9,99 €
Das Meer schwemmt jede Menge Fragen an Vor fünf Jahren wurde Sandra Lührsen des Mordes an ihrer Schwiegermutter schuldig gesprochen. Nun stellt sich heraus, dass eine Falschaussage zu dem Urteil führte. Was für ein Skandal! Die vermeintliche Mörderin muss freigesprochen werden und kehrt nach Sylt zurück. Wie zu erwarten, überschlagen sich die Spekulationen der Sylter – Mamma Carlotta jedenfalls steht auf Sandras Seite, welch schreckliches Schicksal die Arme durchleiden musste! Doch wer ist der wahre Mörder ihrer Schwiegermutter? Genau das soll Kommissar Erik Wolf jetzt herausfinden; kein leichtes Unterfangen nach so langer Zeit. Er ahnt natürlich nicht, dass es tatsächlich jemanden auf der Insel gibt, der mehr weiß und gute Gründe hat, zu schweigen … Die Kult-Ermittlerin Mamma Carlotta ist auch in ihrem neuesten Fall wieder auf geheimer Verbrecherjagd und erlebt so manches Abenteuer. Mamma Carlottas 17. Fall auf Sylt! Diese Bände der Reihe sind bereits erschienen: - Band 1: Die Tote am Watt - Band 2: Gestrandet - Band 3: Tod im Dünengras - Band 4: Flammen im Sand - Band 5: Inselzirkus - Band 6: Küstennebel - Band 7: Kurschatten - Band 8: Strandläufer - Band 9: Sonnendeck - Band 10: Gegenwind - Band 11: Vogelkoje - Band 12: Wellenbrecher - Band 13: Sturmflut - Band 14: Zugvögel - Band 15: Lachmöwe - Band 16: Schwarze Schafe - Band 17: Treibholz
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:
www.piper.de
Wenn Ihnen dieser Kriminalroman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Treibholz« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.
© Piper Verlag GmbH, München 2023
Covergestaltung: Eisele Grafik·Design, München
Covermotiv: Martina Eisele unter Verwendung von
Shutterstock.com, Adobe Stock und Bigstock
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem E-Book hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen und übernimmt dafür keine Haftung.
Cover & Impressum
1 – Carlotta Capella kochte …
2 – »Ich muss Sören anrufen …
3 – Sie hatten Glück. …
4 – Sören Kretschmer kam …
5 – Die Schweinerouladen …
6 – Sie hatte Dr. Hillmot …
7 – Sie hatte Dr. Hillmot …
8 – Mamma Carlotta warf …
9 – »Mit wem fangen wir …
10 – Tove war sehr, sehr …
11 – Erik startete den …
12 – Mamma Carlotta stand …
13 – Die Westerlandstraße …
14 – Die Frage war den …
15 – Erik hatte Tilla zum …
16 – Das Flugzeug aus …
17 – Erik fühlte schon …
18 – Carlotta lief unruhig …
19 – Erik zückte sein Handy, …
20 – Sandra Lührsen gehörte …
21 – Erik sah seinen Sohn …
22 – Nach einem Blick …
23 – Erik griff nach seiner …
24 – Es klingelte dreimal …
25 – Erik atmete erleichtert …
26 – Mamma Carlotta saß …
27 – Sandra Lührsen sah …
28 – Mamma Carlotta hatte …
29 – Erik hatte das Auto …
30 – Es war später Nachmittag …
31 – Vor der Tür des Hauses …
32 – Mamma Carlotta war …
33 – Seine Schwiegermutter …
34 – Mamma Carlotta geriet …
35 – Felix hatte Schwierigkeiten, …
36 – Mamma Carlotta war …
37 – Erik drückte die Küchentür …
38 – Mamma Carlotta erwachte …
39 – Sören sah sich enttäuscht …
40 – Mamma Carlotta hatte …
41 – Maart Bleicken empfing …
42 – Sandra Lührsens Stimme …
43 – Sie kamen im Süder …
44 – Sie saßen in Sandra …
45 – Erik rieb sich während …
46 – Mamma Carlotta brach …
47 – Erik und Sören hatten …
48 – Sandra Lührsen war …
49 – Erik blickte sich im …
50 – Das war knapp gewesen. …
51 – Erik fuhr durch den …
52 – In der Eingangstür von …
53 – Erik spürte den Wunsch …
54 – Mamma Carlotta und …
55 – Das Redaktionsbüro …
56 – Felix kam ihnen kurz …
57 – Mit Lucia hatte Erik …
58 – Mamma Carlotta erwachte …
59 – Dr. Antje Mikkelsen stand …
60 – Mamma Carlotta war …
61 – Der Leiter des Pflegedienstes …
62 – Fietje saß wie immer …
63 – Norbert Dombrowsky …
64 – Mamma Carlotta fuhr …
