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Abenteuer und Intrigen unter der Sonne Patagoniens: Die große historische Familiensaga von Danielle Stevens!
Hamburg, 19. Jahrhundert: Unsicher umklammert die junge Charlotte das goldene Medaillon – das Einzige, was ihr von ihrer geliebten Mutter geblieben ist. In wenigen Minuten wird sie sich auf die Reise ins ferne Chile begeben. Dort soll sie den mächtigen Großgrundbesitzer Miguel Duarte heiraten. Und vielleicht, so hofft sie, kann sie in dem ungezähmten Land endlich das Geheimnis um das Verschwinden ihrer Mutter lüften. Doch das Schicksal hat andere Pläne für sie: Auf der Überfahrt verliert Charlotte ihr Herz an den einfachen Maat Leander. Lieber will sie mit ihrer Familie und den Regeln der Gesellschaft brechen, als ohne ihn zu sein! Aber bevor sie nach ihrer Ankunft in Chile ihre Verlobung lösen kann, erreicht sie eine furchtbare Nachricht …
Neuauflage. Erstmals erschienen bei Mira Taschenbuch, Hamburg.
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Danielle Stevens
Historischer Roman
Im Tal der Kolibris
Inhalt
Impressum
Das Buch
Widmung
Prolog
TEIL 1
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
TEIL 2
Zweieinhalb Jahre später.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
TEIL 3
Sechs Monate später.
15.
16.
17.
18.
19.
EPILOG
Nachwort
Das Geheimnis der Maori-Frau
Wo die Nelkenbäume blühen
Das Haus über den Klippen
Leseprobe
Copyright © 2021 Danielle Stevens
Copyright Originalausgabe © 2015 Mira Taschenbuch, Hamburg
Covergestaltung: Daniela Krüger
Bildmaterialien: Michael C. Gray/Shutterstock; Foto 4440/Shutterstock; Starikova Veronika/Shutterstock
Danielle Stevens
c/o Werneburg Internet Marketing und Publikations-Service
Philipp-Kühner-Straße 2
99817 Eisenach
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne Zustimmung der Autoren kopiert, nachgedruckt oder anderweitig verwendet werden. Sämtliche Übersetzungsrechte vorbehalten. Dieses Buch ist ein fiktives Werk. Namen, Figuren, Unternehmen, Orte werden fiktiv verwendet. Markennamen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum der rechtmäßigen Inhaber. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Abenteuer und Intrigen unter der Sonne Patagoniens: Die große historische Familiensaga von Danielle Stevens!
Hamburg, 19. Jahrhundert: Unsicher umklammert die junge Charlotte das goldene Medaillon – das Einzige, was ihr von ihrer geliebten Mutter geblieben ist. In wenigen Minuten wird sie sich auf die Reise ins ferne Chile begeben. Dort soll sie den mächtigen Großgrundbesitzer Miguel Duarte heiraten. Und vielleicht, so hofft sie, kann sie in dem ungezähmten Land endlich das Geheimnis um das Verschwinden ihrer Mutter lüften. Doch das Schicksal hat andere Pläne für sie: Auf der Überfahrt verliert Charlotte ihr Herz an den einfachen Maat Leander. Lieber will sie mit ihrer Familie und den Regeln der Gesellschaft brechen, als ohne ihn zu sein! Aber bevor sie nach ihrer Ankunft in Chile ihre Verlobung lösen kann, erreicht sie eine furchtbare Nachricht …
Neuauflage. Erstmals erschienen bei Mira Taschenbuch, Hamburg.
Für Tasha
Dein Lächeln ist unser Sonnenschein.
Hamburg, zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts
Die blonde junge Frau stand an der Reling des großen Segelschiffs und ließ den Blick über den Hafen von Hamburg schweifen. Sie atmete tief durch und versuchte ruhig zu bleiben, obwohl ihr das Herz bis zum Hals hinauf schlug.
Unten auf dem Hafenkai ging es hektisch zu. In wenigen Minuten würden sie in See stechen.
Minuten, die der jungen Frau wie eine kleine Ewigkeit erschienen.
Du hast es geschafft, sagte sie sich. Er kann dich jetzt nicht mehr aufhalten. Du bist frei. Endlich frei!
Das so lange ersehnte Gefühl von Erleichterung wollte sich trotzdem nicht einstellen. Zu viel hatte sie aufgeben, zu viel zurücklassen müssen, an dem sie mit jeder Faser ihres Herzens hing.
Ihr Blick verschwamm. Seltsam, sie hatte geglaubt, keine Tränen mehr übrig zu haben, doch nun spürte sie die salzigen Tropfen heiß auf ihren Wangen. Die Kehle wurde ihr eng, und sie stieß ein unterdrücktes Schluchzen aus.
»Anker liiichten!«, erklang die Anweisung vom Deck des Schiffes her. »Taue lööösen!«
Die Segel flatterten knatternd, als die Matrosen sie in den Wind drehten. Die letzten Mannschaftsmitglieder eilten an Bord und zogen den schmalen Landungssteg ein. Das Schiff nahm Fahrt auf.
Zuerst ging es nur langsam voran, doch dann wirkte der Hafenkai schnell kleiner und kleiner, bis die junge Frau ihn schließlich nur noch als undeutlichen Fleck wahrnahm.
Sie holte tief Atem und sog die salzige Luft der See in ihre Lunge. Dabei dachte sie zurück an den Mann und die beiden Kinder, die sie niemals wiedersehen würde.
Um den Mann tat es ihr nicht leid. Seinetwegen hatte sie diesen verzweifelten Schritt getan und das Land verlassen. Er war ein herrschsüchtiger Tyrann, der ihr das Leben zur Hölle gemacht hatte. Die Kinder aber … Es tat ihr in der Seele weh, sie zurücklassen zu müssen. Ihren Jungen und das hilflose kleine Mädchen, das sie erst vor wenigen Monaten geboren hatte.
Ob die beiden eines Tages verstehen würden, warum sie nicht anders hatte handeln können? Tief in ihrem Innern wusste sie, dass ihr Mann alles tun würde, um die Erinnerung an sie auszulöschen wie einen hässlichen Makel in seiner Vergangenheit.
Einen Moment lang verspürte sie den überwältigenden Drang, umzukehren und ihre Entscheidung rückgängig zu machen. Sie konnte das nicht tun. Sie durfte nicht alle Brücken hinter sich abbrechen, auch wenn es bedeuten würde, ein Leben in eisiger Kälte an der Seite eines Mannes zu führen, für den sie nur Abscheu empfand.
Doch dann schloss sie die Augen, und ihre Finger griffen unwillkürlich nach dem Medaillon, das sie stets um den Hals trug. Erst als sie es nicht ertastete, fiel ihr ein, dass sie es zurückgelassen hatte.
Auf der blütenweißen Decke in der Wiege ihrer kleinen Tochter.
Sie schloss die Hände um die Reling und umklammerte sie so fest, als wolle sie sie niemals wieder loslassen, doch dann, nach einer Zeitspanne, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, entspannte sie sich. Die Würfel waren gefallen. Es war zu spät, um jetzt noch umzukehren.
Sie wandte sich um und schaute zum Horizont, dorthin, wo schon bald ihr neues Leben beginnen würde.
Chile, dachte sie, und allein der Namen klang exotisch und verheißungsvoll in ihren Ohren. Ein bittersüßes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie die Vergangenheit hinter sich zurückließ und stattdessen nach vorn blickte.
In eine Zukunft voller Ungewissheit, aber auch voller Hoffnungen und Träume.
Achtzehn Jahre später.
Bremerhaven
Wie ein Gigant aus Eisen lag die Güstrow am Kai im Hafen. Der stählerne Leib des Schiffes war gut einhundertzehn Meter lang und verfügte über fünf Schornsteine, die in den strahlendblauen Himmel ragten.
Auf dem Pier herrschte emsige Betriebsamkeit. Über Holzplanken wurden Gepäck, Proviant und Unmengen an Kohle in den Bauch des Schiffes geladen. Obwohl es so kalt war, dass den Hafenarbeitern der Atem vor den Lippen kondensierte, arbeiteten sie zum Teil mit barem Oberkörper, auf dem der Schweiß schimmerte. Über einen Aufgang betraten die ersten Passagiere die Güstrow und wurden von Mitgliedern der Mannschaft in adretten weißen Uniformen in Empfang genommen.
Das galt zumindest für diejenigen, die ein Billett für Kabinen der ersten oder zweiten Klasse besaßen. Die zahllosen Männer, Frauen und Kinder, die eine Fahrkarte für die dritte Klasse ihr Eigen nannten, betraten die Güstrow auf demselben Weg, den auch der größte Teil der Ladung nahm. Und sie alle mussten, ehe sie sich an Bord begeben durften, eine gründliche Untersuchung ihrer Kleidung und Haare über sich ergehen lassen, um sicherzustellen, dass sie keine Flöhe oder Läuse einschleppten.
Eine Prozedur, die Charlotte von Grünau zu Meersberg, die jetzt noch neben ihrem Vater in der Familienkutsche saß, selbstverständlich erspart bleiben würde. Von der Tochter eines Barons erwartete man schließlich nicht, dass sie Ungeziefer an Bord brachte.
»Brrrrrr!« Heinrich, der achtzehnjährige Gärtnersohn, der oben auf dem Kutschbock saß, hielt die Pferde an. Dann kletterte er hinunter und öffnete den Wagenschlag für sie.
