Das Haus über den Klippen - Danielle Stevens - E-Book
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Das Haus über den Klippen E-Book

DANIELLE STEVENS

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Beschreibung

Eine verbotene Liebe, ein unheimliches Haus und ein tragisches Geheimnis: Die packende Familiensaga von Danielle Stevens!

Voller Hoffnung auf Antworten macht sich Vicky Tancredi auf den Weg nach Neuseeland – zu ihrem Vater. In diesem Land der Gegensätze voll grüner Hügel und dichten Urwalds will sie endlich herausfinden, warum er vor fast zwanzig Jahren seine Familie verließ und für immer verschwand. Aber dort, in dem Haus über den Klippen, erwartet Vicky eine erschütternde Nachricht. Als sie kurz darauf Notizen findet, die auf ein altes Geheimnis hindeuten, ist sie entschlossen, dieses zu lüften und in Neuseeland zu bleiben. In dem gutaussehenden James, dem Nachbarn ihres Vaters, findet sie einen Vertrauten. Doch was hat es zu bedeuten, dass die Geschichte seiner Familie untrennbar mit den Geheimnissen ihrer Vergangenheit verwoben scheint?

Spannender Familiengeheimnis-Roman. Neuauflage. Erstmals erschienen bei Mira Taschenbuch, Hamburg.

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Danielle Stevens

 

Das Haus über den Klippen

Roman

 

Inhalt

 

Das Haus über den Klippen

 

Inhalt

 

Impressum

 

Das Buch

 

Prolog

 

1.

 

2.

 

3.

 

4.

 

5.

 

6.

 

7.

 

8.

 

9.

 

10.

 

11.

 

12.

 

13.

 

14.

 

Epilog

 

Im Tal der Kolibris

 

Das Geheimnis der Maori-Frau

 

Wo die Nelkenbäume blühen

 

Leseprobe »Das Geheimnis der Maori-Frau«

 

 

Impressum

 

Copyright © 2020 Danielle Stevens

Copyright Originalausgabe © 2016 Mira Taschenbuch, Hamburg

Covergestaltung: Daniela Krüger

Bildmaterialien: Stasivanovv/Shutterstock

 

Danielle Stevens

c/o Werneburg Internet Marketing und Publikations-Service

Philipp-Kühner-Straße 2

99817 Eisenach

 

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne Zustimmung der Autoren kopiert, nachgedruckt oder anderweitig verwendet werden. Sämtliche Übersetzungsrechte vorbehalten. Dieses Buch ist ein fiktives Werk. Namen, Figuren, Unternehmen, Orte werden fiktiv verwendet. Markennamen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum der rechtmäßigen Inhaber. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Das Buch

 

Eine verbotene Liebe, ein unheimliches Haus und ein tragisches Geheimnis: Die packende Familiengeschichte von Danielle Stevens!

 

Voller Hoffnung auf Antworten macht sich Vicky Tancredi auf den Weg nach Neuseeland – zu ihrem Vater. In diesem Land der Gegensätze voll grüner Hügel und dichten Urwalds will sie endlich herausfinden, warum er vor fast zwanzig Jahren seine Familie verließ und für immer verschwand. Aber dort, in dem Haus über den Klippen, erwartet Vicky eine erschütternde Nachricht. Als sie kurz darauf Notizen findet, die auf ein altes Geheimnis hindeuten, ist sie entschlossen, dieses zu lüften und in Neuseeland zu bleiben. In dem gutaussehenden James, dem Nachbarn ihres Vaters, findet sie einen Vertrauten. Doch was hat es zu bedeuten, dass die Geschichte seiner Familie untrennbar mit den Geheimnissen ihrer Vergangenheit verwoben scheint?

 

Neuauflage. Erstmals erschienen bei Mira Taschenbuch, Hamburg.

 

Prolog

 

Auckland, Herbst 1982

 

Mike stand an der Reling des gewaltigen Ozeandampfers und suchte die Menge unten am Pier verzweifelt nach einem bekannten Gesicht ab.

Erfolglos.

Es war ein herrlicher Morgen, mild und warm. Die Sonne färbte den Himmel im Osten in prächtiges Rubinrot, das in ein zartes Violett überging, ehe es mit dem hellen Blau des heraufziehenden Tages verschmolz. Der Anblick des Kais und der Lagerhallen rund um das Hafenbecken war hässlich, doch auf der anderen Seite der MS Sundancer erstreckte sich das Meer, unendlich weit und blau und wunderbar.

Wie nichts anderes sonst hatte der Ozean für Mike stets die Zukunft symbolisiert, während der Schmutz, die Maschinen und der Lärm einen Teil seiner Vergangenheit darstellten. Er wusste, dass jeder, der auch nur einen Funken gesunden Menschenverstand besaß, froh und glücklich wäre, wenn er die Chance bekäme das, was gewesen war, hinter sich zurückzulassen. Seine Eltern, das vermochte er mit Sicherheit zu sagen, waren es.

Nicht aber er selbst.

Es war nicht die Schufterei auf der Plantage, die er vermissen würde, und ganz gewiss waren es auch nicht das beengte Wohnen, das rückständige Denken der Menschen und die Art und Weise, wie die Plantagenbesitzer wie mittelalterliche Feudalherren über ihre Arbeiter herrschten.

Nein, das alles würde Mike ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken hinter sich zurücklassen. Wäre nur dieser eine Mensch bei ihm, der ihm mehr bedeutete als sein eigenes Leben.

»… wird nicht kommen, mein Sohn.« Die gewaltige Pranke seines Vaters legte sich von hinten auf seine Schulter und drückte sie sanft. »Tut mir wirklich leid, Junge.«

Tränen traten Mike in die Augen, doch er blinzelte heftig, um sie zu zurückzuhalten. Er hatte seinen Eltern schon genug Sorgen bereitet – er musste sie nicht auch noch mit seinem Liebeskummer belasten.

»Ob wir uns wohl jemals wiedersehen werden?«, fragte er leise, mehr zu sich selbst als zu seinem Vater.

Thomas Tancredi antwortete trotzdem. »Das kann ich dir nicht sagen. Vielleicht. Ich kenne mich mit so etwas nicht aus, aber … Nun, wenn es wirklich Liebe ist, wie du sagst …«

Mike war dankbar dafür, wie seine Eltern mit der ganzen Angelegenheit umgingen. Gerechnet hatte er damit nicht. Zwar waren sie immer gut und gerecht zu ihm gewesen, aber nach den Ereignissen der vergangenen Wochen hätte ihn so manch einer aus seiner Familie verstoßen.

Doch seine Eltern hielten zu ihm, obwohl sein Verhalten auch für sie nicht ohne Konsequenzen geblieben war.

Seinetwegen verließen sie nun ihre Heimat Neuseeland, um im fernen England eine ungewisse Zukunft zu beginnen. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie für ihn alle Brücken hinter sich abbrechen mussten, aber sowohl sein Vater als auch seine Mutter hatten ihm versichert, dass sie es gerne taten. Ja, dass sie es sogar als Chance betrachteten, in einem fremden Land neu anzufangen.

Denn zumindest eines stand fest: Mike konnte nicht länger bleiben. Er war in der weiteren Umgebung von Moananui zur Persona non grata geworden – und niemand konnte mit Sicherheit sagen, wie weit der Einfluss der McFarlanes tatsächlich reichte.

Fortzugehen war die einzig mögliche Entscheidung gewesen.

Er ließ den Kopf hängen, als das Horn ertönte und verkündete, dass sie jeden Moment ablegen würden. Er brauchte den Pier nicht mehr länger mit den Augen abzusuchen. Die Person, auf die er so sehnsüchtig wartete, würde nicht kommen.

Nile …

Entweder hatten seine Eltern ihn nicht gelassen, oder er wollte ihn ganz einfach nicht sehen. Was auch immer der Grund sein mochte, Mike musste sich damit abfinden, den Menschen, dem sein ganzes Herz gehörte, womöglich niemals wiederzusehen.

Dieses Mal konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten. Wenn er ihn doch wenigstens noch ein einziges Mal …

»Mike!«

Sofort blickte er auf, und sein Herz machte einen stolpernden Satz. War es möglich …?

»Das ist ja nicht zu fassen«, hörte er seinen Vater murmeln. »Ich kann’s nicht glauben …«

Mike erging es nicht anders. Einen Moment lang war er wie gelähmt vor Staunen und Freude. Flehentlich wandte er sich an seinen Vater. »Darf ich …?«

»Nun geht schon, Junge«, sagte der und gab ihm einen letzten aufmunternden Klaps zwischen die Schulterblätter.

Nicht, dass Mike den gebraucht hätte. Er rannte die Treppe, die zum Unterdeck führte, zwei Stufen auf einmal nehmend hinunter. Ja, er flog beinahe. Die teils amüsierten, teils verärgerten Blicke seiner Mitreisenden waren ihm egal. Er war nur von einem einzigen Gedanken beseelt: Nile noch ein einziges, letztes Mal in die Arme zu schließen.

