Traumpfade - Algernon Blackwood - E-Book

Traumpfade E-Book

Algernon Blackwood

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Beschreibung

Nach Aileen bietet Zwielicht mit Traumpfade nun den zweiten Sonderband mit deutschen Erstübersetzungen von Algernon Blackwood. Das Spektrum der sechzehn Erzählungen reicht von solidem Horror, über subtiles Grauen, bis hin zur Rebellion ungelesener Bücher. Neben der Titelgeschichte sind die folgenden Texte enthalten: Smiths Untergang (The Destruction of Smith) Der Mann von den 'Göttern' (The Man of the 'Gods') Skeleton Lake (Skeleton Lake: An Episode in Camp) Inititation (Initiation) Wem der Hut passt (If The Cap Fits) Eine ägyptische Romanze (Egyptian Sorcery) Die Exzentrizität des Simon Parnacute (The Eccentricity of Simon Parnacute) Meeresrausch (The Sea Fit) Reisende (Wayfarers) H.S.H. (H.S.H.) Das weiße Pferd (The Tradition) Die Flüsterer (The Whisperers) S.O.S. (S.O.S.) Eine Episode in der Wüste (A Desert Episode) Die goldene Fliege (The Golden Fly) Das Titelbild stammt von Björn Ian Craig

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Seitenzahl: 387

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Algernon Blackwood

Traumpfade

Unheimliche Geschichten

Algernon Blackwood - Traumpfade

Zwielicht Sonderband

Herausgegeben von Michael Schmidt & Achim Hildebrand

Kontakt: [email protected]

Die Übersetzungen sind von Achim Hildebrand

Titelbild: Björn Ian Craig

Lektorat: Silke Brandt, Frank Duwald, Marianne Labisch, Michael Schmidt

Dezember 2022

Inhalt

Vorwort

Traumpfade

Smiths Untergang

Der Mann von den Göttern

Skeleton Lake

Initiation

Wem der Hut passt

Eine ägyptische Romanze

Die Exzentrizität des Simon Parnacute

Meeresrausch

Reisende

H.S.H.

Das weiße Pferd

Die Flüsterer

S.O.S.

Eine Episode in der Wüste

Die goldene Fliege

Bibliographische Angaben

Algernon Blackwood

Algernon Henry Blackwood (* 14. März 1869 in Shooter's Hill; † 10. Dezember 1951 in Beckenham) war ein britischer Autor phantastischer Literatur, der vor allem durch seine Spuk– und Horrorgeschichten bekannt wurde, die er aus wirtschaftlicher Not zu schreiben begann. Sie sind stark geprägt von den Eindrücken seiner zahlreichen Reisen und beruflichen Erfahrungen, aber auch von seiner Neigung zu Esoterik, Naturmystik und der Theosophie Blavatskys und Gurdjeffs, mit denen er auch persönlichen Kontakt hatte. Wie Arthur Machen war er Mitglied des Golden Dawn-Ordens, einer den Rosenkreuzern nahestehenden, magischen Geheimgesellschaft. Er gab an, selbst Geistererscheinungen gesehen, und diese in seinen Geschichten verarbeitet zu haben.

Blackwoods Œuvre umfasst etwa 200 Kurzgeschichten, 12 Romane, Schauspiele und Gedichte. Seine populärsten Werke sind unter anderem Der Wendigo und Die Weiden. Von letzterer sagte H.P. Lovecraft, es sei wahrscheinlich die beste unheimliche Erzählung, die je geschrieben wurde. Auch sein Dr. John Silence, ein früher Vorläufer der Ghost Busters, gelangte in insgesamt sechs Erzählungen zu einiger Popularität.

Blackwood war zu seiner Zeit sehr bekannt und beliebt. Ende der 30er Jahre bekam er eine eigene Fernsehshow: Saturday Night Spot, in der er unter dem Spitznamen 'Ghost Man' Geistergeschichten vorlas. 1949 wurde er für sein Werk mit dem Titel Commander of the British Empire ausgezeichnet.

Er starb 1951 nach einer Serie von Schlaganfällen und seine Asche wurde am Saanenmöser-Pass im Berner Oberland verstreut.

Vorwort

Als wir 2018 die Anthologie Aileen veröffentlichten, in der wir alle bis dahin in Zwielicht erschienen Blackwood-Übersetzungen zusammenfassten, wurde diese von den Lesern sehr gut aufgenommen. Für uns ein Grund zur Freude und zum Dank. Allerdings war eine der häufigsten Fragen, die uns daraufhin erreichten: "Und wann kommt der zweite Band?" Das war nun eher ein Grund sich hinter dem Ohr zu kratzen. Denn wenn wir das Konzept mit dem Rhythmus der Zwielicht-Erscheinungen so hätten weiterführen wollten, wäre die Antwort gewesen: Irgendwann ab 2025.

Eine so lange Wartezeit wollten wir den Blackwood-Liebhabern auf keinen Fall zumuten, und daher entschieden wir uns für eine leserfreundlichere Lösung: Einfach fleißiger übersetzen. Das haben wir getan, und … voilà!

Das hat nicht nur zur Folge, dass dieser zweite Band früher als geplant erscheinen konnte, sondern auch, dass er, nicht wie Aileen, nur eine Bonusgeschichte enthält, sondern gleich zehn, die exklusiv in Traumpfade enthalten sind. Die Tradition, in jeder Zwielicht-Ausgabe eine Blackwood-Geschichte zu bringen, werden wir natürlich weiterhin beibehalten.

Auch diesmal spiegeln die Geschichten Blackwoods ganze Schaffensbreite wider. Die Schauplätze reichen vom Lagerfeuer in der kanadischen Wildnis, über die Schweizer Alpen, bis in die ägyptische Wüste – die Themen vom konkreten Schrecken über das subtile Grauen und Liebe in der Ewigkeit, bis zu mystischen Erfahrungen im Reich der alten Götter. Mit den Exzentrizitäten des Simon Parnacute entdecken wir zudem Blackwoods Talent für das liebenswert-groteske und sein Mitgefühl für das Leid der Kreatur.

Alle enthaltenen Geschichten sind nach unserem besten Wissen deutsche Erstübersetzungen. Wir sind aber dankbar für Hinweise, wenn dies in einem Fall nicht zutreffen sollte.

Im Rahmen der Zwielicht-Reihe sind in den Bänden 13 bis 17 die folgenden Geschichten schon vorab erschienen:

Smiths Untergang (The Destruction of Smith)

Eine ägyptische Romanze (Egyptian Sorcery)

Skeleton Lake (Skeleton Lake: An Episode in Camp)

H.S.H. (H.S.H.)

Die Flüsterer (The Whisperes)

Damit hoffen wir, für jeden Lesergeschmack das Richtige gefunden, und für die Liebhaber die Lücken in ihrer Sammlung wieder ein Stück weit geschlossen zu haben.

Wie immer freuen wir uns auch über Eure Meinung, sei es Kritik, Lob oder Vorschläge für den nächsten Band.

Zuletzt, aber ganz besonders herzlich, bedanken wir uns bei allen, die zum Entstehen dieser Anthologie beigetragen haben, und ohne deren Unterstützung sie so nicht zustande gekommen wäre.

Und damit wünschen wir wieder allen Lesern gute Unterhaltung und gepflegtes Grauen, beim Eintauchen in die Wirklichkeit, die Blackwood neben der unseren geschaffen hat.