Betont elegant stieg Charlotte aus, wobei sie sich von Heinrich helfen ließ, was ihrem Vater, der ihr den Vortritt überlassen hatte, gar nicht gefiel. Das jedenfalls verriet sein verkniffener Gesichtsausdruck – so weit, das Verhalten seiner Tochter zu kommentieren, ließ er sich jedoch nicht herab. Umso süßer war das Lächeln, das sie Heinrich schenkte, dessen Wangen vor Verlegenheit regelrecht zu glühen begannen.
Sie wusste, dass er insgeheim schon lange aus der Ferne für sie schwärmte, doch für den etwas pummeligen Jungen, der sein sandbraunes Haar stets mit viel Pomade zurückkämmte, war sie unerreichbar. Und das wusste er ebenso gut wie sie, von daher hatte sie ihm auch nie irgendwelche Hoffnungen gemacht.
Dass sie heute einmal eine Ausnahme machte, lag daran, dass sie einander ohnehin nie wiedersehen würden. Denn im Gegensatz zu Heinrich würde sie an Bord der Güstrow sein, wenn das Schiff in ein paar Stunden mit Ziel Südamerika ablegte.
»Das genügt jetzt«, wies Richard Baron von Grünau zu Meersberg seine Tochter in einem Tonfall zurecht, der keinen Widerspruch duldete. Die eisblauen Augen in seinem schmalen, fast schon asketisch wirkenden Gesicht blitzten warnend, als er sich Heinrich zuwandte: »Sorg dafür, dass unser Gepäck an Bord gebracht wird. Ich bezahle dich fürs Arbeiten, nicht fürs Gaffen!«
Heinrich zuckte merklich zusammen, senkte den Blick und murmelte eine Entschuldigung. Dann eilte er zur Rückseite des Wagens. Kurz darauf war Gepolter zu hören.
Charlotte keuchte unterdrückt auf, als ihr Vater sie grob am Oberarm packte.
»Nimm dich zusammen«, fauchte er sie an. »Was soll dein zukünftiger Ehemann denken, wenn du ein solches Benehmen an den Tag legst? Auf der Überfahrt werden sich sicher einige Passagiere befinden, die mit den Duartes bekannt sind. Ich warne dich – bring mich nicht in Verlegenheit!«
Ehe sie etwas erwidern konnte, tauchte ein Mann in der Uniform der Reederei auf. Mit einem professionellen Lächeln wandte er sich an ihren Vater. »Ich darf Sie herzlich im Namen der Reederei willkommen heißen. Benötigen Sie Hilfe beim Verladen Ihres Reisegepäcks, Herr …?«
»Baron«, korrigierte ihr Vater ihn mit einer Überheblichkeit, zu der nur Angehörige des echten alten Adels imstande waren. »Baron von Grünau zu Meersberg. Ich gehe jetzt mit meiner Tochter an Bord. Mein Bursche wird Ihnen zeigen, was alles mitbefördert werden muss.«
Damit war das Thema für ihn erledigt.Ohne den irritiert wirkenden Mann eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte er sich wieder Charlotte zu und reichte ihr seinen Arm.
Sie näherten sich dem stählernen Koloss. Charlotte hatte noch nie ein so imposantes Schiff gesehen. Das Landgut ihrer Familie befand sich im äußersten Süden Oberschlesiens, weitab von den Ufern der Ostsee. Doch es war nicht die schiere Größe der Güstrow, die ihr weiche Knie bereitete, sondern vielmehr die Tatsache, dass sie sich mit jedem Schritt einer fremden, ungewissen Zukunft näherte.
»Ich kann mich hoffentlich darauf verlassen, dass du dich an unsere Verabredung hältst?«, griff Richard von Grünau zu Meersberg das Thema wieder auf.
Er sprach, ohne sie dabei anzusehen. In seinem dunklen Gehrock, unter dem er ein schlichtes weißes Hemd trug, war er der gängigen Männermode entsprechend gekleidet. Das Haar unter dem Hut hatte er streng zurückgekämmt. Wie stets wirkte er nach außen hin vollkommen ruhig und gelassen, doch niemand wusste besser als Charlotte selbst, dass sich hinter der kühlen, emotionslosen Fassade ein Despot verbarg, der mit eiserner Hand ebenso über seinen Haushalt wie auch über seine Ländereien herrschte – und über seine Tochter.
»Natürlich, Papa«, erwiderte sie, ganz das gehorsame junge Mädchen, das er von ihr zu sein erwartete. Im Laufe der Jahre hatte sie gelernt, dass man auf diese Weise seinem Zorn am ehesten entging – was nicht bedeutete, dass es ihr immer gelungen war, ihr vorlautes Mundwerk zu zügeln.
Entsprechend fiel ihr die Vorstellung, ihr Leben auf Schloss Meersberg zurückzulassen und in einem fernen Land noch einmal von vorn anzufangen, auch alles andere als schwer. Wäre ihre Mutter noch da gewesen, hätte das wohl ganz anders ausgesehen. Doch ihr herrschsüchtiger Vater und ihr älterer Bruder Johannes, der ihrem Vater in nichts nachstand, waren die einzigen Verwandten, von denen sie sich verabschieden musste.
»Vergiss nie, wie wichtig deine Verbindung mit den Duartes für unsere Familie ist«, setzte der Baron erneut zu der Litanei an, die sie in den vergangenen Monaten schon so oft gehört hatte, dass sie sie mühelos aufsagen konnte. »Wie du weißt, ist der Name von Grünau zu Meersberg das einzige Kapital, das wir zurzeit in die Waagschale zu werfen haben. Wir sind bis unter den Dachfirst verschuldet, und unsere Ländereien gehören längst nur noch dem Anschein nach uns. Doch wenn es mir gelingt, das Handelsmonopol für Salpeter im Deutschen Bund zu erhalten, während du Miguel Duarte heiratest, um die Verbindung zwischen unseren Familien zu festigen, ist der Fortbestand unserer Linie für die kommenden Generationen gesichert.«
Charlotte nickte stumm. Nichts von alledem berührte sie wirklich. Sie scherte sich nicht um das Schicksal irgendwelcher nebulösen Nachfahren, die sie höchstwahrscheinlich ohnehin niemals kennenlernen würde. Zudem stand zu befürchten, dass die zukünftigen Kinder ihres Bruders zu ebenso arroganten und selbstherrlichen kleinen Scheusalen heranwachsen würden, wie er selbst eins war.
Daher gab es für sie wahrlich wenig Anlass, so etwas wie Loyalität oder Pflichtgefühl ihrer Familie gegenüber zu empfinden. Dass sie sich trotzdem bereit erklärt hatte, sich den Plänen ihres Vaters zu beugen, hatte gänzlich andere Gründe.
Unauffällig tastete sie nach dem goldenen Medaillon, das sie unter ihrem hochgeschlossenen Oberteil an einer feinen Kette um den Hals trug. Sie wagte nicht, es offen zu zeigen. Zumindest nicht, solange ihr Vater es sehen konnte. Sie zweifelte nicht daran, dass er es erkennen würde. Schließlich hatte dieses Medaillon, das die Form eines in der Mitte zerbrochenen Herzens aufwies, einmal seiner Gemahlin gehört, Frederike von Grünau zu Meersberg – eine Frau, über die Charlotte so gut wie nichts wusste.
Ihre Mutter.
Sofort spürte sie, wie ihr das Herz schwer wurde. Dass sie inzwischen doch ein paar Dinge über Frederike erfahren hatte, verdankte sie keineswegs ihrem Vater. Der Baron hatte sich, was die Mutter seiner Kinder betraf, stets äußerst zugeknöpft gezeigt. Kein Wort zu diesem Thema war je über seine Lippen gedrungen, da hatte Charlotte noch so sehr betteln und jammern können.
Nun, zumindest der Grund dafür war für sie nun kein Rätsel mehr. Falscher Stolz hatte ihren Vater dazu veranlasst, Stillschweigen über die Vergangenheit zu wahren. Indem er so tat, als hätte seine Frau niemals existiert, versuchte er den Schleier des Vergessens über eine Angelegenheit auszubreiten, die ihn in seiner männlichen Ehre gekränkt hatte. Denn Frederike von Grünau zu Meersberg war weder im Kindbett gestorben noch, wie Charlotte es sich als junges Mädchen ausgemalt hatte, von einem Riesen aus dem Märchen entführt oder in einem hohen Turm gefangen gehalten worden.
Nein, sie war kurz nach der Geburt ihrer Tochter vor ihrem despotischen Gemahl davongelaufen. Und zwar – wenn man den Gerüchten unter der Dienerschaft glauben durfte – nach Chile, wo sie entfernte Angehörige hatte.
Dies war der wahre Grund, weshalb Charlotte sich auf das Abenteuer Südamerika eingelassen hatte. Nicht wegen ihres zukünftigen Ehemanns Miguel Duarte, den sie nur ein einziges Mal kurz auf einem Ball kennengelernt hatte. Und schon gar nicht wegen den Ambitionen ihres Vaters, die Familie wieder zu Reichtum und Macht zurückzuführen. Nein, sie tat es ganz allein für sich selbst. Um endlich herauszufinden, was aus ihrer Mutter geworden war. Und wenn sie dafür alles, was ihr Leben bisher ausgemacht hatte, hinter sich lassen musste, dann war dies ein Preis, den sie gern zu zahlen bereit war.
Zudem würde sie ja nicht allein sein.
Ein weiteres Detail, von dem ihr Vater nichts ahnte.