65 – Das Meer schäumte. …
66 – »Ich beginne immer …
67 – Dr. Mikkelsen hatte …
68 – Die Sache mit der …
69 – Dr. Hillmot begrüßte …
70 – Erik fuhr auf den …
71 – Als Carolin und Felix …
72 – Erik sah Merret …
73 – Arian Halliger sah …
74 – Die Fahrt zum Polizeirevier, …
75 – Carlotta Capella war …
76 – Erik betrachtete das …
77 – Merret Halliger war …
78 – Die Stille, die im …
79 – Es war Violetta, die …
80 – Adrian Halliger weinte. …
81 – Violetta stieß Carlotta …
82 – »Mir langt’s«, sagte …
83 – Sie hatten ausgesprochen …
84 – Rudi Engdahl und …
85 – Merret Halliger kam …
86 – Die Dunkelheit brach …
87 – Der Morgen war …
Rezeptanhang
Fagottini di mortadella (Mortadellaröllchen)
Pasta e ceci alla toscana (Kichererbsensuppe mit Nudeln)
Involtini alle albicocche (Schweinerouladen mit Aprikosen)
Crostata al rabarbaro (Rhabarberkuchen)
Tartine al cetriolo (Tartine mit Gurke)
Minestra verde (Grüne Suppe)
Polpette alle acciughe (Frikadellen mit Sardellen)
Spinaci alla crema (Spinat in Sahne)
Äpfel im Nest
Crostini con pompelmo (Grapefruit-Crostini)
Spaghetti ai broccoli (Spaghetti mit Brokkoli)
Casseruola di patate alla carbonara (Carbonara-Kartoffel-Auflauf)
Semolino alle ciliege (Grießpudding mit Kirschen)
Insalata di cavolfiore (Blumenkohlsalat)
Crema di finocchi al salmone affumicato (Fenchelcremesuppe mit Lachs)
Rombo con salsa di olive (Steinbutt mit Olivensoße)
Crema ai marroni (Maronencreme)
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Carlotta Capella kochte gern. Vor allem, wenn sie viel Zeit hatte, wenn sie in aller Ruhe einkaufen, Gemüse putzen, sich während des Schnippelns unterhalten oder zumindest mit dem Radiomoderator diskutieren konnte. Das tat sie, wenn niemand da war, der für einen Meinungsaustausch zur Verfügung stand. In ihrem Dorf in Umbrien war sie zwar selten allein, aber häufig war ihre Gesellschaft ein schlafendes Baby oder ein Kindergartenkind, das mit Teigausrollen, Plätzchenausstechen oder Supperühren bei Laune gehalten werden musste. Keine echten Gesprächspartner also, noch ungeeigneter als der Radiomoderator, der genauso wenig auf Carlottas Einwände einging wie ein Kleinkind, aber wenigstens beim Thema blieb.
Auf Sylt war alles anders. Hier fehlte auch oft ein Gesprächspartner, aber vor allem die Zeit, sich in aller Ruhe den Antipasti, dem Primo, Secondo und Dolce zu widmen. Immer musste alles schnell gehen, oft zwischen Tür und Angel, ständig war etwas zu erledigen, in das sich das Kochen manchmal nur mühsam einfügte. Carlotta fragte sich häufig, wie ihre Tochter es früher hinbekommen hatte, neben Eriks aufregendem Beruf noch den Haushalt zu führen. Möglich natürlich, dass Lucia sich nie mit den Fällen ihres Mannes beschäftigt hatte, das war die einzige Erklärung. Aber sich aus einer Sache raushalten, das war nicht Mamma Carlottas Ding. Auch in Panidomino interessierte sie sich für die Arbeit des Dorfpolizisten, erst recht, seit sie regelmäßig nach Sylt fuhr und viel von Polizeiarbeit gelernt hatte. Das hatte sogar Francesco eingesehen, der noch nie in die Lage gekommen war, einen Mord aufklären zu müssen. Ladendiebstahl, Betrug oder üble Nachrede war das Äußerste. Dann holte er gern Carlottas Meinung ein, sie war für ihn so etwas wie eine Expertin geworden. Jemand, der schon bei der Aufklärung von mehreren Morden geholfen hatte, erledigte solche Kleinigkeiten ja nebenbei. Allora … immer hatte es mit der Aufklärung leider nicht geklappt, aber trotzdem hatte Francesco nie an ihren Fähigkeiten gezweifelt. Er wusste dann nur: Was Carlotta Capella nicht herausbekam, konnte man getrost zu den unerledigten Fällen legen, von denen es viele in der Polizeistation von Panidomino gab. Auf einen mehr oder weniger kam es da wirklich nicht an.
