Unser ganz besonderer Moment - Gaby Hauptmann - E-Book

Unser ganz besonderer Moment E-Book

Gaby Hauptmann

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Beschreibung

Wenn der richtige Moment Dein Glück bestimmt

So ein besonderer Ort, schießt es Doris durch den Kopf, als sie in den idyllischen Hof des Weinguts tritt. Sie hat turbulente Wochen mit ihrem Mann hinter sich, am Ende stand der Bruch mit ihm. Jetzt gönnt sie sich an diesem herrlichen Sommerabend ein Glas Wein mit ihrer besten Freundin Katja. Im Hof des alten Backsteinhauses ist es einfach magisch, genau wie es Katja beschrieben hat. Und so beschließen die beiden, die alte Winzerstube wieder zu neuem Leben zu erwecken. Aber dann steht die Winzerei plötzlich unter Wasser – und Doris verliebt sich in Katjas Lieblingskollegen ...

Zwei Frauen, die mit Hingabe, Loyalität und Tatkraft allen Krisen trotzen, um gemeinsam ihren Traum wahr zu machen.

»Wie die Heldin ihr Leben anpackt, hat mich fasziniert.« Charlotte Link

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Seitenzahl: 516

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Zitat

Prolog

Montag, 2. August

Dienstag, 3. August

Donnerstag, 5. August

Freitag, 6. August

Samstag, 7. August

Sonntag, 8. August

Dienstag, 10. August

Mittwoch, 11. August

Donnerstag, 12. August

Freitag, 13. August

Samstag, 14. August

Sonntag, 15. August

Montag, 16. August

Dienstag, 17. August

Mittwoch, 18. August

Donnerstag, 19. August

Freitag, 20. August

Samstag, 21. August

Sechs Wochen später.Samstag, 2. Oktober

Sonntag, 3. Oktober

Zitat

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Wann fühlt man sich als Einheit? Wenn man miteinander reden und diskutieren kann, die Ansichten des anderen anhört und überdenkt, wenn man gemeinsam lachen und blödeln kann – und für ein gutes Ergebnis an einem Strang zieht.

Danke Eva und Thomas für viele besondere Momente! Und das muss jetzt sein!

Prolog

Wie alt muss man eigentlich werden, bis man sich selbst kennt?

Ich bin jetzt 45, und seit Neuestem denke ich, ich kenne mich überhaupt nicht, stehe im Spiegel einer wildfremden Person gegenüber. Es ist noch nicht lange her, da war die Werbeagentur, in der ich arbeitete, mein Leben. Alles drehte sich darum – mein Tagesablauf, meine Gedanken, selbst meine Freunde waren gleich gestrickt wie ich. Mein schönes Appartement in Hamburg war wichtig, mein flotter Wagen, meine Selbstständigkeit, mein Single-Dasein. Und dann hat die Demenz meiner Mutter mein Leben umgekrempelt. Heim nach Stuttgart, wo ich aufgewachsen bin, und wieder in eine Agentur – doch alles war anders. Ich war anders. Plötzlich wurden andere Dinge wichtig: Meine Freundin Doris aus meiner Schulzeit, die Bewohner des Hauses, in das ich gezogen bin, meine Mutter – und selbst mein Bruder, der mir nichts als Ärger bescherte. Und dann habe ich mich gefragt: Bin ich noch ich? Oder – wer bin ich überhaupt? Noch wichtiger: Was will ich? Wo ist mein Ziel? Mein Freund Heiko, auch ein Schulkamerad wie Doris, macht Männer-Coaching. Aber ob er mir weiterhelfen kann? Und die nächste Frage: Will ich das überhaupt?

Ich will nicht bis nach Santiago de Compostela wandern, um mich kennenzulernen. Ich bin keine Pilgerin. Und wandern war noch nie mein Ding. Aber auf irgendeine Art muss man sich doch selbst auf die Schliche kommen können. Wie nur? Das beschäftigt mich gerade. Und es ist kaum anders als damals in der Agentur: Du hast ein Thema und suchst eine Lösung. Ein Branding, um dem Ding einen Namen zu geben. Midlife-Crisis … ist es das?

Montag, 2. August

Doris ruft mich herunter. Das tut sie manchmal, wenn sie in unserem Café Hilfe braucht. Ich mache gerade den Monatsabschluss und lege bedauernd den Locher als Beschwerer auf die vielen Belege, die ich noch nicht bearbeitet habe. Das war unser Deal, als wir uns vor knapp einem Jahr zusammengetan haben … Sie führt ihr Café weiter, wie gehabt, aber ich steige mit ein. Mit meinem Geld und meiner kaufmännischen Ausbildung – denn das hat ihr gefehlt. Ein riesiges Chaos war die Folge. Ich habe einige Zeit gebraucht, bis ich alles im Griff hatte, aber jetzt habe ich den Überblick. Was mich allerdings nicht optimistischer stimmt. Ich signalisiere ihr per SMS, dass ich komme, und schiebe meinen Bürostuhl zurück. Es sind schöne, lichte Räume geworden, nachdem wir die Etage über dem Café dazumieten und renovieren konnten. Und übrigens, trotz der guten Lage in Stuttgarts City, zu einem akzeptablen Preis. Heiko blickt auf. Durch die geöffnete Türe haben wir Sichtkontakt, wenn er seine Coachings vorbereitet. »Alles klar?«, will er wissen.

»Werde ich sehen«, gebe ich zur Antwort, denn woher soll ich das wissen, bevor ich weiß, was da unten los ist?

Es ist später Nachmittag, Kaffee- und Kuchenzeit. Manche trinken auch schon ein Gläschen Wein, andere halten sich plaudernd am Mineralwasser fest und schieben den Kinderwagen beruhigend hin und her. Das Café könnte eine Goldgrube sein, wenn Doris mehr Geschäftssinn hätte. Den hat sie aber nicht, sondern sie freut sich an der Geselligkeit ihrer Gäste. Aber gut, denke ich, abends zieht es ja meist an, da ist der Laden ziemlich voll. Flammkuchen und Wurstsalat, das sind die gängigsten Speisen, inzwischen auch vegan und vegetarisch sowieso. Doris lehnt entspannt über dem Tresen und winkt mir zu. Sie ist gut drauf, das sehe ich ihr an, ihre kurzen, schwarzen Haare stehen kreuz und quer ab, ihre Augen blitzen, und gerade lacht sie fröhlich auf. Ihr Gegenüber ist eine junge Frau, die ich nicht kenne und die nun Doris’ Blick folgt und sich nach mir umdreht.

»Das ist meine Teilhaberin«, stellt mich Doris vor, »und außerdem meine Freundin. Katja ist gewissermaßen das Fundament dieses Ladens.«

Ich grüße und denke: Ja, die Rechenmaschine …

»Und das ist Niki, sie studiert und sucht einen Job.«

»Aha«, sage ich und mustere sie. Braunes, schulterlanges Haar, hübsches Gesicht, schlanke Gestalt. »Und woher kennen Sie unser Café«, frage ich, »ich habe Sie noch nie hier gesehen.«

Sie schiebt sich eine der dicken Haarsträhnen hinters Ohr. »Eine Kommilitonin hat mir den Tipp gegeben. Ich bin nicht aus Stuttgart, darum war ich ihr dankbar.«

Doris nickt. »Ja, Studenten haben wir viele.«

Gut, denke ich, aber brauchen wir überhaupt eine Aushilfe?

»Und im Service haben Sie schon mal gearbeitet?«

Sie lacht. »Das habe ich Doris schon erzählt … bisher nur auf Bierfesten. So oktoberfestmäßig. Also servieren und rechnen, das kann ich.«

»Tja«, sage ich. »Das ist sicherlich eine gute Schule gewesen.«

»Ja, aber man muss sich auch ganz schön wehren. Bei steigendem Alkoholpegel meinen manche, die Bedienung sei im Bierpreis inbegriffen.«

»Das kann bei uns nicht passieren. Unsere Gäste sind harmlos …«, erklärt Doris.

Trotzdem verstehe ich nicht so ganz, warum sie jetzt eine weitere Hilfe brauchen soll. »Aber, nur um das abzuklären, wir haben doch Vreni … oder hat sich da was geändert?«

Doris zuckt mit den Schultern. »Dann arbeitet Vreni halt ein bisschen weniger, sie sagt selber, sechs Tage seien ihr zu viel.«

»Ja dann«, sage ich, »Stundenlohn und Trinkgeld … habt ihr darüber schon gesprochen?«

Niki schaut Doris an. »Ja, das geht in Ordnung.«

»Und ich melde dich an, das ist auch klar?«

»Klar. Schwarz mache ich sowieso nichts.«

»Und die Zeiten und so, das klärst du mit den beiden?«, frage ich Doris.

»Aber klar!« Sie greift über den Tresen nach Nikis Hand. »Herzlich willkommen.«

»Gut«, sage ich, »dann brauche ich deine Adresse und ein paar andere Informationen. Am besten kommst du gleich mit hoch in mein Büro.«

Heiko schaut auf, und sein Blick begleitet Niki durch den Raum, bis sie sich an meinen Schreibtisch gesetzt hat. Aha, denke ich, die gefällt dir wohl. Zu jung, mein Lieber.

Niki ist eine aparte Person, das muss ich zugeben. Besonders gut gefällt mir ihre natürliche Art, kaum geschminkt und nur die ausdrucksstarken Augen etwas betont. Geschwungene, volle Lippen und hohe Wangenknochen, kein Wunder, dass Heiko von seiner Arbeit aufsieht.

