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SAG: JA, ICH WILL Solange die scheue Fern zurückdenken kann, war Josh Adams ihr heimlicher Traummann - und sie für ihn immer nur die kleine Schwester seines besten Freundes! Nie hätte sie gewagt, ihm ihre große Sehnsucht zu gestehen! Doch jetzt bringt eine verrückte Schatzsuche quer durch London sie und Josh als Team zusammen. Am Trafalgar Square treffen sie sich, im Covent Garden tanzt Josh mit ihr. Und in der National Gallery küsst er sie zum ersten Mal unendlich zärtlich! Sieht er in Fern endlich, was sie wirklich ist - die Frau ist, die mit ihm ihr Leben verbringen will? HERZ AN HERZ Niemals hätte der smarte Bankdirektor Paulo Dantas gedacht, dass er jemals in eine so schwierige Situation kommen würde: Seit Isabella, die Tochter seines langjährigen Freundes Luis Fernandes, zu ihm nach London geflüchtet ist, gerät er jeden Tag in Versuchung. Isabella, die nach einem One-Night-Stand schwanger wurde, ist, wie Paulo glaubt, nur zu ihm nach London gekommen, weil sie Angst hatte, dass ihr strenger Vater von ihrem Zustand erfahren könnte. Niemals kann Paulo diese Notsituation ausnutzen - auch wenn Isabella ihn noch so verführerisch umgarnt. Er ahnt nicht, dass sie schon seit Jahren heimlich für ihn schwärmt und sich nichts sehnlicher wünscht, als endlich in seinen Armen glücklich zu werden... EIN ABENTEUER ZUVIEL? Für die behütet aufgewachsene Ruth, Tochter eines Vikars, ist jeder Tag in London ein Abenteuer. In der Redaktion der Zeitschrift "Issues" lieben alle das hübsche, schüchterne Mädchen, das ihnen die Welt mit ganz anderen Augen zeigt. Das bleibt auch ihrem Chef Franco Leoni, der keine Affäre auslässt, nicht verborgen. Er bietet ihr an, mit ihm zusammen Material für eine Reportage über Londons Nachtleben zu sammeln. Ruth wird klar, was Franco wirklich will. Und der Gedanke, von diesem erfahrenen Mann zum ersten Mal geliebt zu werden, gefällt ihr. Bereitwillig lässt sie sich von ihm verführen - ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass eine Liebesnacht auch Folgen haben kann... DEIN LÄCHELN MACHT MICH GLÜCKLICH Es ist der zierlichen Darcy furchtbar peinlich, als sie im Schloss des attraktiven Multimillionärs Logan McKenzie die Beherrschung verliert und in seinen Armen hemmungslos schluchzt! Aber seine Besorgnis, nachdem sie sich bei Aufräumungsarbeiten des Partyservice verletzt hat, und seine zärtlichen Küsse haben ihr einfach die Selbstbeherrschung geraubt! Und so erzählt sie ihm, dass sie so verzweifelt ist, weil ihr Chef heiraten will. Natürlich glaubt Logan, Darcy sei in ihn verliebt. Schade - das Mädchen mit dem unwiderstehlichen Lächeln würde er zu gern selbst erobern! Und weil sie ihm nach diesem Abend nicht mehr aus dem Kopf geht, fährt Logan nach London, um sie wiederzusehen... MIT DEN AUGEN DER LIEBE Ein Date mit dem faszinierenden Milliardär Luc Laughton! Seit Agatha in London als Sekretärin für ihn arbeitet, hat Luc durch sie hindurchgesehen. Und jetzt lässt sein Blick sie nicht mehr los. Weil sie ihre Strickjacke und den langen Wollrock gegen ein enges Shirt und einen Minirock getauscht hat? Aufgeregt begleitet sie Luc in sein luxuriöses Penthouse und lässt sich zu einer heißen Affäre verführen. Verliebt genießt sie das Leben der Reichen und Schönen an seiner Seite. Doch kaum gesteht sie ihm ihre romantischen Gefühle, zerplatzt ihr Glück wie eine Seifenblase …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 992
Fiona Harper, Sharon Kendrick, Cathy Williams, Carole Mortimer
Traummänner & Traumziele: London
Fiona Harper
Sag: Ja, ich will
IMPRESSUM
JULIA erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG, 20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1
© 2008 by Fiona Harper Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V., Amsterdam
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIABand 1873 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: AlexaChrist
Fotos: RJB Photo Library
Veröffentlicht im ePub Format im 12/2010 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-86295-413-1
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
„Nein, ich kann nicht. Ich kann das nicht tun!“
Der sichere Erdboden war so furchtbar weit weg. Fern Chambers blickte in den Abgrund hinunter und spürte, wie eine Welle der Übelkeit in ihr aufstieg. Die Themse glitzerte in der strahlenden Junisonne, während die Bewohner von London rund fünfzig Meter weiter unten ihren täglichen Geschäften nachgingen. Irgendjemand hinter ihr murmelte ungeduldig: „Springt sie jetzt, oder springt sie nicht?“
Sie schluckte. Ihr Körper war völlig verkrampft. Rasch schloss sie die Augen, doch das machte alles nur noch schlimmer. Der dumpfe Verkehrslärm schwoll an, und das Bungeeseil um ihre Füße pendelte im Wind. Fern taumelte.
Nein. Sie würde das nicht tun.
Hektisch wollte sie zurückweichen, öffnete die Augen und suchte verzweifelt nach Worten, um dem Veranstalter zu sagen, dass dies ein furchtbares Missverständnis war. Doch ehe sie auch nur einen Ton herausbekam, spürte sie plötzlich zwei Hände um ihre Taille.
„Es geht dir gut. Nicht wahr, Fern?“
Im ersten Moment vergaß sie beinahe, wo sie war – hoch oben auf einem Kran am Ufer der Themse. Genauso wie sie beinahe die Menge der Schaulustigen und die Organisatoren dieser Wohltätigkeitsveranstaltung vergaß, die von unten zu ihr raufblickten. Diese Stimme kannte sie!
Josh war hier.
Er stand direkt hinter ihr und flüsterte ihr beruhigende Worte ins Ohr. Zwar schien ihr Puls nicht zu wissen, ob er sich beschleunigen oder lieber ganz zum Stillstand kommen sollte, dennoch fühlte sie sich merkwürdigerweise sicher, jetzt, wo er ihr so nah war, dass sie seinen Herzschlag spüren konnte.
„Ja“, wisperte sie. Halb glaubte sie selbst daran.
„Also … Ich werde bis drei zählen, und wenn ich ‚jetzt‘ sage, dann lässt du dich einfach fallen.“
Er besaß diese wunderbar tiefe Stimme. Sie war so verzaubert von deren Klang, dass sie seine eigentlichen Worte kaum registrierte. Urplötzlich sagte er ‚drei‘.
„Aber ich …“
Er schrie nicht – das nächste Wort sprach er ganz sanft. „Jetzt.“
Im nächsten Moment fiel sie – sie fiel und fiel, und ihr stockte der Atem, sodass sie nicht mal schreien konnte.
Drei Tage zuvor
„Nein danke.“ Fern schüttelte einmal kurz den Kopf und hoffte, dass Lisette die Botschaft verstand. Natürlich hätte sie es besser wissen müssen. Ihre Freundin hielt ihr mit der Gabel irgendein schleimig aussehendes Zeug vors Gesicht – so nah, dass sie schielen musste, um überhaupt einen Blick darauf werfen zu können.
„Na los! Probier es.“
„Wirklich nicht, Lisette. Nein. Ich mag keine Meeresfrüchte.“
„Es ist Tintenfisch. Schmeckt beinahe nach nichts.“ Auffordernd fuchtelte sie mit der Gabel vor ihrer Nase herum. „Seit über einem Jahr kommen wir einmal im Monat zu Giovanni, und du isst immer dasselbe.“
Fern schob die Gabel mit der Hand zur Seite. „Ich mag Pasta Primavera. Es ist mein Lieblingsgericht.“
Lisette warf ihre Gabel auf den Teller. „Es ist langweilig, das ist es.“
„Es ist sehr lecker. Außerdem riskiere ich nicht, eine Lebensmittelvergiftung zu bekommen, falls es nicht richtig gekocht oder aufbewahrt wurde.“
„Da spricht doch die wahre Gesundheits- und Sicherheitsexpertin aus dir.“
Fern drehte Spaghettis mit der Gabel auf und führte sie zum Mund. Dabei schaute sie ihre Freundin trotzig an. Lisette machte sich ständig über ihren Job lustig. Verärgert nahm sie noch einen Schluck Wein. Nicht jeder konnte einen so ausgefallenen Beruf haben wie Lisette. Und selbst wenn ihr Job nach langweiliger Routine klang – immerhin half sie Menschen. Sie sorgte für deren Sicherheit.
„Wo wir gerade von der Arbeit sprechen – was machst du nächste Woche?“
Genüsslich nahm Lisette einen Bissen. Ein verschmitztes Lächeln spielte um ihre Lippen. „Rate.“
Fern verdrehte die Augen. Lisettes Hauptjob bestand darin, als „professionelle“ Statistin beim Film zu arbeiten. An dem einen Tag spielte sie bei einer wöchentlichen Soap den Gast in einer Bar, am nächsten erschien sie in Glitzerstoff gekleidet in einer Science-Fiction-Serie. Fern hatte noch nie verstanden, warum Lisette einen Job machte, bei dem sie nur ganz unregelmäßig Aufträge bekam, der unheimlich lange Arbeitszeiten beinhaltete und der ein Aufstehen um vier Uhr morgens erforderte.
