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Traummann oder Taschendieb? Wenn Marie nur wüsste, was sie von Erik halten soll, mit dem ihr bisher jeder Tag der Kreuzfahrt wie ein Stück vom Paradies erschien. Majestätisch glitt die Midsummer Dream über das sonnenglitzernde Meer, als sie ihn das erste Mal sah. Elegant an die Reling gelehnt, stand er vor ihr und flirtete so herrlich charmant mit ihr ... wie auch jetzt wieder. Mit diesem tiefen Blick in ihre Augen, dem Marie wirklich einfach nicht widerstehen kann. Der ihr Herz vor Glück höherschlagen lässt – welches Geheimnis auch immer Erik vor ihr verbirgt ...
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Seitenzahl: 196
IMPRESSUM
Traummann an Bord erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe ROMANA, Band 1807
Umschlagsmotive: shironosov / Getty Images
Veröffentlicht im ePub Format in 08/2023
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751527224
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Glutrot versank die Sonne hinter den Gipfeln der Berge, die das Tal umgaben. Ihr Schein ließ die zartgelbe Fassade von Schloss Westerlund in einem kräftigen Orange erstrahlen und verwandelte die Oberfläche des kleinen Sees, an dessen Ufer das imposante Gebäude errichtet war, in flüssiges Feuer.
Graf Lundqvist erhob sich von seinem Platz hinter dem Schreibtisch und trat durch die offen stehende Tür hinaus auf den Balkon. Für einen Moment stand er einfach nur da, um den Sonnenuntergang zu betrachten, doch selbst dieses überwältigende Naturschauspiel konnte seine Gedanken nicht gänzlich von den Sorgen und Problemen ablenken, die ihn belasteten.
Schuld daran waren die Papiere, die er soeben durchgesehen hatte. Wenn tatsächlich zutraf, was diese Dokumente nahelegten, dann gab es einen Verräter in seinen eigenen Reihen. Jemanden, der keine Skrupel hatte, dem Unternehmen zu schaden, um sich selbst auf verbrecherische Art und Weise zu bereichern.
Wütend ballte Graf Lundqvist die Hände zu Fäusten. Damit würde diese Person nicht durchkommen. Aber bevor er irgendetwas unternehmen konnte, brauchte er mehr Informationen.
Und genau aus diesem Grund würde er schon morgen eine kurze Reise antreten. Und wenn sich tatsächlich herausstellte, dass sein Verdacht gerechtfertigt war, dann würde er nicht ruhen, ehe er dem Übeltäter das Handwerk gelegt hatte.
Drei Tage später.
Wie ein stolzer Schwan glitt die Midsummer Dream durch den Oslofjord, der im Unterschied zu geologisch echten Fjorden zu beiden Seiten von fruchtbarem Flachland umgeben war. Die Sonne stand strahlend am wolkenlosen Himmel, und das Wasser leuchtete in einem schon unwirklich erscheinenden Blau. Die Schreie der Möwen vermischten sich mit dem Geräusch der Wellen, die sich am schmal zulaufenden Bug des gewaltigen Luxusliners brachen.
Obwohl die Kreuzfahrt bereits vor zwei Tagen begonnen hatte, war es noch immer ein seltsames Gefühl für Marie, wieder an Bord eines Ozeanriesen wie der Midsummer Dream zu sein. Bekannt und neu, beruhigend und aufregend zugleich. Wie lange war es her? Vier Jahre oder sogar fünf, seit sie während der Semesterferien als Stewardess gearbeitet hatte?
In Gedanken versunken stand sie da, die Arme auf die Reling des Sonnendecks gestützt, und sah zu, wie die Landschaft an ihr vorüberzog. Der Zauber ihrer Umgebung hielt sie so gefangen, dass sie für einen Moment alles um sich herum vergaß. Sie schloss die Augen und reckte das Gesicht der Sonne entgegen, während der Wind mit ein paar Strähnen ihres langen dunkelbraunen Haares spielte, die sich aus dem Zopf gelöst hatten.