An diesem Tag war Mamma Carlotta nervös. Auch das kam in Panidomino selten vor. Aber dass sie kochte, ohne zu wissen, ob und wann jemand hungrig heimkehren würde, das passierte nur auf Sylt und wurde dort sogar nach und nach zur Regel. »Molto noioso!«
Sie strich ihre dunklen Locken aus dem Gesicht, die nach wie vor nur wenige graue Strähnen aufwiesen, und wischte sich über die feuchte Stirn. Obwohl es in der Küche nicht warm war, schwitzte sie. Voller Ingrimm dachte sie an die Worte der mageren Verkäuferin auf dem Markt von Panidomino. Die hatte doch tatsächlich behauptet, dass dicke Leute nun mal mehr schwitzten als dünne. Mamma Carlotta kaufte ihr Gemüse seitdem immer an dem Stand direkt nebenan, um der mageren Verkäuferin zu zeigen, wie unverschämt sie diese Bemerkung gefunden hatte. Sie trug Größe 44! Das war für eine italienische Mamma in ihrem Alter völlig normal. Während ihr Dino gepflegt werden musste und sie gezwungen gewesen war, Tag und Nacht bei ihm zu wachen und ihr Leben mit viel Schokolade erträglicher zu machen, hatte sie Kleidung in Größe 48 gebraucht. Als Witwe war sie dann schlanker geworden und sehr stolz darauf. Und dann kam so eine Verkäuferin … Aber sie wischte diesen Gedanken beiseite. Es gab jetzt Wichtigeres zu tun: ein Essen vorbereiten, das später schnell und ohne Qualitätsverlust aufgewärmt werden konnte. In Panidomino kam das Essen Tag für Tag zur selben Zeit auf den Tisch, und die ganze Familie fand sich immer pünktlich in der Küche ein. Aber die Familie ihrer verstorbenen Tochter war aus den Fugen geraten. Carolin lebte mit einem Mann, vor dem ihre Nonna sie gründlich gewarnt hatte, in Hamburg, und Felix machte zurzeit ein Praktikum bei einem Immobilienmakler, der es mit geregelten Arbeitszeiten nicht so genau nahm. Manchmal erschien Felix pünktlich bei Tisch, mal verspätet, dann wieder gar nicht. Und wenn Erik in einem Kapitalverbrechen ermittelte, wusste man nie, ob er Zeit zum Essen finden würde. Andererseits war es natürlich ein Ding der Unmöglichkeit, dass Erik und sein Mitarbeiter Sören Kretschmer von ihrer schweren Ermittlungsarbeit erschöpft in den Süder Wung zurückkehrten und zu hören bekamen, dass kein Essen für sie bereitstand. Dieses Risiko ging Mamma Carlotta niemals ein. Etwas gekocht zu haben, ohne dass jemand Zeit fand, auch nur einen Löffel davon zu probieren, war zwar höchst ärgerlich, aber doch längst nicht so schlimm wie der Hunger eines Angehörigen, der sich genötigt sah, ihn mit einem Fischbrötchen an einer Straßenecke zu stillen.
An diesem Tag war mal wieder alles unklar. Erik war nach Flensburg gefahren, zu einem Prozess, dem er mit gemischten Gefühlen entgegengesehen hatte. Wann er zurückkommen würde, war völlig offen. Möglich, dass das Essen erst am Abend auf den Tisch kommen konnte. Aber das hatte Carlotta bedacht. Die Mortadellaröllchen lagen schon im Kühlschrank und würden am Abend noch gut schmecken, die Kichererbsensuppe war gekocht und musste nur erhitzt werden, wenn die Familie heimkam, ob mittags oder abends, spielte keine Rolle. Den Schweinerouladen mit den Aprikosen konnte sie, wenn alle am Tisch saßen, noch den letzten Schliff geben, und der Rhabarberkuchen war längst aus dem Ofen geholt worden. Den konnte sie auch servieren, wenn Erik und Sören am Nachmittag zurückkamen und einen starken Kaffee brauchten, zu dem der Rhabarberkuchen gut passen würde.
Sie strich die Mischung aus klein gehackten Aprikosen und angebratenem Speck auf die Rouladen, rollte sie auf und steckte sie mit spitzen Holzstäbchen fest, damit sie nicht auseinanderfielen. Wie mochte dieser Prozess ausgehen? Erik litt sehr darunter, dass an diesem Tag womöglich eine Frau freigesprochen werden würde, die vor fünf Jahren immer wieder ihre Unschuld beteuert hatte. Er war dennoch fest davon überzeugt gewesen, dass sie ihre Schwiegermutter erschlagen hatte, und die Richter waren ebenfalls zu diesem Schluss gekommen. Ein Indizienprozess! Mamma Carlotta hatte dieses neue Wort lange üben müssen, bis es ihr über die Lippen floss.