Traumpfade

Die zarten Schleier der Dämmerung wehten durch das Herbstlaub, als wir unvermutet auf eine Herberge trafen, die trotz des großen Maßstabs unserer Karte nicht darauf verzeichnet war. Und höchst günstigerweise, denn mein Freund Ducommun war sichtlich erschöpft. Eine Reizbarkeit, die seinem sonst so gemütlichen Wesen fremd war, hatte das Dahintrotten während der letzten Stunden ein wenig schwierig gestaltet, und ich fühlte, dass wir die schmale Grenze zwischen Erfolglosigkeit und Scheitern erreicht hatten.

„Noch fünf Meilen bis zu der Herberge, die wir heute Morgen ausgewählt haben“, sagte ich zu ihm. „Aber wenn wir tüchtig ausschreiten, haben wir es bald geschafft.“

„Ich bin fertig“, ächzte er. „Ich kann einfach nicht mehr.“

Er ließ sich auf einen Mauerrest sinken, um sich auszuruhen, während die Dunkelheit merklich zunahm und der Wind feucht und kalt über die Marschen zu unserer Linken wehte. Aber hinter der Gereiztheit seines Tons, die allein von der Erschöpfung rührte, spürte ich noch etwas anderes, etwas, das sich über Tage hinweg angestaut hatte. Denn die Erwartungen an unsere Wandertour hatten sich keineswegs erfüllt: Ständig unterschätzte Entfernungen, zudem schmuddelige Herbergen, mürrische und ungastliche Einwohner, und selbst das Wetter war uns nicht wohlgesonnen.

Und Ducommuns Enttäuschung war in gewisser Weise eine zweifache, so dass ich tiefes Mitgefühl für ihn empfand. Denn dies war das Land, über das seine Vorfahren einst als Besitzer geherrscht hatten, als Edelleute und dergleichen. Er hatte sich immer danach gesehnt, es zu besuchen; sich insgeheim einer zurechtgelegten Vorstellung hingegeben, in der er irgendwie eine herausgehobene, bedeutende Rolle spielen würde, zu der ihn sein edles Blut berechtigte. Heute ein Angestellter in einem gewöhnlichen Versicherungsbüro, doch Nachkomme eines ländlichen, alten Geschlechts war er eng vertraut mit der Geschichte jener Periode, hatte die Tour sorgfältig und liebevoll geplant, und – die Unfreundlichkeit der Einwohner hatte seinen so lang gehegten und ersehnten Traum zunichte gemacht. Der kritische Punkt war erreicht. War nicht diese Herberge, die wir bei Einbruch der Nacht zu erreichen gehofft hatten, ein Teil ebendieses Schlosses – er hatte das mit Hilfe zahlreicher modriger Dokumente nachgewiesen – in dem seine Familie einst in althergebrachtem Prunk gelebt hatte? Und hatte er sich nicht im Vorhinein jeder Art von wundervoll geheimen Träumen hingegeben?

Es war an diesem Punkt, als ich von einem kleinen Erkundungsgang zurückkehrte und ihm von meiner kühnen Entdeckung eines unerwarteten Übergangshauses berichtete. Ich fand ihn halb eingeschlafen auf den Steinen und er wollte mir die knappe halbe Meile nicht abkaufen, die ich ihm versprach.

„Nur ein weiteres Nest von dreisten Abzockern“, lachte er bitter, „und ohnehin nicht die Herberge, mit der wir gerechnet haben.“

Er schleppte sich schweigend hinter mir her und beäugte misstrauisch die windschiefe, von Efeu überwucherte Bude, die dicht an der Straße stand. Doch er ging freudig vor mir hinein, um seine müden Glieder auszuruhen, und bekümmerte sich kein bisschen um etwaige Feilschereien, die einmal mehr unerfreulich sein mochten.

Doch die Herberge bot uns auf andere Weise eine Überraschung – sie war in jeder Hinsicht entzückend. Ein Torffeuer glühte in der durchaus geräumigen Eingangshalle, und der Hausherr und seine Frau strömten über vor lächelnder Freundlichkeit. Sie begrüßten uns mit einer altmodischen Würde, die jedes Feilschen unmöglich machte. Binnen zehn Minuten fühlten wir uns so zuhause, als wären wir in einem Landhaus angekommen, in dem man uns seit langem erwartete.

„So wenige kehren heut noch hier ein“, erzählte uns die alte Frau mit einer anmutigen Geste, die eher vornehm als ehrerbietig wirkte. „Die guten alten Zeiten sind vorbei“, und sie zeigte uns auf jede erdenkliche Weise, dass alles, was sie besaßen zu unserer Verfügung stehe.

Schließlich schmolz auch Ducommun und wurde weich:

„So etwas kann einem nur in Frankreich passieren“, flüsterte er mit stolzem Unterton, als wollte er andeuten, dass dieser Hauch von vornehmer Lebensart, der zunehmend aus der Welt verschwand, im Land seiner Abstammung immer noch fortbestand – und auch in seinem eigenen Blut. Er tätschelte den riesigen struppigen Jagdhund, der den kleinen Raum fast auszufüllen schien, in dem wir auf das Abendessen warteten, und das freundliche Geschöpf sprang mit einer Art zurückhaltender Zuneigung an ihm hoch und bereitete ihm einen weiteren Willkommensgruß. Es war stolz auf seine Besitzer und stolz auf die Gäste seiner Besitzer.

Ich dachte an die vielgeliebten Schoßtiere in unseren englischen Landhäusern.

„Dieses Tier“, lachte ich, „hat offensichtlich unter Gentlemen gelebt.“ Und Ducommun nahm das Kompliment mit sichtlicher Zufriedenheit für sich selbst.

Es fällt mir im Nachhinein schwer, die zahllosen Kleinigkeiten genau zu benennen, die dieses Bild so vornehm zeichneten – sie wurden so feinfühlig angedeutet, still hineingemalt mit geistigem Feingefühl. Es sticht in einem fremdartig glänzenden Licht als die zauberhafteste Erfahrung all meiner Wandertouren aus meiner Erinnerung hervor. Und immer noch, über allem wie der Schleier eines Wunders, das sich der Beschreibung entzieht, gleichzeitig eine Atmosphäre von etwas – ich verwende den besten verfügbaren Ausdruck – wahrhaft Einzigartigem.

Dieser Eindruck von etwas Entferntem, Unbestimmtem, Einzigartigem, schlich sich von Anbeginn in mich ein und brachte einen unberechenbaren Zauber mit sich. Wie eine Droge lullte er jeden möglichen Argwohn ein. Und in meinem Freund – ein Detail des Bildes, das meinem Herzen am nächsten liegt – verriet es sich zum ersten Mal selbst, in einem Ausmaß von Überraschung zudem, das einem Schock glich.

Denn als er vor mir unter dem niedrigen Vordach entlangging – veränderte er sich unbestreitbar. Dieser undefinierbare Wandel umgab seine ganze Erscheinung in meinen Augen; müden Augen, wie ich gestehen muss, und auch, dass es dämmrig war, und der verwandelnde Zauber des Torffeuers hinter ihm wirkte. Doch ohne in bloße Beschreibung zu verfallen, könnte ich zum Teil und grob gesagt vielleicht so ausdrücken: Plötzlich verwandelte sich seine Schlaksigkeit in reine Anmut. Die Ausstrahlung eines Londoner Büroangestellten auf Urlaub löste sich auf, und die Art, wie er den Kopf neigte, als er unter dem dunklen Türsturz hindurchtrat war vornehm und distinguiert, intuitiv von natürlicher Eleganz und wahrhaft aristokratisch. Sie kam spontan und völlig überzeugend. Es war ein herrlicher Anblick, der mich für einen Moment mit einem seltsamen Zauber bestrickte. Alles was ich in diesem Mann geliebt und vermutet hatte und irgendwie verborgen gewesen war, kam nun hervor und an die Oberfläche.