Sie reicht mir ihren Personalausweis über den Tisch. Ich lese ihren Namen, das Geburtsdatum, den Geburtsort. Kiel. Also gerade mal 18 Jahre alt. Aber gut, seitdem man das Abi schon mit 17 machen kann und – immerhin ist sie ja volljährig.

»Hm«, sage ich. »Und wo studierst du?«

»Hochschule der Medien, hier in Stuttgart.«

»Und wo wohnst du?«

»In einer kleinen WG, übergangsmäßig, hoffe ich, bis ich etwas anderes finde.«

»Gut, dann melde ich dich an und heiße dich bei uns willkommen!«

Sie strahlt. »Vielen Dank, ich freue mich.«

Heiko steht auf und kommt zu uns herüber. »Ein neues Crew-Mitglied? Habe ich richtig gehört?«

»Hast du«, antworte ich.

Er reicht ihr die Hand und stellt sich vor.

»Männer-Coaching?« Sie sieht ihn mit einem leicht ironischen Blick an. »Was coacht man denn da?«

»Durchsetzungsvermögen«, antwortet Heiko spontan.

»Gegenüber Frauen?«, will Niki wissen.

»Auch!«

Haha, denke ich, sage aber nichts. Mir fehlt heute einfach der richtige Schwung. Und nachdem Niki gegangen ist, fühle ich mich noch schlapper. Also beschließe ich, heute früher nach Hause zu gehen. Das ist das Gute an der Selbstständigkeit, es zwingt dich keiner dazu, irgendwelche Stunden abzusitzen. Ich fahre den Computer runter und spüre Heikos Blick.

»Noch was vor?«, fragt er von seinem Schreibtisch aus.

»Relaxen«, sage ich. »Morgen ist auch noch ein Tag.«

»Das mit Sicherheit.«

Es hört sich nicht so an, als wolle er sich an meinem Freizeitprogramm beteiligen, also gehe ich auf dem Weg zur Tür nur kurz an ihm vorbei und drücke ihm einen Kuss auf die Stirn. Er sieht mit einem schrägen Lächeln auf.

»Woanders wäre mir das lieber.«

Ich verkneife mir eine Antwort. Zum Scherzen bin ich heute auch nicht aufgelegt. Was ist bloß los? Schlechte Stimmung – und das ohne Grund. Während ich die Treppen hinunter ins Café gehe, denke ich darüber nach. Bin ich heute Morgen schon missgelaunt aufgestanden? Eigentlich nicht … egal.

Doris hat Verständnis für mich.

»Schaust du noch bei deiner Mutter vorbei?«

Das hatte ich eigentlich nicht vor, aber jetzt, da sie es sagt, bekomme ich prompt ein schlechtes Gewissen. Wann war ich das letzte Mal dort? Seitdem meine Schwägerin mit ihren beiden Kindern in unser Elternhaus eingezogen ist, habe ich die Verantwortung abgegeben, stelle ich fest. Also … soll ich?

Mein Fahrrad habe ich im Hinterhof des Nachbarn versteckt, nachdem mir mein neues E-Bike trotz dickem Vorhängeschloss geklaut worden war. Nun überlege ich mir, ob ich überhaupt noch mal eines kaufen soll, und habe mir so lange ein City-Bike geliehen. Ich schiebe es zur Straße und bleibe unentschlossen stehen.

Eigentlich ist es ein Tag fürs Freibad. Ein Augusttag mit strahlender Sonne, wolkenlosem Himmel und Lust auf ein Eis. Oder eher in einen Biergarten? Aber alleine? Oder doch zu Mutti, mich mal wieder mit ihr gemütlich in den Garten setzen und sie von alten Zeiten erzählen lassen? Und von dem Bastdach, das Vati so schön über der Laube angebracht hat?

Ich stehe noch immer regungslos da und kann mich nicht entscheiden.

Ich hasse mich, wenn ich so bin.

Aber es nützt nichts – heute bin ich so.

Schließlich schwinge ich mich auf mein Rad und fahre los. Die verkehrsarme Sackgasse, in der unser Café liegt, hinauf und dann auf die dicht befahrene Durchgangsstraße einbiegen. Aufpassen, dass man nicht übersehen wird, denn eigentlich ist zwischen den vielen Autos, Lieferwagen und auch Lkws kein Platz für Fahrradfahrer, aber das lenkt mich wenigstens ab – und ohne darüber nachzudenken, finde ich mich vor unserem Elternhaus wieder.

Also, okay, das hat wohl meine innere Kommandozentrale beschlossen, dann soll es so sein.

Ich habe zwar einen Schlüssel, aber ich klingle immer ein verabredetes Zeichen, denn ich möchte keinen erschrecken. Wäre auch nicht gegangen, stelle ich fest, nachdem ich im Flur stehe, denn ich sehe und höre niemanden. Wo sind sie denn alle? Normalerweise sind zumindest Lara und Ludwig gleich zur Stelle, die Kinder meiner Schwägerin. Und außerdem Purzel, Muttis neugieriger Kater.

Aber niemand?

Gar niemand?

Ich gehe den Flur weiter in die Küche. »Hallo«, kündige ich mich an, »wo sei ihr denn alle?«

Dann sehe ich sie. Die Terrassentür steht weit offen, und in der Laube erkenne ich bunte Kleidung. Offensichtlich hocken sie alle dort.

Der Garten ist groß, und jetzt, im Sommer, hat er sich in eine blühende Wiese verwandelt. Seitdem der siebenjährige Ludwig in der Schule gelernt hat, dass Bienen Blüten als Nahrung brauchen, darf nicht mehr gemäht werden, nur eine schmale Schneise zur Laube und weiter zur Schaukel am Nussbaum ist noch gestattet.

Meine Schwägerin sieht mich als Erste: »Grüß dich, Katja, du wirst es nicht glauben: Ein Wunder ist geschehen …«

Nun werden auch die anderen aufmerksam. Ludwig macht das Peace-Zeichen zum Gruß, meine Mutter verdreht etwas den Kopf, aber so ganz klappt das nicht mehr. Also winkt sie mit dem einen Arm etwas ungelenk nach hinten.

Schulterprobleme, denke ich. Immer noch.

»Grüß euch«, rufe ich im Näherkommen und erkenne schließlich, dass sie alle über eine große Landkarte gebeugt sind.

»Hallo, Tante Katja«, kräht Lara, die es als Dreijährige irgendwie toll findet, eine Tante zu haben. Sie patscht mit ihrer Hand mitten auf die Karte. »Da fliegen wir hin«, verkündet sie, »zu Papa!«

»Zu Papa?« Ich werfe Isabell einen fragenden Blick zu. Mein Bruder hat sich mit seinen vielen Eskapaden seiner Familie gegenüber nicht gerade loyal gezeigt. Da wollen die jetzt hin?

»Zu ihm?«, frage ich vorsichtshalber nach.

»Er hat uns eingeladen«, bekräftigt Isabell. »Er bezahlt sogar die Tickets …« Ihre Stimme bleibt oben.

Das ist ja ein Ding, denke ich.

»Hier«, signalisiert Ludwig, ganz der große, erfahrene Bruder, und zeigt auf einen Punkt. »Das ist die Insel, wo Papa gerade arbeitet. In Thailand.« Er sieht mich groß an. »Das ist doch richtig weit weg, oder?«

»Ja, das ist weit weg.« Ich bleibe am Kopfende des Tisches stehen.

Nun sieht mich auch meine Mutter an. Seitdem Isabell mit ihren beiden Kindern zu ihr gezogen ist, sieht sie sehr viel besser aus. Diese Durchsichtigkeit, die mich vor einem Jahr bei ihrem Anblick noch so erschreckt hat, ist einer gesunden Körperlichkeit gewichen. Sie hat zugenommen. Vier Kilo schätze ich, und es tut ihr gut. Nun passen ihr auch ihre alten, so geliebten Kostüme wieder und hängen nicht nur an ihrem ausgemergelten Körper.

Als ich damals aus Hamburg angekommen bin, hatte sie nichts außer Kaffee im Schrank. Und im Kühlschrank noch weniger. Es freut mich immer wieder, dass meine Schwägerin zwar ihre Demenz nicht aufhalten kann, aber dafür ihren vorzeitigen körperlichen Verfall. Wobei, ich korrigiere mich, seitdem die Kinder das Haus mit Leben erfüllen, ist auch Muttis Einsamkeit vorbei, sie nimmt buchstäblich wieder am Leben teil.

»Ich fliege auch mit«, sagt sie bestimmt und sieht mich an. »Dann musst du aufs Haus aufpassen und vor allem Purzel füttern. Er mag es gar nicht, wenn er alleine ist!«

Mutti will mitfliegen? Nach Koh Phangan?

»Rutsch mal«, sage ich zu Ludwig und quetsche mich dann neben ihn auf die Bank. »Stimmt das?«, frage ich Isabell.

Sie sieht mich mit einem Blick an, der alles bedeuten kann: Das denkt Mutti, das träumt sie oder … so ist es halt.

Nun sitze ich meiner Mutter gegenüber. Klar, für ihre 78 Jahre ist sie körperlich noch ziemlich fit. Das ist nicht ihr Problem. Die fortschreitende Demenz ist ihr Problem. Wie soll das auf einem so langen Flug mit Umsteigen, Schiffsüberfahrt und was noch allem gehen?

»Bist du sicher, Mutti?«, frage ich sie.

Sie erwidert meine Frage mit einem Lächeln. Eine schöne Frau, auch heute noch, das denke ich immer wieder. Sie hat die feinen Gesichtszüge, die ich nicht habe. Und auch den schmalen, zarten Körper. »Mein ewiges Mädchen«, hatte mein Vater immer gesagt. Irgendwie stimmt das sogar.