Doch als er über den Landungssteg auf den Hafenkai zuschritt, wurde ihm klar, dass das vermutlich das Schlimmste war, was er Nile in diesem Moment antun konnte. Ihm die Hoffnung geben, dass es für sie womöglich doch noch irgendwo in ferner Zukunft ein Happy End geben könnte, wäre grundverkehrt. Mike liebte ihn einfach zu sehr, um ihn in Fesseln zu legen.

Denn eins stand fest: Nile würde niemals aufhören, auf ihn zu warten. Er würde seine Tage damit verbringen, nach Mitteln und Wegen zu suchen, wieder mit ihm zusammen sein zu können.

Und das durfte Mike nicht zulassen. Nicht, wo die Chance, dass es tatsächlich zu einem Wiedersehen kam, verschwindend gering war.

Es war einfach nicht fair.

Sein Herz war schwer, als er das Ende des Stegs erreichte, doch er hatte seinen Entschluss gefasst und würde nicht mehr davon abweichen.

»Nile«, sagte er leise. »Was tust du hier?«

Niles schwarzes Haar war strähnig und ungekämmt. Unter seinen Augen lagen tiefe dunkle Schatten, und er war noch blasser als sonst. Tränen rollten ihm über die Wangen, und er kam sofort auf Mike zu, um sich ihm in die Arme zu werfen – doch Mike wich zurück.

Die Verständnislosigkeit und der Schmerz in Niles Augen waren nur schwer zu ertragen. Gleichzeitig wusste Mike, dass er das Richtige tat. Lieber ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende. Wenn er Nile jetzt zurückstieß, würde er es ihm damit leichter machen, mit allem abzuschließen.

Das zumindest hoffte er. Es war unglücklicherweise das Einzige, was er für ihn tun konnte.

»Mike, ich …« Nile blinzelte irritiert. »Freust du dich denn gar nicht, mich zu sehen?«

»Du hättest nicht herkommen sollen«, gab Mike heiser zurück. Es war schwer, so schrecklich schwer, diese Worte auszusprechen. »Siehst du denn nicht, dass das alles keinen Sinn hat? Du solltest versuchen, mich zu vergessen, Nile. Ich werde genau dasselbe tun.«

Nile blickte zu ihm auf, ungläubig und zutiefst verletzt. »Aber was …? Ist das dein Ernst? Du … du willst das mit uns wegwerfen? Einfach so?«

»Es gibt kein uns«, entgegnete Mike, verwundert, dass er überhaupt noch einen Ton hervorbekam. »Du solltest jetzt wirklich nach Hause gehen. Wissen deine Eltern, dass du hier bist?«

Nile umklammerte seinen Oberkörper mit beiden Armen, und seine Schultern bebten, doch der Blick, den er Mike zuwarf, war noch immer ungebrochen. »Ich habe mich in der Nacht rausgeschlichen, um dich noch einmal zu sehen. Du …« Er schüttelte den Kopf. »Was ist los mit dir? Wie kannst du bloß so kalt sein?«

»Geh nach Hause, Nile. Ich will deinetwegen nicht noch mehr Ärger bekommen. Dein Vater hat mich gerade noch so davonkommen lassen. Ich könnte in den Knast kommen für das, was wir getan haben, ist dir das eigentlich klar?«

Nile schluchzte auf, und Mike musste gegen den überwältigenden Drang ankämpfen, ihn an sich zu ziehen und zu trösten; seine Tränen wegzuküssen und ihm zu sagen, wie sehr er ihn liebte.

Doch er tat nichts dergleichen. Stattdessen verschränkte er die Arme vor der Brust und biss die Zähne zusammen. Eine Weile standen sie einfach nur so da, Nile vollkommen aufgelöst, während Mike sich mit Mühe und Not zusammenriss. Schließlich wandte er sich ab und ging mit heftig klopfendem Herzen zum Steg zurück.

»Einfach so?«, erklang Niles Stimme hinter ihm. »Du drehst dich einfach um und gehst?«

Mike schloss die Augen. Dies war mit Abstand das Schwierigste, was er in seinem ganzen Leben getan hatte. »Lebwohl«, sagte er leise.

Dann eilte er, ohne sich noch einmal umzublicken, die Landungsbrücke hinauf.

1.

 

34 Jahre später – Bay of Plenty, Herbst 2016

 

Drohend wie ein düsterer Schatten erhob sich das Haus bei den Klippen über dem Tal. Die schwarzgraue Natursteinfassade schien das wenige Licht, das durch die dichte Wolkendecke drang, zu verschlucken, und die Fenster starrten wie tote Augen über das Land.

Obwohl es mit seinen zwei Stockwerken nicht gerade klein war, wirkte es gedrungen. Klaustrophobisch.

Ein Frösteln durchrieselte Victoria. Das war es also? Das Haus, in dem ihr Vater lebte? Eines stand fest: So hatte sie es sich ganz gewiss nicht vorgestellt. Alles, was sie über Neuseeland wusste, hatte sie aus den Reiseführern, die sie sich vor dem Flug noch angeschafft hatte. Aber bisher besaß kaum etwas von dem, das sie seit ihrer Ankunft gesehen hatte, Ähnlichkeit mit den farbenfrohen Bildern aus dem Buch.

Das Land der langen weißen Wolke? Stirnrunzelnd blickte sie zum Himmel empor. Wolken gab es zweifelsohne genug. Als graue, bedrohlich wirkende Wolkendecke hingen sie über dem Tal.

Seufzend fuhr sie sich mit einer Hand durch ihr haselnussbraunes Haar. Sie war normalerweise kein Mensch, der an Vorsehung oder böse Omen glaubte. So etwas gehörte in schlechte Gruselfilme, nicht in die Realität. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass seit ihrer Ankunft am Flughafen von Auckland praktisch alles eine Warnung war. Die schroffen Klippen, die dunklen Wolken, das düstere Haus. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Auch das Wetter schien ihr zu drohen. Die Landschaft war in ein kränklich gelbes Licht getaucht, und der starke Wind riss ganze Zweige von den Bäumen und wirbelte vertrocknete Blätter und Staub durch die Luft.

Sie atmete noch einmal tief durch, ehe sie den Motor ihres Mietwagens wieder startete. Nachdem das Haus in Sichtweite gekommen war, hatte sie am Fuße des Hügels geparkt, um es sich aus der Ferne anzusehen. Nun kroch der betagte Pick-up den Weg zum höchsten Punkt der Klippen hinauf.

Langsam.

Einerseits, weil die Steigung sehr stark war, aber auch, weil Vicky es im Grunde gar nicht so eilig hatte, ihr Ziel zu erreichen.

Nach mehr als vierundzwanzig Stunden Reise inklusive Zwischenstopp war sie sich immer noch nicht sicher, ob sie tatsächlich das Richtige tat. Einfach der Einladung eines Mannes zu folgen, den sie seit beinahe zwanzig Jahren nicht gesehen hatte, und dafür ihren Job zu riskieren, erschien ihr schon ein wenig verrückt. Auch wenn es sich bei diesem Mann um ihren Vater handelte.

Vater? Ist das nicht normalerweise jemand, der einen aufwachsen sieht? Jemand, der einen zum ersten Schulball begleitet und einem zujubelt, wenn man beim Wettschwimmen den ersten Platz macht? Jemand, mit dem man reden kann, wenn man Sorgen hat?

Sie schüttelte den Kopf. Es war sinnlos, darüber nachzugrübeln. Und dennoch tat sie es, und das nicht erst seit heute. Denn seit sie den Brief ihres Vaters erhalten hatte, kamen ständig die Erinnerungen an ihre Kindheit hoch. Sofern man das in ihrem Fall wirklich so nennen konnte …

Ihr Herz hämmerte heftig, als sie ihren Wagen schließlich vor dem Haus parkte. Sie wusste nicht, ob ihre Beine sie tragen würden, wenn sie ausstieg.

Alles kam ihr so falsch, so unwirklich vor. War es vielleicht besser, direkt wieder umzukehren und ihrem Vater gar nicht erst gegenüberzutreten? In diesem Fall hätte sie zwar den ganzen weiten Weg umsonst hinter sich gebracht, aber …

In diesem Moment öffnete sich die Tür des Hauses, und jemand kam heraus auf die schmale Veranda.

Vicky hielt den Atem an. War er es? Ihr Vater?

Doch dann trat die Person aus dem Schatten, und Vicky erkannte, dass es sich um eine Frau handelte. Die Anspannung wich aus ihrem Körper wie die Luft aus einem Ballon. Aufatmend ließ sie sich gegen die Rückenlehne des Fahrersitzes sinken.

Nun hatte die Unbekannte offenbar auch sie bemerkt. Vicky verspannte sich erneut, als die Frau auf sie zugelaufen kam. Ihr erster Impuls war es, einfach loszufahren und sich nie wieder umzudrehen. Sie wusste nicht, ob sie wirklich wissen wollte, wer diese Person war. Vielleicht hatte ihr Vater ja wieder geheiratet, und sie war so etwas wie ihre Stiefmutter. Gab es vielleicht sogar Halbgeschwister?