Eine – zumindest halbwegs schlüssige – Erklärung hatte ich rasch parat: Nämlich, dass Häuser Menschen ändern, weil sie, wie Kleider bei Frauen und Kindern, dem üblichen Aussehen eine neue Note verleihen und die Eigenschaften, an die man gewöhnt ist, in neuem Licht sehen lassen.

Doch solch eine subtile Änderung konnte es bei ihm nicht erklären, denn sie dauerte nicht nur den ganzen Abend über an, sondern steigerte sich noch auf höchst seltsame Weise. Zwar behielt er während der ganzen Zeit seine schweigsame Art bei, doch es war ein glückseliges, verträumtes Schweigen, das den Zauber echter Kameradschaft in sich trug. Seine Enttäuschung war ebenso vollkommen verschwunden, wie die Erinnerung an unsere bisherigen trostlosen Herbergen und die unfreundlichen Leute.

Ich kann dennoch nicht behaupten, dass ich ihn wirklich sorgfältig beobachtete, da ein Anschlag aus anderer Richtung meine Aufmerksamkeit gleichermaßen fesselte. Die Anmut der Tochter des Hauses, in deren Augen, wie mir schien, all die stille Traurigkeit des Landes lag, durch das wir gewandert waren – triste, morne, verlorenes Land – beanspruchte einen großen Teil meiner Achtsamkeit.

Die alten Leute überließen uns ganz ihrer Obhut, und die Art und Weise, wie sie sich um uns kümmerte, wie sie unsere Wünsche vorausahnte, bevor wir sie auszusprechen wagten, hatte mehr von perfekten Gastgebern, als von Leuten, die lediglich gegen Bezahlung für uns sorgten.

Die Frage der Bezahlung kam indes nicht einmal auf, ich kann auch nicht sagen, woher mein Eindruck rührte, dass diese Gastfreundschaft tatsächlich ohne den geringsten Gedanken an eine Bezahlung in Gold oder Silber gewährt wurde. Dass ich ihn hatte, kann ich beschwören, auch, dass dahinter keine Andeutung für die Absicht lag, bei der Abreise gesalzene Preise zu berechnen – mit dem Vorwand, dass die Bedingungen ja nicht im Vorhinein ausgehandelt worden seien. Wir wurden willkommen geheißen wie erwartete Gäste und mein Herz jubelte, diesem Geist althergebrachter Gastlichkeit begegnen zu dürfen, den die Gier des modernen Lebens fast überall zerstört hat.

„Morgen oder übermorgen, wenn Sie sich ausgeruht haben“, sagte das Mädchen, das nach dem Abendessen bei uns saß und sich um das Feuer kümmerte, „werde ich sie durch die Allée des tilleuls – Lindenallee, zum Fluss führen und ihnen die besten Plätze zum Fischen zeigen.“

Da es natürlich schien, dass sie mit uns zusammensaß und plauderte, erinnerte ich mich erst später deutlich daran, dass der Fluss gute fünf Meilen von unserer Herberge entfernt war, hinter Mooren, die keineswegs Bäume vorweisen konnten, schon gar keine tilleuls und auch keine Spur von Alleen.

„Wir brechen beim Morgengrauen auf“, erwiderte Ducommun prompt und machte Anstalten, zu Bett zu gehen.

Sie holte die Kerzen, zündete sie für uns mit einem Streifen Papier am Torffeuer an und reichte jedem von uns eine – mit einem kleinen, sehnsüchtigen Lächeln in ihren tiefen, sanften Augen, an das ich mich noch heute erinnere.

„Sie werden lang und gut schlafen“, sagte sie ein wenig schüchtern und begleitete uns zum Fuß der Treppe. „Ich habe die Betten eigenhändig gelüftet und zurechtgemacht.“

Das letzte was ich von ihr sah, als wir auf dem Treppenabsatz anlangten, war ihre anmutige Gestalt vor der Dunkelheit, und wie das Kerzenlicht auf ihr üppiges, dunkelbraunes Haar fiel. Sie blickte mit diesen großen grauen Augen zu uns herauf, die mir so voller Sehnsucht schienen und doch so traurig, so entsagungsvoll, so seltsam schicksalsergeben …

Ducommun zog mich fast grob am Arm.

„Komm“, sagte er mit plötzlicher Entschlossenheit, und so, als sei alles erledigt. „Denk dran, wir müssen morgen früh raus.“

Ich folgte ihm widerwillig. Das alles war so fremdartig und traumartig, die Schönheit des Mädchens, sowie der plötzliche und verblüffende Wandel bei ihm selbst.

„Es ist, als wäre man mit Freunden zusammen in einem Landhaus“, murmelte ich und blieb einen Augenblick lang verwirrt vor seiner Tür stehen. „Fast wie ein alter Familienbrauch – stolz und erfreut, jemandem Unterkunft zu gewähren – eh?“

Seine Antwort war so völlig unerwartet, dass ich innehielt und ihm verständnislos in seine veränderten Augen starrte.

„Ich hoffe nur, dass wir ohne Probleme wegkommen“, brummelte er. „Ich meine, das heißt – davonkommen.“

Offensichtlich war seine frühere Stimmung wieder für einen Moment zurückgekehrt.

„Bist du müde?“, fragte ich mitfühlend. „Ich auch.“

„Hundemüde, ja“, erwiderte er knapp und fügte mit einem langsamen, eindringlichen Flüstern hinzu: „Und mir ist auch kalt – außerordentlich kalt.“

Die bedeutungsvolle, vorsichtige Art, in der er das sagte, ließ mich stutzen. Doch bevor ich irgendetwas über Erkältungen und Arzneimittel schwafeln konnte, zog er rasch die Tür vor mir zu und ließ diese letzten Worte in meinem Gehirn widerhallen: Kalt – außerordentlich kalt.

Eine Ahnung, was er gemeint haben könnte, überkam mich – uneingeladen und unwillkommen kam sie, verblasste plötzlich wieder und hinterließ ein vages Unbehagen. Denn die Kälte, von der er gesprochen hatte, war gewiss keine körperliche. Auch über mein Herz kroch ein seltsamer Eishauch. Die Kälte suchte einen Einlass. Aber es war keine gewöhnliche Kälte. Sie befiel eher den Geist und die Gedanken und legte sich auf die Seele. Indem er mir seine Gefühle beschrieben hatte, hatte er auch die meinen beschrieben; etwas in meinem tiefsten Herzen schien wie betäubt …

Ich ging rasch zu Bett. Die Nacht war ruhig und windstill, aber obwohl ich müde war, blieb mir der Schlaf lange fern. Das Unbehagen ließ mich nicht los. Ich lag da und horchte auf das Blut, das an den dünnen Wänden meiner Adern entlangpulste, wie es sang und murmelte, und als ich endlich doch wegdämmerte, verfolgten mich zwei lebhafte Bilder in meiner Unbewusstheit heim – sein Gesicht, als er im Flur die letzte Bemerkung machte, und das Gesicht des Mädchens, als es so sehnsuchtsvoll über die Kerze hinweg zu ihm aufgeblickt hatte.