„Hören Sie mal, Sie werden hier doch nicht fürs Rumstehen bezahlt, oder? Seit geschlagenen fünf Minuten versuche ich nun schon, Sie auf mich aufmerksam zu machen.“
Marie unterdrückte ein bedauerndes Seufzen, öffnete die Augen und setzte ein professionelles Lächeln auf. Wie auch die meisten anderen Besatzungsmitglieder beherrschte sie sowohl die englische als auch die schwedische Sprache. Da ihre Mutter, eine Schwedin, als junge Frau mit ihrem Mann nach Hamburg gegangen war, sprach sie außerdem fließend Deutsch. „Verzeihen Sie bitte, ich habe Sie wirklich nicht gehört“, wandte sie sich an die blonde Frau, die mit verschränkten Armen vor ihr stand und sie finster musterte. Sie war etwa Anfang fünfzig und trug ein für ihr Alter und ihre mollige Figur völlig unpassendes grünes Minikleid. „Was kann ich für Sie tun?“
„Ich brauche Hilfe bei diesem Liegestuhl da drüben. Er lässt sich einfach nicht aufklappen.“ Die Frau schnalzte abfällig mit der Zunge. „Wissen Sie, das Inventar sollte wirklich einmal überprüft werden, bevor die Passagiere an Bord gehen.“
„Da haben Sie natürlich absolut recht“, erwiderte Marie und rückte das dunkelblaue Barett zurecht, das zu ihrer Dienstkleidung gehörte, einem ebenfalls dunkelblauen Hosenanzug mit weißer Bluse und rotem Halstuch. Sie befand sich nämlich keineswegs zu ihrem Vergnügen auf der Midsummer Dream, sondern als Stewardess – so lautete jedenfalls die offizielle Version. „Wenn Sie so freundlich wären, mich zu dem defekten Stuhl zu führen, werde ich mich sofort persönlich um alles kümmern.“
Ein paar Minuten und wenige Handgriffe später stand der fertig aufgestellte Liegestuhl auf dem Sonnendeck – umringt von anderen bereits fertig vorbereiteten Stühlen, die sich in nichts von dem unterschieden, den Marie gerade aufgeklappt hatte. Doch wenn sie auf ihren bisherigen Kreuzfahrten eines gelernt hatte, dann war es, eine Tatsache niemals zu vergessen: Der Kunde ist König – der Kreuzfahrtpassagier Kaiser.
„Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie behilflich sein?“
„Allerdings. Ich hätte gern ein Glas Orangensaft, falls das nicht zu viel verlangt ist.“
Für das leibliche Wohl der Gäste auf dem Sonnendeck war eigentlich Yves, ein junger Kanadier, zuständig, doch Marie sah auf Anhieb, dass er gerade beschäftigt war, und so nickte sie. „Machen Sie es sich doch schon einmal bequem. Ich bringe Ihnen den Saft zum Platz.“
An der Bar war Sabine, eine französische Studentin, gerade dabei, die Gläser zu polieren. Als sie Marie erblickte, legte sie das Tuch auf die Theke und lächelte. „Marie! Was kann ich für dich tun?“
„Ich brauche ein Glas Orangensaft für die Dame dort hinten.“
Sabine folgte ihrem Blick und lachte leise. „Oje, mit der hatte Yves gestern Abend bereits das Vergnügen. Ihr Name ist Blackpool, und sie kommt aus Detroit. Sie ist mit ihrem Mann an Bord, der sich die Zeit aber lieber im Automatenkasino vertreibt. Die einarmigen Banditen scheint er seiner Frau vorzuziehen. Und in diesem speziellen Fall kann ich das sogar verstehen.“
„Vielleicht ist sie deswegen so schlecht gelaunt“, mutmaßte Marie. „Die Reise scheint ihr jedenfalls nicht besonders viel Freude zu bereiten.“
„Wenn du mich fragst: Ich halte Sie einfach für einen alten, vom Leben frustrierten Drachen, dem es Spaß macht, andere Leute zu schikanieren.“
„Lass bloß Rönnlund nicht zu Ohren kommen, dass du schlecht über Passagiere sprichst“, sagte sie warnend. „Der bringt es fertig und lässt dich beim nächsten Zwischenstopp von Bord gehen. Nach allem, was ich gehört habe, hat er Leute schon wegen geringerer Vergehen entlassen.“
Bjarne Rönnlund war der Verantwortliche für den Service auf der Midsummer Dream und herrschte mit eiserner Hand über seine Abteilung. Marie hatte ihn vor Kurzem einmal sagen hören, dass der gute Ruf eines Kreuzfahrtschiffes mit dem Verhalten eines jeden Crewmitglieds – sei es nun der Maschinist, der Kellner oder der Kapitän – stand und fiel. Und aus diesem Grund ging er wohl auch so kompromisslos gegen jeglichen Verstoß gegen die Regeln vor, die an Bord für die Besatzung galten.