Alles war möglich. Sie wusste so gut wie überhaupt nichts über das Leben, das ihr Vater seit seinem Fortgehen geführt hatte. Im Grunde genommen war er ihr ebenso fremd wie diese Frau, wer immer sie sein mochte. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass Mike Tancredi und sie miteinander blutsverwandt waren.

Vicky hatte den Ausspruch »Blut ist dicker als Wasser« schon immer für ziemlichen Unsinn gehalten. Schon mit neun Jahren hatte sie der traurigen Realität ins Auge blicken müssen, dass Familie eben nicht immer Liebe und Zusammenhalt garantierte. Streng betrachtet hatte ihre Mutter sie ebenso im Stich gelassen wie ihr Vater. Wenn auch auf drastischere Art und Weise.

Die Frau erreichte sie und klopfte ans Fenster der Fahrertür. Vicky hielt den Atem an. Es war zu spät, um davonzufahren.Außerdem passte ein solches Verhalten auch gar nicht zu ihr. Sie war kein Mensch, der beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten gleich die Flucht ergriff. Und nun, wo sie einmal hier war, wollte sie die Gelegenheit auch nutzen, um endlich zu verstehen, warum ihr Vater damals einfach so verschwunden war.

Danach konnte sie sich immer noch überlegen, ob sie ihn jemals wiedersehen wollte oder nicht.

Sie atmete aus und ließ die Seitenscheibe herunter, sagte aber nichts.

Die Frau musterte sie eindringlich. Vicky schätzte sie auf Ende fünfzig, Anfang sechzig. Ihre Haut war von Wind und Sonne gegerbt, die Augen waren von einem so hellen Blau, dass der Kontrast zu ihrer eher dunklen Haut beinahe ein wenig irritierend wirkte. Um die Augen hatten sich, wie auch um den schmalen Mund, Fältchen in ihr Gesicht gegraben. Ihr Haar, das sie zu einem unordentlichen Knoten am Hinterkopf zusammengeschlungen hatte, war von einem dunklen, mit weißen Strähnen durchsetzten Grau.

Sie sah aus wie jemand, der hart zupacken konnte und körperliche Arbeit gewohnt war. Umso unpassender wirkte ihre Kleidung. Sie trug einen langen schwarzen Rock, eine schwarze Bluse und ebenfalls schwarze Schuhe, und schien sich, sofern Vicky ihre Haltung richtig deutete, darin auch nicht wirklich wohlzufühlen.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte die Frau.

Vicky überlegte, was sie am besten sagen sollte, kam aber erst gar nicht dazu, etwas zu erwidern.

»Wer ist das, Fiona?«, erklang eine Stimme vom Haus her. Dort stand eine zweite Frau, die Vicky bisher gar nicht bemerkt hatte. Auch sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, wirkte in ihrem Strickkleid aber längst nicht so unbehaglich. Sie war etwas mehr als einen Kopf kleiner als die, die sie soeben mit Fiona angesprochen hatte, und außerdem zierlicher. Ihr Haar besaß die Farbe von frisch gefallenem Schnee, woraus Vicky schloss, dass sie vermutlich im selben Alter war wie Fiona. Doch ihr blasser Teint und die feinen, ebenmäßigen Züge ließen sie jünger wirken.

Ihre Augen waren rot und geschwollen. Offensichtlich hatte sie geweint.

Fiona wandte sich um und schüttelte den Kopf. »Das versuche ich gerade herauszufinden«, entgegnete sie. »Geh doch schon mal zum Wagen, ich komme dann gleich nach.«

Die andere Frau nickte, stieg langsam die Stufen hinunter und ging auf einen klapprig aussehenden Geländewagen zu, der eindeutig schon bessere Tage gesehen hatte.

»Nun?«, fragte Fiona.

Vicky brauchte einen Moment, bis sie realisierte, dass sie gemeint war. Irgendetwas war hier geschehen, und sie wusste nicht, ob sie wirklich wissen wollte, was dahintersteckte.

Sie räusperte sich angestrengt. »Ich … Ich möchte zu Mike Tancredi. Ich sollte mich eigentlich melden, damit er mich vom Flughafen abholen kann, aber …«

Die ältere Frau schlug sich mit einem erstickten Keuchen die Hand vor den Mund. »Lieber Himmel, Sie müssen Victoria sein! Ich …« Hilfesuchend blickte sie in Richtung des Jeeps. Ihr war praktisch anzusehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. »Wir haben versucht, Sie zu erreichen, aber wir wussten ja nicht … Nun …«

»Was ist los?«, fragte Vicky. Sie öffnete die Wagentür und stieg aus. »Hat mein Vater es sich vielleicht anders überlegt?« Sie spürte, wie die alte Bitterkeit in ihr aufstieg, die sie schon mehr als ihr halbes Leben lang begleitete.

Warum wunderte sie das eigentlich? Ihr Vater hatte ihre Mutter und sie damals einfach im Stich gelassen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie sie über die Runden kommen sollten. Seinetwegen war ihre Kindheit ein einziger Albtraum gewesen. Es war typisch für ihn, dass er sie den ganzen Weg von England nach Neuseeland kommen ließ, nur um dann in letzter Minute den Schwanz einzuziehen.

»Verdammt!« Sie rieb sich mit den Handballen über die Augen, in denen sich Tränen der Frustration sammelten.

Sie würde nicht weinen. Nicht wegen eines Mannes, der keine einzige ihrer Tränen verdient hatte.

Mit einem Mal fühlte sie sich völlig leer, regelrecht ausgebrannt. »Es wird wohl besser sein, wenn ich jetzt gehe. Richten Sie meinem Vater bitte aus, dass ich hier war. Er braucht sich nicht die Mühe machen, noch einmal mit mir Kontakt aufzunehmen. Ich würde ohnehin nicht mit ihm sprechen …«

»Victoria!«, unterbrach Fiona sie sanft, aber bestimmt. »Sie verstehen nicht. Es … ist anders, als Sie annehmen. Ihr Vater … Mike …«

»Wo bleibst du denn?«, erklang die Stimme der anderen Frau vom Jeep her. »Wir kommen noch zu spät zur Beerdigung.«

Vicky blinzelte. Schwarze Kleidung, verweinte Augen … Sie schaute Fiona an und las in deren Blick die Antwort auf ihre unausgesprochene Frage.

Nein, nein, nein, NEIN!

Als ihre Knie unter ihr nachgaben, kam es für sie selbst beinahe überraschend. Ihre Augen brannten, doch sie vergoss keine Tränen.

Sie fühlte sich wie betäubt. Sämtliche Geräusche drangen nur wie durch eine dicke Wattedecke an ihr Ohr. Fiona hockte vor ihr. Die Lippen der älteren Frau bewegten sich, und wie aus weiter Ferne hörte Vicky ihre Stimme. Doch was sie sagte – dass Mike Tancredi, ihr Vater, tot war –, ergab einfach keinen Sinn. Oder eigentlich doch.

Ein hysterisches Kichern kroch ihre Kehle hinauf. Im Grunde war es wieder wie vor neunzehn Jahren: Ihr Vater hatte sich aus der Verantwortung gestohlen – dieses Mal allerdings ohne jegliche Hoffnung auf Wiederkehr.

Das Kichern wurde zu einem Schluchzen, als sich ein Arm unter ihre Achsel schob, sie in eine aufrechte Position brachte und stützte, während sich von der anderen Seite ein Arm um ihre Taille schlang.

Sie wurde die Veranda hinauf und dann ins Haus geführt, in dem es angenehm kühl und dunkel war. Die ganze Zeit über kam Vicky sich vor wie eine stille Beobachterin. Als wäre nicht sie es, der dies passierte.

Erst als die beiden so unterschiedlichen Frauen sie behutsam auf einer alten braunen Velourscouch absetzten, schienen ihr Körper und ihr Geist wieder zueinanderzufinden. Jedoch nur einen Augenblick lang, bevor bleierne Müdigkeit von ihr Besitz ergriff und sie in einen leichten, unruhigen Schlaf fiel.

 

Als sie wieder erwachte, lag sie auf einem fremden Sofa und blickte hinauf an eine fremde Zimmerdecke. Durch die Jalousie vor dem Fenster fiel graues Tageslicht in den Raum und tauchte ihn in ein Spiel aus Licht und Schatten.

Es dauerte einen Moment, bis die Erinnerungen zurückkehrten – doch als es soweit war, rollten sie wie eine Flutwelle über Victoria hinweg.

Ihr Vater war tot.

Was für eine Ironie des Schicksals! Nach über neunzehn Jahren hatte er sich bei ihr gemeldet und sie zu sich nach Neuseeland eingeladen. Und jetzt, wo sie hier war, musste sie feststellen, dass er in der Zwischenzeit gestorben war.