Dann – augenblicklich, wie es mir schien – war ich wieder hellwach. Ich war mir bewusst, dass einige Zeit vergangen sein musste, aber auch über etwas anderes, Unglaubliches und irgendwie Schreckliches – nämlich, dass das Haus sich verändert hatte, während ich schlief. Ich lag fröstelnd in meinem Bett, als es mich völlig unvorbereitet traf, so, als ob etwas unerlaubt Besitz von mir ergriffen hätte, während ich ohne Bewusstsein dagelegen hatte. Der Gedanke an eine von außen kommende Veränderung ließ mich schaudern. Wie ich das so augenblicklich erahnte, liegt jenseits jeder Erklärung.

Irgendwie begriff ich, dass das Zimmer, in dem ich erwacht war, dasselbe war wie zuvor, aber dass andererseits das Gebäude, dessen kleinen Teil es bildete, in der Dunkelheit eine Verwandlung, einen Austausch erfahren hatte. Mein Entsetzen kann ich ebenfalls nicht erklären, noch, warum es beinahe augenblicklich, anstatt sich zu steigern, in jene Stumpfheit abglitt, die ich bereits erwähnte – eine seltsame, tiefe Verwirrung, die selbst keine direkte Gefahr andeutete. Es schien, als ob nur ein Teil von mir – der wache Teil – wusste, was vor sich ging, und dass ein anderer Teil in Schlaf und Ahnungslosigkeit verblieb.

Denn das Haus war jetzt riesig. Es hatte eine unheimliche Transformation erfahren. Irgendwie wusste ich, dass das Dach sich rapide in die Dunkelheit erhob, die Mauern sich über Hektare erstreckten, Türme besaßen, Flügel und Mauerzinnen, breite Balkone und prächtige Fenster. Es war gewachsen an Alter und Würde … und hatte unsere kleine Herberge so mühelos verschlungen, wie ein Palast ein einziges Schlafzimmer aufnimmt. Die Schwärze um mich herum verbarg es natürlich, aber ich fühlte die gähnenden Korridore, die Weite aufragender Hallen, hohe Decken, geräumige Kammern, bis ich im Wesen eines stattlichen Gebäudes verloren schien, das sich imposant in die Nacht ausdehnte.

Dann regte sich der Instinkt – vielleicht mehr ein antreibender Impuls als eine bloße Vorstellung – hinauszugehen und nachzusehen. Was zu sehen?, fragte ich mich selbst, als ich mich in Richtung Fenster vorantastete und mich davor scheute, oder fürchtete, ein Streichholz anzuzünden. Und die Antwort kam, ohne jede Erklärung, kam hart und scharf in dieser Weise:

„Sie auf dem Rasen zu fangen.“

Und ich wusste, der seltsame Satz war richtig, denn die Umgebung hatte sich gleichermaßen wie das Haus verändert. Ich zog den Vorhang zur Seite und spähte hinaus auf einen Rasen, der noch Stunden zuvor ein ziemlich trostloser Fahrweg gewesen war, und dahinter auf ausgedehnte Gärten, begrenzt von parkähnlichen Gehölzen, wo vorher nur öde, halb aufgegebene Felder gelegen hatten.

Durch aufsteigenden Nebel schien matt das Mondlicht, und überall bestätigte mein Blick den einzigartigen Eindruck der Ausdehnung, die ich bereits erwähnte; denn weit links von mir erhob sich ein weiteres massiges Gebäude, das wie der Flügel eines großen Herrenhauses wirkte, schemenhaft gegen den Himmel. Direkt vor meinen Augen verdeckte ein vorragender Balkon Gehwege und Blumenbeete.

Nahebei beschien das Mondlicht die breite, träge Biegung des Flusses, die mit Weidendickichten den Rasen säumte. Auch der Fluss schien näher gerückt zu sein. Und während ich starrte und mich anstrengte, in diesem Übermaß an Illusion einen einzigen Umstand zu erkennen, der dies alles erklärte, bewegte sich gerade unter mir auf dem Rasen ein kleiner Baum etwas näher heran. Ich sah, dass es eine menschliche Gestalt war – eine Gestalt, die ich erkannte. In ein weites, fließendes Gewand gekleidet stand dort die Tochter des Hauses, als würde sie auf etwas warten. Und dieses Warten erklärte sich sogleich, denn eine weitere Gestalt, dieses Mal die eines Mannes, löste sich aus dem Schatten des Hauses und trat zu ihr. Sie glitt in seine Arme. Dann erklang vom Stall her das Wiehern von Pferden und das Paar entfernte sich mit plötzlicher Eile, verschwand geräuschlos wie Geister im Nebel. Drei Minuten später hörte ich das Knirschen von Hufen auf Kies, das sich rasch in der Nacht verlor.

In diesem Augenblick überkam mich eine wilde, nicht zu erklärende Reaktion, so als ob jener andere Teil von mir, der nicht erwacht war, nun zur Rettung eilte – durch eine Droge aus seiner Lähmung befreit. Ich fühlte Zorn, Empörung, Verbitterung und eine Woge der Entrüstung darüber, irgendwie hereingelegt worden zu sein.

Impulsiv – es schien keine Zeit übrig zu sein für Abwägen oder Bedenken – eilte ich über den Treppenabsatz – jetzt so merkwürdig breit und ausladend – und stürmte ohne anzuklopfen, Kopf voran, in das Zimmer meines Freundes.

Ich bemerkte sofort, dass das Bett leer und nicht einmal benutzt worden war. Die Möbel standen kreuz und quer herum, und auf dem Boden lagen Kleider verstreut – überall Anzeichen einer überstürzten Flucht. Und Ducommun war natürlich fort.

Was dann geschah ist verwirrend, wenn ich versuche, daran zu denken. Ich erinnere mich nur, dass ich planlos zwischen seinem und meinem Schlafzimmer hin und her jagte.

Da war ein Hasten und Trippeln in der Dunkelheit, und schließlich stolperte ich hart gegen eine Wand oder ein Möbelstück oder beides; die Dunkelheit legte sich über meinen Geist wie ein erstickender schwerer Vorhang, der alles verhüllte.

… und ich kam auf offener Straße zu mir. Mein Freund stand über mir, riesig in der Dämmerung, und gerade hinter uns das eingestürzte Mauerstück, auf dem er sich während meines Erkundungsgangs ausgeruht hatte. Der Mond ging auf, die Luft war feucht und kalt und er schrie mir ins Ohr:

„Ich dachte schon, du kommst überhaupt nicht wieder zurück. Ich bin ausgeruht genug. Wir sollten uns beeilen und die scheußlichen fünf Meilen bis zum Gasthaus hinter uns bringen.“

Wir brachen auf und gingen so flott, dass wir es in etwas mehr als siebzig Minuten erreichten, und kamen dabei an keinerlei Spur eines Hauses oder irgendeiner Art von Gebäude vorbei.

Ich war schweigsam, doch wenn Ducommun sprach, dann nur, um das trostlose, öde Land zu verfluchen und sich darüber zu wundern, warum seine Vorfahren ausgerechnet eine solche Wildnis als Wohnsitz ausgewählt hatten. Und als wir den Gasthof endlich erreichten, – der, wie er herausgefunden hatte, Teil des ursprünglichen Besitzes war, – verbrachte er den Abend damit, über Karten und Dokumenten zu brüten, die ihn schließlich zu dem Eingeständnis bewegten, dass seine Berechnungen alle falsch gewesen waren.