Sabine zuckte jedoch nur mit den Schultern. „Ich habe keine Angst vor Rönnlund.“ Sie grinste. „Und du solltest dir auch lieber Gedanken um die Blackpool machen. Der alte Drache schaut immer wieder ungeduldig zu uns herüber. Wenn du ihn noch länger warten lässt, verschlingt er dich mit Haut und Haaren.“
„Wunderbar.“ Seufzend nahm Marie den Drink, den Sabine vor ihr auf den Tresen gestellt hatte, und platzierte ihn auf einem Tablett. „Dann mache ich mich wohl besser sofort auf den Weg. Meine Schicht endet in ein paar Minuten, und ich würde den Feierabend gern noch erleben.“
Vorsichtig balancierte sie das Tablett über das Sonnendeck und wich dabei geschickt allen Hindernissen – sowohl Möbelstücken als auch Passagieren – aus, bis sie schließlich Mrs. Blackpools Platz erreichte.
„Ihr Orangensaft“, sagte sie und wollte gerade das Tablett auf dem kleinen Tisch neben dem Liegestuhl abstellen, als es passierte.
Alles ging blitzschnell. Sie spürte einen Stoß gegen die Seite, geriet ins Taumeln und musste hilflos mit ansehen, wie das Glas mit dem Orangensaft über den Rand des Tabletts rutschte.
Nur Sekunden später hörte sie Mrs. Blackpool empört aufschreien. Auf dem scheußlichen grünen Stoff ihres Kleids breitete sich ein immer größer werdender dunkler Fleck aus.
Die Amerikanerin sprang auf. Ihre Augen sprühten Funken. „Können Sie nicht aufpassen, Sie dämliche Gans?“
Erschrocken schaute Marie sie an. „Ich … Es tut mir schrecklich leid. Ich wollte nicht …“
„Schauen Sie sich bloß an, wie ich aussehe! Mein neues Kleid – vollkommen ruiniert!“
Marie zwang sich, tief durchzuatmen. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren! „Ich werde natürlich für die Kosten der Reinigung aufkommen, Mrs. Blackpool. Es tut mir wirklich sehr leid.“
„Oh nein, es wird Ihnen erst noch leidtun – wenn ich mich nämlich bei Ihrem Boss über Sie beschwert habe!“
In diesem Moment sah Marie aus den Augenwinkeln auch schon, wie Bjarne Rönnlund sich näherte, und unterdrückte ein Aufstöhnen.
Jetzt steckte sie wirklich in der Klemme.
Es war, als sei die Zeit einfach stehen geblieben. Regungslos stand Erik da und konnte nicht aufhören, die Frau anzuschauen.
Ihr hinreißendes Äußeres verzauberte ihn. Sinnlich geschwungene Lippen, hohe Wangenknochen und ein Teint wie Porzellan. Ihr dunkles, mahagonifarbenes Haar trug sie unter dem Barett, das zur Uniform der Besatzung der Midsummer Dream gehörte, zu einem Zopf zusammengebunden. Ein paar Strähnen hatten sich daraus gelöst und umspielten ihr ovales Gesicht.
Am meisten aber faszinierten ihn die großen, von dunklen Wimpern umkränzten graublauen Augen.
Ihre Figur war schlank, jedoch weiblich, und sie trug ihre wenig modisch wirkende Arbeitskleidung mit vollendeter Eleganz. Leider gehörten Hosen auch bei den weiblichen Crewmitgliedern zum Standard. Erik hätte nur zu gern einen Blick auf ihre Beine geworfen. Ob sie ebenso perfekt waren wie der Rest von ihr? Er konnte es sich nicht anders vorstellen.
„Nun, was haben Sie zu Ihrer Entschuldigung vorzubringen, Marie?“
Der Mann, der zu ihr und der älteren Frau getreten war, musterte sie mit einem so strengen Blick, dass Erik endlich in die Realität zurückkehrte. Erst jetzt erfasste er, was in den vergangenen Minuten geschehen war.