»Vati und ich wollten immer reisen«, sagt sie jetzt und dreht ihren Ehering, der ihr locker am Finger sitzt. »Er ist zu früh gegangen.«

»Ja, das ist er«, bestätige ich. An einem Herzinfarkt vor sechs Jahren, kaum, dass er seinen Ruhestand genießen konnte. »Aber muss es gleich so weit sein?«, frage ich in die Runde. Und an Isabells Schweigen erkenne ich: Boris hat Mutti gar nicht eingeladen. Auf diese Idee war ihr geliebter Sohn überhaupt nicht gekommen.

»Es ist nicht weit«, betont meine Mutter mit erhobenem Zeigefinger. »Für einen geliebten Sohn ist nichts zu weit!« Sie sieht mich Beifall heischend an. »Für eine liebende Mutter schon gar nicht.«

Dein geliebter Sohn hat seine Familie sitzen lassen, weil er sich fremdverliebt hat, liegt mir auf der Zunge, aber ich verkneife mir den Kommentar. Schon wegen der Kinder. Die denken ja auch, dass ihr Vater, der berühmte Architekt, große Dinge im Ausland bauen muss und deshalb nicht hier ist.

»Dann also ein Familienausflug«, frage ich, »wann?«

»Recht bald«, erklärt Isabell schnell, und ihre moosgrünen Augen halten meinen Blick fest. »Die Tickets sind da, wir fliegen in drei Tagen.«

»Und seit wann wisst ihr das?«

»Seit heute Morgen.«

»Und wann kommt ihr zurück?«

»Wir bleiben vierzehn Tage.«

Typisch Boris, denke ich. Und jetzt weiß ich plötzlich auch, weshalb ich seit heute Morgen ein so ungutes Gefühl mit mir herumtrage.

Was wird mit Mutti, wenn alle weg sind?

Wer kümmert sich, wer kauft ein, wer überwacht ihre Tabletteneinnahme, wer … vor allem: Wer tröstet sie, wenn Isabell und die Kinder zu Boris fliegen und sie, die Mutter, nicht mitkann?

Mir wird ganz flau.

Zwei Stunden später stoße ich das kleine Gartentor zu meiner Wohnung im Heusteigviertel auf. Seit etwa einem Jahr wohne ich hier, und anfangs dachte ich, dass ich es in dem Mehrfamilienhaus mit den schrägen Mitbewohnern nicht lange aushalten würde. Vor allem mein Vermieter, Petroschka, hatte mir mit seinem fleischigen Vollmondgesicht, den glubschigen Augen hinter der dicken Brille und der unförmigen Figur im Trainingsanzug die ersten Tage einfach nur einen Schrecken eingejagt. Bis ich den besonderen Kern entdeckte, der sein Wesen ausmacht. Was mir mal wieder bestätigte, dass der erste Eindruck sehr wohl trügen kann. Ähnlich ging es mir mit Fräulein Gassmann, einer pensionierten Studienrätin, die auf dieser antiquierten Anrede besteht und mir ständig mit der Hausordnung kam. Nur oben, im dritten Stock, schien mir mit Lisa Landwehr eine normale, junge Frau zu wohnen, wenn sie auch erstaunlich scheu war. Inzwischen hat sich das alles eingespielt. Auch die Gartenmöbel, die ich ungefragt in dem kleinen Garten aufgestellt hatte, sind mittlerweile von allen akzeptiert. Der kleine, runde Eisentisch steht nun mit den passenden Klappstühlen dicht bei den beiden Apfelbäumchen Else und Judith, die Petroschka, wie er mir eines Tages verraten hat, nach menschlichen Vorbildern benannt hat – und zwar nach seiner Mutter und deren Zwillingsschwester.

Ich schiebe mein Fahrrad den schmalen Weg am Haus entlang und bin froh, dass sich im Garten niemand aufhält. Also werde ich mir ein Glas kühlen Weißwein holen und mich zu den Apfelbäumchen setzen. Vielleicht wissen die beiden ja Rat.

Spinn nicht, sage ich mir im gleichen Moment, aber so ein bisschen traue ich den beiden mystische Fähigkeiten zu, vor allem in Vollmondnächten, wenn ich nicht schlafen kann und ihre Gesellschaft suche. Vielleicht liegt es auch daran, dass Else ein dürres, halb verkrüppeltes Apfelbäumchen ohne Früchte war, bis sie im letzten Jahr Judith dazubekam, Judith im Topf, die dann mit viel Freude von allen Hausbewohnern eingepflanzt wurde. Seither wachsen die beiden Bäume prächtig, und Else trägt sogar zum ersten Mal Früchte, kleine, grüne Äpfel, die im September sicher fantastisch schmecken werden.

Ich stelle mein Fahrrad an der Hauswand ab und frage mich, wie lange ich mich mit irgendwelchen Gedankenspielen noch ablenken kann, bis ich auf das eigentliche Problem zurückkomme: meine Mutter. Meine Mutter und ihr Sohn in Koh Phangan. Mein nichtsnutziger Bruder. Und während ich noch in meinem kleinen Rucksack nach meinem Haustürschlüssel fahnde, fällt mir mein Handy in die Hand. So!, denke ich. Sehr gut! Das werde ich jetzt gleich mal klären.

»Lieber Bruder«, tippe ich, »ich habe gerade von der tollen Einladung gehört. Ludwig und Lara freuen sich schon wahnsinnig. Mutti auch. Kommt ihr Ticket noch?«

Dass ich darauf wahrscheinlich keine Antwort bekommen werde, stört mich nicht, aber immerhin empfinde ich sofort eine diebische Freude. Ich will gerade die Haustüre aufstoßen, da wird sie von innen geöffnet. Lotta Gassmann macht einen erschrockenen Schritt zur Seite: »Huch!« Sie hält ihre unvermeidlichen Walkingstöcke in der einen Hand und sieht mich groß an.

»Ich wollte Sie nicht erschrecken«, sage ich rasch. Bei alten Damen weiß man ja nie, ob das nicht lebensgefährlich enden kann. Sie fasst sich schnell.

»Sie sehen ja auch nicht wirklich zum Fürchten aus«, erwidert sie und weist dann zu meinem Fahrrad. »Nur, dass Ihr Rad schon wieder mitten im Weg steht …«

Ich unterdrücke einen Stoßseufzer. »Ich wollte es nach dem Aufschließen aus dem Weg räumen.«

»Nun, die Türe ist ja jetzt offen …«

Sie kann es einfach nicht lassen, denke ich. Ewig dieser Oberlehrerton. »Dafür habe ich gestern schon das Treppenhaus gereinigt«, sage ich versöhnlich.

»Sie waren ja auch dran!«, erklärt sie stirnrunzelnd und geht an mir vorbei die drei breiten Steinstufen hinunter.

»Ihnen auch einen schönen Tag noch«, rufe ich ihr nach, höre aber nur noch das Tackern ihrer Stöcke.

Blöde Kuh, denke ich, nehme den Gedanken aber gleich wieder zurück. Sie hat auch ihr Päckchen zu tragen, wie ich seit einigen Monaten weiß. Man darf nicht alles auf die Goldwaage legen.

Ich gehe zurück, schiebe mein Fahrrad ein paar Meter weiter am Haus entlang in den Fahrradständer, wo auch Lisas Rad schon steht, und lächle in mich hinein. Lisa ist also zu Hause – und sicher wäre sie einem Gläschen nicht abgeneigt … Auf der anderen Seite, denke ich, wollte ich doch in Ruhe nachdenken. Und ist das nicht eine unbewusste Ablenksituation, wenn ich jetzt Lisa einlade? Sei nicht so streng mit dir, sagt mir meine innere Stimme, und bevor ich mich versehe, ist mein Zeigefinger schon auf Lisas Klingelknopf. Ein Mal lang, zwei Mal kurz, das interne Zeichen im Haus. Noch stehe ich unten auf der Steintreppe und warte gebannt auf eine Reaktion. Als keine eintritt, gebe ich es auf. Dann ist es halt so.

Ich werde mir ein Gläschen eingießen und mich mit meinen Problemen beschäftigen.

Zwanzig Minuten später sitze ich mit meinem Wein im Garten bei den beiden Bäumchen und lasse meine Gedanken schweifen. Zwischendurch sehe ich aufs Handy, dann denke ich plötzlich, wie spät ist es denn eigentlich in Thailand? Ich google schnell: + 6 Stunden. Also ist es jetzt bei Boris nach Mitternacht.

Mitternacht war für meinen Bruder noch nie spät, kein Grund, nicht zu antworten. Aber unabhängig davon: 14 Tage. Gut, es kommt jeden Tag eine Pflegekraft, medizinisch ist Mutti also versorgt, geduscht wird sie auch, falls sie es zulässt und sich nicht verweigert, wie schon einige Male geschehen … Deshalb geht es nur um das, was ich auch vor Isabells Einzug schon gemacht habe, einkaufen, kochen, Zeit mit ihr verbringen. Warten, bis sie im Bett ist.

Das fällt mir ja eigentlich nicht schwer. Angst habe ich nur vor den Fragen nach Boris. Warum sie nicht mitdarf. Was soll ich ihr sagen? Dass ihr erwachsener Sohn sie gar nicht haben will? Nein. Und wenn ich darüber nachdenke, kann man das Isabell auch nicht zumuten: zwei kleine Kinder und dann auch noch eine demente Schwiegermutter … und plötzlich habe ich die Idee: Ich werde ihr anbieten, gemeinsam etwas zu unternehmen. Mutter und Tochter, eine kleine Reise, irgendwohin, wo sie gern hinmag. Schwarzwald, Bodensee … Irgendwas in der näheren Umgebung. Das wäre zeitlich machbar – und auch bezahlbar angesichts unseres unrentablen Cafés.