„Das Haus selbst“, sagte er, „muss weiter von der Straße weg gestanden haben, auf der wir gekommen sind. Und siehst du, der Fluss“, er deutete auf die schmutzige alte Karte, „hat seitdem seinen Lauf ein wenig geändert. Sein altes Bett lag viel näher am Schloss, entlang dem Zierrasen unter dem Park.“

Und er deutete wieder auf den Ort – mit einem Finger, der jetzt offensichtlich einen Bürostift hielt.

Smiths Untergang

Vor zehn Jahren begegnete ich in den westlichen Staaten der USA einem gewissen Smith. Aber er war kein gewöhnliches Mitglied dieser Sippe: Er war Ezekiel B. Smith. Smith aus Smithville. Er war Smithville, denn er hatte es gegründet und zum Leben erweckt.

Es war in den Ölbezirken, wo die Städte wie Pilze über Nacht auf der Karte sprießen, und ebenso in einer einzigen Nacht durch Feuer oder Erdbeben wieder zerstört werden können.

Smith war auf einer Jagdexpedition über eine natürliche Ölquelle gestolpert und hatte sofort seinen Claim darauf angemeldet. Ein paar Monate später war er reich, ebenso rasch zu Wohlstand gekommen, wie der Flecken Wildnis sich zu Straßen und Häusern wandelte, in denen man alles bekommen konnte, angefangen bei einem abendlichen Glücksspiel, bis zu einer Dose gebackener Bohnen mit Schweinefleisch aus Boston.

Smith war wirklich ein unglaublicher Bursche, eine Art menschlicher Dynamo, voll Energie und Schneid, und von einem ungewöhnlichen Urteilsvermögen in seinem Quadratschädel - jene Art von Urteilsvermögen, die auf höher ambitionierten Lebensbahnen Staatsmänner hervorbringt. Seine Persönlichkeit pflügte durch die Schwierigkeiten des Lebens mit der reinen und ungezwungenen Kraft, die darauf beruhte, dass er bei allem, was er anpackte, mit ganzer Seele dabei war. 'Den seinen gibt's der Herr im Schlaf' nannten es seine Kameraden, aber tatsächlich war es nichts als pures Talent, Charakter und Persönlichkeit. Der Mann hatte einfach Kraft.

Vom Augenblick des Ölfunds an stieg er sehr rasch auf, aber während seine Gedanken sich schon mit einem Dutzend anderer Unternehmen befassten, hing sein Herz doch immer an dem kleinen Smithville - dem mickrigen Städtchen, das er geschaffen hatte. Sein eigenes Leben wohnte darin. Es war sein Baby. Er sprach sehr zärtlich von seiner Scheußlichkeit. Smithville war ein intimer Ausdruck seines innersten Selbst.

Ich sah Ezekiel B. Smith nur ein einziges Mal und auch nur für ein paar Minuten, aber ich habe ihn nie vergessen. Es war im Augenblick seines Todes.

Wir trafen ihn auf einem Jagdtrip, dort wo die Wälder zu den unermesslichen Wüsten Arizonas dahinschwinden. Die Persönlichkeit des Mannes war außerordentlich beeindruckend. Ich ertappte mich dabei, wie ich ihn mit einem Berg verglich, oder einer elementaren Naturkraft, so selbstgewiss, dass er niemals Anlass zur Eile empfand. Und seine Liebenswürdigkeit war die Liebenswürdigkeit von Frauen. Große Stärke trägt oft - und die größte immer - auch Zartheit in sich, eine Zartheit, welche dem engstirnigeren Wesen unbekannt ist.

Unsere Begegnung war purer Zufall, denn wir jagten in einer Gegend, in der die Entfernungen in Stunden gemessen wurden und die Chance, auf einen Weißen zu treffen, äußerst gering war. Seit vielen Tagen hatten wir unsere Nachtlager an wundervollen Plätzen aufgeschlagen, deren Einsamkeit jener der ägyptischen Wüste glich. Auf der einen Seite waren die Berghänge bedeckt von dichtem Wald in dem sich kleine Lichtungen mit Süßgras, frisch und grün wie englischer Rasen, verbargen, Auf der anderen Seite erstreckte sich über mehr Meilen als ein Mann zählen kann, die trostlose Alkaliwüste Arizonas, wo Salbeibüsche bis zu den Klippen des Colorado Canyons die einzige Vegetation bilden. Unsere Pferde waren für die Nacht unter den Sternen angepflockt. Zwei Hinterwäldler kochten das Abendessen.

Der Duft von gebratenem Speck über einem Holzfeuer mischte sich mit der kühlen, würzigen Luft - als plötzlich die Pferde wieherten und so die Nähe eines ihrer Artgenossen anzeigten. Indianer, weiße Männer - vielleicht eine andere Jagdgesellschaft - mussten sich in Riechweite befinden, auch wenn meine Stadtohren noch nicht das Geringste hörten und es noch eine ganze Weile dauerte, bis die Ursache selbst in den Schein unseres Feuers trat.

Ich sah einen Mann mit kantigem Gesicht, braungebrannt wie eine Rothaut, mit Jagdhemd und Sombrero, langsam von seinem Pferd steigen und auf uns zu kommen, während er sich mit scharfen Blicken umschaute. Im selben Moment blickte Hank von seiner Bratpfanne auf, in der Speck und Rehfleisch in einem Teich aus Schweinefett brutzelten, und rief aus:

„Nanu, das ist doch Ezekiel B.!“

Und die nächsten Worte, die er an Jack richtete, der den Kessel festhielt, waren nur geflüstert:

„Wenn der mal nicht völlig fertig ist! Mann, schau dir nur seine Augen an!“

Ich erkannte, was er meinte: Das Gesicht eines menschlichen Wesens, verstört durch eine außerordentliche Gefühlsregung, eine Seele in tiefer Bedrängnis, doch so gut unterdrückt, dass sie sich nicht verriet. Einmal, als ich ein Zeitungsmann war, habe ich einen Mörder zum elektrischen Stuhl gehen sehen. Es war der gleiche Ausdruck. Der Tod war hinter den Augen - mit Smith war noch etwas gekommen: das Grauen.

In kurzen Worten erfuhren wir, dass er einige Wochen gejagt hatte und jetzt auf dem Weg nach Tranter war, einer Bahnstation, wo man einmal am Tag den Zug anhalten konnte, der einen 140 Meilen nach Süden brachte. Sein Ziel war Smithville, die kleine Stadt, an der sein ganzes Herz hing. Etwas war 'nicht in Ordnung' mit Smithville. Niemand fragte ihn, was das war, unter Jägern ist es Brauch, zu warten, bis der Andere freiwillig Erklärungen gibt. Aber Hank, der ihm sogleich zu einem Stück Rehfleisch verhalf - das er aber kaum anrührte - fragte beiläufig:

„Gute Jagd gehabt, Boss?“

Die kurze Antwort war vielsagend und bewies, wie begierig er war, seine Seele durch Reden zu erleichtern.

„Ich bin froh, dass ich auf euer Camp gestoßen bin, Jungs“, sagte er. „Das war wirklich Glück. Da läuft etwas falsch“, seine Stimme klang plötzlich belegt, „in Smithville.“

Hinter der lakonischen Bemerkung zeichnete sich das Grauen ab, das der Mann empfand. Feigheit zu offenbaren und im selben Atemzug „reines Glück“ einzuräumen, war für Smith dasselbe, wie die Hysterie, die Stadtleute zum Lachen oder Weinen bringt. Das war wirklich dramatisch. Was menschliche Tragödien betrifft, habe ich nie etwas Eindrucksvolleres erlebt - auch wenn ich kaum erklären kann, warum - als diesen unerschrockenen Mann mit seinem kantigen Gesicht; wie er da saß, den Feuerschein auf seinen derben Zügen, und diese schlichte Feststellung machte. Denn wie um alles in der Welt konnte er das wissen?

