu besorgen.

August hatte ihr am Küchentisch kurz über die Schulter geschaut und vorgeschlagen, gemeinsam zu fahren, aber Maria hatte keine Lust, ihn einzuweihen. Und außerdem war ihr seine Fahrweise in dem alten französischen Militärjeep zu ruppig. Und da sie nicht so genau wusste, wie August überhaupt an diesen Laffly gekommen war, wollte sie lieber nicht von den französischen Besatzern im Nachbardorf danach gefragt werden.

So war sie mit zwei Einkaufskörben am Nachmittag zur Kaffee- und Kuchenzeit in den Bus gestiegen und hatte sich während der Fahrt ihre Gedanken gemacht. Horst hatte sie seit dem denkwürdigen Abend in seinem Atelier nicht mehr gesehen. Hatte er kein Interesse mehr an ihr? War sie zu spröde gewesen, die kleine Landpomeranze, statt die weltgewandte Muse, die sich sicher bei Picasso auf dem Sofa rekelte? Dabei wollte er sie doch malen, das hatte er gesagt.

Ihre Mutter hatte auch gern gemalt und oft gezeichnet: »Wenn du schreibst oder zeichnest, bringt dir das ein Stück Glückseligkeit. Das ist bei Menschen, die ein Instrument spielen oder singen können, auch so. Betrachte ihre Gesichter dabei – sie werden meist von Glück durchflutet.«

Ihre Mutter hatte nur die Volksschule auf dem Land besucht, aber sie hatte eine Herzensbildung, einen gesunden Menschenverstand. Maria dachte an ihren Vater. In ihm hatte ihre Mutter das Rädchen gefunden, das zu ihr passte. Sie waren viele Jahre ineinander verzahnt gewesen … obwohl sie, von außen betrachtet, völlig unterschiedlich waren.

Maria saß am Fenster und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft, ohne etwas wahrzunehmen. Könnte sie sich mit Horst auch so verzahnen, so eins werden? Er, der Künstler, sie, die Wirtin? Sie versuchte, sich den Alltag vorzustellen, aber es gelang ihr nicht.

Sie musste über das, was war, hinausdenken. Ihre Fantasie fliegen lassen, ganz so, wie Horst es gesagt hatte. Sie könnten den Anbau umgestalten, eine Art Atelier … aber er bräuchte eine Heizung. Bisher war es eher ein Geräteschuppen. Und wo kämen dann die Geräte im Winter hin?

Man könnte neu dazu bauen. Ein schönes, beheizbares Atelier mit großen Fenstern, also gleichzeitig eine Art Galerie. Horsts Gemälde, die Bilder anderer Künstler, eine Vernissage nach der anderen, zu der sie die Häppchen machen würde, viele Käufer, die ihre frisch tapezierten Wohnzimmerwände mit etwas Besonderem schmücken wollten … Maria verlor sich in ihren Tagträumen, und als der Bus nach einer Weile am Bahnhof hielt und sie in die Realität zurückkehrte, dachte sie nur: August – die Meinung ihres Vaters kannte sie: brotlose Kunst.

Sie holte tief Luft, stieg aus, orientierte sich und schlug den Weg zu der Bäckerei ein. Sobald die kleinen Schaufenster des steinernen Gebäudes in Sichtweite kamen, blieb sie stehen, straffte die Schultern und richtete sich auf. Dann atmete sie zweimal tief durch und ging entschlossen darauf zu, die Steintreppe hinauf und trat ein. Das Glöckchen an der Tür schepperte unmelodiös, und kurz stand sie, die ausgelegten Backwaren betrachtend, alleine vor der Theke, bis ein junges Mädchen in den Verkaufsraum trat.

»Ja, bitte?«, fragte sie, »was darf es sein?«

Maria musterte sie kurz. Sie war um einiges jünger als Lotti, sie schätzte sie auf höchstens siebzehn, sie hatte eine leichte Hasenscharte, die ihr ansonsten schönes Gesicht entstellte.

»Ich möchte die Chefin sprechen, Frau Wachter.«

Die Kleine nickte. »Meine Mutter ist gerade in der Backstube. Was soll ich ihr sagen?«

»Lottis Schwester ist da, Maria Ruggli.«

Maria registrierte ein Zucken in dem Gesicht des Mädchens, bevor es sich umdrehte und zur Tür zurückging, aus der sie eben getreten war.

Kurz danach schnaubte Frau Wachter herein. Maria hatte sie bisher nur einmal gesehen, aber das war schon Jahre her. Nun erschien sie ihr doppelt so dick wie damals.

»Kommen Sie, um die Beute Ihrer Schwester zurückzubringen?«, fauchte sie, bevor sie überhaupt an der Theke angekommen war, »das will ich der Kleinen auch geraten haben!«

Maria schwieg und maß Frau Wachter nur mit Blicken, worauf sich die Bäckersfrau wie eine Preisboxerin in die Brust warf.

»Ich denke nicht, dass meine Schwester Sie in irgendeiner Weise bestohlen hat. Ich denke eher, dass sie hier zu einem ausbeuterischen Lohn gearbeitet hat. Und nun hätte ich gern ihren Lohn bis zum heutigen Tag mitgenommen.«

Hinter ihr klingelte die Türglocke, und Maria drehte sich um. Den Kunden, der hinter sie trat, glaubte sie zu kennen. Sie wusste aber nicht so recht, woher. Wahrscheinlich aus dem »Hirschen«. Er schien sie auch zu erkennen, denn er machte aus Überraschung einen kleinen Schritt zurück.

Frau Wachter hatte schon zu einer entsprechenden Antwort ausgeholt, doch jetzt verzog sie ihr Gesicht zu einem angestrengten, falschen Lächeln.

»Herr Amann«, sagte sie schnell, offensichtlich aus dem Konzept gebracht. »Wie kann ich …«

Amann, überlegte Maria, ihr Metzger aus Bohlingen hieß Amann.

»Ich wollte mich nicht vordrängen.« Karl wies auf Maria. »Die Dame war vor mir dran.«