Verstohlen blickte sie sich auf dem Weg zum Aufgang der Güstrow um, doch sie konnte Margot nirgends entdecken – was vermutlich nicht besonders ungewöhnlich war, da ihre Freundin nicht, wie sie selbst, in der ersten Klasse reisen würde. Dazu reichten die Rücklagen, die Margot sich als Zofe im Haushalt der von Grünau zu Meersbergs zusammengespart hatte, bei Weitem nicht aus.
Dass Margot sich überhaupt an Bord des Schiffes befand, hatte sie vor allem Pastor Liebig, dem Gemeindegeistlichen, zu verdanken. Der hatte ein Ansuchen von einem Kollegen aus dem fernen Chile erhalten. Einige von dessen männlichen Schäfchen, bei denen es sich zum größten Teil um deutsche Auswanderer handelte, suchten verzweifelt nach einer patenten deutschen Frau zum Heiraten.
Über ihn hatte Margot einen jungen Siedler namens Ludwig kennengelernt. Nach monatelangem Briefwechsel hatte der ihr einen Antrag gemacht, und für Margot war es keine Frage gewesen, sofort zuzusagen.
Nun würde Charlottes ehemalige Zofe auf demselben Schiff wie sie selbst nach Chile reisen, um dort einen Mann zu heiraten, den sie bisher nur aus Briefen kannte.
Im Gegensatz zu mir heiratet sie aber, weil sie zumindest glaubt, ihren zukünftigen Mann zu lieben …
»Vielleicht wäre es besser, ich würde meinen Aufenthalt in Chile bis zu deiner Vermählung mit Duarte verlängern«, sagte ihr Vater unvermittelt und riss sie damit aus ihren Überlegungen. »Mir ist offen gestanden nicht recht wohl bei dem Gedanken, dir eine solche Verantwortung zu übertragen.«
Seine Worte mochten für einen Außenstehenden fürsorglich klingen, Charlotte wusste es jedoch besser. Richard von Grünau zu Meersberg traute es ihr nicht zu, dass sie die ihr gestellte Aufgabe zu seiner Zufriedenheit ausführte. Zum Glück hielt er sich überall für unabkömmlich, sodass er es nicht wagte, Grünau länger als für ein paar Wochen zu verlassen. Schloss Meersberg und die dazugehörigen Güter in die Hände seines Sohnes Johannes zu übergeben, kam ihm nicht in den Sinn. Und er zog es auch jetzt nicht wirklich in Erwägung.
»Herzlich willkommen an Bord der Güstrow«, begrüßte ein junger Mann in weißer Uniform sie und lächelte strahlend. Ein golden glänzendes Namensschild wies ihn als Hermann aus.
Charlottes Vater reichte ihm ihr Billett. »Ich möchte mir gern zunächst ansehen, wie meine Tochter und ich untergebracht sind«, sagte er.
»Aber natürlich«, erwiderte Hermann und winkte mit einer lässigen Handbewegung einen Jungen von allerhöchstens zwölf Jahren heran. »Mach dich nützlich, Gustav, und zeige den Herrschaften ihre Kabinen.«
Gustav salutierte zackig und wandte sich an Richard von Grünau zu Meersberg: »Wenn Sie mir bitte folgen würden? Die äußere Hülle der Güstrow«, referierte der Knirps, während er sie durch eine breite, mit kunstvollen Schnitzereien verzierte Flügeltür führte, »ist vollständig aus Stahl gefertigt, der Rumpf doppelwandig ausgeführt. Der Antrieb erfolgt über seitliche Schaufelräder und eine Heckschraube mit einem Durchmesser von gut sieben Metern. Im Bauch dieses Schiffes sorgen zwei Dampfmaschinen mit sechs Kesseln für eine Geschwindigkeit von bis zu zwölf Knoten.«
Charlotte konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken, während die Miene ihres Vaters gewohnt eisig blieb.
»Wenn ich an einer Lehrstunde in Sachen Dampfsegelschiff interessiert wäre, hätte ich danach gefragt«, sagte er kühl. »Und eine Führung durch die Güstrow habe ich ebenso wenig angefragt. Wie groß ist dieser verflixte Kahn eigentlich?«
Dem kleinen Gustav war deutlich anzusehen, wie sehr ihm der herablassende Tonfall des Barons gegen den Strich ging, dennoch hütete er seine Zunge.
»So, da wären wir«, sagte er schließlich, öffnete die Tür zu einer Kabine und ließ sie und ihren Vater eintreten.
Charlotte staunte. Sie hatte eine relativ überschaubare Kabine erwartet, obschon die schiere Größe der Güstrow sie bereits daran hatte zweifeln lassen. Mit einer ganzen Zimmerflut, bestehend aus einem geräumigen Wohnzimmer, einem Schlafzimmer und einem eigenen Bad, hatte sie nicht gerechnet.
Die Einrichtung war in dunklem Holz gehalten und, wie Charlotte fand, sehr stilvoll. Da sich die Kabine auf dem Oberdeck befand, gab es eine ganze Front von Fenstern, von denen man, wenn das Schiff erst auf hoher See war, sicher eine fantastische Aussicht hatte. Gleich mehrere Sitzgelegenheiten – ein samtbezogener Diwan, ein Ohrensessel aus Chintz und ein Sofa mit ebensolchem Bezug – luden zum Verweilen ein.
»Das ist …«, stieß Charlotte überwältigt hervor.
»Durchaus angemessen«, fiel ihr Vater ihr ins Wort. Selbstverständlich vermieder es, sich anmerken zu lassen, ob er beeindruckt war oder nicht, denn das ließe sich nicht mit seinem Bild eines deutschen Aristokraten vereinbaren.
Charlotte kannte solche Vorbehalte nicht. »Atemberaubend«, führte sie ihren Satz zu Ende. »Ich werde mich auf der Überfahrt nach Südamerika gewiss wie eine echte Prinzessin fühlen.«
Ihre lobenden Worte dankte der kleine Gustav ihr mit einem strahlenden Lächeln, aber natürlich musste ihr Vater einmal mehr das letzte Wort haben.
»Wie ich schon sagte, diese Unterbringung dürfte für die Tochter eines Barons einigermaßen angemessen sein. Ich würde mir nun gern meine Räumlichkeiten anschauen. Sie befinden sich doch hoffentlich gleich nebenan?«
Der Schiffsjunge nickte knapp. »Die Kabinen sind sogar durch eine Zwischentür im Bad miteinander verbunden.«
Er geleitete Richard von Grünau zu Meersberg hinaus – Charlotte blieb zurück, und zu ihrer Überraschung fühlte sie sich ein wenig verloren, jetzt, da es bald losgehen würde. Hatte sie sich mit dem Entschluss, alle Brücken hinter sich abzubrechen, vielleicht doch zu viel zugemutet? Noch war ihr Vater an ihrer Seite, aber er würde nach weiteren Verhandlungen mit ihrem zukünftigen Schwiegervater Carlos Duarte wieder aus Chile abreisen. Wie sollte sie ihr Leben dort völlig auf sich gestellt hinbekommen? Sie war bisher nie gezwungen gewesen, auf eigenen Beinen zu stehen. Konnte sie das überhaupt?
Nun, sagte sie zu sich selbst, es wird dir wohl nichts anderes übrig bleiben. Du hast dir diese Suppe eingebrockt, jetzt musst du sie auch auslöffeln.
Außerdem war da ja noch Margot.
Mit einem Mal verspürte Charlotte den unwiderstehlichen Drang, ihre alte Vertraute wiederzusehen, allerdings durfte ihr Vater auf keinen Fall bemerken, dass sie sich ebenfalls an Bord der Güstrow aufhielt. Er hatte sie entlassen und sie, ohne ihr den letzten Lohn auszuzahlen, vor die Tür gesetzt. Einfach so, nach über sechs Jahren, die Margot im Dienste der Familie gestanden hatte. Und das nur, weil …
Nein, darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken.
Beinahe hastig verließ sie die Kabine und suchte sich ihren Weg durch das Labyrinth von Gängen und Korridoren. Hier herrschte nun deutlich mehr Betrieb als noch vor wenigen Minuten. Inzwischen waren auch die letzten Mitreisenden erschienen und wurden zu ihren Unterkünften geführt. Charlotte zwang sich, jedem, der ihr begegnete, freundlich zuzunicken.
Niemand sollte ihr anmerken, wie angespannt sie war.
Als sie endlich ins Freie trat, war ihr, als würde eine zentnerschwere Last von ihr abfallen. Tief atmete sie die frische Luft ein, die nach Salz, Meer und Abenteuer schmeckte. Sie trat an die Reling und sah die Kutsche ihres Vaters mit Heinrich auf dem Bock wenden und davonfahren. In diesem Moment erschien der Bursche ihr wie die letzte Verbindung zu Schloss Meersberg und ihrer Familie – zu ihrem alten Leben –, und sie schaute dem Gefährt so lange hinterher, bis es schließlich in eine Straße zwischen den Lagerhäusern und Kontoren abbog und verschwand.
Charlotte horchte in sich hinein und fragte sich, ob es Traurigkeit war, die sie angesichts der Tatsache empfand, dass sie ihr Zuhause und all die Menschen, die sie zurückließ, niemals wiedersehen würde. Vor allem verspürte sie jedoch eins: den drängenden Wunsch, endlich aufzubrechen. Ganz gleich, was die Zukunft ihr auch bringen mochte, es konnte im Vergleich zu dem Leben in einem lieblosen Elternhaus nur eine Verbesserung darstellen.
»Fräulein Charlotte?«
Als sie Margots Stimme hinter sich vernahm, wirbelte sie herum und lief auf ihre ehemalige Zofe zu. Die drei Jahre ältere Margot stand in einer Nische zwischen zwei Rettungsbooten, wo sie nicht auf den ersten Blick zu sehen war.