In der Pause, die nun folgte, kamen seine Indianer heran, saßen ab und pflockten ihre Pferde an. Ohne ein Wort setzten sie sich hin und nahmen das Essen entgegen, das Hank ihnen reichte. Aber in ihren unbeteiligten Mienen war nichts zu lesen. Rothäute zeigen nur selten, was sie fühlen. Dann machte Smith eine weitere, bedeutungsvolle Bemerkung:

„Sie haben es auch gehört“, sagte er mit gesenkter Stimme und wies nach den drei Männern. „Sie haben es ebenso so gesehen wie ich.“

Er blickte für einen Moment zum sternklaren Himmel.

„Gerade jetzt ist es uns dicht auf der Fährte“, fügte er hinzu, als erwarte er, dass etwas vom Himmel auf uns herab fallen würde. Ich schwöre, von diesem Moment an fühlten wir alle ein Gruseln. Die Dunkelheit um unser Camp barg das Grauen in ihren Falten. Der Wind, der in den Salbeibüschen wisperte, schien das Flüstern und Schlurfen lauernder Gestalten mit sich zu tragen, und als die Indianer sich lautlos entfernten, um ihre Zelte aufzuschlagen und Brennholz zu sammeln, war ich froh darüber, dass es ihre Aufgabe war und nicht die meine.

Dennoch ist dieses Gefühl von Unbehagen, etwas, was man in der freien Natur nur selten empfindet. Es gehört zu Häusern, zu überreizter Einbildungskraft und zur Anwesenheit böser Menschen. Die Natur hingegen schenkt Frieden und Sicherheit. Doch dass wir alle das Gleiche empfanden, bewies, wie echt es war. Und Smith, der es natürlich am stärksten fühlte, hatte es mitgebracht.

„Da läuft etwas schief mit Smithville“, war eine beunruhigende Ankündigung drohenden Unheils. Er hatte es so gesagt, wie ein Mann in einer zivilisierten Gegend vielleicht sagen würde: „Meine Frau liegt im Sterben, gerade ist das Telegramm gekommen. Ich muss den nächsten Zug nehmen.“

Aber wie Smith sich dessen so sicher sein konnte, tausend Meilen weit weg, in dieser verlassenen Ecke der Wildnis, bereitete uns ein sonderbares Unbehagen. Denn es war unglaublich - und doch wahr.

Das spürten wir alle.

Smith bildete es sich nicht ein. Eine Atmosphäre dunkler Vorahnungen legte sich über unser einsames Camp, so, als stünden seltsame Dinge bevor. Schon schlichen sie durch die gewaltige schwarze Nacht, belauerten uns mit zahllosen Augen. Der Wind war aufgefrischt und machte Geräusche in den Bäumen. Ich spürte kein Verlangen, mich schlafen zu legen. Die Art, wie Smith da saß und den Himmel beobachtete, wie er in den Schleier der Dunkelheit starrte, der die Wüste verhüllte, versetzte meine Nerven in Aufruhr. Er erwartete etwas - aber was? Etwas, das ihm folgte - durch die pfadlose Wildnis und offenbar über ihm unter den funkelnden Sternen. Etwas, das ihm 'dicht auf der Spur' war.

Dann, inmitten des qualvollen Schweigens, wurde Smith plötzlich redselig - ein weiteres Zeichen, seiner fortschreitenden geistigen Verwirrung. Er stellte Fragen wie ein Schuljunge - auch an mich, weil ich doch ''n gebildeter Mann' sei. Aber für ein Arizona-Lagerfeuer fragte er so verschrobene Dinge, dass Hank sich ernsthaft um seine geistige Gesundheit sorgte. Er wusste Bescheid über den 'Wahnsinn der Wildnis', der manche Leute befiel. Er ließ seine grüne Zigarre ausgehen und machte mir Zeichen, vorsichtig zu sein. Er hörte aufmerksam zu, mit Augen wie ein staunendes Kind - halb zynisch und halb, als sei er von abergläubischer Scheu erfasst.

Kurz und gut, Smith fragte mich, was ich von Geschichten über sterbende Menschen halte, die über weite Entfernungen jenen erschienen, die sie am meisten liebten. Er hatte solche Geschichten gelesen, hatte 'davon läuten' hören aber 'war'n se echt wahr oder nur so kleine Märchen?'

Ich versuchte ihn so gut es ging, mit ein oder zwei glaubwürdigen Geschichten zufrieden zu stellen. Ob er sie glaubte, kann ich nicht sagen, aber sein rascher Geist, kam blitzschnell auf den Punkt:

„Also, wenn so Geschichten wirklich wahr sin“, fragte er naiv, „dann sieht's doch so aus, als ob so 'n Bursche 'n Duplikat von sich selbst hätt' - in Reserve vielleicht - das im Moment des Todes frei un regsam wird un sich stracks auf'n Weg zu denen macht, die er am meisten liebt. Isses nich so, Boss?“

Ich räumte ein, dass diese Theorie zutraf. Und dann erschreckte er uns mit einer letzten Frage, die Hank einen gemurmelten Fluch ausstoßen ließ - ein sicheres Zeichen unbehaglicher Erregung bei dem alten Waldläufer. Smith flüsterte sie, während er über seine Schulter in die Nacht spähte:

„Isses dann nich genauso gut möglich“, fragte er, „Wenn mer bedenkt, dass Menschen und Natur gleich geschaff'n sin, dass auch Orte so 'ne doppelte Erscheinung von sich selbst ham, die frei wer'n, wenn sie untergeh'n?“

Unter den herrschenden Umständen war es freilich schwierig, zu erklären, dass diese Theorie tatsächlich schon in Betracht gezogen worden war, um die Visionen von Szenarien zu erklären, die bestimmte Menschen manchmal haben, und dass zum Beispiel eine Stadt eine eigene Persönlichkeit haben könne, zusammengewachsen aus den Persönlichkeiten ihrer Einwohner - aus den Stimmungen, Ideen, Gefühlen und Leidenschaften all derer, die ihr Leben und ihren Charakter prägten, und dass daher die Veränderungen im Wesen eines Menschen rühren konnten, wenn er von einer Stadt in die andere zog.

Für Erklärungen blieb auch gar keine Zeit, denn kaum hatte er diese seltsame Frage gestellt, als die Pferde wieherten, die Indianer auf die Füße sprangen, als würden wir angegriffen, und Smiths Gesicht die Farbe der Asche annahm, die in einem weißlich-grauen Ring um das Holz des Feuers lag. Auf seinem Gesicht lag der Ausdruck des Todes, oder, wie die irischen Bauern sagen, der 'Zerstörung'.

„Das ist Smithville!“, schrie er, sprang auf die Füße, taumelte, sodass ich dachte, er müsse ins Feuer fallen, „das ist meine geliebte Stadt - sie ist freigekommen und auf der Jagd nach mir, der sie gegründet hat und sie mehr liebt als irgendwas sonst auf Gottes weiter Erde!“

Und mit einem harten Schlucken in der Kehle, wie von einem Mann, der weinen möchte aber nicht kann, fügte er hinzu: „Und sie geht in Stücke - sie stirbt - und ich bin nicht da, um se zu retten!“

Er schwankte und ich ergriff ihn am Arm. Der Klang seiner angstvollen, gequälten Stimme und das Knirschen unserer Schritte zwischen den Steinen verklang in der Nacht. Wir alle standen da und starrten uns an. Die Dunkelheit schien uns dichter zu umschließen und das Wiehern der Pferde wurde lauter.