„Lis, ich habe nicht den Hauch einer Ahnung. Warum verrätst du es mir nicht einfach?“
„Also gut, ich habe einen Einsatz bei einer neuen Krimiserie. Nächste Woche besteht mein Kostüm aus Netzstrümpfen, High Heels und einem verführerischen Schlafzimmerblick. Ich spiele die ‚Prostituierte Nummer drei‘. Cool, oder?“
Fern nickte, vielleicht ein wenig zu heftig. Lisette warf ihr einen wissenden Blick zu. „Es tut mir leid, Lis. Ich freue mich wirklich, dass du Arbeit hast, aber …“
„Vor einer Kamera stehen und alle Aufmerksamkeit auf dich ziehen, ist einfach nicht dein Ding, ja? Ich weiß. Jeder, wie er mag. Als Versicherungssachverständige würde ich vor Langeweile sterben.“
„Risiko-Analytikerin“, korrigierte Fern sie bestimmt zum hundertsten Mal und fragte sich gleichzeitig, warum sie sich überhaupt noch die Mühe machte. Lisette konnte sich nie merken, was genau ihr Beruf war. Wenn sie nur die Worte „Versicherung“ oder „Büro“ hörte, begann sie zu gähnen.
„Ja, ja, ich weiß.“
Sie widmeten ihre Aufmerksamkeit wieder dem Essen. Lisette spießte eine Muschel auf. „Wenn schon kein Tintenfisch, wie wäre es dann hiermit?“
Fern seufzte. „Nein.“
„Weiß du was“, entgegnete Lisette, „ich glaube, dieses Wort höre ich in deinem Vokabular häufiger als jedes andere.“
„Nein, das tust du nicht.“
Lisette stieß mit der Gabel in ihre Richtung, so als wolle sie sagen: „Na bitte“. Fern blickte auf ihren Teller und entschied, dass sie keinen Hunger mehr hatte.
„Siehst du? Es langweilt dich bereits. Was du brauchst, ist ein bisschen Spaß und Abwechslung in deinem Leben.“
Oh je. Jetzt gings los.
Lisette betrachtete es als ihre persönliche Mission, Ferns Leben in Schwung zu bringen. Über die Jahre hinweg hatte sie sie zu allen möglichen Aktivitäten mitgeschleift: Kickboxen, Paragliding, merkwürdige Yoga-Kurse … Als all diese Versuche fehlschlugen, wurde es nur noch schlimmer. Lisette begann, aufregende Männer für ihre Freundin zu suchen. Nach einem Abend mit Brad, dem Formel-Eins-Fahrer, hatte Fern eine Woche lang Angst gehabt, sich in ein Auto zu setzen.
„Nein, das brauche ich nicht.“
Lisette lächelte breit. „Na, na, da war das kleine Wort ja schon wieder.“ Sie lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme über der Brust. „Ich glaube, wenn du eine Woche lang nicht Nein sagen dürftest, dann würdest du vertrocknen und sterben.“
„Das ist doch absolut lächerlich.“
„Tatsächlich? Okay, dann wollen wir doch mal sehen, wie lächerlich meine Theorie ist.“
An diesem Punkt hätte Fern wirklich auf ihren Instinkt hören, aufspringen und aus dem Restaurant laufen sollen, aber sie war zu neugierig darauf, was ihre Freundin jetzt wieder aushecken würde.
Lisette blickte sie aus schmalen Augen an. „Ich fordere dich heraus, eine Woche lang auf jede Frage, die dir gestellt wird, mit Ja zu antworten.“
Fern lachte so laut auf, dass sich einige Gäste umdrehten. Rasch schlug sie die Hand vor den Mund. „Und warum in aller Welt sollte ich eine solche Herausforderung annehmen?“
Ein gefährliches Funkeln trat in Lisettes Augen. Fern spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Wenn Lis derart selbstzufrieden dreinschaute, dann konnte das nichts Gutes bedeuten.
„Weil ich deiner Leukämie-Stiftung fünfhundert Pfund spende, wenn du es tust.“
Das war unter der Gürtellinie. Wie sollte sie ein solches Angebot ausschlagen? Diese Leukämie-Stiftung, von der Lisette sprach, brauchte dringend mehr Spenden, um die begonnene Forschungsarbeit fortsetzen zu können – eine Herzensangelegenheit, denn hätte es damals schon entsprechende Behandlungsmethoden gegeben, hätte das Ryan vielleicht das Leben gerettet. Die Stiftung hatte ihre freiwilligen Spendensammler gebeten, einhunderttausend Pfund zusammenzutreiben. Fern hatte unzählige Wohltätigkeits-Events unterstützt, und dabei waren sie ihrem Ziel schon so nahe gekommen. Es fehlten noch fünftausend Pfund. Was Lisette da anbot, war ein Zehntel dessen. Mehr als sie jemals in einer Woche alleine sammeln konnte.
„Du bist verrückt.“
„Kann schon sein. Aber ich zahle das Geld gerne, wenn ich dafür sehe, dass du mal ein paar Wagnisse eingehst und das Leben genießt. Du steckst im ewig gleichen Trott fest, Darling.“
Das stimmte nicht! Fern öffnete bereits den Mund, um zu widersprechen, doch da fiel ihr ein, dass sie nur wieder dieses Wort benutzen und ihrer Freundin damit neue Munition liefern würde.
„Vielleicht gefällt mir mein Trott.“
Lisette lehnte sich zurück, damit der Kellner ihre Teller abräumen konnte. „Das, meine liebe Fern, ist ja der Kern des Problems. Du musst mal ausbrechen – und zwar bevor du in der Midlife-Crisis steckst und sich gar nichts mehr ändert.“
Bei Lisettes dramatischem Gesichtsausdruck hätte sie beinahe aufgelacht. „Du hast deine Herausforderung gar nicht durchdacht. Ich kann doch nicht auf jede Frage mit Ja antworten. Was, wenn jemand von mir verlangt, eine Bank auszurauben oder von der Brücke zu springen?“
„Ja klar, es wandern ja auch ständig Leute durch die Stadt, die nur darauf warten, dich zu einem Einbruch anzustiften!“
Fern verdrehte die Augen. „Dass du immer so übertreiben musst. Du weißt ganz genau, wovon ich rede. Jemand könnte mich bitten, in die andere Richtung zu schauen, während er etwas stiehlt, oder von mir verlangen, etwas Gefährliches zu tun.“
„Also gut, du hast recht.“ Lisette kramte in ihrer Tasche nach einem Stift und begann dann, auf die Serviette zu kritzeln, was keine besonders gute Idee war, denn sie befanden sich in einem Restaurant mit Stoffservietten. „Wir brauchen ein paar Grundregeln.“
„Wir brauchen überhaupt keine Regeln. Ich mache da nämlich nicht mit.“
Lisette schrieb einfach weiter. „Okay, es gibt ein paar Fälle, in denen du aussteigen kannst. Nichts Illegales. Nichts wirklich Gefährliches.“
„Nichts Unmoralisches.“ Warum beteiligte sie sich plötzlich daran? Das führte doch zu nichts.
An diesem Punkt blickte Lisette auf. „Nichts Unmoralisches? Schade. Damit versagst du dir eine ganze Menge Spaß.“
„Für dich klingt es vielleicht nach Spaß, aber ich werde bestimmt nicht Ja sagen, wenn ein Typ auf mich zukommt und mit mir … Du weißt schon.“
„Wie ich bereits sagte, du versagst dir einen Heidenspaß, aber ich gebe nach. Du darfst Nein sagen, wenn es wirklich gegen dein Gewissen geht.“
„Oh, vielen Dank.“ Ein freches Lächeln spielte plötzlich um Ferns Lippen. „Wie willst du mich denn kontrollieren? Schließlich kannst du nicht ständig an meiner Seite sein. Was, wenn ich dich betrüge?“
Lisette wurde einen Moment so still, dass Fern bereits dachte, ihr müsse das Herz stehen geblieben sein, doch dann lachte sie auf einmal so laut, dass sich der Mann am Nebentisch zu ihnen umdrehte. „Nein, das glaube ich nicht, meine kleine Fern. Selbst wenn du in Versuchung wärst, würdest du spätestens, wenn ich dir den Scheck gebe, zusammenbrechen und alles gestehen, nicht wahr?“
„Nein!“ Für was für einen Schlappschwanz hielt ihre Mitbewohnerin sie eigentlich? Andererseits … Sie vergrub das Gesicht in den Händen, sodass ihr schulterlanges blondes Haar nach vorne fiel. „Oh, also gut. Du hast ja recht. Ich würde es tun.“
„Wenn es einen Menschen auf der Welt gibt, der immer versucht, das Richtige, das Vernünftige zu tun, dann bist du es.“
Fern griff nach der Dessertkarte und richtete ihren Blick darauf. „Und genau deshalb werde ich mich nicht auf diese verrückte Geschichte einlassen.“
„Ach ja? Wirklich nicht?“ Lisette drückte die Dessertkarte hinunter, sodass sie in Ferns Augen schauen konnte. „Betrachte es als zusätzliche Wohltätigkeitsveranstaltung. Ich sorge dafür, dass du mal aus deinem ewigen Trott herauskommst. Nur für eine Woche. Das schaffst du doch? Aus Wohltätigkeit?“ Sie klimperte heftig mit den Augen, eine vollkommen überzogene Geste, die dennoch jedes Mal bei Fern funktionierte.
Diese verdammte Frau! Nach drei Jahren, die sie nun zusammenwohnten, kannte sie Ferns Schwachstellen ganz genau. Geld zu sammeln, um zu verhindern, dass noch mehr Kinder die Schmerzen erleiden mussten, die ihr Bruder vor seinem Tod durchgemacht hatte, dafür würde sie alles tun.