Er räusperte sich. „Wenn ich mich kurz einmischen dürfte?“
Der Mann, der ebenfalls die Uniform der Reederei trug, schenkte ihm ein professionelles Lächeln. „Ich bin sofort für Sie da, mein Herr. Es gibt hier nur noch eine Kleinigkeit zu regeln.“ Damit wandte er sich wieder an das engelhafte Wesen, das nervös sein Barett zurechtrückte. „Ich höre, Marie.“
„Ich bitte um Verzeihung“, mischte Erik sich erneut ein. „Ich glaube, ich habe etwas zu sagen, das Ihnen helfen könnte, Licht in diese Angelegenheit zu bringen. Ich bin nämlich derjenige, der dieses Malheur verschuldet hat.“
„Sie?“ Dem Mann war deutlich anzusehen, dass er an Eriks Worten zweifelte, doch er war zu höflich, um es auszusprechen. „Wie darf ich das verstehen?“
„Ganz einfach: Ich habe die junge Dame angerempelt, als sie den Drink gerade auf dem Tisch abstellen wollte. Sie sehen also, es ist alles meine Schuld.“ Er warf einen Blick in die Richtung der schönen Unbekannten, um zu sehen, wie sie sein Geständnis aufnahm. Doch sie verzog keine Miene.
„Ist das wahr, Marie?“
Sie blickte auf und begegnete dem Blick ihres Vorgesetzten fest. „Ich habe einen Stoß bekommen, das stimmt. Wie es dazu kam, kann ich allerdings nicht sagen.“
Er nickte. „Nun, wenn das so ist …“
„Heißt das jetzt, sie kommt einfach so davon?“, murrte die ältere Frau. Sie wirkte alles andere als zufrieden damit, wie sich die Dinge entwickelten. „Gibt es kein Disziplinarverfahren oder wie das heißt?“
„Die Reinigung Ihres Kleides geht selbstverständlich auf Kosten des Hauses“, erklärte Rönnlund. „Allerdings kann ich meine Stewardess nicht für etwas bestrafen, das sie nicht verschuldet hat. Ich nehme doch an, dass Sie dafür Verständnis aufbringen. Es war ein bedauerliches Missgeschick, für das wir uns nur noch einmal entschuldigen können.“ Er nickte allen Beteiligten noch einmal zu und ging.
Die ältere Frau murmelte etwas, das Erik nicht verstehen konnte – es klang jedoch alles andere als freundlich. Dann wandte sie sich brüsk ab und rauschte davon.
„Was für eine unangenehme Person“, sagte Erik. „Ich glaube fast, sie hätte es am liebsten gesehen, wenn Ihr Boss Sie gefeuert hätte.“
Er schaute die Stewardess an, in der Hoffnung, ihr wenigstens ein kleines Lächeln entlocken zu können. Doch sie wirkte weder erleichtert noch dankbar.
„Sie hätten sich wirklich nicht einmischen müssen“, sagte sie, und ihre graublauen Augen blitzten ärgerlich. „Ich wäre auch sehr gut ohne Ihre Hilfe zurechtgekommen.“
Mit diesen Worten ließ sie ihn einfach stehen und ging davon.
Erik fuhr sich durch sein kurzes hellbraunes Haar. Nicht nur attraktiv, sondern auch noch temperamentvoll!
Was bildete dieser Mann sich eigentlich ein?
Die Kabinen für die Besatzung lagen im Innenbereich des Schiffes, oberhalb des Maschinenraums, wo die Geräusche und Vibrationen der schweren Motoren deutlich zu hören und zu spüren waren.
Eilig stieg Marie die Stufen bis zum Crewdeck hinunter und lief dann den langen, schlauchförmigen Gang entlang, an dessen Ende sich die Kabine befand, die sie sich mit einer jungen Engländerin namens Audrey teilte. Und den ganzen Weg über stellte sie sich immer wieder dieselbe Frage: Warum nur traute ihr niemand zu, dass sie in der Lage war, selbst für sich einzutreten?