Für einen Augenblick geschah gar nichts.

Dann drehte sich Smith langsam um und hob den Blick zu den Sternen, als könne er dort etwas sehen.

„Hört ihr das?“, flüsterte er. „Es kommt immer näher. Das ist es, was ich gehört habe, immer und immer wieder, zwei Tage und zwei Nächte. Horcht!“

Seine flüsternde Stimme brach auf schreckliche Weise, der Mann litt grauenhaft. Für einen Augenblick wurde er ungeheuer, entsetzlich lebhaft - dann stand er reglos wie ein Toter. Doch in der bedrückenden Stille - nur unterbrochen vom Seufzen des Windes in den Zweigen - hörten wir zunächst gar nichts.

Dann geschah etwas höchst Eigenartiges: Etwas wie ein auf hohe Geschwindigkeit beschleunigter Dunst strömte vom Himmel und verhüllte eine große Anzahl Sterne. Gleichzeitig ertönten wie aus ungeheurer Ferne, aber rasch sich nähernd, Geräusche, die jenseits allen Zweifels die Geräusche einer vom Himmel rasenden Stadt waren. Sie kamen von allen Seiten, und gleichzeitig mit ihnen schoss eine rötliche, streifige Erscheinung über den dunstigen Schleier, der so rasch und sanft zwischen den Sternen und unseren Blicken wehte. Sie war grell und in gewisser Weise schrecklich

Ein Gefühl hilfloser Verwirrung übermannte mich und beraubte mich meiner Fähigkeiten, wie angesichts eines Großbrandes, wenn der Geist verzweifelt versucht, sich selbst zu beherrschen und möglichst das Beste zu tun. Hank hastete mit schussbereitem Gewehr ziellos zwischen uns herum und knurrte einen Fluch nach dem anderen. Die überwältigende Gewissheit, dass etwas Lebendiges vom Himmel auf uns herabkam, hatte uns alle gepackt, und ich selbst hatte das Gefühl, als fege ein gigantisches Wesen aus der Nacht über mich hinweg - verschlingend und zerstörend - und nicht nur eins, sondern zahllose. Meine Kräfte verließen mich. Ich konnte nicht einmal genau erkennen, was tatsächlich geschah. Verwirrt und benommen starrte ich hierhin und dorthin, aber ich fand keine Kraft, mich zu bewegen, und meine Füße versagten mir den Dienst. Ich weiß nur noch, dass die Rothäute reglos wie steinerne Statuen dastanden.

Die Geräusche über uns schwollen zu einem Brüllen an. Das ferne Gemurmel kam über uns wie eine Flut. Ein wirres, babylonisches Geschrei. Hier in der tiefsten, alten Wildnis, in der auf hunderte von Meilen kein anderes menschliches Wesen wandelte, erhob sich ein Sturm von rufenden, weinenden, kreischenden Stimmen - das heisere Brüllen von Männern und die hohen Schreie von Frauen und Kindern. Und über allem ein donnerndes Dröhnen.

Doch all dies - auch wenn es so offensichtlich über unseren Köpfen stattfand - schien auf unerklärliche Weise aus weiter Ferne zu kommen: gedämpft und zwischen den Sternen verklingend. Es wirkte mehr wie eine Erinnerung an Aufruhr und Tumult als das Toben in unmittelbarer Nähe und Gegenwart. Und in ihm flutete das Krachen zusammenstürzender Dinge, splitternder Zerstörung und das scheußliche, donnernde Bersten des Zusammenbruchs. Ich glaubte, die Berge würden auf uns herabfallen. Es schien, als rase eine kreischende Stadt über uns durch den Himmel.

Wie lange es dauerte, kann ich nicht sagen, denn mein Zeitgefühl hatte mich völlig verlassen. Alle Gefühle, an die ich mich erinnere, vereinigen sich zu einer fürchterlichen, wilden Angst. Es war, als beobachte oder läse oder träume ich eine Szene schrecklicher Verwüstung, bei der menschliches Leben massenhaft vernichtet wurde, so, als werfe jemand eine Schachtel voll Insekten in ein loderndes Feuer. Die Vorstellung von Feuer, dichtem, erstickendem Rauch und tosender Flammen überlagerte das ganze Geschehen.

Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass es, so vollständig endete, als hätte es nie stattgefunden. Die Sterne schienen wieder freundlich vom klaren Himmel und - ich spürte den Geruch von versengtem Leder in meiner Nase. Ich trat einen Schritt zurück - gerade noch rechtzeitig um meine Füße zu retten. In meiner Erregung war ich in die heiße Asche des Feuers getreten. Hank schob mich mit dem Lauf seiner Büchse grob zurück.

Doch das Merkwürdigste war, dass ich, wie durch göttliche Erleuchtung, den Grund für das plötzliche Ende des schrecklichen Tumults begriff: Die Persönlichkeit der Stadt, freigesetzt und losgelassen im Moment des Todes, war zu dem zurückgekehrt, der sie erschaffen hatte, der sie liebte und dessen Lebensausdruck sie war. Die Existenz von Smithville war buchstäblich eine Projektion, eine Ausstrahlung der dynamischen, lebendigen Persönlichkeit ihres mächtigen Schöpfers. Und im Tod war sie zu ihm zurückgekehrt, mit einem Schock zusammengeballter Kraft, der kein menschliches Wesen standhalten konnte. Jahrelang hatte er sie mit Leben versorgt - doch allmählich, Schritt für Schritt. Jetzt war sie in ihren Ursprung zurückgestürzt, konzentriert und in einem einzigen, schrecklichen Augenblick.

„Das ist er“, hörte ich eine Stimme wie aus große Entfernung. „Er hat seinen letzten Schuss getan.“

Und ich sah, wie Hank einen Körper mit dem Gewehrkolben herumdrehte. Obwohl das Gesicht ruhig zu den Sternen aufschaute, war etwas an seinem Körper und seinen Gliedern, das einen enormen Ausbruch andeutete, der mit entsetzlicher Gewalt jede Faser verdreht und doch irgendwie den Körper als Ganzes unversehrt gelassen hatte.

Wir brachten 'es' nach Tranter, und an der ersten richtigen Bahnstation an der Strecke, erfuhren wir über Telegraf die Nachricht:

„Smithville durch Feuer ausgelöscht. Brannte zwei Tage und zwei Nächte. 3000 Todesopfer.“

Seitdem höre ich in meinen Träumen immer wieder diesen seltsamen, furchterregenden Schrei von Smithville, der kreischenden Stadt, die kopfüber durch den Himmel raste.

Der Mann von den Göttern

Etwas stimmte nicht mit allen seinen Werken, das wusste Le Maistre nur zu gut. Worten und Musik fehlte einfach jenes namenlose Etwas – wie die Kritiker ihm immer wieder bescheinigten – welches sie gut – und vielleicht großartig – gemacht haben würde. Überdies war er verständig genug, zu erkennen, dass die Schuld nicht bei einem verständnislosen Publikum, sondern schlicht bei ihm selbst lag. Dem Funken der Inspiration, der zweifellos in seinem ganzen Werk glühte, war es nie gelungen, sich zur Flamme zu erheben. So erwärmten seine Inszenierungen zwar die Menschen, aber sie entflammten sie nicht. Er verstand recht gut, woran es mangelte – und dass keine noch so akribische 'Arbeit' dem abhelfen würde.