Typisch Margot, dachte Charlotte. Immer darum besorgt, meinen guten Ruf zu wahren.
In diesem Moment war ihr völlig egal, ob sich ein solches Verhalten für eine junge Frau von Stand ziemte oder nicht – sie schloss Margot in die Arme und hielt nur mit Mühe die Tränen zurück.
Auch Margot war gerührt, ließ es sich jedoch kaum anmerken. Nur ihre Stimme klang etwas erstickt, als sie tadelnd sagte: »Das gehört sich aber nicht. Dennoch freue ich mich natürlich, Sie wiederzusehen.« Nervös schaute sie sich um. »Eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein. Für Reisende der zweiten und dritten Klasse ist der Zutritt zum Promenadendeck der ersten Klasse verboten. Ein Steward war so freundlich, mir ausnahmsweise Zugang zu gewähren, aber …«
Charlotte riss die Augen auf. »Soll das etwa heißen, dass wir uns nicht treffen können?«
»Nein«, beruhigte Margot sie. »Es bedeutet nur, dass ich Sie nicht besuchen darf. Wenn Sie mich sehen wollen, befürchte ich, dass Sie mich im Unterdeck aufsuchen müssen – so wenig mir das auch behagt.« Sie seufzte. »Ich meine, das ist doch kein Umgang für Sie.«
»Papperlapapp«, protestierte Charlotte. »Oberdeck, Unterdeck – was istdas schon für ein Unterschied? Macht die Tatsache, dass mein Vater sich Billetts für die erste Klasse leisten kann, mich zu einem besseren Menschen? Ich glaube kaum. Und davon abgesehen ist meine Familie längst nicht mehr so wohlhabend wie früher, das weißt du genau.«
»Trotzdem.« Man konnte Margot ansehen, wie unbehaglich sie sich fühlte. »Wirklich wohl ist mir nicht bei dem Gedanken, dass Sie sich in der Gesellschaft von Bauern und Tagelöhnern aufhalten. Was würde der Baron dazu sagen?«
»Du kannst ihn ja fragen, wenn du unbedingt willst«, entgegnete Charlotte schnippisch. »Er ist drinnen und schaut sich seine Kabine an.«
Margot erbleichte. »Er reist mit Ihnen nach Puerto Montt?«
Charlotte seufzte. »Tut mir leid, aber ich hatte keine Gelegenheit mehr, es dir mitzuteilen. Die Entscheidung ist recht kurzfristig gefallen. In seinem letzten Brief kündigte Carlos Duarte an, noch einige Details in Bezug auf die Vereinbarung zwischen unseren Familien klären zu wollen. Mein Vater hielt es für sinnvoll, sich persönlich darum zu kümmern. Ich glaube, ihm war von Anfang an nicht wohl dabei, mich mit einer so wichtigen Aufgabe zu betrauen.« Sie kicherte leise. »Vermutlich hat er schon überlegt, ob er Miguel nicht besser selbst heiraten soll.«
»Das ist nicht lustig, Fräulein Charlotte«, wies Margot sie zurecht. Sie war noch immer bleich, schien sich aber ein wenig vom ersten Schreck erholt zu haben. »Wenn der Baron herausfindet, dass ich ebenfalls an Bord bin, wird er …«
»… sich fürchterlich aufregen, aber ansonsten überhaupt nichts tun«, fiel Charlotte ihr ins Wort. »Er kann dir nicht das Geringste anhaben. Du vergisst, dass wir nicht mehr auf Schloss Meersberg sind, Margot. Auf der Güstrow zählen sein Einfluss und sein guter Name nichts. Mein Vater ist nur ein Passagier unter Hunderten.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr«, murmelte Margot wenig überzeugt. »Wir sollten trotzdem jedes Risiko vermeiden. Nicht nur um meinetwillen, sondern vor allem Ihretwegen.«
»Vergiss doch einmal einen Moment lang meinen Vater«, bat Charlotte. »Ich kann dich also auf dem Unterdeck besuchen?«
Margot zögerte kurz, nickte aber schließlich. »Ja«, entgegnete sie seufzend. »Heute allerdings nicht. Ich habe gehört, dass ein paar Leute unten ein Fest organisieren, und das ist nichts für Sie. Wenn Sie mich sehen wollen, lassen Sie mir vorher durch einen der Bootsjungen eine Nachricht zukommen. Ich werde Sie dann am Übergang zwischen erster und zweiter Klasse abholen. Sie irren mir auf keinen Fall allein auf dem Unterdeck herum, hören Sie?«
Lächelnd nahm Charlotte ihre Hand und drückte sie sanft. »Versprochen«, sagte sie. »Ach, ich freue mich schon darauf, dort unten bei euch das wahre Leben kennenzulernen.« Sie kicherte leise. »Als junges Mädchen habe ich mich immer in die Küche geschlichen, um der dicken Anni beim Kochen zuzuschauen, weißt du noch?«
»Allerdings«, erwiderte Margot. »Und ich erinnere mich auch lebhaft daran, wer sich die Standpauke Ihres Herrn Vater anhören durfte, Fräulein.«
Schuldbewusst senkte Charlotte den Blick. Es stimmte ja. Wenn sie ungezogen gewesen war, hatte fast immer Margot darunter zu leiden gehabt.
Tröstend legte sie einen Arm um die Taille der ehemaligen Zofe. »Ich weiß, und es tut mir fürchterlich leid. Ich habe dich nicht gerade selten in Schwierigkeiten gebracht, hm?«
»Das mag stimmen«, entgegnete Margot. »Aber ich habe deswegen nie Groll gegen Sie empfunden. Wirklich nicht. Für mich waren Sie immer viel mehr als meine Dienstherrin.«
Charlotte nickte energisch. »Ich weiß genau, was du meinst. Du bist für mich auch immer so etwas wie eine große Schwester gewesen. Und ich kann gar nicht in Worte fassen, wie froh ich bin, dass du mich auf dieser Reise begleitest.«
»Danken wir Pastor Liebig dafür.«
»Ich weiß nicht, gnädiges Fräulein, ob das wirklich so eine gute Idee ist«, gab Marie, das Mädchen, das Charlotte für die Dauer der Überfahrt vom Quartiermeister als Zofe zugewiesen worden war, ängstlich zu bedenken. »Ich könnte wegen dieser Sache in Teufels Küche kommen.«
»Keine Sorge«, erwiderte Charlotte und warf das blonde Haar, das sie sonst stets hochgesteckt oder geflochten trug, über die Schultern zurück. »Ich weiß genau, was ich tue, Marie. Aber hör um Himmels willen endlich auf, mich gnädiges Fräulein zu nennen!«
Es war acht Uhr, und irgendwie war es ihr gelungen, das schrecklich förmliche Abendessen im Speisesaal der ersten Klasse zu überstehen. Dabei hatte sie die ganze Zeit an das Fest auf dem Unterdeck denken müssen, von dem Margot erzählt hatte.
Die Tatsache, dass ihre frühere Zofe so vehement darauf bestanden hatte, dass sie nicht an dieser Feier teilnahm, hatte sie erst recht neugierig gemacht. So war es schon immer bei ihr gewesen. Verbote bewirkten stets das Gegenteil von dem, was damit erreicht werden sollte. Und so war es ihr nur mühsam gelungen, ihre Ungeduld zu zügeln. Halbherzig hatte sie sich an der Konversation zweier älterer Damen beteiligt, bis ihr Vater dem Elend ein Ende setzte, indem er sich in seine Kabine zurückzog.
Jetzt, eine Stunde nachdem Marie bei ihr angeklopft hatte, befanden sie sich auf dem Weg zum Bereich der zweiten und dritten Klasse. Ein wenig nervös strich Charlotte den einfachen dunkelgrauen Wollrock glatt, den Marie ihr geborgt hatte. Darüber trug sie eine schlichte weiße Bluse, unter der sie das goldene Medaillon ihrer Mutter verbarg.
Es war ein ungemein befreiendes Gefühl, einmal durchatmen zu können, ohne ständig von einem engen Korsett eingeschnürt zu sein. Sie konnte sich bewegen, wie es in einem ihrer Ballkleider niemals möglich gewesen wäre. Und als sie jetzt zusammen mit Marie durch das kleine Tor trat, das die erste Klasse vom Unterdeck trennte, klopfte ihr das Herz vor Aufregung bis zum Hals.
Leicht war es nicht gewesen, Marie zu überreden, ihr zu helfen. Das junge Mädchen fürchtete Konsequenzen, weil es ihr ein paar seiner Kleidungsstücke geborgt hatte und sie nun zu der Feier im Unterdeck begleitete. Vermutlich würde es tatsächlich Ärger geben, sollte die Angelegenheit ans Licht kommen, daher mussten sie dafür sorgen, dass niemand etwas bemerkte.
Ein Lächeln umspielte Charlottes Lippen, als sie daran dachte, was Margot für Augen machen würde, wenn sie überraschend auf der Feier erschien. Natürlich hatte sie ihre Freundin nicht darüber informiert, dass sie kommen würde. Margot wäre niemals damit einverstanden gewesen. Aber wenn Charlotte erst einmal dort war, würde ihre ehemalige Zofe nichts dagegen tun können. Margot konnte ihr einfach nicht lange böse sein.
Schon von Weitem hörte sie die Klänge eines Klaviers und die von Fiedeln, die der Wind ihnen entgegentrug. Und als Marie sie durch eine Tür in den Bauch des großen Schiffes führte, wurde die Musik lauter und die Luft heißer und stickiger.