Die Erfahrung, dass sie diese Wirkung auf andere Menschen ausübte, machte sie heute weiß Gott nicht zum ersten Mal. Vor allem Männer neigten immer wieder dazu, sie in eine Rolle hineinzudrängen, die sie nicht ausfüllen wollte: die einer schwachen, schutzbedürftigen Frau.
Sie war gerade sechsundzwanzig und fühlte sich zu jung, um ihr Leben nur auf Familie und Kinder zu konzentrieren. Sie wollte Karriere machen, sich beweisen. Für viele ihrer Freundinnen drehte sich die Welt nur noch darum, Ehemann und Nachwuchs zu versorgen. Das kam für sie nicht infrage. Ihre eigene Zukunft hatte sie sich etwas anders vorgestellt.
Das Problem bestand nur darin, dass ihr das niemand so recht zutrauen wollte. Weder ihr Vater noch André, ihr Ex-Freund, oder irgendein anderer Mann, dem sie bislang über den Weg gelaufen war.
Umso mehr irritierte sie, dass sie ständig an den Passagier vom Sonnendeck zurückdenken musste.
Er war recht attraktiv, mit seinem hellbraunen, leicht zerzaust wirkenden Haar, dem kantigen Gesicht mit dem Dreitagebart und der kühn geschwungenen Nase. Seine Augen besaßen ein ungewöhnliches Grün, das Marie an einen schattigen Tannenwald im Herbst erinnerte. Aber auch sonst machte er einen alles andere als gewöhnlichen Eindruck auf sie. Und das lag nicht allein daran, dass die Farbe Schwarz anscheinend zu seinen besonderen Favoriten gehörte. Der schwarze Pulli, den er zu schwarzen Jeans und schwarzen Segeltuchschuhen trug, wirkte leger, aber teuer. Und …
Hör endlich auf!, rief sie sich zur Ordnung. Erschrocken stellte sie fest, dass sie keineswegs gefeit gegen die Anziehungskraft des männlichen Geschlechts zu sein schien. Dabei war sie nach der Sache mit André endgültig davon überzeugt gewesen, dass es für sie „den Richtigen“ ganz einfach nicht gab.
Und nun dies!
Erst vor wenigen Monaten hatte sie sich von André getrennt, und die Enttäuschung saß noch immer tief. Ebenso wie der Schmerz darüber, sich eingestehen zu müssen, einer einzigen großen Lüge aufgesessen zu sein. André war auch nicht anders gewesen als alle anderen.
Nicht besser als ihr Vater …
In diesem Moment klingelte das Handy, das sie stets bei sich trug, um im Notfall jederzeit erreichbar zu sein. Sie zog es hervor und schaute aufs Display. Die Nummer war ihr wohlbekannt. Wenn man vom Teufel spricht …
Sie blieb stehen und drückte die Rufannahmetaste. „Was ist los, Pappa?“, fragte sie ohne Umschweife. „Warum rufst du an? Es geht dir doch gut?“
„Ja, bei mir ist alles in bester Ordnung“, erwiderte ihr Vater ungeduldig. „Ich wollte mich nur nach dir erkunden. Wie kommst du voran?“
Sie atmete tief durch und unterdrückte ihr Missfallen. Für einen Moment hatte sie sich wirklich Sorgen um ihn gemacht, denn um seine Gesundheit stand es schon seit einer ganzen Weile nicht mehr allzu gut. Doch offenbar ging es ihm prächtig. „Lass mir bitte noch ein wenig Zeit. Du willst doch schließlich nicht, dass mir jemand auf die Schliche kommt, oder? Wenn ich etwas für dich habe, werde ich mich bei dir melden.“
„Ich erwarte deinen Anruf“, sagte er und beendete ohne ein Wort des Abschieds das Gespräch.
Traurig schüttelte Marie den Kopf. Die Beziehung zwischen ihr und ihrem Vater war schon immer sehr zwiespältig gewesen. Einerseits verehrte sie ihn für alles, was er in seinem Leben erreicht hatte. Andererseits …
Es ärgerte sie, dass er stets meinte, sie kontrollieren zu müssen. Schließlich war sie kein Kind mehr und durchaus imstande, auf eigenen Beinen zu stehen. Aber weder ihr ausgezeichneter Uni-Abschluss noch die Verbesserungsvorschläge, die sie in das Unternehmen eingebracht hatte, seit sie für ihren Vater arbeitete, hatten etwas daran ändern können, dass er sie noch immer wie sein kleines Mädchen behandelte.