„Ich kann die Sache jederzeit abbrechen?“
Lisette zuckte die Schultern. „Klar. Aber dann bekommst du das Geld nicht. Es liegt ganz bei dir.“
Fern griff nach ihrem Weinglas und leerte es mit einem Zug. „Okay. Ja. Ich tue es.“ Für Ryan. Das ist für dich, großer Bruder, dachte sie, während sie den Rest Chardonnay schluckte.
Lisette klatschte erst in die Hände und rieb sie dann triumphierend. „Ich werde dafür sorgen, dass das die aufregendste Woche deines Lebens wird!“
Fern griff nach der Weinflasche und schenkte sich nach. Genau das hatte sie befürchtet.
„Tut mir leid, Callum. Du musst dieses Meeting in New York ohne mich bestreiten.“ Josh steckte den Kopf durch die Wohnzimmertür und sah seinen Vater mit der Zeitung über dem Gesicht auf dem Sofa dösen. Er zog die Tür wieder zu und senkte seine Stimme. „Meinem Dad geht es allmählich besser, aber ich werde trotzdem noch mindestens zwei Wochen bleiben.“
Während sein Geschäftspartner darüber klagte, dass er ein immens wichtiges Treffen mit den Vertretern dieser exklusiven Hotelkette verpassen würde, ging Josh vom Flur hinüber in die Küche und schaute aus dem Fenster in den Garten, wo seine Mutter gerade Petunien pflanzte. Callum würde das spielend ohne ihn hinkriegen – er machte sich immer viel zu viele Sorgen. Ganz persönlich schmerzte Josh eher, dass er die Reise, die er nach dem Aufenthalt in New York geplant hatte, verpassen würde.
Vor Kurzem hatte seine Firma One Life Travel einen NonProfit-Zweig gegründet, der Wohltätigkeits-Expeditionen organisierte. Sie wollen die Chinesische Mauer entlanglaufen, um die Rettung der Wale zu unterstützen? Oder den Amazonas mit einem Kanu befahren, um Spenden für den Kampf gegen Herzkrankheiten aufzutreiben? Dann sind die neuen One Life – Expeditionen genau das Richtige für Sie.
Der Amazonas. Er seufzte. Wie sehr hatte er sich auf die Kanutour gefreut. Außerdem wollte er feststellen, ob sie den richtigen Partner vor Ort gefunden hatten – waren die Führer kompetent, das Equipment geprüft, die Mitarbeiter geschult?
Dass sie all ihre Reisen persönlich testeten, machte ihren Erfolg aus. Begonnen hatte Josh mit einer einfachen Website, die Empfehlungen für Rucksackreisende gab. Heute hatte sein Unternehmen bereits mehrere internationale Preise gewonnen. Sie boten einmalige Abenteuerurlaube an – sei es für den Backpacker, der mit nur geringem Budget unterwegs war, oder für den Luxusreisenden, der Fünf-Sterne-Niveau erwartete.
„Es wird alles wunderbar laufen. Nimm Sara mit“, sagte er zu Callum. Seine persönliche Assistentin war so effizient, dass sein Partner kaum einen Unterschied zu ihm erkennen würde. „Sie kennt den Deal in- und auswendig. Ich rufe dich in einer Woche an, um mit dir die letzten Details durchzugehen.“
Er verabschiedete sich und ließ das Telefon auf dem Küchentisch liegen. Seine Mutter würde ihn deshalb sicher gleich tadeln.
Es war schon ein wenig merkwürdig, wieder in seinem Elternhaus zu wohnen, ja, sogar in seinem alten Zimmer, und nicht in seinem eigenen Haus auf der anderen Seite der Stadt.
Natürlich war seine Mutter überglücklich, ihn hier zu haben. Sie ließ ihn kaum aus den Augen. Doch das war vielleicht verständlich. In den letzten Jahren war er nur noch zu großen Feiern nach Hause gekommen, etwa zu Dads Sechzigstem – war das wirklich schon sechs Monate her?
Es tat gut, seine Eltern wiederzusehen, doch er hätte es vorgezogen, wenn es unter anderen Umständen geschehen wäre. Vor sechs Wochen hatte er einen panischen Anruf seiner Mutter erhalten, aus dem hervorging, dass sein Vater gerade einer Notoperation am Herzen unterzogen wurde. Natürlich war Josh sofort nach Hause geflogen. Ein paar Tage lang stand das Schicksal seines Dads auf Messers Schneide, doch schließlich schaffte er es.
Josh wollte lieber nicht an den zehnstündigen Flug nach Hause denken. Zum ersten Mal seit Jahren genoss er nicht den Adrenalinstoß des Starts. Stattdessen konnte er nur daran denken, wie selten er seine Eltern in den letzten Monaten gesehen hatte und wie schrecklich es wäre, wenn …
Er schüttelte den Kopf und trat durch die offene Hintertür in den Garten. Während er zu seiner Mutter hinüberging, beschloss er, nicht länger diesen Gedanken nachzuhängen.
Seine Mum stand auf dem Rasen, die Hände in die Seiten gestemmt, und betrachtete ihre Arbeit.
„Sieht hübsch aus, Mum.“
Sie drehte sich um und schirmte die Augen gegen die Sonne ab. „Ist nicht besonders exotisch, ich weiß, aber ich mag Petunien. Sie sehen nach zu Hause aus.“ Josh lächelte sie an und ließ den Blick durch den großen Garten schweifen. Plötzlich fiel ihm etwas auf.
„Mum, was ist mit dem alten Apfelbaum passiert?“
Sie wischte sich die Hände an der alten Jeans ab, die sie immer bei der Gartenarbeit trug. „In diesem Frühjahr hatten wir einige Male heftigen Sturm. Manchmal bis zu achtzig Meilen die Stunde.“ Sie zuckte die Schultern. „Eines Morgens sind wir aufgewacht, und der Großteil des Apfelbaums lag im Garten der Nachbarn.“
Sofort ging er auf die Stelle zu, an der früher der Apfelbaum gestanden hatte. Es war nur noch ein abgesägter Stamm da. Plötzlich spürte er Zorn in sich aufsteigen. Dieser Baum repräsentierte einen Großteil seiner Kindheit. Er und Ryan, der Nachbarsjunge und zudem sein bester Freund, hatten im Sommer mehr Zeit in den Ästen verbracht als auf dem Boden. Wenn er gewusst hätte, dass er den Baum bei seinem letzten Besuch zum letzten Mal sehen würde, dann hätte er … Keine Ahnung … Vielleicht ein Gebet gesprochen oder so was in der Art.
Er mochte keine Gräber. Auch den kleinen Marmorgrabstein auf dem Friedhof von St. Mark hatte er nicht besucht – nicht mal an Ryans Beerdigung. Stattdessen war er auf den höchsten Ast dieses Apfelbaums geklettert und hatte stumm dagesessen, während seine Beine hinunterbaumelten. Wenn doch nur …
Wenn er doch nur in diesem Sommer, als er dreizehn und Ryan vierzehn gewesen war, gewusst hätte, dass es ihr letzter gemeinsamer Sommer sein würde. Dann hätte er ganz sicher dafür gesorgt, dass sie das Baumhaus, das sie geplant hatten, auch gebaut hätten, anstatt nur ein paar Nägel in den ein oder anderen strategischen Ast zu schlagen.
Ein kaltes, düsteres Gefühl machte sich in seinem Inneren breit und drohte, ihn zu überwältigen. Plötzlich setzte er sich wieder in Bewegung und marschierte zurück ins Haus.
Seine Mutter setzte gerade den Wasserkessel auf, um Tee zu kochen.
„Du vermisst ihn noch immer, nicht wahr?“
Er zuckte die Schultern und blickte zu Boden. Seine Mutter würde ihn gleich schelten, weil er die Fußmatte nicht benutzt hatte. Er ging zurück und holte es nach. Als er aufschaute, warf sie ihm einen Blick zu, der besagte: „Mir kannst du nichts vormachen.“
Was würde es denn nutzen, wenn er ihr verriet, dass ein Teil von ihm noch immer erwartete, Ryan würde zur Hintertür hereingestürmt kommen und seine Mutter mit seinem Charme einwickeln, damit sie ihm ein Stück ihres berühmten Schokoladenkuchens gab? Er schaute aus dem Fenster in den Garten der Chambers direkt nebenan.
„Ich habe Fern noch gar nicht gesehen, seit ich zurück bin.“
Seine Mutter öffnete den Küchenschrank und holte die Teekanne heraus. „Helen sagt, sie ist im Moment sehr beschäftigt.“
Josh nickte. Das passte zu Fern. Sie machte nie etwas halbherzig, und sie war überaus loyal. „Hoffentlich übernimmt sie sich nicht.“
Seine Mutter lachte. „Du bist genauso schlimm wie Jim und Helen! Das arme Mädchen wird ständig bemuttert. Kein Wunder, dass sie ausgezogen ist.“
Ah, seine Mum wusste nichts von dem Versprechen. Am Tag von Ryans Beerdigung, versteckt hoch oben auf dem Apfelbaum, da hatte er das Mädchen von nebenan quasi als kleine Schwester adoptiert und sich geschworen, auf sie aufzupassen. Oh, er hatte sie genauso wie Ryan es getan hätte furchtbar geärgert und geneckt, aber er hatte sie auch beschützt. Manchmal auf seine eigenen Kosten.