Zufrieden und ausgeglichen gehe ich an diesem Tag ins Bett, das hätte ich vor ein paar Stunden noch nicht gedacht. Ich hatte mir noch ein kleines Abendessen mit Brot, Käse und Trauben für den Garten gerichtet und mir nebenbei einen Podcast angehört, Thema »Ausdauersport Liebe«, und war dann lächelnd nach oben in meine Wohnung und wenig später ins Bett gegangen.

Das ganze Leben ist ein Ausdauersport, finde ich, bevor mir die Augen zufallen, nicht nur die Liebe. Aber prompt träume ich von meiner ersten großen Liebe und dem Liebeskummer, der mich damals schier umgebracht hätte. Und beim Aufwachen denke ich, dem Traum nachspürend, dass das Thema immer schwierig bleibt. Egal, ob mit 16 oder 45. Vielleicht darf man dem einfach nicht so viel Bedeutung beimessen. So heißt es doch immer: Wer locker bleibt, hat weniger Probleme. Also locker, liebe Katja, sage ich mir, jetzt steh mal locker auf und mach dir einen Morgen-Cappuccino, dann zurück ins Bett zu den Nachrichten des Tages im Frühstücksfernsehen.

Dienstag, 3. August

Doris findet es klasse, dass Boris seine Kinder eingeladen hat. Klar, sie hat ja selber Kinder, sie sieht das halt mehr von dieser Seite. Ich dagegen hatte mir bis zu meinem Umzug nach Stuttgart alles vom Hals gehalten, was irgendwie nach ständiger Pflichterfüllung aussieht … also Kinder, Tiere und Pflanzen. Vielleicht bereue ich das ja eines Tages, denke ich, während sie mir begeistert schildert, wie großartig es für die Kinder sein wird, endlich wieder ihren Vater zu sehen. Und dann noch am Meer. »Auf einer thailändischen Insel, überleg doch mal. Endlose Strände«, sprudelt sie hervor, »Palmen, Wasserschildkröten, Delfine, Sandburgen bauen, schnorcheln, schwimmen … Liebe.«

»Liebe?«, frage ich nach.

»Schön wär’s«, sagt sie nur kurz. »Aber für die Kinder ist das ein Traum!«

»Na ja«, sage ich.

»Und du bekommst das doch auch locker in den Griff. Das hast du am Anfang auch geschafft – und da war es doch noch viel schwieriger.«

»Wie wahr, wie wahr«, stimme ich zu.

»Na, also!«

Wir stehen am Tresen über die Reservierungen gebeugt, listen die Waren auf, die bestellt werden müssen, überlegen, ob wir das Weinsortiment vielleicht mal ein bisschen verändern sollen und auch die Speisekarte … zwei weitere vegane Gerichte vielleicht?

»Da soll unser Koch mitreden«, finde ich und schau auf meine Uhr. Schon nach zehn. »Wo bleibt er überhaupt?«

Doris zuckt mit den Achseln. »Du weißt doch, dass er chronisch unpünktlich ist. Aber zum Schluss klappt dann doch immer alles.«

»Er kostet vor allem Nerven«, sage ich und klappe das Reservierungsbuch zu. »Also für heute Abend zehn Leute, das ist doch immerhin was. Welche Tische stellen wir denn zusammen?«

»Das mache ich schon«, winkt Doris ab. »Heute kommt Niki zum Probearbeiten, dann kann ich gleich mal sehen, wie praktisch sie veranlagt ist.«

»Auch gut«, erkläre ich. »Dann bring ich meinen Schreibtisch in Ordnung.«

Doris’ schräger Blick hält mich zurück. »Ist noch was?«

Sie zieht mit drei Fingern ein Briefkuvert her, das seitlich von ihr auf dem Tresen lag, und dreht es um. »Vom Finanzamt«, sagt sie leise und schiebt es mir zu. »Ich befürchte, eine Steuernachzahlung.«

»Hast du es nicht aufgemacht?«

»Ich mag keine schlechten Nachrichten.«

Ein Stirnrunzeln kann ich mir nicht verkneifen. »Woher soll denn eine Steuernachzahlung kommen, der Laden wirft doch kaum was ab?«

»Vielleicht habe ich im letzten Jahr was übersehen … als du noch nicht da warst?«

»Heißt das, du hast gar keine Steuererklärung gemacht?«

»Nicht so richtig …«, sagt sie und verzieht das Gesicht, »… befürchte ich.«

»Aber der Steuerberater … Ja, okay«, ich wedle mit dem Briefumschlag, »ich schau mir das erst mal in Ruhe an. Keine Panik. Wird schon.« Damit nicke ich ihr zu und gehe in den Flur zurück, zur Treppe in den ersten Stock, meinem Büro. Tja, Doris ist ein herzensguter Mensch, hübsch dazu mit ihren tiefschwarzen Haaren, dem schmalen, gebräunten Gesicht und den meist strahlenden Augen. Aber sie ist keine Geschäftsfrau, ganz und gar nicht. Zahlen, Konten, Geschäftsbücher, Betriebswirtschaft … lieber backt sie unablässig Kuchen und macht damit ihre Gäste glücklich.

Ich habe kein gutes Gefühl mit dem Briefkuvert in der Hand. Offizielle Kuverts verursachen immer ein schlechtes Gefühl, selbst wenn es nur ein Strafzettel ist.

Oben im Büro lege ich es erst mal auf den Tisch, mittendrauf auf den Stapel, der auch noch bearbeitet werden will, und schau mich nach Heiko um. An seinem Tisch sitzt er nicht, das ist leicht zu sehen, vielleicht in unserer kleinen, gemeinsamen Küche? Auch da nicht.

Ich muss heute mit meinem Kram alleine fertigwerden. Also nehme ich den Brieföffner und schlitze das Kuvert mit einem Ratsch auf. Todesverachtend. Aber dann muss ich mich doch setzen.

Sie haben das Café geschätzt. Gewinn: 80 000 Euro. Nie im Leben, denke ich. Und wieso hat das Finanzamt denn geschätzt?

Hatte Doris die Mahnung übersehen?

Offensichtlich.

Die Zahl darunter macht mich auch nicht glücklicher: 23 000 Euro Steuernachzahlung. Und wenn dies nun auf die Vorauszahlung umgerechnet wird, dann werden hier die Euros nur so abfließen … und zu wenige hereinkommen.

Ich lasse den Bescheid sinken. Jetzt wäre es doch schön, wenn Heiko da wäre. Mit ihm könnte ich das besprechen. Was kann man gegen den Bescheid tun? Widerspruch einlegen? Aber wie? Ich war noch nie in so einer Situation. Ich bin ja auch kein Steuerberater, sondern habe lediglich vor langer Zeit ein paar Semester BWL studiert.

Dreiundzwanzigtausend Euro.

Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen:

Drei-und-zwanzig-tausend!

Ob sie die von ihrem Mann kriegt, der sowieso schon sauer ist, weil sie das Haus und ihn vernachlässigt, wie er ihr ständig vorhält … Oder ist es nun sein Triumph, wenn wir vor seinen Augen baden gehen? Wenn ihre Ambitionen scheitern?

Mein erster Impuls ist, hinunterzugehen und das gleich mit Doris zu besprechen. Aber ich bin zu aufgewühlt, wer weiß, was ich sage. Also lieber erst mal sacken lassen.

80 000 Euro Gewinn!!

Wenn sie 40 000 Euro geschätzt hätten, dann wäre das eine Sache! Dann könnte man ja sogar noch profitieren. Allerdings wäre es dann bei real höheren Einnahmen so etwas wie eine Steuerhinterziehung, und wir könnten entsprechend belangt werden.

Schließlich entscheide ich, dass das wirklich nicht meine Sache ist, und mach mich an die monatliche Abrechnung. Muss aber immer wieder den Kopf schütteln bei all unseren Ausgaben, der Miete, den Waren, dem Koch, den Aushilfen, den Versicherungen, den Abgaben … Wo soll da ein solcher Gewinn herkommen?

Und dann muss ich mir eingestehen: Wenn wir keinen höheren Umsatz erwirtschaften, dann macht das ganze Café keinen Sinn. Mein Taschenrechner zeigt mir schnell, dass wir beide, Doris und ich, bei einem Gewinn von von 80 000 Euro für 3333 Euro monatlich arbeiten. Vor Steuern.

Allerdings sehen die Zahlen für dieses Jahr, zumindest für dieses eine Jahr, in dem ich nun mit Doris zusammenarbeite, nicht so schlecht aus. Aber was heißt das schon? 500 Euro mehr?

Ich muss mit Doris reden. Wir brauchen ein anderes Konzept. Dass die Gäste die Wohlfühlatmosphäre schätzen, ist ja schön. Aber nicht mit einem Cappuccino für drei Stunden. Da muss uns etwas einfallen. Oder wir müssen die Preise erhöhen. Aber drastisch geht das ja nun auch nicht von heute auf morgen.

Ich ziehe den Bescheid heran. 23 000 Euro. Wie das funktionieren soll, weiß ich auch noch nicht.