Wenn es nicht so verdammt traurig wäre, dachte Vicky, könnte man glatt darüber lachen …

»Geht es Ihnen wieder etwas besser?«

Überrascht setzte sie sich auf. Sie hatte nicht gemerkt, dass sich noch jemand im Raum aufhielt. Erst jetzt sah sie den Umriss einer weiteren Person im Schatten neben dem Fenster.

»Ein wenig«, erwiderte sie heiser, blinzelte in die Dunkelheit und erkannte Fiona. »Wie lange habe ich geschlafen?«

»Nicht allzu lange«, erwiderte die ältere Frau. »Zwanzig Minuten vielleicht. Möchten Sie ein Glas Wasser? Ich könnte Ihnen eines aus der Küche holen.«

Vicky rappelte sich auf. Hinter ihren Schläfen pochte es, doch sie biss die Zähne zusammen.

»Was ist denn eigentlich passiert?«, fragte sie leise. »Mit meinem Vater, meine ich.«

»Ein tragischer Unfall«, erklärte Fiona, doch irgendetwas an ihrem Blick irritierte Vicky. »Vor drei Tagen, hier ganz in der Nähe. Er war im Dunkeln draußen unterwegs und ist von den Klippen gestürzt. Er war sofort tot.«

Vicky nickte. Sie versuchte zu begreifen, was geschehen war. Dass sie ihren Vater endgültig niemals wiedersehen würde. Doch es kam ihr alles so unwirklich vor.

Anstelle von Trauer oder Kummer fühlte sie sich vollkommen leer. Was stimmte nicht mit ihr?

Plötzlich fiel ihr etwas ein. »Was ist eigentlich mit der Beerdigung?«

»Heather … Sie haben sie vorhin kurz gesehen. Sie ist vorausgefahren, aber wenn Sie sich wieder besser fühlen und …«

Vicky nickte. »Auf jeden Fall!«, sagte sie. »Es geht mir wieder gut, wirklich. Und ich will zur Beerdigung.« Sie atmete tief durch. »Können Sie vielleicht fahren? Ich glaube nicht, dass ich in der Lage bin, mich jetzt hinters Steuer zu setzen.«

»Um ehrlich zu sein …«

»Ja?«

»Ich bin nicht einmal sicher, ob Sie überhaupt schon wieder aufstehen sollten.«

»Doch«, entgegnete Vicky plötzlich energisch. »Sie verstehen das nicht. Ich muss das einfach tun. Wenn ich nicht zur Beerdigung gehe, werde ich nie mit dieser Sache abschließen können.«

Sie nickte sich selbst zu. Wenn sie nicht mit eigenen Augen sah, wie der Sarg ihres Vaters in die Erde niedergelassen wurde, würde sie vermutlich niemals wirklich realisieren, dass Mike Tancredi tot war, und sein Geist würde sie auf ewig verfolgen.

Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann nickte Fiona langsam. »Verstehe.« Sie kam auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen. Die Haut ihrer Handinnenflächen fühlte sich genauso rau und schwielig an, wie Vicky es sich vorgestellt hatte. Wie Schmirgelpapier.

Sie war noch immer ein bisschen wacklig auf den Beinen, zudem schmerzte ihr Kopf unerträglich, aber sie würde sich schon aufrecht halten können.

»Wollen Sie so gehen?«, fragte Fiona und hob eine Braue.

Vicky blickte an sich hinunter. Sie trug noch immer die verblichenen Jeans und das graue Shirt, das sie schon im Flugzeug angehabt hatte. Sie war verschwitzt und roch vermutlich auch nicht besonders gut.

Fiona hatte recht – es war nicht unbedingt das passende Outfit für eine Beerdigung. Noch dazu, wenn es sich um die Beerdigung des eigenen Vaters handelte. Ganz gleich, ob sie ihn nun respektiert hatte oder nicht.

So viel Anstand verdiente jeder Tote.

»Ich fürchte, in meinem Koffer wird sich auch nichts wirklich Angemessenes finden«, sagte sie, noch immer verwundert über die seltsame Leere, die sie empfand. Aber vermutlich war es nur der Schock. Schließlich hatte sie gerade erfahren, dass ihr Vater gestorben war. »Ich habe allenfalls einen schwarzen Rollkragenpullover dabei. Bei meiner Abreise war ich nicht auf einen solchen Anlass vorbereitet.«

»Wie sollten Sie auch?« Fiona seufzte. »Ich bin nicht viel größer als Sie, vielleicht kann ich Ihnen eine schwarze Hose ausleihen. Wenn Sie dazu Ihren schwarzen Rollkragenpullover anziehen, dürfte es gehen. Wo haben Sie denn Ihren Schlüssel? Ich hole den Koffer aus dem Wagen. Wir sollten uns allerdings ein wenig beeilen, sonst ist alles vorbei, noch ehe wir am Friedhof ankommen.«

Suchend schaute Vicky sich nach ihrer Umhängetasche um und fand sie auf dem Tisch neben dem Sofa. Wie alle anderen Einrichtungsgegenstände hatte auch dieser schon bessere Tage gesehen.

Der Schrank neben dem Fenster besaß anscheinend nur noch drei Beine – das vierte war durch einen groben Holzklotz ersetzt worden. Die Federung des Sofas, auf dem sie eben noch gelegen hatte, war so durchgesessen, dass sich die Sprungfedern schon überall durchdrückten. Auf dem Boden lag ein fadenscheiniger Läufer, und ein Sprung in der Fensterscheibe war notdürftig mit silbergrauem Tape abgeklebt worden.

Obwohl er dieses Haus besessen hatte, war ihr Vater ganz eindeutig nicht reich gewesen. Oder auch nur wohlhabend. Alles wirkte irgendwie trist und düster. Ein bisschen Farbe, dachte sie, und es könnte hier schon vollkommen anders aussehen. Was fehlte, war eindeutig eine weibliche Hand.

Allerdings …

Vicky nahm den Schlüssel aus der Tasche und reichte ihn der älteren Frau. Als diese sich abwenden wollte, griff sie nach deren Handgelenk und hielt sie zurück.

»Fiona?« Sie atmete tief durch. »Wer sind Sie und wie standen Sie zu meinem Vater?«

Erst jetzt drehte Fiona sich wieder wirklich zu ihr um. Ein zögerndes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, und Vicky war ein wenig überrascht über die tiefen Lachfalten, die sich um Augen und Mund herum bildeten. Fiona wirkte so ernst – sie machte nicht den Eindruck, als würde sie besonders oft lachen.

»Mike und ich hatten nichts miteinander, wenn es das ist, was Sie sich fragen«, erklärte sie geradeheraus. Andere Menschen hätten vermutlich lange um den heißen Brei herumgeredet, doch Fiona war nicht so. Sie sprach aus, was sie dachte. Ungefiltert und schonungslos. Vicky nahm an, dass man sich mit dieser Eigenschaft im Leben nicht nur Freunde machte.

»Sondern?«

»Heather und ich haben für Mike gearbeitet. Und ich schätze, wir waren auch Freunde.« Sie zuckte mit den Schultern. »Man hat es hier in der Gegend nicht unbedingt leicht, wenn man so ist wie wir …«

Vicky nahm an, dass sie von ihrer brüsken Art sprach. Vielleicht war ihr Vater ja genauso gewesen. Sie konnte sich kaum mehr daran erinnern. Zudem veränderten sich Menschen. Und es war eine lange Zeit vergangen, seit sie sich zum letzten Mal gesehen hatten.

»Wir hatten Ihren Vater sehr gern. Die Umstände haben ihn zu einem harten Mann werden lassen. Ja, vielleicht war er sogar verbittert – aber auch fair und loyal. Man konnte sich immer auf ihn verlassen. Er kehrte den Menschen, die ihm etwas bedeuteten, niemals den Rücken.«

Ihre Worte waren wie Salz in Vickys Wunden. Die Taubheit, die sie die ganze Zeit über gefühlt hatte, wich und machte Platz für Wut. Brennende, alles verzehrende Wut.

Sie war sich nicht einmal bewusst gewesen, wie sehr es noch immer schmerzte, dass ihr Vater ihre Mutter und sie damals verlassen hatte. Und nun war da diese Frau, die allen Ernstes behauptete, er hätte niemals jemanden im Stich gelassen, der ihm wichtig war?

Also warst du ihm gleichgültig? Oder wie sonst lässt sich sein Verhalten erklären?

»Nun, er hatte jedenfalls kein Problem damit, seiner Familie den Rücken zu kehren«, entgegnete sie bitter.

Erstaunt über ihre harschen Worte schaute Fiona sie einen Moment lang schweigend an, dann senkte sie den Blick. »Es tut mir leid. Das alles muss für Sie ein großer Schock sein.«

»Warum entschuldigen Sie sich? Es war schließlich nicht Ihre Schuld. Mein Vater hat sich gegen meine Mutter und mich entschieden, so einfach ist das. Vielleicht wollte er hier in Neuseeland eine neue Familie gründen, wer weiß? Eine neue Frau und neue Kinder, die seinen Vorstellungen von einer perfekten Familie besser entsprachen als wir. Einen Grund muss es ja schließlich gegeben haben, nicht wahr?«

»Sie wissen es nicht, oder?«

Vicky runzelte ärgerlich die Stirn. »Wissen? Wovon sprechen Sie?«

Fiona schüttelte den Kopf. Sie vermied es, ihr in die Augen zu sehen. Ganz offensichtlich gab es da etwas, über das die andere Frau nicht mit ihr sprechen wollte.