Seine Mutter griff nach der Teedose. „Von ihrer Mitbewohnerin halte ich allerdings nicht so viel. Die ist ein ganz schön wildes Ding.“
Seine Züge verhärteten sich. Eine Mitbewohnerin? „Trifft … sie sich mit jemandem?“
Seine Mutter schüttelte den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste. Letztes Jahr gab es wohl jemanden, und es sah eine Zeit lang ernst aus. Ich dachte schon, sie würden sich verloben, doch dann ist er plötzlich verschwunden.“
„Darf ich ihn suchen und ihn verprügeln?“ Kochend heißer Dampf stieg von dem Kessel auf, was ungefähr seine Stimmung widerspiegelte. Als der Kessel dann noch zu pfeifen begann, stellte er rasch den Herd ab. In der Küche war es wieder still.
„Sie ist kein Kind mehr, weißt du“, sagte seine Mutter.
Ja, das wusste er durchaus, aber es war einfacher, sie immer noch als Kind zu betrachten.
„Wie ich bereits sagte, du bist genauso schlimm wie ihre Eltern. Am liebsten würdet ihr sie alle in Watte packen. Wegen Ryan lässt sie es sich von ihren Eltern gefallen, aber glaub mir, sie wird es dir nicht danken, wenn du auch noch so anfängst.“
Blödsinn. Fern traf sich unheimlich gern mit ihm. Er war wie eine Art Ersatz-Großer-Bruder für sie.
Seine Mum streckte den Arm aus und zerzauste ihm das Haar.
„Mu-um!“
„Nicht, dass ich dich lange genug hierbehalten könnte, um dich in Watte zu packen.“ Sie ging zur Hintertür, die er beim Reinkommen geschlossen hatte, und öffnete sie wieder, um das warme Sonnenlicht hereinzulassen. „Aber ich stehe immer furchtbare Ängste aus, wenn du diese Extremsportarten betreibst. Ich kann gut verstehen, dass man sein einziges Kind beschützen will.“
„Ich habe es dir doch schon so oft gesagt: Ich kann auf mich aufpassen.“
Zeit, das Thema zu wechseln.
„Willst du immer noch mein Angebot ausschlagen, euch den Urlaub zu finanzieren, Mum? Du und Dad, ihr wollt doch schon seit Jahren noch mal zum Loch Lomond fahren. Es wäre ein absoluter Fünf-Sterne-Trip, ich würde keine Kosten scheuen. Dad würde die Erholung bekommen, die er braucht, und du auch.“
„Klingt verlockend, aber nein. Ich bleibe bei dem, was ich letztes Jahr gesagt habe. Dein Vater und ich wollen nicht noch mehr von deinem Geld – wir wollen dich lieber häufiger sehen.“
„In letzter Zeit habt ihr mich doch nun wirklich häufig gesehen.“ „Ja, aber wenn ich an die ganzen Jahre zuvor denke, dann bist du uns noch verdammt viel schuldig.“
Nicht zum ersten Mal bedauerte Josh, dass er seinen Starrsinn von seiner Mutter geerbt hatte. Irgendwie musste er ein Schlupfloch finden.
Wieder warf sie ihm diesen ganz speziellen Blick zu, für den sie so berühmt war. „Geh und schau nach deinem Vater. Vielleicht will er ja eine Tasse Tee.“ Josh hatte sich bereits in Bewegung gesetzt, da rief sie ihn zurück. „Und tu das hier wieder da hin, wo es hingehört!“
Er grinste, nahm ihr aber gehorsam das Telefon ab, das er zurück auf die Basisstation legte. Sein Dad schnarchte noch immer. Mit jedem Ausatmen flatterte die Zeitung hoch, die Josh vorsichtig an sich nahm. Er wollte ihn lieber nicht wecken. Sein Dad brauchte Ruhe.
Doch was Josh selbst anbelangte, so machte ihm die erzwungene Untätigkeit allmählich zu schaffen. Er war an Abenteuer gewöhnt. An Action und Spaß. Oh ja, er wollte zu Hause sein und seiner Mutter helfen, während sein Dad sich wieder erholte, aber die größte Aufregung, die es in den vergangenen Wochen gegeben hatte, waren die Gerüchte um einen Einbruchversuch in das Haus Nummer dreiundvierzig. Er musste etwas tun, ehe er noch verrückt wurde. Irgendetwas musste es doch geben, womit er seine Tage in London füllen konnte.
Gerade als er die Zeitung seines Vaters zusammenfalten und in den Mülleimer werfen wollte, fiel ihm die kleine Anzeige in der rechten unteren Ecke auf. Beim Lesen schoss das Adrenalin in seine Adern.
Es war bereits Dienstag, und Fern lebte noch. Nicht nur das, wenn sie ganz ehrlich war, dann hatte sie sogar eine Menge Spaß gehabt. Also gut, es hatte ein paar Mahlzeiten gegeben, die sie am liebsten vergessen würde, und sie hatte sich mit vorgehaltener Hand einen Horrorfilm ansehen müssen, doch andererseits hatte sie ein Talent fürs Salsa-Tanzen entdeckt. Wer hätte gedacht, dass sie so die Hüften kreisen lassen konnte? Selbst nach nur einer Stunde merkte sie schon die Veränderung an ihrem Gang.
Fern lächelte Lisette über den Tisch des Cafés hinweg an und nahm einen weiteren Bissen von ihrem Sandwich. Alles in allem war sie dennoch froh, wenn Sonntag war, und ihr Leben wieder ihr gehören würde. Nur noch vier Tage. So schwer konnte es doch nicht werden, oder?
„Da kommt Simon“, sagte Lisette und winkte mit der Hand in Richtung Tür.
Fern drehte sich um und lächelte. Simon war ein netter Kerl. Mittlerweile kannte sie ihn ganz gut, weil sie beide ehrenamtlich mehrere Wohltätigkeitsprojekte unterstützten.
„Alles klar für morgen?“, fragte sie, während er einen Stuhl heranzog und sich darauf fallen ließ.
Er nickte und fügte dann ein wenig atemlos hinzu: „Ja. Tut mir leid, dass ich zu spät dran bin. Da hat sich noch ganz kurzfristig jemand für einen Bungee-Sprung angemeldet, und ich musste den Papierkram erledigen.“
Lisette grinste. „Ist es ein heißer Typ?“
Simon sah sie konsterniert an.
„Hey, war ja nur eine Frage!“ Sie stand auf und holte ihr Portemonnaie aus der Tasche. „Heute gönne ich mir einen Karamell-Muffin. Möchte sonst noch jemand einen?“ Ganz bewusst schaute sie zu ihrer Mitbewohnerin herüber. „Fern?“
Na also, die Antwort auf diese Frage war vollkommen einfach. Ein Muffin, und sie brauchte gar kein schlechtes Gewissen zu haben. Schließlich durfte sie ja nicht Nein sagen!
„Ja.“ Sie sprach das Wort ganz langsam aus, womit sie ihm zusätzliches Gewicht verlieh. In Lisettes Augen erschien ein freches Funkeln. „Ich hätte liebend gern einen Muffin. Vielen Dank.“
Simon schüttelte ablehnend den Kopf, woraufhin Lisette an die Theke verschwand.
„Fern?“ Hellblonde Strähnen fielen ihm in die Stirn, die er mit der Hand zurückstrich. Sein Gesichtsausdruck wirkte äußerst ernst.
„Ja, Simon?“
„Ich würde gern wissen, wann du morgen früh da sein kannst, um bei der Registrierung zu helfen?“
„Wann soll ich denn da sein?“
„Acht Uhr? Wenn das nicht zu früh ist?“
Wenn sie ganz ehrlich war, dann hatte sie gehofft, dass zehn Uhr reichen würde. Das war der erste Tag seit Wochen, an dem sie nicht arbeiten musste, und da wollte sie eigentlich ausschlafen.
„Ja, ist in Ordnung. Immerhin ist es ja für eine gute Sache, nicht wahr?“
Simon blickte nervös zu Lisette hinüber, die schamlos mit dem Kellner flirtete. „Fern, ich wollte dich schon eine ganze Weile etwas fragen …“
Ohoh.
„Simon, ich … Oh, schau! Da kommt Lisette!“
Ihre Mitbewohnerin kam lachend mit zwei Karamell-Muffins und der Telefonnummer des Kellners auf einem Stück Papier zurück. Gerade rechtzeitig! Fern hatte den Verdacht, dass Simon sie fragen wollte, ob sie mit ihm ausgehen würde, und diese Frage wollte sie jetzt wirklich nicht hören, nicht diese Woche.
Er war ein netter Kerl: höflich, sensibel, hilfsbereit. Vermutlich versuchte er bereits seit zwei Monaten, sie um ein Date zu bitten. Warum, oh warum musste er sich ausgerechnet diese Woche aussuchen, um seinen Mut zusammenzukratzen?
Sie fühlte sich ja durchaus wohl in seiner Gesellschaft, und er sah auch bestimmt nicht schlecht aus, aber bei ihr funkte es überhaupt nicht. Keinerlei Anziehung. Andererseits hatte sie das bislang ohnehin nur ein einziges Mal erlebt. Sie schüttelte den Kopf. Sollten die Funken doch ruhig sprühen. Das bedeutete gar nichts, war es doch höchstens etwas für den Moment. Es hieß noch nicht einmal, dass man auf körperlicher Ebene harmonierte. Und noch viel weniger war es ein Garant dafür, dass einem nicht das Herz gebrochen wurde, oder dass man nicht vor unerwiderter Liebe verging. Funken, mit anderen Worten, waren gefährlich.
Vorsichtig wickelte sie ihren Muffin aus und legte ihn auf dem Teller ab. „Simon sagt, wir sollen morgen früh um acht da sein, Lis.“
Simon rutschte hin und her. „Also, die, die den Sprung machen, müssen eigentlich nicht vor halb zehn da sein.“
Lisette, die gerade von ihrem Muffin abgebissen hatte, hielt kurz inne, schluckte dann rasch und murmelte: „Um ganz ehrlich zu sein … Ich habe schlechte Nachrichten für euch.“ Sie zog eine Grimasse, während sie Fern anblickte.