Nach dem Mittagsgeschäft gehe ich hinunter ins Café. Doris wischt gerade die Tische ab und strahlt mich an. »Rico hat heute Morgen einen völlig neuen Kuchen nach einem alten österreichischen Oma-Rezept gebacken. Er schmeckt fantastisch. Magst du ein Stück?«

Eigentlich krampft es mir seit heute Morgen eher den Magen zusammen, aber ein Stück Kuchen lockt mich dann doch – zumal ich seit meinem Honigbrot-Frühstück nichts mehr gegessen habe.

»Wir beide?«, frage ich. »Hast du Zeit?«

Ihr Lächeln erlischt. Offensichtlich beschäftigt sie das bedrohliche Briefkuvert auch noch.

»Zu einem österreichischen Marillenkuchen kann man auch einen Marillenschnaps trinken …«, sagt sie schnell.

»Vielleicht ist er nötig«, stimme ich zu. »Kaffee, Kuchen und Schnaps, damit dürften wir die erste Hürde hoffentlich nehmen.«

Ich gehe zur Kaffeemaschine, und Doris kommt mit ihrem kleinen Wassereimer und dem Wischtuch hinter den Tresen. »So schlimm?«

»Kommt drauf an«, antworte ich. Kommt drauf an, ob du was auf die Seite gelegt hast, denke ich. Oder ob dein Mann in seine Geldschatulle greift.

»Dann bis später!« Rico schlendert froh gelaunt aus der Küche. Unser Sonnyboy aus Brasilien. Er ist kein gelernter Koch, eher ein Learning-by-doing-Koch, hat er uns bei seiner Einstellung gesagt. Dafür kann er super Salsa tanzen – und ist auch nicht so teuer wie ein IHK-geprüfter Koch mit Abschluss und Trallala. Trotzdem verdient er mehr als ich.

Ich stelle die beiden Kaffeetassen auf ein Tablett und drehe mich zu unserem Spirituosenregal um, wo sie alle brav nebeneinanderstehen: mehrere Gin- und Whiskeysorten, Aperol, Campari und einige ausgesuchte Schnäpse. »Vielleicht gleich einen Doppelten?«, sage ich mit der Flasche in der Hand zu Doris und muss bei ihrem Gesichtsausdruck lachen.

»Okay, mein Herzblatt«, tröste ich sie, »es wird uns schon was einfallen.«

Wir sitzen, bis die ersten Gäste kommen. 18 Uhr. Rico ist noch nicht da, er nimmt Arbeitszeiten eher entspannt. Und so richtig eingefallen ist uns in der Zwischenzeit auch nichts. Doris ist angesichts der Summe schreckensbleich geworden. Und meine Nachfragen fruchten nichts. Klar, sie schreibt alles brav auf – Zettelwirtschaft noch und noch. »Und all unsere Aushilfen«, frage ich sie, »schon mal nachgedacht? Ohne moderne Kasse?« – »Die sind doch alle ehrlich«, beharrt sie. »Klar«, entgegne ich, »bis sie draufkommen, wie leicht sich so eine Studentenzeit etwas aufpeppen lässt.« Und kaum habe ich es gesagt, geht die Tür auf, und Niki schneit herein. »Oh, unsere Reservierung«, fällt Doris bei ihrem Anblick ein. »Zehn Gäste.«

»Da könnt ihr jetzt loslegen, 19 Uhr, das passt locker.«

Doris nickt, kann einen Seufzer aber nicht unterdrücken.

»Wir kriegen das schon hin«, sage ich, schon halb im Aufstehen, »aber eines ist sicher: Wenn das hier Hand und Fuß haben soll, dann treten wir jetzt in den Hotel- und Gaststättenverband ein und kaufen uns eine neue Kasse. Die bonierten Einnahmen sind Belege fürs Finanzamt und eine Erschwernis für … eigene Studentenpläne.«

»Hat mein Steuerberater damals auch gesagt.«

»Tja. Und in der Zwischenzeit hat er dich aufgegeben.«

»Weil er an mir verzweifelt ist«, sagt sie kleinlaut.

Ich erwidere nichts, aber dann schauen wir uns an und müssen beide lachen.

Donnerstag, 5. August

Tag der Abreise. Ich fahre die drei natürlich zum Flughafen. Mutti wollte Gott sei Dank nicht mit. Nach meinem Hinweis an Isabell hat sie den Kindern verboten, noch einmal von Thailand und Boris zu sprechen. In der Hoffnung, Mutti könnte das Reiseziel wieder vergessen, gaben sie Nussdorf am Attersee als Urlaubsort an. Lara, das Plappermaul, brauchte ein bisschen länger, aber nachdem ihr Isabell eindrücklich erklärt hatte, wie traurig dann die Omi sei, hatte auch sie es verstanden. Nur Ludwig machte seine Mutter darauf aufmerksam, dass es ja eine Lüge sei. Und lügen dürfe man nicht, das habe sie selbst gesagt.

Ich habe ehrlich aufgeatmet, als die drei endlich durch die Kontrollen waren und ich ihnen aus der Ferne zuwinken konnte. Auf der anderen Seite habe ich nun wieder die ganze Verantwortung für meine Mutter und das Gefühl, dass sie in der großen alten Villa irgendwie vereinsamt. Hoffentlich sitzt sie jetzt nicht wieder stundenlang am Küchentisch und schaut blicklos zum Fenster hinaus. Und hoffentlich bekommt sie keinen Rückfall, denn der lebhafte Familienalltag hat ihr gutgetan und sie wieder wacher werden lassen.

Wie auch immer, ich fahre sofort zu ihr und telefoniere während der Fahrt mit Doris. Sie konnte das Problem gestern Abend nicht ansprechen, sagt sie, Jörg hatte einfach kein Ohr für sie.

»Okay, aber vorgestern hat es doch auch schon nicht geklappt?«

»Na, du weißt doch, die Reservierung, die zehn Gäste. Geburtstag. Die wollten einfach nicht gehen, es war schon viel zu spät.«

»Wir müssen das aber bald klären.«

Kurze Pause. »Wenn ich ihn auf dem falschen Fuß erwische, dann ist sowieso alles zu spät.«

»Dann erwisch ihn halt auf dem richtigen.«

»Dann muss ich mit ihm schlafen …«

»Ja, gut. Was ist daran so schlimm?«

»Er wird den Braten sofort riechen.«

»Wieso denn das?«

»Ja, was glaubst du, wie oft wir noch dazu kommen?«, sagt sie fast barsch. »Entweder ist er nicht da – oder ich bin unterwegs. Und wenn ich ihn jetzt mit Strapsen und Sekt abpasse … und anschließend fünfundzwanzigtausend Euro brauche – der ist doch nicht blöd!«

»Dreiundzwanzigtausend, Doris, nur dreiundzwanzigtausend!«

»Ja, super!«

Ja, super, denke auch ich. Jedenfalls müssen wir auch Widerspruch beim Amt einlegen. Und ob ich das kann? Vielleicht brauchen wir einen Anwalt. Ich muss Heiko anrufen. Gestern war er auch wieder nicht da. Wo steckt er bloß die ganze Zeit?

An der nächsten roten Ampel schreibe ich ihm eine WhatsApp:

»Sag mal, du untreuer Liebhaber, wo steckst du denn die ganze Zeit??«

Sofort geben mir zwei blaue Haken an, dass er es gelesen hat. Aber keine Antwort. Kurz ärgere ich mich darüber, aber dann halte ich schon an der Bäckerei und vergesse es wieder.

Mit einer Tüte frischer Brötchen und frischer Butter halte ich wenig später vor meinem Elternhaus. Ich weiß nicht, was im Kühlschrank ist, und vorsichtig ist die Mutter der Porzellankiste. Oder so ähnlich.

Ich klingle kurz und schließe dann auf.

Wie vermutet, sitzt meine Mutter am Küchentisch und schaut in den Garten hinaus. Vor ihr ein Teller mit einem Honigbrot und eine Tasse Kaffee, sicherlich längst kalt geworden.

Sie dreht sich nach mir um, als ich betont fröhlich grüßend hereinkomme.

»Sie sind weg«, sagt sie einfach.

»Ja«, ich hauche ihr einen Kuss auf die Wange, »sie haben Urlaub. Das ist doch gut.«

»Sie sind zu Boris.« Ihre Stimme ist traurig.

Wieso weiß sie das? Kein Mensch hat mehr von Boris gesprochen, da bin ich mir sicher.

»Ah«, sage ich und überlege, was nun die richtige Antwort ist. »Wollen wir erst mal einen Kaffee trinken?«

Sie nickt und zeigt zu der Kaffeekanne auf der Anrichte. Sie hat ihn früher immer von Hand aufgebrüht, und eigentlich, das muss man selbst als Besitzerin einer hochwertigen Kaffeemaschine zugeben, schmeckt er so auch am besten.

Ich lege meine Brötchentüte und die Butter auf den weiß lackierten Holztisch, an dem wir schon als Kinder gefrühstückt haben, leere Muttis volle Kaffeetasse aus, stelle Wasser auf, gebe Pulverkaffee direkt in die Kanne, decke den Tisch mit frischen Tassen, Tellern und Besteck und warte ab.

»Du siehst gut aus«, sage ich und lächle ihr zu. Sie sieht an sich herunter, als ob sie nicht mehr wisse, was sie eigentlich trägt. Eine helle Bluse und eine dunkelblaue Stoffhose. Früher hat sie nur Röcke getragen, am liebsten Kostüme. Aber Isabell hat sie irgendwie davon überzeugt, dass Hosen für den Alltag praktischer sind – und auch gut aussehen. Sie hat ihr sogar eine Jeans gekauft, die Mutti bei ihrer schlanken Figur gut tragen könnte, die sie aber, soviel ich weiß, noch nie angezogen hat. So weit gehen ihre Zugeständnisse dann doch wieder nicht.