»Wir müssen uns wirklich langsam auf den Weg machen, wenn wir noch rechtzeitig zur Beerdigung zum Friedhof kommen wollen«, entgegnete sie schließlich ausweichend.

Widerwillig ließ Vicky den Arm der älteren Frau los, als diese sie mit einem harten Blick bedachte. Sie schaute ihr nach, bis sie durch die Tür verschwunden war. Dann schloss sie die Augen und atmete tief durch.

In ihrem Kopf herrschte ein einziges Durcheinander. Alles war so völlig anders gekommen, als sie es sich vorgestellt hatte. Diese ganze überstürzte Reise nach Neuseeland kam ihr immer mehr wie ein riesengroßer Fehler vor.

Sie hatte ihren Vater wiedersehen wollen. Ihn zur Rede stellen und in Erfahrung bringen wollen, warum er ihre Mutter und sie im Stich gelassen hatte.

Als ob es auf diese Frage eine einfache Antwort geben konnte!

Aber vielleicht gab es die ja sogar. Sie hatten ihm nicht genug bedeutet. Die Erklärung war so simpel wie schmerzlich. Und letzten Endes die einzige, die Sinn machte.

Es war, wie Fiona schon gesagt hatte: Mike Tancredi kehrte den Menschen, die ihm etwas bedeuteten, niemals den Rücken.

Vicky schloss die Augen. Sie aber hatte er jetzt schon zum zweiten Mal im Stich gelassen.

Es hatte anfangen zu regnen. Zunächst waren es nur einige schwere Tropfen, die vom bleifarbenen Himmel fielen und wie Schrapnelle auf dem Erdhügel neben dem frisch ausgehobenen Grab einschlugen. Dann nahm der Regen an Intensität zu, bis die Welt wie hinter einem grauen Vorhang verschwand.

Die wenigen Gäste, die zur Beisetzung erschienen waren – allesamt Unbekannte für Vicky – drängten sich dicht an dicht unter ihre Regenschirme. Auch Fiona und Heather teilten sich einen Regenschutz. Vicky hatten sie einen kleinen Faltschirm überlassen, doch sie hielt ihn noch immer zusammengefaltet und damit vollkommen nutzlos in der Hand. Sie war bis auf die Knochen durchnässt. Das Wasser rann ihr übers Gesicht, das Kinn hinunter und über den Hals bis in den Kragen ihres schwarzen Rollis.

Sie merkte es kaum. Alles kam ihr so unwirklich, so falsch vor. War sie wirklich hier und stand am Grab ihres Vaters, den sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte? Oder handelte es sich lediglich um einen bösen Traum?

Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schmeckte Salz. Entweder war der Regen in Neuseeland salzig, oder sie hatte irgendwann im Laufe der Ansprache des Pfarrers angefangen zu weinen. War es nicht vollkommen absurd, dass sie es nicht genau sagen konnte? Und warum weinte sie überhaupt um diesen Mann, der sie ohne mit der Wimper zu zucken zurückgelassen hatte?

Der Geistliche stand am Kopfende des Grabes, dort, wo man später das Kreuz aufstellen würde. Auch er hielt einen Schirm über seinen Kopf erhoben. Von allen Farben, die er hätte haben können, war er ausgerechnet pink.

Pink.

Victoria spürte, wie ein hysterisches Lachen ihre Kehle emporkroch. Was für eine Farce!

Ein heftiger Donnerschlag ließ die Erde unter ihren Füßen erbeben. Kurz darauf zuckte ein Blitz vom Himmel, der die Trauergemeinde für den Bruchteil einer Sekunde in gleißendes Licht tauchte. Der Regen wurde einen Moment lang noch heftiger und löste einige schlammige Erdbrocken am Rand der Grube, sodass sie wie kleine Lawinen auf den dunklen Eichensarg niederprasselten.

Von der Rede des Pfarrers bekam sie kaum etwas mit. In ihren Ohren rauschte es, und das lag nicht am Regen. Noch immer fühlte sie sich wie betäubt. So als sei sie noch gar nicht im Hier und Jetzt angekommen.

Aber war das wirklich ein Wunder? Sie hatte ja überhaupt keine Zeit gehabt, die Neuigkeiten zu verarbeiten.

Und so stand sie da und starrte ins Leere, bis Fiona ihr irgendwann eine Hand auf die Schulter legte und sie bemerkte, dass sie die Letzten waren, die noch am Grab standen.

»Mike war kein Freund von solchen Dingen wie Leichenschmaus und Totenfeiern«, erklärte die ältere Frau. »Aber hier in der Gegend werden Traditionen sehr hochgehalten, und Heather hielt es für besser, dass wir die Leute nicht vor den Kopf stoßen.«

Vicky schaute sie ungläubig an. Ein Leichenschmaus? Nein. Sie schüttelte den Kopf. Zuerst leicht, dann immer heftiger. Wenn sie nur daran dachte, sich den neugierigen Fragen von irgendwelchen wildfremden Menschen zu stellen, wurde ihr ganz schlecht.

»Keine Angst«, sagte Fiona. Ihre blauen Augen wirkten jetzt beinahe grau, wie der Himmel über dem Friedhof. Sie nickte verständnisvoll. »Sie müssen nicht daran teilnehmen, wenn Sie nicht wollen. Wir fahren jetzt zurück zum Felsenhaus, und ich richte Ihnen ein Gästezimmer her. Dann können Sie sich ausruhen, und wir unterhalten uns später, wenn die Besucher weg sind.«

Sie gingen zum Wagen, und Vicky ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Sofort schloss sie die Augen. Erst als auch Fiona ihren tropfenden Schirm verstaut, sich auf dem Fahrersitz niedergelassen und den Motor angestellt hatte, öffnete Vicky sie wieder.

»Was für ein Mensch war mein Vater?«, fragte Vicky, einem plötzlichen Impuls folgend.

Die ältere Frau schien kurz darüber nachzudenken, ehe ein trauriges Lächeln über ihr Gesicht huschte. »Er war einer von den Guten, würde ich sagen. Ich kannte ihn viele Jahre, und er hat sowohl Heather als auch mich immer unterstützt, wenn wir Hilfe brauchten. Viele Freunde hatte er nicht, aber die wenigen, die er hatte, konnten sich blind auf ihn verlassen.«

Mit jedem dieser Worte spürte Vicky, wie das Gewicht, das auf ihrem Herzen lastete, schwerer wurde. Sie wischte die einzelne Träne, die sich aus ihrem Augenwinkel gelöst hatte, mit dem Handrücken fort.

»Sie wirken nicht überzeugt«, stellte Fiona fest.

»Das liegt nicht an Ihnen«, erwiderte sie nach einer kurzen Pause. »Ich glaube Ihnen, wenn Sie sagen, dass Ihnen mein Vater stets ein guter Freund gewesen ist. Aber leider ist er mir nie ein guter Vater gewesen.«

Fiona blickte nach vorne auf die Straße. Das war Vicky auch lieber so, denn da draußen schien soeben die Sintflut auf die Erde niederzugehen.

»Ihr Vater hat nicht viel über seine Vergangenheit gesprochen. Aber von Ihnen hat er oft erzählt. Davon, wie stolz er auf seine Tochter war. Wie gern er sie wiedergesehen hätte.«

Vicky ballte die Hände zu Fäusten. So fest, dass die Nägel ihrer Finger ihr schmerzhafte Halbmonde ins Fleisch schnitten. »Und warum hat er dann nie Kontakt mit mir aufgenommen? Fast zwanzig Jahre lang nie auch nur ein einziges Wort! Für mich hat mein Vater nicht mehr existiert. Ich musste mein Leben ohne ihn auf die Reihe kriegen – und das war …« Sie unterbrach sich. Was war bloß mit ihr los? Es war eigentlich nicht ihre Art, vor fremden Menschen einen Seelenstriptease hinzulegen. Sie kannte Fiona gerade einmal seit ein paar Stunden. Das war wohl kaum genug Zeit, um ein Vertrauensverhältnis zu ihr aufzubauen. Und schon gar nicht genug, um ihr ihre ganze Lebenstragödie aufzutischen. Sie würde sie nur für eine jämmerliche Heulsuse halten.

»Ich kann natürlich nicht für ihn sprechen«, entgegnete Fiona mit einem traurigen Lächeln. »Und leider ist er selbst auch nicht mehr in der Lage, die Vergangenheit mit Ihnen aufzuarbeiten. Aber ich bin mir sicher, dass Sie ihm sehr wichtig gewesen sind – ob Sie es nun glauben oder nicht.«

Vicky verschränkte die Arme vor der Brust. »Es fällt mir schwer, das zu glauben.«

Der Rest der Fahrt verlief schweigend. Vor dem Haus parkten bereits ein paar andere Wagen, als sie dort eintrafen. Die Trauergesellschaft, die sich zum Leichenschmaus versammelt hat, dachte Vicky und spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief.