Doch bei einer Gelegenheit erzielte Le Maistre einen einzigartigen und verblüffenden Erfolg. Es wurde – hinter Initialen verborgen – als nüchterner Tatsachenbericht in den Protokollen der Französischen Psychologischen Gesellschaft veröffentlicht; und Menschen, die an das unterbewusste Selbst, das höhere Ich und all diese tröstlichen Lehren über einen erkennbaren Gott im Innern glaubten, richteten große Verwirrung mit den Fakten an. Die Art, wie sie zustande kam, hatte zudem eine hintergründige psychische Bedeutung. In jedem Fall bleibt das Ergebnis ein greifbarer Beweis im besten Sinn; denn dieses sogenannte 'Märchenspiel' war der einzige große Erfolg, den er je errang; und seine Schönheit war absolut fesselnd.

Er war etwas über fünfzig, als er es in seiner ursprünglichen Fassung schrieb. Der Leitgedanke kam ihm als ein Blitz echter Inspiration, wie auch der größte Teil der Musik; doch während er beides ausarbeitete, erstickte das Feuer mehr und mehr. Der Funke hatte sich nie zur Flamme entwickelt. Das Ergebnis war Mittelmäßigkeit. Indes, wie so viele Künstler, verwechselte er das, was er im Kopf und in seiner Vorstellung hatte, mit dem, was er schließlich zu Papier brachte; denn als er für sich das Werk noch einmal durchging, hörte er die ursprüngliche Schönheit in seinen Gedanken und glaubte, er habe die eigene Erinnerung an diese Schönheit in sein Werk übertragen. Die Musik und die Worte selbst hatten sie jedoch nicht eingefangen. So waren jene, die es hörten, als er es zum ersten Mal im kleinen Kreis vorspielte, mehr oder weniger gelangweilt, je nach ihrer Fähigkeit das Kommende vorherzusehen.

„Es ist schön, es ist originell“, bemerkten sie, als sie nach der Vorführung kopfschüttelnd nach Hause gingen. „Aber es fehlt das gewisse Etwas!“ Die Veränderung, die das gewöhnliche Blei wie in einem geheimnisvollen alchimistischen Prozess in Gold verwandelte, trug sich folgendermaßen zu:

Das kleine Vorspiel war beendet und Le Maistre, der einen bestimmten Intendanten im Auge hatte, ging eines Nachts zu diesem speziellen Theater, um ein 'Gefühl' dafür zu bekommen – die Atmosphäre des Hauses, die Größe der Bühne und all die anderen Einzelheiten. Das Management hatte ihm einen Logenplatz zugewiesen, und er hatte einen vortrefflichen Blick. Es war charakteristisch für den Mann, dass er sich diese übertriebene Mühe machte. Während der Vorstellung arbeitete sein Geist eifrig. Doch er sah nichts von dem, was sich vor seinen Augen abspielte; er war mit einer ganz bestimmten Absicht gekommen; er sah die ganze Zeit über sein eigenes Stück, hörte seine eigene Musik, schaute zu, wie seine eigenen Geschöpfe in seiner eigenen Kulisse kamen und gingen.

Zugleich erzeugten Musik, Licht und Farben einen Reiz, der sich auf seine eigene Vorstellungskraft auswirkte und den ganzen feineren Mechanismus seines eigenen schöpferischen Geistes in Gang setzte. Unterbewusst überarbeitete er sein eigenes Werk, mit dem erleuchtenden Ergebnis, dass ein weißes Licht durch seinen Geist schien und ihm all die Schwächen und Stellen zeigte, an denen er 'es vermasselt' hatte; all die Passagen, an denen er sich in Banalitäten verloren hatte. Und ein unbändiges Verlangen durchdrang ihn, sein Werk im Licht dieser Erkenntnisse zu überarbeiten.

„Ich hatte das Gefühl“, sagte er, „als wäre ein großes Gebet von mir aufgestiegen – sozusagen ein Schrei an mein höheres Selbst, zu kommen und mir beizustehen. Nie zuvor in meinem Leben habe ich etwas so innig gewünscht.“

Dann verblasste alles auf die kuriose Art und Weise, die wohl vielen Künstlern vertraut ist, und die Reaktion setzte ein. Die Anstrengung hatte ihn zweifellos erschöpft. Er wandte seine Aufmerksamkeit der tatsächlichen Vorstellung vor ihm zu und verlor die Kraft, sich sein eigenes Werk bildlich vorzustellen. Aber das Stück – trivial, vulgär und lebensfern – ermüdete ihn. Er zog sich in seiner Loge zurück und schlief augenblicklich auf dem kleinen Plüschsofa ein.

Als er beträchtliche Zeit später aufwachte, war das ganze Theater dunkel und leer – das Stück war zu Ende, das Publikum bis auf den letzten Mann gegangen und das Gebäude verlassen.

Le Maistre begriff sofort, was geschehen war – auch wenn er sich nicht erklären konnte, warum der Applaus am Ende ihn nicht geweckt hatte – und streifte sich rasch seinen Mantel über. Ein schwaches Schimmern erfüllte den riesigen Zuschauerraum, denn als er sich über die Brüstung lehnte, konnte er gerade so die leeren Sitzreihen, die verstreuten weißen Flecken der weggeworfenen Programmhefte, die Notenständer des Orchesters und die gläsernen Ausgangstüren im Parkett erkennen. Die Luft roch noch unangenehm nach Menschenmenge – Überwürfen, Pelzen, schalem Geruch und Zigaretten.

Dann zündete er ein Streichholz an und sah auf seiner Uhr, dass es zwei Uhr morgens war. Er hatte drei Stunden geschlafen!

Er drückte die Tür auf und ging hinaus auf den Durchgang, mit dem einzigen Gedanken, wie er hinaus auf die Straße gelangen konnte, oder wie er die Zeit verbringen sollte, wenn ihm das nicht gelang. Er fühlte sich hungrig, steif und ein wenig durchgefroren. Er ertastete sich seinen Weg an den Rückenlehnen der oberen Sitzreihen und ging vorsichtig und langsam voran. Seine Schritte erzeugten keine Geräusche auf dem weichen Teppich, und schließlich gelangte er zur ersten Ausgangstür. Sie war verschlossen und verriegelt. Er versuchte es an der nächsten Tür, mit demselben Ergebnis. Einen anderen Ausgang gab es nicht – nichts außer dem engen, halbkreisförmigen Durchgang zwischen der Wand und den Sitzen, eine Loge an jedem Ende und Säulen in regelmäßigen Abständen, um die Entfernung zu markieren.

Wie der Rundgang auf einem Gefängnishof, dachte er bei sich und lachte. Im ganzen Gebäude hatte man kein einziges Licht brennen lassen. Sogar die Eingangshalle lag im Dunkeln. Er sah die goldgerahmten Bilder von Schauspielern und Schauspielerinnen an den Wänden, und ein schwaches Grummeln von der Straße drang zu ihm herein – Stimmen, Verkehr, Schritte, Wind. Dann kehrte er wieder um ins Theater, suchte sich vorsichtig seinen Weg den Gang hinunter zur Vorderseite, indem er jeden Schritt mit den Zehen ertastete, und spähte in das Innere des Hauses. Ein Meer von Schatten trieb unter ihm hin und her. Hier und da hoben sich einige Sperrsitze aus der allgemeinen Dunkelheit hervor, fast als ob sie besetzt wären; er konnte sich leicht vorstellen, in einigen von ihnen Gestalten sitzen zu sehen …