»Du musst Kaffee in die Kanne tun«, sagt sie. »Oben im Schrank. Wie immer.«

»Danke, Mutti«, sage ich, »habe ich schon. Es ist gleich so weit.« Ich deute auf ihr unangerührtes Honigbrot. »Magst du das noch essen oder lieber eines der frischen Brötchen?« Ich öffne die Tüte, und sie nickt.

»Ein Laugenbrötchen«, entscheidet sie. »Mit Butter. Ganz dick mit Butter, so wie früher.«

Wie früher. Alles, was früher war, weiß sie genau. Kürzliches vergisst sie. Aber wieso weiß sie, dass Isabell und die Kinder zu Boris geflogen sind?

Nun kocht das Wasser, und ich fülle die Kaffeekanne langsam und in mehreren Intervallen, damit sich der gemahlene Bohnenkaffee auf dem Kannenboden mit Wasser mischt, ohne allzu sehr aufgewirbelt zu werden. Meine Mutter beobachtet mich ganz genau.

»Mach ich’s richtig?«, frage ich scherzhaft.

Sie nickt. »Besser als Isabell«, erklärt sie. »Sie ist immer zu hektisch!«

Das kann ich mir denken, mit zwei Kindern am Rockzipfel, die immer alles sofort haben wollen. Ich stelle die geblümte Kaffeekanne auf den Tisch, öffne den gut gefüllten Kühlschrank, nehme Milch heraus, sehe, dass genügend Butter da ist, stelle alles auf den Tisch und setze mich dann zu ihr. »Für die Milch haben wir ein Sahnekännchen«, sagt sie. Und deutet zum Geschirrschrank. »Dort. Das geblümte.«

»Ah, ja …«, ich stehe auf, hole es und gieße etwas Milch hinein. »Zufrieden?«, frage ich, als ich mich wieder setze.

»So hat Papa es immer gemocht.«

»Ja«, sage ich und greife nach ihrer Hand. »Und du auch.«

Ihre Hand ist kalt. Dünn und kalt, und die Haut fühlt sich ein bisschen an wie Pergamentpapier. Ich streiche darüber. Auf der gebräunten Haut zeigen sich Altersflecken. Ich werde ihr eine entsprechende Handcreme kaufen, nehme ich mir vor. Kresse soll gut gegen dunkle Pigmentflecken sein, zumindest habe ich das kürzlich irgendwo gelesen.

»Und warum ist Boris nicht da?«, will sie unvermittelt wissen.

Kurz bringt sie mich aus meinem Gleichgewicht. Warum Boris nicht da ist? Wo ist sie jetzt? In unserer Kindheit?

»Ja«, sage ich und denke über eine unverfängliche Antwort nach. »Er ist eben ein erwachsener Mann, ganz genau so, wie ich eine erwachsene Frau bin, und er muss arbeiten.«

»Und warum arbeitest du nicht?«

Ich greife nach einem Laugenbrötchen, schneide es in der Mitte durch und bestreiche die eine Seite dick mit Butter.

»Wie kommst du auf die Idee, dass ich nicht arbeite?«

Sie antwortet nicht, sondern deutet stattdessen auf die Kaffeekanne.

Offensichtlich ist sie gerade in einer völlig anderen Welt. Ich schiebe ihr den Teller mit dem Brötchen zu und greife nach der Kanne.

»Wollen wir nachher ein bisschen an die frische Luft?«, frage ich sie. »Raus in den Garten oder ein bisschen am Killesberg spazieren gehen?«

»Purzel ist noch nicht da«, sinniert sie, ohne mir zugehört zu haben. »Ich glaube, er schläft noch.«

»Ja, ganz bestimmt«, sage ich. »Du bist ja früh aufgestanden. Und die Pflegerin war bestimmt auch schon da.«

»Ich habe sie weggeschickt.« Sie wirft mir einen trotzigen Blick zu. »Ich mag sie nicht.«

»Aber sie hilft dir doch nur.«

»Die nicht. Die andere schon. Aber die nicht!«

»Was ist denn mit ihr?«

»Sie ist so laut«, beschwert sich meine Mutter. »Sie spricht mit mir, als sei ich schwerhörig. Ich bin nicht schwerhörig. Und außerdem behandelt sie mich wie eine alte Frau.«

»Tja«, sage ich, »das geht natürlich gar nicht.«

»Nein, das geht auch nicht!«

In diesem Moment kommt mit einem kräftigen Miau Purzel zur Küchentür hereingeschritten. Ganz Herr des Hauses, geht der Kater mit hoch aufgestelltem Schwanz zu meiner Mutter, und während sie sich zu ihm hinunterbeugt, ändert sich ihre Tonlage: »Ja, Purzel, mein Purzele, hast du bis jetzt geschlafen? Magst du was essen?«

Und mit einem Blick zu mir. »Purzel mag sie auch nicht. Und Katzen haben ein gutes Gespür für Menschen.«

Mich beachtet Purzel auch nie, denke ich, was soll mir das sagen?

Da ich heute mit dem Auto unterwegs bin, habe ich in der Sackgasse, in der sich unser Café befindet, gleich wieder Parkplatzprobleme. Die rechte Straßenseite ist total zugeparkt. Die linke auch. Nur die Kurzzeit-Parkzone des Hotels gegenüber ist noch frei. Aber mich dort hinzustellen wäre unverschämt. Zumal wir auch immer wieder Hotelgäste haben, die sich nachmittags mal gern verlocken lassen und einen Kaffee bei uns trinken. Und das hat Doris ja auch verführerisch gemacht, finde ich. Schon vor dem Eingang steht ein frisch gebackener Kuchen auf einem kleinen Tisch, einfach so, als könnte sich jeder ein Stück davon mitnehmen. Und drinnen hat sie gemütliche Tischinseln geschaffen, jede anders dekoriert, dazu Weinflaschen in den Regalen, ein großer, farbiger Tresen, bunte Kacheln an den Wänden, Tassen und Teller in unterschiedlichem, liebevollem Dekor – alles ein bisschen Oma und trotzdem hip. Vintage eben. Genau das, was im Moment angesagt ist.

Das ist schon alles klasse, denke ich, während ich wende und genervt die Straße wieder hinauffahre, aber es muss sich eben auch rentieren. Für uns alle. Oben angekommen, halte ich an. Ins nächste Parkhaus? Da laufe ich dann ewig. Die Parallelstraße? Erfahrungsgemäß auch zugeparkt. Noch mal wenden und einfach zehn Minuten warten? Das erscheint mir die beste Möglichkeit, also stelle ich mich oben wie ein lauernder Fuchs in die zweite Reihe und warte ab. Und damit Doris schon mal Bescheid weiß, ziehe ich mein Smartphone heraus.

Ah, Heiko hat sich gemeldet.

»Ich hätte eher gedacht, dass du dich nach meinem Sohn erkundigst.«

Nach seinem Sohn? Jetzt stehe ich auf dem Schlauch.

»Wieso denn nach deinem Sohn?«, schreibe ich zurück, aber da klingelt es schon. Heiko.

»Anstatt lang hin und her zu schreiben«, sagt er, kaum dass ich den Anruf angenommen habe.

»Ja, da hast du recht«, bestätige ich und füge ein betontes »Schönen guten Tag, lieber Heiko« an, frage dann aber gleich nach. »Dein Sohn? Ist was passiert?«

»Das kommt von der Zettelwirtschaft auf deinem Schreibtisch«, sagt er leicht ungehalten. »Wirklich Wichtiges siehst du nicht mehr.«

Ich verkneife mir eine entsprechende Antwort. »Was ist denn so wichtig?«

»Moritz hat sich mit seinem Mountainbike auf einem Trail mitten im Wald überschlagen. Sanka. Blaulicht. Und hat im Krankenhaus sofort nach mir gefragt. Klar, dass ich direkt losgefahren bin. Bonn ist ja nicht um die Ecke.«

»Klar«, sage ich. Frage mich aber trotzdem, weshalb ich diesen verdammten Zettel nicht gesehen habe. »Schlimm?«

»Gehirnerschütterung. Hätte schlimmer sein können, er hatte einen Schutzengel. Und einen guten Helm!«

»Da bin ich froh«, sage ich. »Und wie ist es genau passiert?«

Während mir Heiko den abschüssigen Naturpfad und diesen Tiefsprung erklärt, stelle ich fest, wie sachlich wir mittlerweile miteinander umgehen. Ein Jahr Beziehung oder zumindest eine einjährige sexuell vertiefte Freundschaft – und der Ton hat sich verändert. Aber klar, denke ich, sein Sohn hatte einen Unfall. Da säuselt man nicht.

»Kann ich was tun?«, frage ich schließlich.

»Für heute Abend dein Bettchen anwärmen«, sagt er, »ich komme heute nämlich wieder. Es geht ihm gut, ich habe ihm ein neues Fahrrad versprochen, denn seines ist hinüber, und mehr kann ich im Moment nicht tun.«

»Vielleicht in den Arm nehmen?«

»Durfte ich nur kurz. Er ist fünfzehn und sehr männlich.« Er stutzt, und dann höre ich ihn lachen. »Findet er.« Und gleich darauf: »Fand ich in dem Alter auch.«

»Ich erinnere mich«, sage ich.