Sie wollte so ziemlich überall auf der Welt lieber sein als ausgerechnet hier. Aber das Schicksal meinte es offenbar nicht gut mit ihr. Aber wunderte sie das wirklich?

Offenbar waren ihr die Gedanken deutlich vom Gesicht abzulesen, denn Fiona sagte: »Keine Sorge, ich schmuggle Sie durch den Hintereingang direkt nach oben. Das Gästezimmer, das direkt neben unserem liegt, ist zwar schon seit einer Weile nicht benutzt worden und daher vermutlich etwas eingestaubt, aber ich nehme an, dass Sie nicht im Zimmer Ihres Vaters unterkommen möchten.«

Entsetzt starrte Vicky sie an. Nein, das wollte sie wirklich auf gar keinen Fall. Und wenn sie recht darüber nachdachte – war es überhaupt eine gute Idee, hier zu bleiben? Sie kannte die beiden Frauen, die zusammen mit ihrem Vater hier gelebt hatten, schließlich überhaupt nicht.

Sie schüttelte den Kopf. »Das wird nicht nötig sein. Als ich durch den Ort gefahren bin, habe ich an der Hauptstraße eine kleine Pension gesehen. Ich werde mir einfach dort ein Zimmer nehmen und …«

Energisch schüttelte die ältere Frau den Kopf. »Das kommt überhaupt nicht infrage. Mike hätte gewollt, dass wir seiner Tochter Gastfreundschaft erweisen. Sie bleiben bei uns, da gibt es keine Diskussion.«

Noch immer zögerte Vicky. Sie wusste wirklich nicht, ob es eine gute Idee war, zu bleiben. Auf der anderen Seite war sie vollkommen erschöpft und wollte eigentlich nur noch eines.

Sich hinlegen, die Augen schließen und die Welt um sich herum vergessen.

 

Wie versprochen führte Fiona sie durch den Hintereingang. Es war ziemlich finster, sodass sie von dem schmalen Korridor, der zu einer Treppe führte, nicht viel sehen konnte. Die Stufen führten steil in die Höhe, Vicky musste sich ihren Weg im Halbdunkeln mehr oder weniger ertasten. Doch sie wollte auf keinen Fall die Aufmerksamkeit der Gäste erregen und am Ende noch genötigt werden, sich zu ihnen zu gesellen. Das wäre ihr absoluter Albtraum gewesen.

Ein paar Minuten später lag sie, nachdem sich Fiona zurückgezogen hatte, noch immer in ihren nassen Klamotten auf dem Bett im Gästezimmer und starrte an die Decke. Sie zitterte vor Kälte wie Espenlaub, trotzdem hatte sie einfach nicht den Elan aufbringen können, sich umzuziehen.

Sie glaubte nicht, dass sie so bald Schlaf finden würde. Obwohl eine bleierne Müdigkeit von ihr Besitz ergriffen hatte, war sie einfach zu angespannt und nervös, um wirklich zur Ruhe zu kommen.

Während der wenigen Stunden seit ihrer Ankunft war so viel passiert, dass sie Tage brauchen würde, um es zu verarbeiten. Wahrscheinlich sogar länger. Falls es ihr überhaupt gelang.

Jahrelang war sie hin- und hergerissen gewesen zwischen dem Hass auf ihren Vater und der Hoffnung, dass er eines Tages doch noch kommen und ihr erklären würde, warum er einfach so davongelaufen war. Dass er sie dann in seine Arme schließen würde, und sie vielleicht vergessen könnte, wie sehr er ihr all die Jahre gefehlt hatte.

Nun, Letzteres kam jetzt endgültig nicht mehr infrage. Sie würde seine Beweggründe niemals verstehen, und das machte sie unendlich traurig. Es war, als hätte man ihr die Möglichkeit genommen, ein Kapitel ihres Lebens endgültig abzuschließen.

Von unten aus dem Erdgeschoss drangen Gesprächsfetzen und Gelächter herauf und vermischten sich mit dem Prasseln des Regens, der gegen die Fensterscheiben schlug. Draußen tobte das Unwetter noch immer mit unverminderter Wut. Während sie so dalag war ihr, als würden die Wände des Gästezimmers immer näher auf sie zu rücken. Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Hastig rappelte sie sich auf und stolperte hinaus auf den Korridor. Sie riss die Hintertür auf und trat hinaus in den strömenden Regen.

Sie schloss die Augen und bemühte sich, ihren hämmernden Puls zu beruhigen. Solche Attacken kannte sie schon. Es war nicht das erste Mal, dass ihr so etwas passierte, und es würde vermutlich auch nicht das letzte Mal sein.

Panikattacken, so hatte es ihr Therapeut immer genannt. Dr. Petersen war ihr von einer eifrigen Mitarbeiterin des Jugendamts an die Seite gestellt worden. Ein netter Typ eigentlich, bloß hatte er ihr nicht helfen können. Sie wusste ganz genau, was diese Anfälle auslöste. Ihr Problem war, dass sie sie nicht verhindern konnte. Und dabei war ihr Dr. Petersen auch keine Hilfe gewesen. Deshalb hatte sie die Therapie gleich nach ihrem achtzehnten Lebensjahr abgebrochen.

Allmählich klopfte ihr Herz wieder in einem normalen Rhythmus. Seufzend hob sie die Lider und sah, dass die nicht die einzige Verrückte war, die sich bei diesem Wetter hier draußen herumtrieb.

Ihre Augen wurden schmal, als sie versuchte, durch die dichten Regenschleier mehr von der Person zu erkennen, die ein Stück weit entfernt im Garten des Hauses unweit der Stelle stand, wo das Steilufer die natürliche Grenze des Grundstücks bildete.

Es war ein Mann, so viel konnte sie erkennen. Sehr viel mehr aber auch nicht.

Jetzt war Vicky neugierig. Warum stand dieser Kerl dort im strömenden Regen und starrte das Haus an? Sie ignorierte die leise Stimme, die ihr einflüsterte, dass sie selbst wohl einen mindestens ebenso merkwürdigen Anblick bot. Sie hatte immerhin einen guten Grund, sich hier draußen den Tod zu holen. Und der Unbekannte? Verhielt es sich bei ihm ebenso?

Genau das wollte sie herausfinden.

Sie setzte sich in Bewegung, und je näher sie kam, desto deutlicher konnte sie den Mann erkennen.

Er war groß – mindestens zwei Köpfe größer als sie selbst, und sie war schon nicht gerade klein. Zu dunklen Jeans trug er einen dunklen Hoodie, dessen Kapuze er sich tief ins Gesicht gezogen hatte, sodass es im Dunkeln lag. Doch als ein Blitz vom Himmel zuckte, wurde es für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Schatten gerissen.

Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte; jedenfalls nicht, dass er jung sein würde – etwa in ihrem Alter, vielleicht ein paar Jahr älter. Seine Züge waren scharf und kantig, mit hohen Wangenknochen und einer markanten, nicht ganz geraden Nase. Er wirkte beinahe unnatürlich bleich, aber das lag vermutlich nur am grellen Licht des Blitzes.

Fast automatisch beschleunigte sie ihre Schritte, während der Unbekannte nun, da er sie bemerkt hatte, zurückwich. Schließlich wandte er sich um und eilte davon.

»Warten Sie!«, rief sie und lief ihm nach. »Wer sind Sie? Warum laufen Sie vor mir davon?«

Doch er hielt nicht an. Vicky musste einsehen, dass es bei diesem Wetter und ihrer mangelnden Ortskenntnis einfach zu gefährlich war, ihm weiter zu folgen.

Seufzend drehte sie sich um und ging zum Haus zurück. An der Hintertür wurde sie bereits erwartet.

»Was machen Sie denn hier draußen?« Es war Heather. Vicky hatte bisher kaum zwei Worte mit ihr gewechselt. Sie war etwas jünger als Fiona, kleiner und zierlicher. Ihr weißes Haar und die helleHaut verliehen ihr etwas Ätherisches, Überirdisches.

Sie hatte sich einen karierten Schal um die Schultern geschlungen, doch Vicky sah, dass sie trotzdem zitterte. Erst jetzt merkte sie, dass sie selbst völlig unterkühlt war. Ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander, und sie konnte ihre Finger kaum noch spüren.

»Kommen Sie«, sagte die andere Frau, nahm ihren Schal ab und legte ihn ihr um, als sie über die Türschwelle ins Trockene trat. »Da draußen holen Sie sich ja den Tod.« Sie nahm sie an die Hand und führte sie hinter sich her, tiefer ins Haus hinein. »Keine Angst, die Gäste sind alle im Wohnzimmer und in der Küche. Es besteht keine Gefahr, dass wir jemandem begegnen.«

Vicky nickte nur. Schließlich erreichten sie eine Tür, die Heather öffnete. Vicky hörte, wie ein Schalter umgelegt wurde. Gleich darauf erwachte eine Neonleuchte flackernd zum Leben und entriss ein nüchternes, fensterloses Badezimmer der Dunkelheit. Wie alles, was sie bisher gesehen hatte – zugegebenermaßen nicht viel –, war es geradezu penibel sauber.