Langsam fragte sie sich ernsthaft, ob er jemals lernen würde, sie ernst zu nehmen. Und wie lange sie noch in der Lage war, mit der augenblicklichen Situation umzugehen.
Mit einer fahrigen Bewegung rückte sie ihr Barett zurecht, dann ging sie weiter. Sie fand ihre winzige Kabine, die gerade Platz genug für ein Etagenbett, einen Spind und einen schmalen Tisch bot, verlassen vor. Audrey hatte erst in etwa einer halben Stunde Dienstschluss. Zeit genug für Marie, noch rasch eine Dusche zu nehmen, ehe ihre Mitbewohnerin zurückkehrte.
Mit einem genießerischen Seufzen schloss Marie die Augen. Das warme Wasser schien nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Seele zu reinigen. Zum ersten Mal seit Langem vergaß sie ihre Probleme, und es gelang ihr, einfach abzuschalten.
Doch dieser wunderbare Moment währte nicht lange. Durch das gleichmäßige Prasseln des Wassers hörte sie, wie jemand an die Tür ihrer Kabine klopfte.
Audrey.
Marie konnte nicht mehr zählen, wie oft die junge Engländerin in den vergangenen Tagen nun schon ihren Schlüssel vergessen hatte.
„Ja, ist ja schon gut“, rief sie, als das Klopfen erneut erklang. „Augenblick, ich bin doch unterwegs!“
Sie nahm das Saunatuch vom Haken und trocknete sich ab, ehe sie in ihren alten Bademantel schlüpfte, der hinter der Badezimmertür hing. Dann schlang sie sich ein Handtuch um den Kopf und trat in den Wohnraum zurück.
Den Kopf nach vorne gebeugt, frottierte sie mit einer Hand ihr Haar, während sie blind mit der anderen nach dem Türknauf tastete.
„Wo hast du deinen Schlüssel jetzt schon wieder liegen lassen?“, fragte sie, als sie die Tür öffnete. „Ach egal, ich muss dir unbedingt etwas erzählen. Was ist los? Du bist doch sonst nicht so schweigsam.“
„Ich wollte Sie nicht unterbrechen“, erklang eine dunkle Stimme, die ganz gewiss nicht zu ihrer Mitbewohnerin Audrey gehörte. „Ich warte schon gespannt auf Ihre Geschichte.“
Erschrocken hob Marie den Kopf. Ihr fiel das Handtuch herunter.
„Sie?“
Sie erkannte den Mann vom Sonnendeck sofort wieder. Seine schwarze Kleidung, das männlich markante Gesicht. Und dann diese beeindruckenden tiefgrünen Augen …
Für einen Moment konnte sie ihn nur staunend anschauen, ehe ihr bewusst wurde, dass sie nur mit einem alten rosafarbenen Bademantel bekleidet war. Das Haar hing ihr in nassen Strähnen herunter, und sie war barfuß.
Hastig schlang sie den Frotteestoff enger um ihren Körper und funkelte den attraktiven Mann, dessen Namen sie nicht einmal kannte, wütend an.
„Was haben Sie hier zu suchen?“, wollte sie wissen. „Wie kommen Sie dazu, einfach so in meine Kabine einzudringen?“
„Sie haben mich doch selbst hereingelassen.“ Er lächelte entwaffnend. „Von Eindringen kann also kaum die Rede sein. Aber ich habe mir nicht die Mühe gemacht, mich durch das halbe Schiff bis zu Ihnen durchzufragen, um mich jetzt zu streiten.“
„Sondern?“ Marie verschränkte die Arme vor der Brust. Dieser Mann irritierte sie. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Herz bei seinem Anblick schneller zu schlagen begann. Und es ärgerte sie, dass ein schönes Gesicht und ein gut gebauter Körper sie so die Kontrolle über sich selbst verlieren ließ.
Dabei fand sie ihn nicht einmal sonderlich sympathisch. Jedenfalls war er auch nicht anders als die anderen Männer, mit denen sie bislang zu tun gehabt hatte, denn er traute ihr ganz offensichtlich nicht zu, dass sie imstande war, für sich selbst einzutreten.
„Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, weil ich Sie vorhin fast in Schwierigkeiten gebracht habe.“ Wieder dieses Lächeln, das seine Augen leuchten und ihren Puls sprunghaft ansteigen ließ. „Und als Entschädigung würde ich Sie gern zum Dinner einladen.“
Marie schluckte. Ihr Mund war auf einmal wie ausgetrocknet. „Ich … Nein, das kommt überhaupt nicht infrage“, sagte sie schließlich. „Es ist den Mitgliedern der Crew strengstens untersagt, private Aktivitäten mit Passagieren zu unternehmen. Außerdem kenne ich Sie überhaupt nicht. Ich weiß ja nicht einmal Ihren Namen!“
„Erik Magnusson“, entgegnete er. „Nennen Sie mich einfach Erik. Und Sie heißen Marie, nicht wahr?“
Sie nickte. „Marie Majbäck.“
„Marie Majbäck also.“ Er sprach es aus, als sei es ein köstliches Dessert, das ihm auf der Zunge zerging. „Ein schöner Name für eine noch schönere Frau.“
„Hören Sie, Erik, Sie verschwenden Ihre Zeit. Es wäre besser für uns beide, wenn Sie jetzt wieder gehen.“
„Nur wenn Sie einwilligen, mit mir zu Abend zu essen. Es muss ja niemand davon erfahren. Müssen Sie morgen arbeiten?“
„Ich habe Frühschicht“, antwortete sie wahrheitsgemäß – und bereute es einen Augenblick später auch schon wieder, als er sagte: „Das trifft sich ja ganz wunderbar. Morgen legt die Midsummer Dream in Bergen an. Es ist doch sicher nicht verboten, dass Sie als Besatzungsmitglied in Ihrer Freizeit das Schiff verlassen, oder?“
„Nein, aber …“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist ganz einfach keine gute Idee. Wenn uns jemand zusammen sieht, könnte ich meinen Job verlieren.“
„Keine Sorge, ich werde Sie bestimmt nicht verraten. Ich kenne ein verschwiegenes kleines Restaurant in der Nähe des Hafens, in das sich kaum mal ein Tourist verirrt. Dort werden wir vollkommen ungestört sein. Also, was sagen Sie?“
Marie zögerte kurz, schließlich nickte sie. „Einverstanden. Aber bilden Sie sich nur nichts darauf ein!“
„Dann treffen wir uns morgen gegen sechs vor dem Fisketorg.“ Er erklärte ihr, wie sie das Restaurant finden konnte. „Also dann. Ich freue mich schon darauf.“
Als er gegangen war, ließ Marie sich auf den Rand ihres Bettes fallen. Sie seufzte schwer. Aus irgendeinem Grund wurde sie das Gefühl nicht los, soeben einen schweren Fehler begangen zu haben.
Erik stand auf dem Balkon seiner Kabine, die Arme auf die Brüstung gestützt, und blickte hinaus aufs Meer.
Es wurde bereits dunkel, und der Himmel leuchtete am Horizont in feurigem Rot und Purpur, während über der Midsummer Dream bereits die ersten Sterne am nachtblauen Firmament glitzerten. Ein wunderbares Schauspiel, doch so recht konnte er sich nicht darauf konzentrieren. Seine Gedanken wanderten immer wieder zu einer Frau zurück.
Marie Majbäck.
Er kannte sie kaum. Umso ungewöhnlicher erschien es ihm, dass er sie nicht mehr aus dem Kopf bekam. Wenn er die Augen schloss, sah er ihr Gesicht vor sich. Und sosehr er sich auch bemühte, er schaffte es nicht, seine Aufmerksamkeit auf die wirklich wichtigen Dinge zu lenken – vor allem nicht auf die Aufgabe, wegen der er sich überhaupt an Bord der Midsummer Dream befand. Zu seiner Schande musste er sich eingestehen, dass er in den vergangenen Stunden nicht ein einziges Mal daran gedacht hatte.
Stattdessen vergeudete er seine Zeit damit, an Marie zu denken.
Seufzend fuhr er sich durch sein dichtes Haar und zerzauste es mit den Fingern. Was war bloß mit ihm los? Er war doch sonst nicht so leicht aus dem Konzept zu bringen. Schon gar nicht von einer Frau!