Schließlich erhaschte Charlotte zum ersten Mal einen Blick auf die Feier, und ihr Herz begann vor Aufregung heftig zu hämmern. Männer und Frauen tanzten ausgelassen miteinander, andere tranken und rauchten. Es wurde geredet, gegessen und gelacht. Kinder tobten zwischen den Erwachsenen herum. Das Stimmengewirr war schier ohrenbetäubend, und hin und wieder hörte man, wie ein Glas zu Boden fiel und klirrend zerbarst.
Der Raum war relativ groß – trotzdem drängten sich die Menschen dicht an dicht. Überall standen Tische, auf einer kleinen improvisierten Bühne spielten zwei Geigenspieler und ein Mann mit einem Schifferklavier auf, und die Leute griffen sich an den Händen, bildeten eine Menschenschlange und zogen ausgelassen zwischen den Tischen und um die Tanzfläche umher. Die Luft war geschwängert von Bierdunst, Qualm und Schweiß.
Charlotte fand es herrlich.
»Ich sollte Sie wirklich lieber wieder zurück in Ihre Kabine bringen, gnädiges Fräulein«, flüsterte Marie ängstlich.
Doch das kam für Charlotte überhaupt nicht infrage. »Auf gar keinen Fall!«, entgegnete sie strahlend. »Und, bitte, hör endlich auf, mich gnädiges Fräulein zu nennen! Ich heiße Charlotte.«
»Ich weiß nicht, gnä… Charlotte. Ich …«
Charlotte wurde von einem jungen Mann mit roten Wangen zur Seite gedrängt. Er hielt ein halb volles Bierglas in der Hand, seine Schiebermütze saß ihm schief auf dem Kopf, und er roch penetrant nach Alkohol – der ihm vermutlich auch den Schneid verlieh, einfach auf sie zuzutaumeln und sie an sich zu ziehen.
»Na, wie sieht’s aus? Willste nich‘ mal mit mir das Tanzbein schwingen, Schönheit?«
Freundlich, aber bestimmt machte Charlotte sich von dem Betrunkenen los. »Vielen Dank, aber ich möchte lieber nicht tanzen«, sagte sie und wandte sich ab.
Doch der Mann war offenbar nicht bereit, so schnell klein beizugeben. Unsanft packte er sie am Arm und zog sie an sich. Dieses Mal blitzte etwas in seinen dunklen Augen auf, das sie schon oft in denen ihres Vaters gesehen hatte, wenn auch bei Richard von Grünau zu Meersberg stets nur in unterdrückter Form.
Zorn.
»Lassen Sie das!«, verlangte sie mit fester Stimme. Es bereitete ihr einige Mühe, sich ihre Beunruhigung nicht anmerken zu lassen, doch eines wusste sie aus jahrelanger Erfahrung: Schwäche zu zeigen machte es nur schlimmer.
»Hältst dich wohl für was Besseres, wie?«
Als er sich vorbeugte, um sie zu küssen, trat Charlotte hastig zurück. Er wankte, und der Rest seines Biers ergoss sich über ihren Rock.
Sie schrie auf.
»Hey, hey, was soll das werden, wenn es fertig ist?«
Ein junger Mann drängte sich zwischen sie und den Betrunkenen. Als der trotzdem nicht von ihr ablassen wollte, versetzte der Neuankömmling ihm einen Stoß vor die Brust, der ihn ins Taumeln geraten ließ. Er stolperte gegen eine Gruppe von Leuten, fiel und landete schließlich unsanft auf dem Hosenboden. Ungelenk rappelte er sich auf und warf Charlotte und ihrem Retter bitterböse Blicke zu. Einen Moment lang schien er zu überlegen, ob er sein Glück noch einmal versuchen sollte, entschied sich dann aber dagegen und trollte sich fluchend.
»Danke.« Charlotte wandte sich dem jungen Mann zu, der ihr zu Hilfe geeilt war.
Er war allerhöchstens ein paar Jahre älter als sie, Anfang, eventuell Mitte zwanzig. Seine dunklen Locken hingen ihm ins Gesicht, das vom Tanzen und Trinken gerötet war. Er hatte hohe Wangenknochen, fein geschwungene Lippen und dichte Brauen, was ihm, wie Charlotte fand, einen leicht überheblichen Ausdruck verlieh. Das alles nahm sie aber nur am Rande wahr, denn sie war gefesselt vom Anblick seiner Augen.
So etwas hatte sie nie zuvor gesehen.
Sie waren weder blau noch grün noch grau, sondern changierten im Schein der Gaslampen zwischen diesen Schattierungen.
Fasziniert schaute Charlotte ihn an.
»… immer so ungeniert an?«
Blinzelnd kehrte sie in die Realität zurück. Sie hatte gesehen, dass sich seine Lippen bewegten, die Worte aber nicht wirklich wahrgenommen. Jetzt zog sie die Brauen zusammen. »Wie bitte?«
Er grinste verschmitzt. »Ich habe gefragt, ob Sie alle Männer, die zu Ihrer Rettung eilen, so ungeniert anstarren.«
Charlotte spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Ihre Wangen brannten vor Verlegenheit. »Ich … habe Sie nicht angestarrt«, wies sie ihn scharf zurecht. »Jedenfalls lag das nicht in meiner Absicht. Vermutlich war es der Schreck.«
»Aber sicher«, entgegnete er schmunzelnd. »Ganz wie Sie meinen.« Er streckte ihr seine Hand entgegen. »Leander Markowitz.«
»Charlotte vo…« Sie hielt inne, als ihr klar wurde, dass sie im Begriff stand, sich zu verraten. »Einfach nur Charlotte.«
»Nun, Einfach-nur-Charlotte – es freut mich, Sie kennenzulernen. Möchten Sie vielleicht etwas trinken?«
Wieder zögerte sie. Es war vermutlich keine gute Idee, mit einem wildfremden Mann auf eine Feier zu gehen, auf der sie eigentlich nichts zu suchen hatte. Falls Margot sie zusammen sähe, würde sie vom Glauben abfallen!
Dieser Gedanke zauberte ein Schmunzeln auf ihr Gesicht. Sie blickte sich nach Marie um, doch die hatte mittlerweile ebenfalls einen Kavalier gefunden und beachtete sie überhaupt nicht mehr.
Also schön, dachte sie, warum eigentlich nicht? Sie hatte ja gesehen, wohin es führte, wenn sie sich als junge Frau allein hier aufhielt. Ein starker Beschützer, der auf sie aufpasste, konnte daher auf keinen Fall schaden.
»Ja«, sagte sie. »Gerne.«
»Wunderbar.« Er ging zu einem der Tische und nahm zwei Gläser mit dunklem Bier, von denen er ihr eins überreichte. »Prost!«, sagte er und hielt sein Glas hoch.
Lachend stieß Charlotte mit ihm an. »Prost!«
Sie hatte noch nie Bier getrunken, das ihr Vater stets abfällig als das Getränk des Proletariats bezeichnete. Umso gespannter war sie auf den Geschmack, doch angesichts der herben Bitterkeit, die auf ihrer Zunge explodierte, verzog sie das Gesicht. »Großer Gott!«
»Alles in Ordnung?« Leander musterte sie besorgt.
»Ja«, erwiderte sie und nahm einen zweiten, tiefen Zug, der ihr warm die Kehle hinunterrann, ehe sie das Glas auf dem Tisch abstellte. »Alles bestens! Kommen Sie«, sagte sie und griff nach seiner Hand. »Lassen Sie uns tanzen!«
Gemeinsam bahnten sie sich einen Weg durch die Menge. Doch als Charlotte kurz darauf Leander auf der Tanzfläche gegenüberstand, umringt von anderen Paaren, verließ sie der Mut auch schon wieder. Sie kannte die Schritte dieses Tanzes überhaupt nicht. Auf den Bällen, die sie bisher besucht hatte, wurde züchtig der Walzer getanzt. Dies hier war anders.
Vollkommen anders.
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als Leander dicht an sie herantrat, beide Arme um ihre Taille legte und anfing, sich im Rhythmus der Musik zu wiegen. Plötzlich ging alles wie von selbst. Eng an ihn geschmiegt wirbelte sie über die Tanzfläche. Ihre Füße schienen sich eigenständig zu bewegen, und Leander tat ein Übriges, um sie alle Befangenheit vergessen zu lassen. Sie sprangen und hüpften im Takt, und Charlotte war, als würde sie fliegen.
Die Welt drehte sich um sie, doch Leander hielt sie fest umfangen. In seinen Armen fühlte sie sich so sicher und behütet wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie lachte hell auf. Ihr Herz hämmerte wie verrückt, ihr war schwindelig vor lauter Aufregung und Glück.
Das war es also, was normale Menschen darunter verstanden, sich zu amüsieren. Es war in nichts mit dem vergleichbar, was sie von zu Hause kannte. Und als die Musik mit einem Paukenschlag endete, wünschte Charlotte sich, einfach weitertanzen zu können. Immer weiter und weiter, bis ans Ende aller Tage.
Im Nachhinein konnte sie selbst nicht mehr sagen, welcher Teufel sie geritten hatte, ihre gute Kinderstube derart zu vergessen, doch als sie zu Leander aufblickte und in seine eindrucksvollen Augen schaute, war es um sie geschehen. Sie ließ alle Regeln der Vernunft und des Anstands beiseite, stellte sich auf die Zehenspitzen und presste ihre Lippen auf seinen Mund.