»Das ist das Werk Ihres Vaters«, sagte Heather, und Vicky fragte sich langsam, ob die andere Frau Gedanken zu lesen vermochte.

»Sie meinen …«

»Mike ist … war ein echter Sauberkeitsfanatiker. Das liegt vermutlich an der Art und Weise, wie er selbst großgeworden ist, und … Aber was rede ich, das wissen Sie ja alles selbst.«

Vicky schluckte, doch der Kloß, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte, wollte nicht weichen. »Nichts weiß ich!«, stieß sie bitter hervor. Und das entsprach tatsächlich der Wahrheit. Sie war neun Jahre alt gewesen, als Mike Tancredi die Familie verlassen hatte. Alles, was sie über ihn wusste, stammte von vor dieser Zeit. Aber damals war sie noch ein kleines Mädchen gewesen, ihre frühen Erinnerungen waren bestenfalls schwammig. Und hier war diese Frau, die nicht einmal mit ihrem Vater verwandt war, und wusste so viel mehr über ihn als sie. »Dieser Mann, von dem sie erzählen, ist mir völlig fremd. Ich kenne ihn im Grunde überhaupt nicht.« Energisch schüttelte sie den Kopf. »Was mache ich eigentlich hier? Ich hätte niemals herkommen sollen. Es war ein Fehler.«

Heather legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Sie sollten keine übereilten Schlussfolgerungen ziehen, Victoria. Heute war ein anstrengender und ereignisreicher Tag für Sie. Da ist es wirklich kein Wunder, wenn Sie mit den Nerven am Ende sind. Jetzt duschen Sie erst einmal, dann legen Sie sich hin, ziehen sich die Decke über den Kopf und machen die Augen zu. Morgen ist ein neuer Tag, an dem alles schon wieder ganz anders aussehen wird.«

»Meinen Vater macht das aber auch nicht wieder lebendig«, brachte Vicky hervor.

»Nein«, entgegnete Heather nach kurzem Zögern seufzend. »Bedauerlicherweise nicht.« Sie reichte ihr ein Handtuch und einen alten Bademantel. »Hier. Ich lasse Sie jetzt in Ruhe. Sie finden den Weg zurück ins Gästezimmer?«

Sie nickte, und einen Moment lang herrschte Schweigen. Als Heather sich gerade abwenden und zur Tür hinausgehen wollte, sagte Vicky leise: »Danke.«

Die ältere Frau schenkte ihr ein trauriges Lächeln. »Keine Ursache.«

 

James McFarlane riss die Fahrertür seines SUV auf und ließ sich mit einem Ächzen hinters Steuer fallen. Dass er mit seinen nassen Sachen die Veloursitze des Wagens ruinierte, kümmerte ihn nicht. Einen Moment lang saß er regungslos da und lauschte dem Regen, der auf das Wagendach trommelte. Dann hieb er mit der flachen Hand aufs Lenkrad.

»Verdammt!«

Tropfen stoben durch die Luft, als er ein weiteres Mal aufs Lenkrad schlug. Schließlich ließ er sich gegen die Rückenlehne sinken und strich die Kapuze seines Pullovers zurück.

Sein Blick fiel unwillkürlich in den Rückspiegel. Er sah ein blasses Gesicht mit grauen Augen und der typischen, leicht gekrümmten McFarlane-Nase, die seit Generationen keinem männlichen Mitglied der Familie erspart geblieben war. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Kein Wunder, hatte er in den vergangenen achtundvierzig Stunden doch so gut wie gar nicht geschlafen.

Mike …

Bei Gedanken an seinen väterlichen Freund zog sich sein Magen schmerzhaft zusammen. Die Nachricht von Mikes Tod hatte ihn vorgestern Abend nach einem Dinner mit potenziellen Kunden erreicht. Er befand sich gerade auf einer Geschäftsreise in Hong Kong, als er einen Anruf seiner Mutter erhielt.

Seitdem hatte er das Gefühl, sich im freien Fall zu befinden.

Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, hatte er seinen Flug, der eigentlich erst zum Ende der Woche gehen sollte, umgebucht und sämtliche Termine abgesagt. Es war ihm vollkommen egal, ob seine Mutter seine Entscheidung billigte oder nicht. Er mochte für sie arbeiten, war aber nicht ihr Leibeigener.

Mike hatte ihm so nahegestanden, wie sonst kaum jemand auf der Welt. James war fest entschlossen gewesen, es noch vor der Beerdigung zurück nach Moananui zu schaffen. Doch er hatte einen ganzen Tag auf seinen Rückflug warten müssen, da sämtliche Maschinen bis auf den letzten Platz besetzt gewesen waren.

Vom Flughafen war er auf direktem Wege zum Friedhof gefahren – und zwar wesentlich schneller, als es wegen des Unwetters eigentlich angebracht gewesen war. Aber am Ende musste er sich eingestehen, dass zu spät gekommen war.

Eine Weile hatte er am Grab seines Freundes im Regen gestanden. Doch irgendwie fühlte es sich falsch an. So, als sei Mike nicht wirklich dort. Vermutlich, weil er für ihn auf alle Zeiten mit dem Felsenhaus verbunden sein würde.

Und genau dorthin war er schließlich auch gefahren.

Durch die hellerleuchteten Fenster hatte er gesehen, dass drinnen noch Gäste waren. Allein bei dem Gedanken, mit irgendjemandem bei Kaffee und Kuchen über Mikes Leben – oder vielmehr seinen Tod – zu plaudern, drehte es ihm schier den Magen um. Vor allem, da er sich vorstellen konnte, wie die Leute sich insgeheim die Mäuler zerrissen.

Verübeln konnte er es ihnen im Grunde nicht. Die Erklärung, dass Mike im Dunkeln herumgelaufen und einfach von den Klippen gestürzt sein sollte, befriedigte ihn nicht im Geringsten. Sein Freund hatte das Gelände wie seine Westentasche gekannt. Es erschien ihm unglaublich, dass er einfach so gestolpert war.

So sinnlos! Und so absurd!

Ihm tat vor allem Fiona leid. Nach allem, was er gehört hatte, war sie es gewesen, die Mike am nächsten Morgen gefunden hatte. Sie hatte sich auf die Suche nach ihm gemacht, nachdem er in der Nacht nicht nach Hause gekommen war.

Das musste ein furchtbarer Anblick gewesen sein …

Statt sich also zu den Gästen zu gesellen, die im Felsenhaus beisammensaßen, war er ums Haus herum in den Garten gegangen. Und dann hatte er plötzlich diese fremde Frau gesehen.

Als sie auf ihn zukam, war ihm schlagartig klargeworden, dass er nicht mit ihr sprechen konnte. Nicht mit ihr oder irgendjemandem sonst. Nicht jetzt, nicht hier. Er wollte allein sein. Allein mit seinen Gedanken und dem Chaos in seinem Kopf. Doch zugleich wusste er natürlich auch, dass er sich nicht ewig würde verstecken können.

Er strich sich das nasse Haar aus der Stirn und atmete tief durch. Dann steckte er den Schlüssel ins Zündschloss und drehte ihn um. Keine zwei Minuten später wurde das Felsenhaus in seinem Rückspiegel von der Dunkelheit und den vom Himmel fallenden Regenmassen verschluckt.

 

Nach dem Duschen fühlte Vicky sich zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Neuseeland wieder halbwegs wie ein Mensch. Sie trocknete sich ab und schlüpfte in den Bademantel, den Heather ihr bereitgelegt hatte. Er war aus weichem, vom häufigen Waschen ausgebleichtem Frotteestoff, der früher einmal dunkelblau gewesen sein mochte.

Unwillkürlich fragte sie sich, ob er wohl ihrem Vater gehört hatte. Ihr erster Impuls war es, ihn sofort wieder auszuziehen. Doch stattdessen schlang sie ihn enger um sich, barg das Gesicht im Kragen und atmete tief ein. Der Geruch von Waschmittel und stieg ihr in die Nase. Und da war noch etwas. Ein Hauch von …

Sandelholz.

Vicky stöhnte auf, als ganz ohne Vorwarnung eine Erinnerung in ihr aufflackerte. Sie war mit ihrem Vater und ihrer Mutter im Park gewesen. Ihr Vater trug sie auf seinen Schultern, und sie hatte die Nase in seinem Haar vergraben, das sanft nach Sandelholz duftete …

Sie schüttelte den Kopf, um die Bilder zu vertreiben, die auf sie einstürzten. Hastig straffte sie die Schultern,verließ das Bad und huschte hinüber ins Gästezimmer. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sie sich mit dem Rücken dagegen und atmete tief durch.

Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und bemerkte etwas auf dem Bett, das vorhin noch nicht dagewesen war.