Oh nein. Sie hatte ein wirklich schlechtes Gefühl, was jetzt kommen würde.
„Schau mich nicht so an. Die Krimiserie will mehr Szenen mit mir drehen als ursprünglich geplant, und wir fangen schon morgen an anstatt Donnerstag. Das konnte ich wirklich nicht vorhersehen, und ich brauche den Job.“
Simon schaute völlig entsetzt drein. „Was ist mit deinem ganzen Sponsorengeld?“
„Nun, da hätte ich eine Idee …“ Sie wandte sich an Fern, der daraufhin der Schweiß ausbrach. „Fern, meine gute alte Freundin …“
Fern sprang von ihrem Stuhl hoch und presste ihre Finger gegen Lisettes Mund.
Nein! Auf keinen Fall!
Ihre Stimme klang schrill und wesentlich lauter als sie beabsichtigt hatte. „Lisette, wag es ja nicht …!“
Der Geräuschpegel in dem Café war nur noch ein gedämpftes Gemurmel. Irgendwo klimperte ein Löffel gegen eine Tasse. Fern erstarrte und ließ sich zurück auf den Stuhl fallen, während sie fassungslos registrierte, wie sich zwei Augenpaare erwartungsvoll auf sie richteten. Vergeblich hatte sie versucht, Lisette daran zu hindern, die verhängnisvollen Worte auszusprechen. Ihre Mitbewohnerin hatte die Frage trotzdem gestellt: „Wirst du meinen Platz einnehmen und für mich springen?“
Langsam legte Fern die Hände übereinander, während sie Lisette unverwandt ansah. Sie holte tief Luft. In jeder anderen Woche hätte sie keine Sekunde darüber nachgedacht. Ein Bungee-Sprung! Nie und nimmer. Was fiel Lisette nur ein?
Doch die Frage war gestellt worden, und auch Simon schaute sie hoffnungsvoll an. Er zählte auf sie – die Leukämie-Stiftung zählte auf sie. Wenn sie sich weigerte, verlor sie die fünfhundert Pfund, die Lisette ihr für den Gewinn der Wette zugesagt hatte.
Schicksalsergeben sank sie gegen die Stuhllehne.
„Ja, ich mache es.“
Simon sah aus, als würde er ihr gleich um den Hals fallen. Nach kurzem Zögern beugte er sich vor und drückte ihr einen feuchten Kuss auf die Wange. „Fern, das ist großartig. Vielen, vielen Dank. Wenn du Lisettes Platz einnimmst, können wir unser Ziel immer noch erreichen.“
Fern fühlte sich völlig benommen. Sie bekam kaum etwas von dem Rest der Unterhaltung mit. Simon schwärmte, wie wunderbar alles werden würde. Als er endlich aufhörte zu reden, waren von ihrer Mittagspause nur noch fünf Minuten übrig geblieben. Zum ersten Mal in ihrem Leben würde sie zu spät ins Büro kommen, denn es gab da ein paar Dinge, die sie Lisette sagen musste, und die konnten absolut nicht warten.
Beide beobachteten schweigend, wie Simon seine Sachen zusammenpackte, sich verabschiedete und das Café verließ.
„Ich kann auf keinen Fall einen Bungee-Sprung machen!“
„Doch, das kannst du!“
„Nein, kann ich nicht.“
Lisette hob eine Augenbraue und presste den Mund zusammen. „Zu spät. Du hast bereits zugesagt.“
Fern seufzte tief. Es musste doch einen Weg geben, um aus dieser Geschichte wieder herauszukommen. Ein Hintertürchen, ein legitimer Grund, weshalb sie den Sprung nicht durchziehen konnte … Einen Augenblick … Ihr fiel gleich etwas ein …
Plötzlich lehnte sie sich entspannt zurück und kreuzte die Arme über der Brust. „Als wir uns über die Regeln und Konditionen unterhalten haben, da hast du selbst gesagt, dass ich nichts Gefährliches machen muss.“
Lisette hob erneut eine Augenbraue. „Netter Versuch, aber der Sprung wurde als eindeutig sicher und unbedenklich eingestuft. Du selbst hast die ganzen Gutachten kontrolliert, erinnerst du dich? Also, wenn es für alle anderen Springer eine sichere Sache ist, warum dann nicht auch für dich?“
Verdammt! Ihre eigene Effizienz machte ihr einen Strich durch die Rechnung.
„Du musst es nicht tun, wenn du es nicht willst.“ Lisette rührte mit dem Löffel in ihrem Cappuccino. „Aber dann verfallen die fünfhundert Pfund und die vierhundert Pfund der Sponsoren, die die Leute mir für meinen Sprung versprochen haben.“
Fern sah sie mit offenem Mund an. „Vierhundert Pfund! Wie hast du das geschafft?“
„Erinnerst du dich an diese historische Serie, die ich vergangenen Monat gedreht habe? Die, in der ich eine Milchmagd aus dem achtzehnten Jahrhundert gespielt habe?“
Fern nickte. Sie war sich nicht ganz sicher, wo das jetzt hinführen sollte.
„Okay, dieses Korsett hat meine Brüste wirklich fantastisch aussehen lassen, und da waren zahlreiche stramme Burschen, die nichts Besseres zu tun hatten, als stundenlang rumzustehen und mein Dekolleté anzustarren …“
Josh nahm die Stufen der Rolltreppe zwei auf einmal und dachte bereits daran, einfach über die Absperrung zu springen. Doch unter den aufmerksamen Blicken eines Londoner U-Bahn-Angestellten entwertete er sein Ticket und rannte dann durch die Halle hinaus auf die Straße voller Verkehr und Hektik.
Er war spät dran.
Seine Mum hatte durch Helen Chambers von diesem Wohltätigkeits-Bungee-Springen gehört und wusste, dass es am Ende dieser Straße stattfand. Der Sprung sollte nur der Anfang sein. In seiner Hosentasche befand sich die herausgerissene Anzeige aus der Zeitung seines Dads – das war sein eigentliches Ziel. Die vergangenen sechs Monate hatte er nonstop gearbeitet. Jetzt brauchte er unbedingt ein bisschen Spaß!
Als er den Kran erreichte, waren die ersten Freiwilligen bereits gesprungen, und ein weiterer hing kopfüber an dem Seil und wurde gerade zu Boden gelassen. Während er sich registrieren ließ und danach, als er zum Aufzug ging, der ihn auf die Plattform hoch oben auf dem Kran bringen würde, ließ Josh seinen Blick über die Menge schweifen.
Für sein nächstes Projekt brauchte er einen Partner, und hier musste sich doch ein Typ finden lassen, der zu einem kleinen spontanen Abenteuer bereit war. Jemand, der körperlich fit war und über ein bisschen Grips verfügte. Jemand, der willens war, vier Tage durch die City zu rennen und im Idealfall mit fünftausend Pfund in der Tasche nach Hause zu gehen.
Sobald er die Plattform auf der Spitze des Krans erreicht hatte und sich in die Schlange einreihte, begutachtete er die anderen Springer etwas genauer. Das Ergebnis war nicht gerade vielversprechend. Einige ältere Leute, ein schlaksiger Kerl, der wie ein erstarrtes Kaninchen aussah, und ein paar junge Mädchen.
Eine weitere Person sprang, und die Reihe rückte einen Schritt vor. Noch sieben Leute vor ihm, dann stand seinem Adrenalinrausch nichts mehr im Wege. Es gab kaum etwas Besseres. Interessiert beobachtete er, wie die nächste Freiwillige vortrat und das Elastikseil um ihre Knöchel befestigt wurde.
Die Frau stand stocksteif und starrte auf die City hinunter. Die meisten anderen hatten gekichert und Scherze gemacht, während das Seil befestigt wurde, doch sie gab keinen Mucks von sich. Josh legte den Kopf schräg. Verdammt hübsche Beine. Und wunderschönes aschblondes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, an dem der Wind zauste. Er lächelte leicht. Vielleicht würde er versuchen, ihre Nummer zu bekommen, wenn sie beide wieder festen Boden unter den Füßen hatten.
Er mochte Frauen, die mutig und temperamentvoll waren. Also gut, keine seiner Beziehungen hielt lang, aber solange sie dauerten, waren sie unheimlich aufregend, und er hatte noch ein paar Wochen in London vor sich. Also warum nicht?
Doch genau in diesem Moment drehte sie sich um, und er wusste ganz genau, warum nicht.
Er brauchte ihre Nummer nicht, denn die hatte er bereits.
Fern? Ryans schüchterne kleine Schwester wagte einen Bungee-Sprung? Er schüttelte den Kopf.
Die Reihe war an ihr, doch sie schien wie erstarrt. In diesem Moment trat ihm ein Bild vor Augen – Fern, wie sie zitternd auf dem Fünfmeterbrett im Schwimmbad stand, die Arme an die Seiten gepresst und das Kinn nach oben gereckt. Damals hatte er die Furcht in ihren Augen gesehen, und auch jetzt las er sie in ihrem Gesicht. Sofort wusste er, was er zu tun hatte.
Die anderen Springer begannen zu murren, als er sich an ihnen vorbeischob, bis er schließlich direkt hinter ihr stand. Sie riss den Kopf herum und gab einen erstickten Laut von sich. Ihre Augen wirkten glasig. Sie schien seine Anwesenheit nicht mal zu bemerken.
Rasch trat er noch einen Schritt vor und legte die Hände um ihre Taille, um ihr aufmunternde Worte ins Ohr zu flüstern. Was genau er sagte, wusste er gar nicht, denn plötzlich konnte er nur daran denken, wie warm sie sich anfühlte und dass sie beim letzten Mal, als er sie umfasst hatte, eindeutig noch nicht so viele Kurven gehabt hatte.