Die Zeit schien stillzustehen.
Charlotte sah, wie Leanders Pupillen sich vor Überraschung weiteten. Er stieß ein unterdrücktes Stöhnen aus, und im nächsten Moment schlang er die Arme noch fester um sie und zog sie an sich, sodass kein Blatt Papier mehr zwischen ihre erhitzten Körper gepasst hätte.
Charlotte hatte bisher nur in den unanständigen Romanen, welche die Köchin Anni regelrecht verschlang, von Küssen gelesen. Dass es sich so anfühlen würde, damit hatte sie nicht gerechnet.
Es war überwältigend.
Ihr Herz hämmerte, und das Blut rauschte ihr in den Ohren. Flüssiges Feuer pulsierte durch ihren Körper, schoss in ihre Adern und setzte sie innerlich in Flammen.
»Fräulein Charlotte, was tun Sie denn da! Und was machen Sie überhaupt hier?«
Margots entsetzte Stimme beendete das Ganze so abrupt, wie es begonnen hatte. Leander ließ plötzlich von ihr ab und taumelte einen Schritt zurück, während Charlotte schwer atmend an Ort und Stelle blieb.
Ihre Wangen brannten. Das Bier, das ihren Bauch bisher mit wohliger Wärme erfüllt hatte, weckte mit einem Mal Übelkeit bei ihr. Sie schluckte hart. Schluckte noch einmal.
Die Musik war ebenso verstummt wie sämtliche anderen Geräusche. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, und Charlotte hatte das Gefühl, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren. Jeder Moment schien sich zu einer kleinen Ewigkeit auszudehnen. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus.
Sie wirbelte auf dem Absatz herum, stürmte die Treppe hinauf und durch die offen stehende Tür nach draußen aufs Deck, ohne auf Leander zu achten, der ihr nachrief.
Schwer stützte sie sich auf die Reling. Das Meer tief unter ihr war schwarz, die Wellenkämme schimmerten silbrig im Mondschein. Eine kühle Brise wehte ihr ins Gesicht, während sie durchatmete.
Als sie Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich langsam um.
Es war Margot.
»Fräulein Charlotte!« Die ehemalige Zofe trat auf sie zu. »Was ist da unten passiert? Was, um Himmels willen, ist in Sie gefahren, dass Sie … Wieso sind Sie überhaupt hier? Habe ich mich denn nicht klar ausgedrückt?«
»Margot, bitte!« Charlotte barg das Gesicht in den Händen. »Eine Strafpredigt ist wirklich das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann. Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe.«
»Allerdings, das haben Sie! Sie hätten niemals entgegen meines ausdrücklichen Rats hier herunterkommen dürfen. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass dieser Umgang nichts für Sie ist. Warum konnten Sie nicht ein einziges Mal auf mich hören, Fräulein?«
Charlotte senkte den Blick.Sie wusste, dass Margot recht hatte. Aber das änderte nichts daran, dass sie nicht wirklich bereuen konnte, was geschehen war.
Nicht die Feier und auch nicht den Tanz mit Leander.
Und schon gar nicht den Kuss.
Es war absurd, doch sie hatte noch nie etwas so sehr genossen wie diesen kurzen Augenblick in Leanders Armen. Und selbst wenn er sich als der größte Fehler in ihrem Leben herausstellen sollte – sie wollte ihn um nichts in der Welt missen.
»Sie fahren nach Chile, um zu heiraten«, erinnerte Margot sie sanft. »Vergessen Sie das bitte nicht.«
Charlotte seufzte. Wie könnte sie das vergessen? Schließlich hatte sie sich auf dieses Arrangement eingelassen, um etwas über ihre Mutter zu erfahren. Unwillkürlich umfasste sie das goldene Medaillon, das sie seit dem Tag, an dem sie es in der Kiste auf dem Dachboden entdeckte hatte, bei sich trug. »Es hat sich nichts an meinen Plänen geändert«, antwortete sie. »Du kannst ganz unbesorgt sein, Margot.«
Doch ihre ehemalige Zofe wirkte nicht überzeugt. Sie ergriff Charlottes Hand.»Sie dürfen diesen jungen Mann niemals wiedersehen, hören Sie? Sonst geschieht am Ende noch ein Unglück!«
Charlotte atmete tief durch. »Es ist wohl besser, wenn ich jetzt gehe«, sagte sie.
»Ja«, entgegnete Margot leise. »Ja, das ist es. Und passen Sie lieber auf, dass Ihr Vater Sie nicht in diesem Aufzug sieht. Ich glaube nicht, dass er dafür Verständnis aufbringen würde.«
Ohne ein weiteres Wort raffte Charlotte ihren Rock und lief zurück zum Tor, durch das man in die erste Klasse gelangte. Ehe sie den Korridor betrat, blickte sie sich vorsichtig um.
Es war tatsächlich besser, niemandem über den Weg zu laufen. Nicht in diesem Aufzug. Es würde nur unnötig Fragen aufwerfen. Margot hatte recht: Wenn ihr Vater sie so sähe … Sie wollte lieber gar nicht daran denken.
Sie huschte zurück auf ihr Zimmer, schloss die Tür hinter sich und legte die Stirn an das kühle Holz. Was für ein Abend!
Rasch schlüpfte sie aus den geliehenen Kleidungsstücken und faltete sie ordentlich zusammen, was angesichts des Bier- und Qualmgeruchs, der ihnen anhaftete, wenig sinnvoll erschien. Doch sie musste einfach etwas tun, um ihre Hände zu beschäftigen. Mit ihren Gedanken war sie ohnehin ganz woanders.
Sie konnte nichts dagegen tun: Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie Leanders Gesicht vor sich. Dann fühlte sie wieder einen Nachhall dessen, was sie empfunden hatte, als er sie geküsst hatte.
Als du ihn geküsst hast …
Es fiel ihr schwer zu begreifen, dass die Initiative tatsächlich von ihr ausgegangen war. Margot hatte jedes Recht, sie für ihr Verhalten zu schelten. Was war bloß in sie gefahren? Sie hatte sich mitreißen lassen von einem Strudel, der stärker, viel stärker gewesen war als sie selbst. Und für einen Moment hatte sie beinahe vergessen, wer sie war und – noch schlimmer – wohin sie unterwegs war.
Anders als Margot, die in Ludwig im fernen Chile einen Seelengefährten gefunden zu haben schien, konnte sie für ihren zukünftigen Gatten keine Zuneigung empfinden. Wie auch? Er hatte sich nicht im Geringsten darum bemüht, sie für sich zu gewinnen. Hätte er wenigstens einen einzigen ihrer Briefe beantwortet, vielleicht hätten sich die Dinge vollkommen anders entwickelt. Doch so existierte Miguel für sie nur als eine verschwommene Erinnerung von jenem Ball, bei dem sie allenfalls ein paar Worte miteinander gewechselt hatten.
Leander hingegen …
Vergiss ihn, riet ihr die Stimme der Vernunft, Margot hat recht, es kann nicht gutgehen.
Niemals.
Doch das hielt sie nicht davon ab, von ihm zu träumen.
Und auch als sie etwas später in ihrem geräumigen Bett lag, die Augen schloss und verzweifelt den Schlaf herbeisehnte, schlich Leander sich wieder in ihre Gedanken. Erst als sie das Medaillon ihrer Mutter mit den Fingern umschloss, stellte sich endlich ein wenig innere Ruhe bei ihr ein.
Sie atmete tief durch und sank in leichten traumlosen Schlaf.
»Wir haben letzte Nacht den Ärmelkanal hinter uns gelassen und befinden uns jetzt auf dem Atlantik«, erklärte Harald Brunner und lächelte selbstzufrieden. Ihm und seinem Bruder gehörte die Reederei, unter deren Flagge die Güstrow fuhr. »Das bedeutet, dass der Kapitän ab heute auch den zweiten Kessel unter Dampf setzen und das Schiff somit auf volle Fahrt bringen kann.«
Während die anderen Personen am Tisch – selbst ihr Vater – angemessen interessiert zu sein vorgaben, starrte Charlotte gedankenverloren auf die blütenweiße Damasttischdecke vor ihr. Das Klimpern und Klirren des Silberbestecks auf feinem Porzellan erfüllte die Luft und vermischte sich mit dem Gemurmel gedämpfter Unterhaltungen. Hin und wieder lachte jemand gekünstelt, doch sogar das nur so leise, dass es sich am Rande des Hörbaren bewegte.
Der Saal, der dafür ausgelegt war, dass bis zu sechzig Menschen gleichzeitig ihre Mahlzeit darin einnehmen konnten, nahm gut ein Drittel des gesamten Oberdecks ein. Die runden Tische, die Platz für jeweils acht Erste-Klasse-Passagiere boten, waren in großzügigem Abstand zueinander aufgestellt, sodass sich niemand eingeengt oder gar beobachtet fühlen musste. Über jedem Tisch hing ein wuchtiger Kronleuchter, dessen Kristalle im Schein der Gaslampen funkelten.
Bei der Ausstattung des Speisesaals war das Augenmerk auf größtmöglichen Komfort und Luxus gelegt worden. An jede erdenkliche Bequemlichkeit hatte man gedacht. Unwillkürlich erinnerte Charlotte sich daran, wie karg und spartanisch im Vergleich dazu das Gemeinschaftsdeck der zweiten und dritten Klasse eingerichtet war. Funktionalität statt Behaglichkeit war es, was dort zählte, doch wieso wunderte sie das eigentlich? Sie kannte schließlich die Dienstbotenquartiere im Haus ihrer Familie. Abgesehen von Joseph, dem persönlichen Diener ihres Vaters, und Frau Sander, der Hausdame, teilten sich immer mindestens zwei Angestellte eine winzige Kammer. Und von ihren Streifzügen durch die Umgebung von Grünau wusste sie, dass viele Bauern mit ihren Familien beengt in kleinen Katen lebten, teilweise mit mehr als einem halben Dutzend Kinder.