Sie stieß sich vom Türrahmen ab und trat näher. Jetzt erkannte sie, dass es sich um ein dickes Fotoalbum handelte.

Ihr stockte das Herz. Im nächsten Moment hämmerte es so heftig, als wolle es zerspringen.

Ihre Atmung beschleunigte sich, bis ihr der Kopf schwirrte. Ruhig, musste sie sich ermahnen. Tief und ruhig durchatmen, ehe du die Kontrolle verlierst.

Es wäre ja nicht das erste Mal.

Seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr litt sie unter diesen immer wiederkehrenden Panikattacken. Im Laufe der Zeit hatte sie gelernt, recht gut damit umzugehen. Sie kamen mit zunehmendem Alter seltener vor, und oft konnte sie noch das Schlimmste verhindern, doch manchmal kamen die Attacken so plötzlich, dass sie nichts mehr zu tun vermochte. Dann blieb ihr nur noch, die Zähne zusammenzubeißen und es über sich ergehen zu lassen.

Dieses Mal gelang es ihr, sich zu beruhigen. Ihre Atmung regulierte sich ebenso wie ihr Herzschlag. Sie schloss die Augen und holte tief Luft, ehe sie die letzten Schritte bis zum Bett überbrückte und sich auf den Rand der Matratze sinken ließ.

Einige Minuten lang schaute sie das Album einfach nur an. Der Einband besaß ein scheußliches grün-rotes Tartanmuster, die Kanten waren vom häufigen Durchblättern schon ganz weich und zerfleddert.

Es war offensichtlich ziemlich alt, aber man sah dem Album an, dass es geliebt worden war. Wieder fing Vickys Herz an, ihr bis zum Hals zu klopfen – doch dieses Mal war es kein Anzeichen drohender Panik, nein.

Mit zittrigen Fingern klappte sie den Deckel auf. Die erste Seite zeigte eine alte, vergilbte Fotografie von zwei Männern. Einen davon erkannte sie als ihren Vater.

Er sah genau so aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Das Bild musste gemacht worden sein, kurz nachdem er England verlassen hatte. Seinen Arm hatte er um die Schultern des anderen Mannes gelegt, der deutlich kleiner war als er selbst. Sein Haar war schwarz und in der Mitte gescheitelt. Unter seinen Augen lagen tiefe, dunkle Ringe. Während Vickys Vater in die Kamera strahlte, wirkte er fast ein wenig teilnahmslos – wäre das nicht das Funkeln in seinen blassgrauen Augen gewesen.

 

Nile und ich, unser letzter gemeinsamer Sommer, Juli 1997

 

Vicky strich mit der Fingerspitze über die Bildunterschrift, die die Handschrift ihres Vaters trug. Unwillkürlich fragte sie sich, wer dieser andere Mann war und in welcher Beziehung er zu ihrem Vater stand.

»Nile«, flüsterte sie, neigte den Kopf ein Stück zur Seite und betrachtete das Foto so eindringlich, als hoffte sie, es würde ihr ihre drängende Frage beantworten. »Wer bist du?«

 

2.

 

Bay of Plenty, Mai 1976

 

Nile lief zwischen den Kiwipflanzen hindurch, so schnell seine Beine ihn trugen. Gehetzt warf er einen Blick zurück über die Schulter. Die anderen Jungs waren ihm noch immer dicht auf den Fersen.

»Schneller!«, hörte er Liam, den Anführer seiner Verfolger, rufen. »Verdammt, die kleine Kröte darf uns auf keinen Fall entwischen!«

Obwohl seine Lunge bereits wie Feuer brannte und brennende Dolche in seine Seiten zu stechen schienen, beschleunigte Nile seine Schritte noch einmal.

Plötzlich kam ein Pick-up mit Arbeitern aus einem schmalen Seitenweg, und er konnte gerade noch rechtzeitig einen scharfen Schlenker zur Seite machen, um nicht unter die Räder zu geraten.

Der Fahrer des Wagens hupte erbost – und dann gleich noch einmal, als fünf weitere Jungs seinen Weg kreuzten.

»Gleich haben wir dich, McFarlane!«, rief einer von ihnen, und seine Kumpane lachten dreckig. »Bist wohl nicht so mutig, wenn du deinen Beschützer nicht dabei hast, was?«

Sie waren jetzt ganz dicht hinter ihm. Tränen der Frustration und Verzweiflung strömten ihm über die Wangen. Er wusste, dass er verloren hatte. Warum war er vorhin beim Pick-up nicht einfach stehengeblieben? Liam und die anderen hätten sich sicher verdrückt, wenn er die Erwachsenen um Hilfe gebeten hätte.

Doch jetzt war es zu spät. Sein Elternhaus lag noch mindestens eine halbe Meile entfernt, und die Hoffnung, dass erauf dem Weg noch irgendeiner Menschenseele begegnen würde, war eher gering. Die Arbeiter waren im südlichen Teil der Plantage mit der Ernte beschäftigt. Hierher würden sie erst in ein paar Wochen gelangen.

Er konnte eigentlich auch gleich aufgeben – doch genau das würde er nicht tun.

Mit dem Mut der Verzweiflung ballte er die Hände zu Fäusten, wirbelte herum und stellte sich seinen Verfolgern.

Die waren im ersten Augenblick so überrascht, dass sie sich beinahe gegenseitig über den Haufen gerannt hätten. Liam, der größte und gemeinste der Jungs, fing sich zuerst wieder.

Er grinste. »Mutig, mutig, Kleiner«, sagte er und nickte mit eindeutig nur vorgetäuschter Anerkennung. »Ich hätte nicht gedacht, dass du die Eier besitzt. Schon gar nicht, wenn Mike nicht da ist, um dir das Händchen zu halten. Aber du glaubst doch nicht allen Ernstes, das so ein Zwerg wie du es auch nur mit einem von uns aufnehmen kann, oder?«

Natürlich wusste Nile, dass er nicht den Hauch einer Chance hatte, heil aus der Nummer herauszukommen. Er mochte klein und schmächtig sein, aber er war nicht dumm.

Doch wenn er schon untergehen sollte, dann wollte er seine Haut zumindest so teuer wie möglich verkaufen.

Entschlossen reckte er das Kinn und hob die Fäuste. »Das werden wir ja gleich sehen«, sagte er mit sehr viel mehr Überzeugung in der Stimme, als er empfand.

Einer der anderen Jungs – Peter oder Patrick – trat auf Liam zu. »Vielleicht sollten wir die kleine Kröte lieber in Ruhe lassen«, schlug er dem Anführer der Bande vor. »Was machen wir, wenn er zu Mommy und Daddy rennt und uns verpfeift? Ist dir eigentlich klar, was für einen Ärger wir kriegen können? Den McFarlanes gehört immerhin die Plantage hier !«

Kurz schien Liam darüber nachzudenken, und Nile fing schon an, Hoffnung zu schöpfen – doch schließlich schüttelte der Ältere den Kopf. »Nein, das wird er nicht tun. Oder, McFarlane? Du magst eine kleine Kröte sein, aber ein feiger Verräter bist du nicht, hab ich recht?«

Nile hielt den Atem an. Es war vermutlich vollkommen idiotisch, da er damit sein eigenes Schicksal besiegelte, doch schließlich schüttelte er energisch den Kopf. Lieber wollte er sich von den Jungs verprügeln lassen, als wie ein Muttersöhnchen dazustehen.

Und wieso nicht? Genau das bist du doch im Grunde, oder?

Rasch verscheuchte er den irritierenden Gedanken – gerade noch rechtzeitig, um zu reagieren, als Liam plötzlich auf ihn losging.

Eine Faust traf ihn am Kinn, und er hatte das Gefühl, sein Schädel würde explodieren. Nile taumelte zurück, stolperte und fiel auf den Hintern. Doch Liam reichte es noch längst nicht, ihn am Boden zu sehen. Er war wie eine Hyäne, die Schwäche gewittert hatte und nun Blut sehen wollte.

Schützend hob Nile die Hände vor den Kopf, rollte sich zusammen und bereitete sich auf den Schmerz vor.

Als der Angriff ausblieb, blinzelte er vorsichtig zwischen seinen Händen hervor.

»Mike?«

Wie ein wütender Racheengel stand der strohblonde Junge zwischen ihm und seinen Peinigern. Die schon tief am Himmel stehende Sonne fiel schräg zwischen den bewachsenen Spalieren hindurch und Mike direkt in den Rücken, sodass es aussah, als würde eine gleißende Aura ihn umgeben.

»Nile …« Mike drehte sich nur halb zu ihm um, sodass er trotzdem noch Liam und seine Handlanger im Auge behalten konnte. »Alles okay?«

Nile nickte hastig. Mühsam rappelte er sich auf und klopfte sich den Staub von den Klamotten. Dann betastete er vorsichtig sein Kinn und keuchte vor Schmerz auf. Das würde einen hübschen blauen Fleck geben. Wie, zum Teufel, sollte er den seinem Vater erklären?

---ENDE DER LESEPROBE---