Josh hatte so viele dieser Sprünge gemacht, dass er sie nicht mal mehr zählen konnte, doch er war sich verdammt sicher, dass es Ferns erstes Mal war. Deshalb sprach er weiter beruhigend auf sie ein, was gar nicht so einfach war, denn der Duft ihres Haars lenkte ihn ab.
Als er spürte, wie sich ihre Anspannung etwas legte, zählte er bis drei, und dann – ehe er seinen plötzlichen Wunsch analysieren konnte, sie festzuhalten und dicht an sich zu ziehen – fiel sie nach unten, und er umfasste nur leere Luft.
Josh breitete die Arme weit aus – bis in die Fingerspitzen streckte er sich –, hob das Gesicht der Sonne entgegen und überließ der Schwerkraft den Rest. Ein tief empfundener Jubelschrei entrang seiner Brust.
Kurz fragte er sich, ob Fern dasselbe Gefühl von Freiheit verspürt hatte. Er hoffte es. Als sich das Elastikband um seine Füße anspannte und er nach oben katapultiert wurde, durchzuckte ihn eine jähe Erkenntnis.
Er brauchte keinen Mann, der ihm bei seinem nächsten Projekt half; er brauchte eine Frau. Eine Frau, die clever war und belastbar und die diese Stadt in- und auswendig kannte. Eine Frau, der er vertrauen konnte.
Er brauchte Fern.
Allmählich spürte sie jeden einzelnen Stein auf dem staubigen Boden, auf dem sie saß, weh, doch das war ihr egal. Auch wenn sie sich schmutzig machte. Noch nie hatte es so gutgetan, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren.
Sie gönnte sich noch eine weitere Minute, ehe sie den Blick hob und in den Himmel schaute. Der Anblick des Krans reichte aus, um ihr erneut ein flaues Gefühl im Magen zu bereiten.
War es wirklich Josh gewesen, der ihr dort oben beigestanden hatte?
Diese Stimme an ihrem Ohr, die Hände um ihre Taille – war das real gewesen, oder hatte sie sich alles nur eingebildet? Jetzt, wo sie wieder auf der Erde war, erschien ihr das alles wie ein vager Traum. Müde stand sie auf, stemmte die Hände in die Taille und blickte erneut zu dem Kran hinauf.
Es war über ein Jahr her, dass sie Josh das letzte Mal gesehen hatte. Es wäre wesentlich wahrscheinlicher, dass er sich gerade in Timbuktu oder Bora Bora aufhielt als hier im guten alten London. Seine Mutter platzte jedes Mal vor Stolz, wenn sie vom neuen Millionärsstatus ihres Sohnes erzählte. Das letzte Mal, als die Familien der Chambers und Adams sich trafen – natürlich ohne Josh –, hatte Pauline von seinem neuesten Projekt berichtet. Ihren Erzählungen nach bot er jetzt Reisen an, mit denen die Urlauber Wohltätigkeitsorganisationen unterstützen und Geldmittel auftreiben konnten.
Apropos Geld – es war höchste Zeit, dass sie zum Organisatorentisch ging und sich schriftlich bestätigen ließ, dass sie den Sprung gemacht hatte. Dann konnte sie zu Lisette gehen und all das Sponsorengeld einsammeln, das ihre Mitbewohnerin mithilfe ihres aufreizenden Dekolletés eingetrieben hatte. Sie freute sich bereits auf Lisettes Gesichtsausdruck, wenn sie ihr den Wisch zeigte.
Über die allgemeine Geräuschkulisse hinweg hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich. „Fern?“
Das musste Simon sein. Es überraschte sie nicht, dass er so schnell wie möglich zu ihr herübergelaufen kam. Mit einer Hand strich sie sich die Haare aus der Stirn und drehte sich um.
Josh Adams! Sie hatte vorhin also doch nicht geträumt. Ihr fehlten die Worte.
Wie immer hatte er keine Berührungsängste, sondern schloss sie fest in seine Arme. Wie von selbst traten ihr Tränen in die Augen, denn in diesem Moment erkannte sie, wie sehr sie ihn unbewusst vermisst hatte. Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Brust, Tränen fielen auf sein T-Shirt.
Ein dezentes Räuspern von rechts störte sie.
Fern löste sich aus Joshs Armen, auch wenn sie einander immer noch in die Augen schauten und beide unbeholfen lächelten. „Simon, darf ich dir meinen alten Freund Josh vorstellen“, sagte sie und konnte dabei ihren Blick immer noch nicht abwenden.
Josh zwinkerte ihr zu und drehte sich dann zu Simon um, dem er eine Hand reichte. „Nett, dich kennenzulernen“, sagte er. „Bist du Ferns …?“
Simon, der ungewöhnlich angespannt wirkte, lächelte plötzlich und öffnete den Mund, um zu antworten.
„Er ist ein Freund von mir!“, platzte Fern dazwischen, ehe er auch nur ein Wort sagen konnte. „Ein wirklich guter Freund. Simon hat die ganze Organisation des Bungee-Springens übernommen.“
Josh klopfte ihm auf die Schulter, woraufhin Simon zusammenzusacken schien. „Sehr gut. In diesem Fall sollten wir rübergehen und unseren Sprung abzeichnen lassen, damit das Geld fließen kann. Danach …“, er schaute Fern an, deren Herz automatisch einen Satz machte, „… lade ich dich auf einen Kaffee ein, damit du mir erzählen kannst, was in den letzten paar Monaten so passiert ist.“
Sie hob eine Augenbraue. „In den letzten paar Monaten? Wir haben uns anderthalb Jahre nicht mehr gesehen.“
Er runzelte die Stirn. „Ist es wirklich so lange her?“
Sie nickte und lächelte ihn betrübt an. Wie hätte sie diese Weihnachtsfeier bei den Adams’ vergessen können, als er die furchtbare Amber mitgebracht hatte? Es war das Jahr gewesen, in dem sich Fern früh mit einer Migräne entschuldigt hatte.
Erneut runzelte er die Stirn. „In diesem Fall bin ich dir wohl einen richtig großen Kaffee schuldig.“
„Da kannst du drauf wetten. Einen mit Sirup und Sahne obendrauf.“
Josh zog eine Grimasse, doch sie ließ sich davon nicht beirren. Ihr war regelrecht schwindelig, was sie lieber auf mangelnde Zuckerzufuhr schieben wollte. Wenn sie allerdings ehrlich war, dann hätte sie auch Flusswasser getrunken, nur um ein bisschen länger mit ihm zusammen sein zu können. Früher hatten sie sich so nahegestanden. Beinahe wie Bruder und Schwester. Beinahe.
Es wäre schön, sich mit jemandem unterhalten zu können, der sich an Ryan erinnerte.
Beinahe zwei Jahrzehnte war es jetzt her, dass ihr Bruder gestorben war, und die Freunde von damals hatten sich in alle Winde zerstreut. Mit ihren Eltern über Ryan zu sprechen hatte überhaupt keinen Zweck, denn dieses Thema war für sie noch immer viel zu schmerzhaft.
„Komm schon“, sagte sie und zog ihn am Arm. „Da unten am Fluss gibt es ein nettes kleines Café.“
Schmunzelnd blickte Josh sie an und wandte sich dann an Simon. „Ist es nicht großartig, wenn sie so herrisch wird?“
Simon öffnete den Mund, doch es kam kein Ton heraus. Schlussendlich nickte er nur und rief ihnen tonlos einen Abschiedsgruß hinterher.
Fern stand hinter Josh in der Schlange am Tresen des Cafés und bemühte sich krampfhaft, nicht wieder in die Rolle der Dreizehnjährigen zurückzufallen, die unsterblich in den Nachbarsjungen verknallt war, der diese Schwärmerei natürlich nicht erwiderte.
Du bist jetzt eine erwachsene Frau, ermahnte sie sich. Schluss damit.
Doch all das half nichts gegen das Kribbeln im Bauch, als er sich zu ihr umdrehte und ihr einen Pappbecher mit Plastikdeckel reichte. „Da, bitte. Ein großer Mokka mit Sahne.“
Das Kribbeln verstärkte sich noch, und sie wusste beim besten Willen nicht, wie sie dem Herr werden sollte.
„Danke.“
„Lass uns gehen“, sagte er und deutete mit dem Kopf in Richtung Tür. Fern stimmte gerne zu.
Sobald sie das Café verlassen hatten, überquerten sie die Straße und spazierten am Themse-Ufer entlang.
Nach einigen Minuten des Schweigens steuerten sie wie selbstverständlich auf ein Stück Mauer zu, setzten sich auf den grauen Granit und tranken ihren Kaffee. Josh nickte in Richtung des Krans, der sich gegen den Himmel abhob.
„Das war ein ganz schönes Abenteuer, was?“
Abenteuer? Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine solche Angst ausgestanden. Als sie auf den Boden zuraste, war sie überzeugt gewesen, das Seil würde reißen oder von ihren Knöcheln gleiten.
„Ja“, murmelte sie dumpf, froh darüber, eine gute Ausrede für ihre Lüge zu haben. Josh würde sie ohnehin nie verstehen.
„Einen Moment lang, als du da oben standest und Nein gesagt hast, da dachte ich, du würdest einen Rückzieher machen.“ Fern betrachtete nicht länger das Wasser, das sanft gegen die Mauer schlug. „Ich habe Nein gesagt?“
Josh nickte. „Ich glaube, ja.“
Fern biss sich auf die Lippe. Verdammt, verdammt, verdammt. Alles umsonst! Am liebsten hätte sie sich selbst geohrfeigt, doch das hätte sie ja erklären müssen, und dazu war sie nicht bereit. Stattdessen drehte sie sich um und blickte auf die Straße, über die der Verkehr hinwegraste.