Als Tochter des Barons war sie vielleicht nicht in so großem Luxus aufgewachsen, wie man ihn von einer Person ihres Standes erwarten mochte, aber im Vergleich zum gewöhnlichen Volk war es ihr doch gut ergangen. Sie hatte nie Hunger leiden müssen, ganz gleich wie schlecht die Ernte gewesen war, und auch wenn man Schloss Meersberg niemals wirklich warm bekam – sie hatte selbst im tiefsten Winter nicht frieren müssen.
Margot war ein dürres Kind gewesen, viel zu klein für ihre damals vierzehn Jahre, als sie in den Haushalt des Barons gekommen war. Die Zofe war nie müde geworden, ihr vorzuschwärmen, wie wunderbar sie das Leben im Schloss fand.
Leander kannte Hunger und Kälte vermutlich ebenso gut wie Margot und die meisten Menschen, die auf den unteren Decks der Güstrow reisten.
Leander …
Zwei Tage waren seit ihrer Begegnung mit ihm vergangen – sie nannte es »Begegnung«, weil sie es nicht wagte, das Kind beim Namen zu nennen, nicht mal sich selbst gegenüber –, und sie konnte trotzdem kaum an etwas anderes denken als an ihn.
Selbstverständlich wusste sie, dass es besser war, sich von ihm fernzuhalten, um sicherzustellen, dass so etwas wie am Abend, an dem die Güstrow in See gestochen war, nicht noch einmal geschah. Dass sie seitdem mindestens zweimal am Tag Margot auf dem Unterdeck besuchte, hatte natürlich absolut nichts mit ihm zu tun. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie immerzu nach jemandem Ausschau hielt, wenn sie mit ihrer Freundin umherspazierte.
Wem versuchst du hier eigentlich etwas vorzumachen?
»… nicht wahr, Fräulein Charlotte?«
Als Charlotte ihren Namen hörte, blinzelte sie überrascht. »Entschuldigung, wie bitte?«
Frau von der Naulitz, eine ältere Dame, die ihr silbergraues Haar stets zu einem strengen Knoten im Nacken zusammengefasst trug, lächelte milde. »Sie sind heute Abend wohl nicht ganz bei der Sache, Kindchen. Geht es Ihnen gut?«
Charlotte nickte hastig, denn sie spürte sofort den stechenden Blick ihres Vaters auf sich ruhen. Innerlich rief sie sich zur Ordnung. Kein Mensch durfte je erfahren, was wirklich in ihr vorging – schon gar nicht Richard von Grünau zu Meersberg.
Zum Glück hatte sie bei ihrer Stippvisite auf dem Unterdeck niemand erkannt – es war tatsächlich, wie man sagte: Kleider machen Leute. Die Menschen erwarteten nicht, dass eine junge Frau in der einfachen Kleidung eines Dienstmädchens in Wahrheit der höheren Gesellschaft angehörte. So erntete sie, wenn sie Margot besuchte, zwar eine Menge neugieriger Blicke, doch kein Mensch schien auf den Gedanken zu kommen, dass sie und das Mädchen vom Abend der Feier ein und dieselbe Person sein könnten.
Und das war gut so, denn Margot hatte recht: Wenn auch nur der Hauch eines Zweifels auf ihre Ehrenhaftigkeit fiele, bedeutete dies eine Gefahr für ihre Hochzeitspläne in Chile. Miguel Duarte würde mit Sicherheit keine Frau heiraten, deren Tugendhaftigkeit er sich nicht gewiss sein konnte. Und zweifellos würde ihr Vater ihr das nie verzeihen.
Niemals.
Nein, das durfte auf keinen Fall geschehen. Nicht, weil sie etwas für Miguel empfand oder weil ein solcher Skandal Schande über ihre Familie bringen konnte. Auch nicht aus Furcht davor, dass ihr Vater ihr das Leben zur Hölle machen würde. Sie dachte dabei vor allem an ihre geheimen Pläne. Und eines stand fest: Sollte die Hochzeit platzen, würde man sie sofort nach Hause schicken. Damit verlöre sie die einzige Chance, herauszufinden, was wirklich mit ihrer Mutter geschehen war.
Insgeheim hoffte Charlotte, dass Frederike von Grünau zu Meersberg noch lebte.
Sie hatte die Wahrheit von Margot erfahren. Unabsichtlich. Es war der Zofe herausgerutscht, als Charlotte ihr das Medaillon zeigte, das sie auf dem Dachboden gefunden hatte. Margot wiederum wusste es von anderen Dienstboten. Wie es schien, waren alle auf Schloss Grünau eingeweiht, nur sie nicht.
Es war dumm von ihr gewesen, gleich zu ihrem Vater zu laufen, um ihn damit zu konfrontieren. Ein unverzeihlicher Fehler, den sie auch heute noch bedauerte. Der Baron war außer sich gewesen vor Wut, und Margot hatte die Zeche für Charlottes Unbedarftheit zahlen müssen. Er hatte der Zofe fristlos gekündigt und sie noch in derselben Nacht des Schlosses verwiesen.
Zum Glück war es Margot gelungen, eine Anstellung als Küchenhilfe im Gasthof von Meersberg zu ergattern, ansonsten wäre es ihr schlecht ergangen. Charlotte war sehr froh darüber.
Seitdem sie erfahren hatte, dass ihre Mutter kurz nach ihrer Geburt vor ihrem despotischen Ehemann davongelaufen war, träumte sie davon, ihr eines Tages zu begegnen. Es gab so viele Fragen, die ihr auf der Seele brannten. Warum hatte Frederike ihre hilflose kleine Tochter zurückgelassen? Wieso hatte sie nie wieder von sich hören lassen? Hatte sie ihr Glück gefunden im fernen Chile? Vielleicht sogar mit einer neuen Familie, neuen Kindern?
Dieser Gedanke ließ Charlottes Herz schwer werden. Sie wollte nicht daran denken, dass ihre Mutter sie für ein anderes Leben eingetauscht hatte. Nein, bestimmt war alles ganz anders. Etwas musste vorgefallen sein, das es ihr unmöglich gemacht hatte, länger bei ihrem Ehemann auszuharren.
Es musste einfach so sein. Alles andere erschien Charlotte unvorstellbar.
Und wenn sie ihre Pläne weiter verfolgen wollte, durfte so etwas wie mit Leander nicht noch einmal geschehen.
»Es ist wirklich ein sehr … prachtvolles Schiff«, sagte sie in der Hoffnung, dass sich das Gespräch nach wie vor um die Güstrow drehte. »Wie lange wird die Überfahrt bis nach Puerto Montt denn dauern?«
Frau von Naulitz, Herr Brunner und die anderen am Tisch – ein älteres Hamburger Händlerehepaar und ihr Sohn, der etwas älter war als Charlotte und ihr auf ziemlich unverschämte Weise schöne Augen machte – musterten sie ein wenig überrascht. Offenbar hatte sie einen größeren Teil der Unterhaltung verpasst.
Ihre Wangen wurden heiß.
»Ich meine, das ist es doch wirklich«, sprach sie weiter. »Ich habe noch nie ein so großes Schiff gesehen. Wie viele Passagiere befinden sich eigentlich an Bord?«
Brunner schmunzelte. »Oh, wenn wir jeden verfügbaren Raum ausnutzen, kann die Güstrow nahezu eintausend Menschen aufnehmen. Die Überfahrt wird alles in allem nicht einmal vierzehn Tage dauern – sehr viel weniger also, als die Atlantiküberquerung mit einem gewöhnlichen Segelschiff dauert.«
»Für meinen Geschmack dürfte es ruhig noch ein bisschen schneller gehen«, konstatierte Charlottes Vaters, der wie immer eine kritische Bemerkung nicht zurückhalten konnte. »Ein viel beschäftigter Mann wie ich kann es sich nun einmal nicht erlauben, seine Zeit unnütz zu verschwenden. Aber was tut man nicht alles für die Familie.«
Nur mit Mühe gelang es Charlotte, ein ungläubiges Auflachen zu unterdrücken. Es war ein seltsames Gefühl, ihren Vater so reden zu hören. Ausgerechnet ihn, der sich nie auch nur ansatzweise um das Wohlergehen seiner Kinder geschert hatte. Doch sie zwang sich, lieber nichts zu sagen. Es brachte nichts, seinen Zorn auf sich zu ziehen.
Zwar dauerte es einen Moment, aber dann kam die Unterhaltung wieder in Gang, und Charlotte konnte erleichtert aufatmen. Ihre Tischnachbarn überschlugen sich schier in ihren Begeisterungsbekundungen, was die Güstrow betraf, während sie kaum zuhörte. Zumindest bis zu dem Augenblick, in dem sich die Tür des Speisesaals öffnete und jemand zu ihnen an den Tisch trat.
Charlotte stockte der Atem, als sie aufblickte.
Das war ja … Aber wie war das möglich?
Es war Leander. Auch wenn er vollkommen anders aussah als am Abend der Feier, konnte daran kein Zweifel bestehen.