»Du fandst mich nicht männlich, du hast dich ständig nach Älteren umgesehen …«

»So ändert sich die Zeiten. Heute schau ich mich nach Jüngeren um.«

»Wir beide sind aber gleichaltrig.«

»Du hast dich gut gehalten.«

Es ist kurz still. »Sag noch was Nettes«, höre ich ihn gedämpft sagen.

»Ich freu mich auf dich!«

»Sehr?«

»Sehr!«

»Ich mich auch!« Damit ist er weg.

Ich lege das Handy auf den Beifahrersitz und horche in mich hinein. Sehr? Genau so, wie ich es gesagt habe? Ja, doch. Ich freu mich.

Und ich muss auch ein bisschen darüber lächeln. Wir drei ehemalige Schulkameraden, Doris, Heiko und ich. Damals in unserer Clique eng miteinander befreundet und jetzt, nach so vielen Jahren, wieder in Stuttgart vereint.

Dass Doris nach dem Abi hiergeblieben war, hatte am Anfang mit dem Delikatessengeschäft ihrer Eltern zu tun und, nachdem sie das nicht übernehmen wollte, mit ihrer Heirat. Heiko war als Informatiker nach Bonn gegangen, hatte dort ebenfalls geheiratet, zwei Kinder vom Vorgänger übernommen und war nach seiner Trennung in unsere Heimatstadt zurückgekehrt – und nicht nur das, er hatte auch den Beruf gewechselt. Vom Informatiker zum Männer-Coach.

Hinter mir hupt es.

Ich schau in den Rückspiegel. Da kommt so ein Sonntagsfahrer wieder nicht an mir vorbei. Fährt einen Kleinwagen und glaubt, der sei so breit wie ein Rolls-Royce. Ich lasse mein Seitenfenster herunter und winke ihn vorbei. Und während er noch an mir vorbeizieht, sehe ich, wie ganz am Ende der Sackgasse ein Auto blinkt, also offensichtlich gerade aufgeschlossen wird. Ich starte sofort, aber zu spät. Der Fahrer des Kleinwagens hat es ebenfalls gesehen, gibt Gas und setzt sich blinkend hinter den ausparkenden Wagen in Position. Ich schlage auf mein Lenkrad. Das darf doch einfach nicht wahr sein. Ich nehme mein Handy und schreibe Doris eine Nachricht: »Bin bereits seit zehn Minuten in unserer Straße und warte auf einen Parkplatz.«

Die Nachricht kommt gleich zurück. »Dann bis heute Abend.« Und ein Kuss-Emoji dahinter.

Eine gute halbe Stunde später sitzen wir beide an Heikos aufgeräumtem Konferenztisch, Doris und ich. Vor uns liegt der Bescheid vom Finanzamt.

»Wir brauchen wieder einen Steuerberater«, sage ich. »Ich muss das mit jemandem besprechen, der sich auskennt.«

»Tja.« Doris gibt sich kleinlaut.

»Du hattest doch früher einen. Den muss man doch reaktivieren können, schließlich kennt er dich und die Verhältnisse, das ist doch zumindest besser als jemand ganz Neuer.«

»Ja, aber gerade weil er die Verhältnisse kannte, hat er mir doch gesagt, dass er nichts für mich tun kann, wenn ich nicht ordentlich mit ihm zusammenarbeite.«

»Ordentlich … was hat er denn gemeint?«

»Na, die Belege den Bankauszügen zuordnen, Ausgaben und Einnahmen. Und so.«

»Hm!« Ich erinnere mich ein Jahr zurück, wie mir Doris, nachdem sie mir eine Zusammenarbeit angeboten hatte, etwas verschämt ihr »Büro« gezeigt hatte, das kleine Kabuff, die Abstellkammer neben den Toiletten im hinteren Teil des Cafés, und wie ich das Chaos zum ersten Mal gesehen und sofort gewusst habe: Im Leben werde ich hier nicht arbeiten. Hätte man das einzige Fenster geöffnet, wären beim ersten Windstoß alle Zettelhaufen, Belege und Dokumente davongeflogen. Entsprechend abgestanden roch die Luft, und es war düster, denn das kleine, vergitterte Fenster ging nach hinten raus zur nahen Wand des Nachbarhauses. Ich weiß noch, wie ich die Türe behutsam hinter mir geschlossen und beschlossen habe, mir lieber einen neuen Job bei einer Agentur zu suchen, als bei Doris einzusteigen. Und nur, weil sich die obere Etage durch einen glücklichen Umstand dazumieten ließ, hatte ich mich umstimmen lassen. Und außerdem erinnere ich mich, wie ich beim Umzug alles, was den Schreibtisch irgendwie bedeckte, einfach in einen großen Wäschekorb gewischt und nach oben, in unsere neuen Büroräume, getragen habe. Unterstützt von Heiko, der Doris nur kopfschüttelnd angesehen hat.

»Ist das dein Ernst?«, hatte er nur gefragt.

»Und heute kann er laufen«, war ihre Antwort. Kalauer aus der Jugendzeit.

Ich hole tief Luft und greife nach meiner Espressotasse, um mich zu sammeln und Doris’ fragendem Blick auszuweichen.

»Ich schlage vor«, sage ich, »dass du mir seine Kontaktdaten gibst. Ich ruf ihn an. Wir können diese willkürliche Einschätzung nicht so akzeptieren. Das ganze letzte Jahr habe ich genau abgerechnet, vielleicht hilft uns das ja.«

Doris nickt ergeben.

»Und«, sagt sie, »ich traue mich auch nicht, Jörg wegen der 23.000 anzusprechen. Ich befürchte, er schließt den Laden auf der Stelle. Es wäre sein Triumph!«

Oje. Ich weiß, was kommt.

»Könnten wir nicht … Katja, könnten wir nicht einen Kredit aufnehmen? Bei deiner Bank vielleicht?«

»Die wollen auch entsprechende Unterlagen sehen. Was soll ich denen zeigen?«

»Oder vielleicht jemanden privat?«

Ich habe es geahnt.

»Katja, mein Geld schmilzt dahin wie Schnee in der Sonne. Ich hatte mal ein ganz gutes Polster, und eigentlich wollte ich noch Muttis Traum vom Wintergarten erfüllen. Sie wünscht sich eine große Küche zum Garten hin, damit die ganze Familie dort sitzen und zusehen kann, wenn die Schneeflocken tanzen. So ähnlich hat sie es gesagt. Den Umbau unseres alten Wohnzimmers und von Papas Herrenzimmer hat ja Isabell vom Verkauf ihres Hauses bezahlt. Das ist ja auch in Ordnung, denn da wohnt sie ja jetzt. Trotzdem ist es ja mein Elternhaus, und laut Vertrag … ach, ist ja auch zu kompliziert, was wir da ausgehandelt haben, wegen Mutti und dem Erbe und so. Jedenfalls habe ich noch finanzielle Verpflichtungen. Und auf meinen Bruder brauche ich nicht zu zählen. Was Boris da in Thailand baut oder auch nicht baut, das tangiert mich nicht. Das ist, wie wenn der sprichwörtliche Sack Reis umfällt. Und zwar in Thailand. Nicht in China.«

Sie lacht nicht. Offensichtlich ist Doris das Lachen vergangen. Das allerdings ist alarmierend, denn sie ist ja eine absolute Frohnatur.

»Gut«, sagt sie. »Ich gebe dir die Kontaktdaten. Er heißt Ralf Klasser. Vielleicht hast du ja Glück.«

Ich nicke. Und dann fällt mir etwas ein. »Wie war es denn gestern mit unserem Neuzugang, mit Niki?«

Doris’ Gesicht erhellt sich. »Sie ist richtig tough. Will alles genau wissen. Und ist flink. Und vor allem kann sie sich alles gut merken. Das ist echt eine seltene Gabe. Die Preise hatte sie auch gleich im Kopf. Ich habe sie gefragt, ob sie auf unserer Homepage unsere Speisekarte auswendig gelernt hat, weil ich das wirklich erstaunlich fand. Aber da hat sie nur gelacht.«

»Prima, dann ist sie ja ein echter Glücksgriff.«

»Ja. Und kommunikativ dazu.«

»Also weißt du nun alles über ihr Leben?«

Doris lacht. »Eher sie über meines.«

Während ich mir am Schreibtisch eine Strategie zurechtlege, wie ich den Steuerberater von einer erneuten Zusammenarbeit überzeugen könnte, rufe ich nebenbei meine Mails ab und lösche den ewigen Unsinn und die Amazon-Phishingmails, die meine Kundendaten haben wollen, weil auf meinem Konto ein Problem aufgetreten sei. Haha, denke ich, wie blöd sind die eigentlich? Isch abe gar keine Konto. Es erinnert mich an einen alten Werbespruch im Fernsehen und beschert mir unmittelbar bessere Laune. Alles gut, denke ich, wir kriegen das hin. Und dann stoße ich auf eine Mail von gestern, die ich offensichtlich übersehen habe. Genau wie Heikos Nachricht, die vorhin unter zwei aufgeschlitzten Briefkuverts aufgetaucht ist.

Absender: [email protected]. Meine drei jungen Winzerfreunde Angelina, Sebastian und Robby, mit denen ich vor ein paar Monaten einen gemeinsamen Brand erarbeitet habe.