„Komm schon, Fern, mach dir doch deshalb keine Vorwürfe. Jeder ist beim ersten Mal ein bisschen nervös. Das Entscheidende ist, dass du schlussendlich Ja gesagt und den Sprung gewagt hast. Das allein ist ausschlaggebend.“
Sie blinzelte. Irgendwie klang das für ihren Geschmack nach Augenwischerei. Ob sie einfach schwindeln sollte? Lisette gegenüber behaupten, dass sie die ganze Woche nicht einmal Nein gesagt hatte?
Plötzlich lächelte sie leicht. Hatte Lisette nicht gesagt, sie sollte immer auf das Kleingedruckte achten? Es war ihr ja gar nicht strikt verboten, Nein zu sagen – sie durfte dieses Wort nur nicht als Antwort auf eine Frage benutzen! Und dort oben auf dem Kran hatte man ihr keine Frage gestellt. Sie hatte einfach nur mit sich selbst geredet.
Josh versetzte ihr einen kleinen Stoß in die Seite. „Weshalb lächelst du so?“
„Ich habe es wirklich getan, nicht wahr?“
Er erwiderte ihr Lächeln. „Ja, das hast du. Du warst unheimlich mutig.“
Das Lächeln verschwand, ersetzt durch ein Stirnrunzeln. „Sei nicht albern. Ich bin nicht mutig, nicht so wie du. Du hast bestimmt schon Hunderte solcher Sprünge gemacht.“
Er rückte näher an sie heran, sodass sich ihre Arme berührten. Sofort stockte ihr der Atem.
„Das siehst du völlig falsch. Ich bin nicht mutig, wenn ich einen Bungee-Sprung mache. Mir verlangt es nämlich nichts ab. Ich liebe es. Aber du …“
Die Art und Weise, wie er sie ansah – voller Wärme und Bewunderung –, ließ sie dahinschmelzen.
„… ich weiß, dass du Höhenangst hast. Für dich war es unheimlich mutig.“ Josh lächelte sie an. „Und deshalb habe ich dir einen Vorschlag zu machen.“
Für einen Moment war Fern völlig perplex. War das der Moment, von dem sie bereits als Teenager geträumt hatte, als sie auf dem Bett lag, Liebesballaden hörte und die Poster an der Wand anstarrte? War das der Moment, in dem Josh wachgerüttelt wurde und er endlich das sah, was schon so lange offensichtlich war? Er war mindestens zehn Jahre zu spät dran.
Ihr dummes Herz pochte wie wild. „Was … Was für eine Art Vorschlag?“
Josh beugte sich zu ihr herüber, ein Funkeln in den Augen, als wolle er ein pikantes Geheimnis mit ihr teilen. Er war ihr so nah, dass sie die olivgrünen Flecken um seine Iris sehen und einen Hauch seines Aftershaves einatmen konnte.
„Ich finde, wir sollten in den nächsten paar Tagen sehr viel Zeit miteinander verbringen.“
„Wirklich?“ Ihre Stimme war nur noch ein Kieksen, genauso wie damals als Sechzehnjährige. Wie peinlich. Als Teenager hatte sie jedes Mal fasziniert auf seine Lippen gestarrt und heimlich gehofft, dass er mitten im Satz abbrechen würde, sich vorbeugen und …
Als könne er ihre Gedanken lesen, rückte er tatsächlich noch ein wenig näher an sie heran, sodass sein Atem über ihre Haare strich. „Was hältst du von fünftausend?“
Fünftausend Pfund? Er bot ihr Geld, damit sie mit ihm ausging? Wusste er denn nicht, dass sie das umsonst tun würde?
Mein Gott, es hatte eine Zeit gegeben, da hätte sie ihr Sparkonto leer geräumt, um ein Date mit ihm zu bekommen. Ungläubig schüttelte sie den Kopf.
„Sag nicht Nein, ehe du mich zu Ende angehört hast.“
Ein kleines Lachen entrang ihrer Kehle. Gott segne Lisette und ihre dumme Wette!
Josh griff in seine Hosentasche und holte ein zerknittertes Stück Zeitungspapier hervor. Sorgfältig glättete er es auf seinem Oberschenkel. „Du und ich zusammen für vier Tage in London … In dem Moment, als ich dich von diesem Kran springen sah, wusste ich, dass ich dich fragen sollte!“
Fern blinzelte. Das Gespräch lief ganz und gar nicht so, wie sie sich das all die Jahre zuvor in ihren Tagträumen vorgestellt hatte. Sie hatte immer geglaubt, die Erkenntnis, dass sie die Richtige für ihn war, würde ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel treffen – so unerwartet, dass er sie nur noch in seine Arme ziehen konnte, um ihr seine ewige Liebe zu gestehen. In Wirklichkeit war es viel verwirrender.
Sie drehte sich zu ihm um, umklammerte die Mauerkante und beugte sich vor. „Was genau hast du gewusst, als ich vom Kran gesprungen bin?“ Es konnte nicht schaden, ihm einen kleinen Schubs in die richtige Richtung zu geben.
Er schien ihre Frage nicht zu verstehen, woraufhin sie eine Augenbraue hob und ihn aufmunternd anlächelte. „Ein Vorschlag, erinnerst du dich? Fünftausend Pfund … Du und ich für vier Tage in London …“ Ihr Puls, der sich in den vergangenen Minuten etwas beruhigt hatte, beschleunigte sich wieder. „Was meinst du damit?“
Er wedelte mit dem Stück Zeitungspapier vor ihrer Nase herum. „Die Schatzsuche, natürlich.“
Sie riss ihm das Papier aus der Hand. Ihr Herz hatte offensichtlich viel zu heftig gepocht, denn nun schien es fast gar nicht mehr zu schlagen, stattdessen hörte sie laut das Rauschen des Flusses in den Ohren.
„… und du möchtest, dass ich deine Partnerin bin?“
Josh sprang von der Mauer und stellte sich vor sie. Im ersten Moment dachte sie, er würde ihre Hände ergreifen, doch dann trat er von einem Bein aufs andere und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Ja.“
„Warum?“ Das Wort war nicht mehr als ein ersticktes Keuchen. Sie versuchte es noch einmal. „Warum ich?“
Er schaute ihr direkt in die Augen. „Weil ich glaube, dass du die perfekte Partnerin wärst.“
Sollte sie lachen oder weinen? Vier Tage mit Josh. Vor einiger Zeit hätte sie das für den Himmel auf Erden gehalten, doch jetzt betrachtete sie es eher als die reinste Hölle. Natürlich wäre es wundervoll, Zeit mit Josh zu verbringen. Wenn ihr jemand in der vergangenen Woche gesagt hätte, dass sie vier Tage mit ihm zusammen sein sollte, dann wäre sie begeistert gewesen. Doch in der vergangenen Woche hatte sie auch noch geglaubt, sie wäre über diese alberne Teenager-Schwärmerei hinweg.
Das Adrenalin von dem Bungee-Sprung schien ihre Emotionen in Aufruhr versetzt zu haben, denn sie hatte den schlimmen Verdacht, dass sie dumme Dinge sagen, dumme Dinge tun und – was am gefährlichsten war – dumme Dinge fühlen würde. Für Josh.
In vier Tagen würde sie sich viel zu sehr verstricken, als dass sie ihre Gefühle einfach so abtun könnte – wie sie es am Tag nach der Party zu ihrem sechzehnten Geburtstag getan hatte. Vier Tage wären einerseits viel zu viel und andererseits niemals genug. Nicht, wenn er danach wieder wochenlang nach Katmandu oder Neuguinea verschwand.
Langsam stieß sie sich von der Mauer ab und glitt zu Boden. Sie kreuzte die Arme über der Brust.
„Tut mir leid, Josh. Ich kann nicht.“
Josh war sicher, dass ihre Antwort nicht so eindeutig war, wie Tonfall und Körpersprache suggerieren sollten. Wo lag das Problem? Diese Schatzsuche war doch ein großer Spaß.
Fern würde es sicher genießen, wenn sie der Sache nur eine kleine Chance gab. Ihr Stirnrunzeln besagte jedoch, dass sie nicht an den Spaßfaktor dachte, sondern sich über irgendetwas Sorgen machte. Praktische Dinge vermutlich.
„Der erste Preis sind fünftausend Pfund in bar und weitere fünftausend Pfund in Form von Urlaubsgutscheinen.“
Ein leicht hysterisches Kichern entschlüpfte ihr. „Urlaubsgutscheine? Wozu in aller Welt brauchst du Urlaubsgutscheine?“ Sie hielt kurz inne. „Wenn ich es mir recht überlege, brauchst du auch das Geld nicht.“
„Du willst wissen, warum ich es tue? Einerseits, weil es ein Riesenspaß wird, andererseits weil meine Eltern mal eine Auszeit brauchen und sich partout weigern, mich für diesen Urlaub bezahlen zu lassen. Ich habe wirklich alles versucht. Vielleicht akzeptieren sie diese Gutscheine. Wie du völlig richtig bemerkt hast, habe ich ja keine Verwendung für sie …“
Jetzt runzelte auch er die Stirn.