Er trug eine dunkelblaue Uniform, dazu ein weißes Hemd und auf Hochglanz polierte schwarze Schuhe. Die dunklen Locken hatte er zurückgekämmt und unter einer marineblauen Schirmmütze verborgen, was ihn strenger und erwachsener erscheinen ließ. Er schaute sie nicht direkt an, doch sie spürte, dass er sie aus dem Winkel seiner erstaunlichen Augen musterte, die im Schein der Gaslichter des Speisesaals grünlich grau schimmerten.
Als er neben Harald Brunner stand, beugte er sich vor und flüsterte dem Eigner etwas ins Ohr. Der ältere Mann runzelte die Stirn, nickte dann aber.
»Danke, Sie können sich zurück auf Ihren Posten begeben.«
Leander entfernte sich, ohne noch einmal zu Charlotte zu blicken, und Brunner erhob sich seufzend. »Ich bitte um Verzeihung – die Pflicht ruft. Wir werden, bevor wir unser Ziel erreichen, sicher noch ausreichend Gelegenheit haben, unsere Unterhaltung fortzusetzen.«
Er nickte in die Runde und machte Anstalten zu gehen.
Charlotte konnte nicht mehr an sich halten. Ohne sich dessen, was sie tat, bewusst zu sein, fragte sie: »Herr Brunner, wer war das gerade?«
Harald Brunner hob überrascht eine Braue, und Charlotte merkte, wie ihr Vater sich neben ihr versteifte.
»Charlotte, was soll denn das?«, sagte der Baron mit schneidender Stimme.
»Sie meinen den jungen Matrosen?«, fragte Brunner nach. »Er ist Maat hier auf der Güstrow. Leander Markowitz. Ein guter Mann, soweit ich das einschätzen kann. Wieso fragen Sie?«
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, doch sie schaffte es, sich nicht anmerken zu lassen, was wirklich in ihr vorging, und zauberte sogar ein Lächeln auf ihre Lippen. »Er kam mir nur irgendwie bekannt vor. Vielleicht kommt er ja aus der Umgebung von Grünau.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, erwiderte Brunner. »Soweit ich weiß, stammt er aus einer armen Bauernfamilie aus dem tiefsten Ostpreußen und ist der erste Nachkomme, der das heimische Dorf je verlassen hat.«
»Dann … habe ich mich vermutlich geirrt.«
»Sie entschuldigen mich jetzt?«
Charlotte atmete tief durch. »Aber natürlich.«
Sie spürte den scharfen Blick ihres Vaters, der auf ihr ruhte, reagierte jedoch nicht darauf. Trotzdem war sie nervös. So sehr, dass sie erschrocken zusammenzuckte, als der Kellner an ihren Tisch trat.
»Was ist denn los mit dir?«, zischte Richard von Grünau zu Meersberg ihr zu. »Du benimmst dich vollkommen unmöglich!«
»Nichts«, sagte sie. »Alles ist in bester Ordnung. Mach dir meinetwegen keine Gedanken.«
Als ob er das jemals getan hat …
Das Abendessen wurde auf silbernen Tabletts aufgetragen und auf Tellern aus feinstem Porzellan serviert. Das Rindfleisch war zart und saftig, duftete herrlich und schmeckte köstlich, doch wirklich genießen konnte Charlotte die Mahlzeit nicht. Ihre Gedanken schwirrten die ganze Zeit um Leander.
Sie hatte geglaubt, dass er sich als Reisender der zweiten oder dritten Klasse an Bord der Güstrow befand. Dass er zur Mannschaft des Dampfseglers gehörte, war eine Überraschung.
Ob er sie auch erkannt hatte? Den verstohlenen Blicken nach zu urteilen, mit denen er sie gemessen hatte, konnte daran kaum ein Zweifel bestehen.
Was er jetzt wohl von ihr denken mochte? Er musste ebenfalls erstaunt gewesen sein, sie hier zu sehen. Gekleidet nach der neuesten Pariser Mode und elegant frisiert, ähnelte sie dem Mädchen, mit dem er auf dem Fest auf dem Unterdeck getanzt hatte, nur noch sehr entfernt.
Warum kümmert es dich überhaupt, was er von dir denkt?, fragte sie sich. Bist du dir nicht gerade eben erst erneut darüber klar geworden, dass du nicht riskieren darfst, ihn jemals wieder zu treffen?
Das stimmte – doch es hinderte ihr Herz nicht daran, bei dem Gedanken an Leander heftiger zu schlagen. Dass sie ihn wiedergesehen hatte, machte es für sie nicht leichter.
Mechanisch brachte sie das Essen hinter sich und entschuldigte sich, sobald es die Regeln von Anstand und Höflichkeit zuließen – erneut, ohne auf ihren Vater zu achten, der ärgerlich die Stirn runzelte. Charlotte eilte nach draußen, weil sie das Gefühl hatte, im Inneren des Schiffes nicht mehr atmen zu können. Alles erschien ihr plötzlich so eng, so erdrückend.
Sie lief bis ganz ans Ende des Hecks, wo sich ein kleines Promenadendeck mit Sonnenstühlen befand, das die Passagiere der ersten Klasse zum Verweilen einlud. Zu dieser späten Stunde bestand kaum Gefahr, dass ihr jemand begegnete. Und das war gut so, denn was sie im Augenblick brauchte, war Ruhe. Ruhe, um gründlich über alles nachdenken zu können.
Tief atmete sie durch. Mittlerweile war es dunkel geworden, und der Nachthimmel verschmolz mit der Schwärze des Wassers am Horizont. Über ihr funkelten die Sterne, und der Mondschein ließ die Schaumkronen der Wellen geheimnisvoll schimmern.
Sie merkte selbst erst, dass sie weinte, als ihre Sicht verschwamm und sie sich mit dem Handrücken über das Gesicht wischte. Das war ganz und gar untypisch für sie. Sie hatte nie zu den Mädchen gehört, die beim kleinsten Anlass in Tränen ausbrachen. Die strenge Erziehung ihres Vaters hatte sie gelehrt, dass Jammern und Schluchzen sie nicht weiterbrachte. Wenn man etwas erreichen wollte, musste man unbeirrt und konsequent an der Umsetzung seines Traumes arbeiten und sein Ziel niemals aus den Augen verlieren.
Und genau das würde sie ab sofort beherzigen.
Ihr Ziel war es, möglichst viel über das Schicksal ihrer Mutter herauszufinden, und nichts und niemand würde verhindern, dass sie das am Ende auch erreichte.
Dass sie einen Mann heiraten sollte, den sie im Grunde genommen nicht kannte, bereitete ihr dabei wenig Kopfzerbrechen. In den Kreisen, in denen ihre Familie verkehrte, kamen arrangierte Ehen nicht eben selten vor. Und viele von ihren Cousinen und Schulfreundinnen waren mit den Ehemännern, die man für sie ausgesucht hatte, äußerst glücklich.
Natürlich gab es auch Negativbeispiele. Ihre eigene Mutter war wohl der eindeutige Beweis dafür, dass solche Arrangements nicht immer funktionierten. Sie war mit Richard von Grünau zu Meersberg verheiratet worden, weil er als einziger Nachkomme eines alten Adelsgeschlechts eine gute Partie zu sein versprach. Der Charakter ihres zukünftigen Mannes war bei der Vereinbarung, die Frederikes Eltern mit ihm geschlossen hatten, nicht relevant gewesen.
Miguel Duarte jedoch schien, zumindest auf den ersten Blick, ein recht passabler Heiratskandidat zu sein. Die paar Minuten, die sie einander auf dem Ball im Hause ihres Vaters gesehen hatten, waren natürlich nicht ausreichend gewesen, sich wirklich kennenzulernen. Immerhin war er ein ansehnlicher, wenn auch ein wenig langweiliger junger Mann, der mit seiner oliv getönten Haut, dem dunklen Haar und den schwarzen Augen die Aufmerksamkeit der meisten Mädchen auf sich zog.
Im Grunde hatte sie schon immer gewusst, dass ihr Vater eines Tages versuchen würde, den größten Nutzen aus ihr zu schlagen. Für sie als Tochter kam hier im Grunde nur eine in wirtschaftlicher Sicht vorteilhafte Verheiratung infrage. Ihr Bruder Johannes würde die Baronie und alle dazugehörigen Vorteile und Verpflichtungen erben.
Charlotte war froh darüber, nicht an seiner Stelle zu sein, denn die Verpflichtungen überwogen die Vorteile in beträchtlichem Maße. Der Titel von Grünau zu Meersberg mochte klangvoll und mit großem gesellschaftlichem Ansehen verbunden sein, doch die Tage, in denen die Familie auch finanziell gut dagestanden hatte, lagen lange zurück. Burg Meersberg, ihr Herrensitz, war ein alter zugiger Kasten, der im Winter nur schwer warm zu bekommen war. Die Einrichtung stammte zum Teil noch aus dem Mittelalter. Der gesamte Südflügel stand vollständig leer und verfiel von Jahr zu Jahr zusehends, weil das Geld für notwendige Reparaturen fehlte. Durch ihre Einheirat in die Familie Duarte hoffte der Baron nun, sich wirtschaftlich gesundstoßen zu können. Und zwar durch den Handel mit Salpeter.
Chilesalpeter war eine Substanz, die in weiten Gebieten Südamerikas, vor allem aber in Chile vorkam, wo man ihn in fünfzehn Zentimeter bis dreieinhalb Meter dicken Schichten, sogenannten Caliches, im Boden fand.
Charlotte hatte einiges über Chile als Nation und die Gewinnung von Salpeter gelesen. Wenn sie schon in ein fremdes Land ging, dann wollte sie zumindest wissen, was da auf sie zukam.