Liebe Katja,

nach wie vor finden wir, dass du uns und unsere Weine großartig ins Rennen gebracht hast: Die Presse ist an uns »Jung-Winzern« noch immer interessiert, die von dir entworfenen Flaschenetikette sind einfach klasse und stechen aus der Masse heraus und dein/unser Internetauftritt auch. Nun kommt die nächste Weinlese auf uns zu – und wir erwarten dieses Jahr nach dem tollen Sommer mit unseren prallen Trauben einen richtig guten Wein. Also überlegen wir gerade, wie wir uns entsprechend in Szene setzen könnten. Das heißt, eigentlich überlegen wir, wie DU uns in Szene setzen könntest ☺. Diesmal auch nicht für Gottes Lohn, sondern wir haben tatsächlich Geld verdient, und mit dir ist das Geld ja gut angelegt ☺☺.

Magst du demnächst mal nach Lauffen kommen?

Bekommst auch ein Gläschen … ☺☺☺

Es grüßen dich herzlich Angelina, Sebastian und Robby

Ich lese die Mail ein zweites Mal, und es kommt eine tiefe, warme Freude in mir auf. Die drei Jungwinzer hatte ich sofort in mein Herz geschlossen. Sie waren nach meinem Umzug von Hamburg nach Stuttgart mein Start in der neuen Agentur, ich sollte ihren ersten großen Auftritt in der arrivierten Welt der prämierten Weine planen, gestalten, verwirklichen. Ein einschlägiger Name für die Weine und für die drei Winzer, das entsprechende Flaschenetikett, dann natürlich die Presse, Auftritte, Internet, Flyer, Plakate … einfach alles. In meiner Hamburger Agentur wäre das ein Klacks gewesen. Etwas, das mich gefreut hätte und das ich mit meinem damaligen Team genau so angegangen wäre: voller Freude, schnell, ideenreich. Wir hätten diesen drei jungen Winzern in kurzer Zeit einen unverwechselbaren Brand verpasst. Das war in Hamburg stets unser Anspruch gewesen – und meist hat es auch geklappt.

Nur die kleine Agenturtochter in Stuttgart, zu der ich nach meinem Umzug gewechselt bin, fand es nicht prickelnd, dass ich ihnen vom großen Hamburger Chef praktisch als Teamleiterin vor die Nase gesetzt wurde. Und sie ließen mich das spüren, ohne dass ich wusste, warum.

Ich bin dann ziemlich schnell aus der Agentur rausgegangen – und habe die drei Jungwinzer auf meine Art betreut: schnell und erfolgreich. Und gratis. Das hat sich offenbar ausgezahlt.

Nun bin ich im Geschäft.

Das zeigt doch, dass ich wieder in Richtung Agentur anfangen sollte, sobald ich den Kram hier in den Griff bekommen habe. So hatte ich das ja ursprünglich auch geplant: Agentur und Café parallel laufen zu lassen, zumal ich mit diesem Büro hier die Räumlichkeit dafür habe.

Ich lehne mich zurück und bin ein bisschen stolz. Schließlich stehe ich auf und gehe hinunter ins Café. Doris kommt gerade mit zwei Flammkuchen aus der Küche und stellt die beiden Holzbretter auf dem Tresen ab.

»Hoi«, sagt sie bei meinem Anblick, »alles klar?«

Ich frage sie nach einem kleinen Glas Weißwein. Ein Achtele.

»Gibt es was zu feiern?«, will sie augenzwinkernd wissen und nimmt ein Weinglas aus dem Regal. »Hat unser Steuerberater zugesagt?«

»Nein, noch nicht. Aber …«, ich schau Niki zu, wie sie gerade einen kleinen Tisch am Fenster abkassiert und offensichtlich nicht nur sehr freundlich, sondern auch schnell ist, »… aber, mir kommt da gerade eine Idee.«

»Deine Ideen sind immer gut, lass hören.«

Niki kommt zu uns herüber, ihre Kellnerbörse unter den Arm geklemmt und zwei Teller und Gläser in der Hand. Da hat sie im Vorbeigehen also einen der frei gewordenen Tische abgeräumt, sie ist wirklich flink.

»Ah«, sagt sie, »Katja, grüß dich.«

Wir nicken einander zu, sie stellt das benutzte Geschirr ab und ist mit den beiden Flammkuchen schon wieder unterwegs zu einem jungen, Händchen haltenden Paar an einem Tisch hinten in der Ecke.

»Also«, sage ich, »meine Idee heißt Niki. Sie macht das ja wirklich gut. Dabei ist sie ja gerade mal den zweiten Tag da …«

»… den dritten«, korrigiert mich Doris.

»Okay«, stimme ich zu. »Meinst du, sie könnte mit Rico für ein paar Stunden das Café alleine schmeißen?«

Doris zuckt die Schultern. »Ich denke schon. Warum?«

»Dann würden wir beide zu meinen Winzern nach Lauffen fahren. Sie haben nachgefragt – die Weinlese kommt und damit der neue Wein, und für den hätten sie gern meine Beratung. Das will ich mir einfach mal anhören … und ich finde, eine schöne kleine Auszeit, das täte uns beiden gut.«

Doris strahlt. »Tolle Idee! Ja, klar, sofort!« Sie überlegt. »Allerdings ist Niki nur noch morgen da, übers Wochenende kommt dann wieder Vroni. Aber mit Vroni ginge das ja auch. Oder dann eben am Dienstag.«

»Das ist mir zu lang hin. Und außerdem bist du doch am Ruhetag immer mit Haus und Kindern beschäftigt.«

»Mit Haus und Jörg, die Kinder sind aus dem Haus.«

»Ja stimmt.« Ich schüttle den Kopf. »Entschuldige. Jonas und Amelie, ich bin wirklich ein Schussel!«

Sie zuckt mit den Schultern. »Es ging ja auch schnell. Amelie mit siebzehn das Abi und jetzt im Ausland und Jonas mit achtzehn bald Studienanfänger. Ich kann’s manchmal selbst kaum glauben. Wahnsinn!«

»Ja, gestern hatten sie noch die Masern, und heute sind sie erwachsen.«

Eine kleine Pause entsteht, und mir fällt auf, dass ich mich noch nie um Doris’ Gefühle gekümmert habe. Vielleicht weil ich selbst keine Kinder habe.

»Bist du traurig deswegen?«, frage ich nach.

»Das Haus ist leer. Und so still.«

»Aber dein Sohn ist doch noch da?«

»Er hat schon ein Zimmer in Leipzig. Eigentlich … er ist nur noch zwischendurch da. Ich denke mal, der Freunde wegen.«

»Vielleicht auch der Familie wegen?«

Sie sieht mich mit gerunzelter Stirn an. »Die hatte er achtzehn Jahre lang, das glaubst du selbst nicht.«

Nein, glaub ich selbst nicht.

»Trinkst du eines mit?« Ich deute auf mein Glas, das noch immer leer neben ihr steht.

»Ja«, sagt sie. »Ich glaube, ja …« Und angelt sich ebenfalls ein Glas, bückt sich nach einer Flasche im Kühlschrank und schenkt uns beiden ein. Bevor wir anstoßen können, steht Niki wieder neben uns. »So, alle sind versorgt. Haben bestellt oder essen schon. Was kann ich tun?«

»Was meinst du, Niki, könntest du morgen den Nachmittag alleine mit Rico stemmen, ginge das?«, fragt Doris vorsichtig an. Etwas zu verhalten, denke ich, fast schon devot – dabei ist sie doch die Chefin.

»Ja, klar«, Niki wirft ihre langen Haare zurück, »Familienausflug?«

»Nur wir beide.« Doris macht eine entsprechende Geste zu mir.

»Gibt es keine Männer in dem Verein?«

»Doch, klar«, antwortet Doris, »meinen Mann und meinen Sohn. Das habe ich dir ja schon erzählt. Aber die sind morgen nicht dabei.«

»In jeder guten Ehe müssen die Frauen auch mal alleine los«, erklärt Niki voller Inbrunst.

Doris muss lachen. »Sind das eigene Erfahrungen?«

»Eher beobachtete. Ich werde einen Teufel tun, mich zu verheiraten. Ich möchte mein Leben so gestalten, wie ich es will.«

»Dann hast du hier ja das richtige Vorbild stehen.« Doris zeigt auf mich. »Meine Freundin ist und bleibt erfolgreicher Single. Eigenständig, unabhängig, stressfrei.«

»Ganz ohne Mann?«

»Zumindest nicht verheiratet«, erkläre ich und bin mir nicht so sicher, ob mir das Gespräch gefällt oder nicht.

»Und du mit deinen zwei Männern in deinem Leben?«, wendet sie sich an Doris. »Geht das gut?«

»Mal mehr, mal weniger.« Doris zuckt mit der Schulter. »Wenn du verheiratet bist, musst du Kompromisse machen, das ist ja in jeder Beziehung so. Wenn du allerdings Kinder hast, musst du umdenken. Kannst dich nicht mehr vordrängen, sondern musst dich hinten anstellen.«

»Nur die Frauen oder auch die Männer?«

Schlagfertig ist sie, das muss ich zugeben. Und clever. Ich bin auf Doris’ Antwort gespannt.

Sie überlegt. »Männer sind schlauer als Frauen. Sie halten sich in vielem einfach zurück. Sind ja auch in vielem bedürfnisloser. Brauchen keinen täglichen Austausch, kommen wortkarg von der Arbeit und wollen dann ihr Feierabendprogramm.«

»Aber es sind doch nicht alle so?« Niki legt den Kopf schief.

Doris lächelt ihr zu. »Die Jungen hoffentlich nicht. Die Alten schon. Das haben sie schon bei ihren Müttern gelernt: Frauen sind für alles zuständig. Vor allem dafür, dass es ihren Männern gut geht.«

»Und geht es deinem Mann gut?«

»Na«, schalte ich mich ein, »ist das nicht vielleicht ein bisschen viel gefragt?«