„Sie sind beide unheimlich gestresst. Dad ist frustriert, weil er nicht mehr der Workaholic sein kann, der er seit jeher war, und meine Mum hat Angst, er könne sich so sehr langweilen, dass er sich zu früh wieder zu viel aufhalst.“
Als Ferns Gesichtsausdruck sich etwas entspannte, entschied Josh gleich, die Gunst der Stunde zu nutzen. „Ich wollte ihnen eine Reise nach Schottland schenken, wo sie ihre Flitterwochen verbracht haben. Mum sagt immer, wie gut diese Berge der Seele tun.“
Fern lächelte. „Das ist eine schöne Idee.“
„Und was ist mit dir, Fern? Ich bin sicher, du könntest etwas Sinnvolles mit dem Geld anstellen. Vielleicht einen Teil der Hypothek bezahlen oder Ähnliches. Hat nicht dieser Simon irgendetwas von der Leukämie-Stiftung erzählt …“, in diesem Moment schaute sie auf, und er wusste, dass er auf dem richtigen Weg war, „… eine bestimmte Summe an Spenden, die gerade gesammelt wird?“
„Es kann sein, dass er etwas in der Art erwähnt hat“, entgegnete sie ruhig. Doch der äußere Schein trog: Fern war alles andere als ruhig.
Er legte eine Hand auf ihren Arm, zog sie allerdings nicht an sich, wie er es gern getan hätte. Wie er es gern tun würde, seit er hoch oben auf dem Kran die Hände um ihre schmale Taille gelegt hatte. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass es sehr unvorsichtig von ihm gewesen war, sie einfach so springen zu lassen.
„Komm schon, Fern. Die Chance auf fünftausend Pfund und dazu meine aufregende Gesellschaft. Was gibt es da noch zu überlegen?“
Sie schüttelte den Kopf, musste aber doch lächeln. „Du bist schon immer ein großer Kindskopf gewesen.“
„Und du hast mir immer vorgehalten, dass du deinen Ersatz-Großen-Bruder nicht häufig genug siehst.“
Erneut schüttelte sie den Kopf. „Ich kann nicht einfach alles stehen und liegen lassen. Ich muss arbeiten.“
„Was musst du arbeiten?“
„Nun, mein Job erfordert, dass ich Bauplätze und Gebäude besuche, um Risikofaktoren zu analysieren. Die Versicherungsgesellschaft entscheidet danach, welche Prämie sie festlegt.“
„Und wie viele solcher Termine hast du für die nächsten paar Tage geplant?“
„Nun, genau genommen keine …“, sie hob eine Hand, um ihn zu stoppen, „… aber ich will schon seit Ewigkeiten den Papierkram auf meinem Schreibtisch erledigen.“
„Sweetheart, Papierkram kann immer ein paar Tage warten.“ Ihre Blicke begegneten sich. „Du könntest deinen Boss doch fragen, oder?“
Sie murmelte irgendetwas vor sich hin und zog dabei ihr Handy aus dem hübschen kleinen Lederrucksack, den sie bei sich trug. Als sie eine Nummer wählte und sich ein paar Schritte von ihm entfernte, musste er sich ein Grinsen verkneifen. Außerdem bemühte er sich, nicht allzu auffällig auf ihren Po zu blicken, während sie völlig in das Gespräch – vermutlich mit ihrem Boss – vertieft war. Wann hatte Fern angefangen, sich so zu bewegen? So sexy und mit schwingenden Hüften?
Nach ein paar Minuten beendete sie das Gespräch und kam wieder auf ihn zu.
„Und? Hat er Ja gesagt?“
Sie seufzte und nickte einmal. Er hätte schwören können, dass sie irgendetwas in der Art murmelte wie: „Es scheint ansteckend zu sein“, während sie ihr Handy wieder in dem Rucksack verstaute. Nachdem sie die Schnalle geschlossen hatte, blickte sie zu ihm auf.
„Komm schon, Fern, es wird ein großer Spaß werden. Was meinst du?“
Ihre Antwort wurde halb von seiner Brust erstickt, denn er hatte sie in eine triumphierende Umarmung gezogen und damit seinen ursprünglichen Entschluss, lieber auf Distanz zu bleiben, ignoriert. Also gut, aus irgendeinem Grund wollte er sie unbedingt berühren. Na und? Wozu waren Impulse denn da, wenn man ihnen nicht folgte?
Fern war so an den Londoner Verkehrslärm gewöhnt, dass sie ihn eigentlich schon gar nicht mehr wahrnahm, während sie die U-Bahn verließ und in Richtung Trafalgar Square marschierte. Josh hatte sie gebeten, ihn dort um elf Uhr dreißig zu treffen, und nun war es schon beinahe fünf vor halb. Sie ging schneller.
Am Vorabend hatte sie sich im Internet noch ein wenig schlaugemacht. Die sogenannte Londoner Schatzsuche wurde von London City Radio organisiert, nicht nur um für deren Programm zu werben, sondern auch um berühmte Sehenswürdigkeiten erneut in den Blickpunkt des Interesses zu rücken. Außerdem sollten sie Orte und Nischen der Stadt kennenlernen, die selbst eingefleischten Londonern unbekannt waren.
Am Trafalgar Square hatte sich bereits eine größere Menschenmenge eingefunden, als sie erwartet hatte. Von der Website der Schatzsuche wusste sie, dass vierzig Teams à zwei Personen antraten. Wenn sie es richtig verstanden hatte, dann reduzierte sich die Anzahl der Teams jeden Tag, sodass am Sonntag nur noch insgesamt zehn Teams um den Sieg kämpften.
Fern brachte ihren kleinen Rucksack in eine etwas bequemere Position. Er enthielt Kleidung zum Wechseln, ein paar Toilettenartikel und einen Mini-Erste-Hilfe-Kasten. Eigentlich hatte sie geglaubt, sich auf das Allernötigste beschränkt zu haben, dennoch wurde der Rucksack mit jedem Schritt schwerer.
Wo war Josh? Sie suchte die Menge ab, konnte ihn aber nirgends entdecken.
Also entschloss sie sich, zur Registrierung an den Organisatorentisch zu gehen, wo bereits einige ähnlich gekleidete Leute in einer Reihe anstanden. Rote T-Shirts mit dem Logo von London City Radio lagen für alle Teilnehmer der Schatzsuche bereit. Die Anspannung und Aufregung war überall zu spüren.
Ehe sie sich einschrieb, blickte sie noch einmal auf die Uhr. Zwanzig vor zwölf. Joshs Namen hatte sie nirgendwo auf der Liste gesehen. Sie warf noch einen Blick über die Schulter, dann füllte sie das Formular aus. Erledigt. Jetzt war sie angemeldet.
Der Mann am Tisch reichte ihr ein Blatt Papier, das sie geistesabwesend an sich nahm, während sie sich bereits wieder umdrehte und erneut die Menge absuchte.
Wo steckte er?
Enttäuschung erfasste sie, gefolgt von einer merkwürdigen Lethargie. Ihr Rucksack wurde ihr endgültig zu schwer, sodass sie ihn vom Rücken nahm und auf den Boden zu ihren Füßen fallen ließ. Sie war wütend, weil Josh es schaffte, dass sie sich wieder wie früher fühlte. Übersehen. Nicht wichtig genug. Wenn er endlich auftauchte, dann sollte er eine wirklich gute Erklärung parat haben!
Fern schritt den ganzen Platz ab auf der Suche nach Josh. Nachdem sie eine Runde gedreht hatte, kehrte sie zum Tisch der Organisatoren zurück, und dort, endlich, entdeckte sie ihn – ein Lächeln auf den Lippen und ein altbekanntes Funkeln in den Augen. Dieses Funkeln war geradezu legendär – es bedeutete, dass eine Frau nicht weit sein konnte. Fern ließ den Blick nach rechts schweifen und – bingo!
Wie konnte er es wagen, vollkommen ruhig und gelassen mit anderen Frauen zu flirten, wenn das Rennen bereits in zehn Minuten losging und er sich nicht mal die Mühe machte, nach ihr zu suchen?
Sie sollte sich auf vier Tage mit Josh freuen? Von wegen! Sie musste völlig den Verstand verloren haben! Die Schatzsuche hatte nicht mal begonnen, und schon wurden ihre Gefühle einer reinen Achterbahnfahrt ausgesetzt. Von Frustration über Verzweiflung bis hin zu Wut war alles dabei – und sie hatte sich bereit erklärt, das vier Tage lang mitzumachen!
Nur mit Mühe kontrollierte sie ihren Zorn, während sie auf Josh und die junge Frau neben ihm zuging. Erst als sie nur noch einen knappen Meter von ihm entfernt war, wandte er sich von der langbeinigen Brünetten mit dem roten T-Shirt und den knappen Shorts ab. Wie oft hatte die Frau die Shorts wohl gewaschen, damit sie so eng saßen?
„Fern!“ Er schaute erst auf die Uhr, dann warf er ihr einen nachsichtigen Blick zu. „Du hast dir ganz schön Zeit gelassen, was?“
Fern hätte am liebsten den Kopf zurückgelegt und vor Frustration laut geschrien. Natürlich tat sie nichts dergleichen. „Um ehrlich zu sein, bin ich schon seit Ewigkeiten hier und suche nach dir.“
Josh schenkte ihr einen Blick, der in etwa besagte: „Ups! Entschuldigung!“ Sie schüttelte den Kopf.
„Ich habe wahrscheinlich die Zeit vergessen, während ich mich hier ein wenig mit Kate unterhalten habe.“
Darauf würde sie wetten.
Von irgendwo hinter ihnen erklang ein schrilles Geräusch, als jemand gegen das Mikrofon klopfte, das an die Lautsprecheranlage angeschlossen war. „Komm schon“, sagte Fern. Durch Josh schien urplötzlich ein Ruck zu gehen, denn er folgte ihr sofort an das Ende der Menge. Warum überraschte es sie nicht, als sie zurückblickte, dass Kate auf seinen Po starrte?
Ein London City Radio