»Indizien.«
Natürlich war auch »processo indiziario« kein leichtes Wort, aber das rollte ihr nur so von der Zunge. Klar, für eine echte Italienerin war das eben kein Problem. Aber mit den spitzen Lauten von »Indizien« hatte sie ihre liebe Mühe gehabt, selbst wenn sie den Sinn des Wortes natürlich sofort verstanden hatte. Gestand ein mutmaßlicher Täter nicht, wurde er manchmal anhand der vorhandenen Indizien verurteilt, sofern sie ausreichten, um von seiner Schuld überzeugt zu sein. Ein Prozess, der immer einen schalen Beigeschmack hatte.
War Sandra Lührsen die Mörderin, oder war sie es nicht? Diese Frage war nach der Urteilsverkündung vor fünf Jahren noch lange gestellt worden, auch wenn Richter und Staatsanwalt von ihrer Schuld überzeugt gewesen waren. Die Frage, ob vielleicht die Falsche ins Gefängnis gegangen war, wurde auf Sylt noch immer gestellt, und jeder hatte eine andere Meinung. Für Mamma Carlotta war es jedoch das Schlimmste, dass Erik sich Vorwürfe machen würde. Hatte er damals gründlich genug ermittelt? Hätte er andere Schlüsse ziehen müssen? Hatte er nichts unversucht gelassen, der Wahrheit auf die Spur zu kommen? Sie wusste, dass ihn keine Schuld traf, aber er selbst zweifelte, seit der Ehemann der verurteilten Mörderin gestorben war und einen Brief hinterlassen hatte, der alles infrage stellte …
»Ich muss Sören anrufen«, sagte Erik. »Ich hab’s versprochen.«
Tilla drückte seine Hand. »Ich warte auf dich.«
Erik zog sein Handy aus der Gesäßtasche seiner Jeans und ging vom Gerichtssaal auf den Flur. Dort hatte er es endlich geschafft, das Smartphone in der Hand zu halten. Die Jeans war einfach zu eng. Hatte er etwa zugenommen? Oder sich von einer Verkäuferin beschwatzen lassen, die nicht eingesehen hatte, dass für ihn eine Jeans nicht nur gut sitzend, sondern vor allem bequem sein musste? Eine Fensterscheibe auf der anderen Seite des Flurs warf sein Spiegelbild zurück. Erschrocken zog er den Bauch ein. Scheinbar war er tatsächlich dicker geworden. Erik seufzte. Er musste endlich Sport treiben! Wie lange nahm er sich das schon vor?
Als er durch die offene Tür zurückblickte, sah er, dass die Staatsanwältin auf den Richtertisch zutrat und den Vorsitzenden begrüßte. Er war ein Studienfreund von ihr, die beiden hatten schon viele Prozesse gemeinsam hinter sich gebracht, Tilla als Vertreterin der Anklage, er als derjenige, der das Urteil fällte. Erik ließ sich vom Strom der Zuschauer mitreißen, die noch aufgeregt über den Verlauf der Gerichtsverhandlung diskutierten, und ging bis zum Ende des Ganges, wo die Treppe hinabführte bis zu einem Fenster, durch das er auf die Straße blicken konnte. Er holte Sörens Nummer aus dem Speicher und starrte einem Auto hinterher, während er darauf wartete, dass sich sein Mitarbeiter meldete.
Es dauerte nicht lange. »Ist die Verhandlung vorbei, Chef?«
»Ja.«
»Das Urteil wurde aufgehoben?«
»Ja. Sandra Lührsen ist frei.«
Sören seufzte. »Dann geht also alles wieder von vorne los. Fünf Jahre nach der Tat einen Mörder fangen … das wird nicht leicht.«
Erik blickte auf die Uhr. »Ich werde in etwa zwei Stunden zu Hause sein. Die Staatsanwältin wird mit mir kommen. Treffen wir uns im Süder Wung? Meine Schwiegermutter hat sicherlich gekocht.«
»Okay, Chef.«
Erik blieb noch eine Weile am Fenster stehen, das Smartphone in der rechten Hand, als plante er ein weiteres Telefongespräch. Mit der Linken strich er sich seinen Schnauzer glatt, wie er es immer tat, wenn er nachdachte. Er hatte wieder Sandra Lührsens Gesicht vor Augen. Fünf Jahre ihres Lebens waren ihr gestohlen worden, weil ihr Mann auf Rache aus gewesen war! Trotzdem hatte er keinen Hass in ihren Augen gesehen, nur Erleichterung.
Erik zog den Bauch ein, schob den Bund seiner Hose etwas tiefer, wo er weniger drückte, und nahm sich vor, zu Hause sofort in seine bequemste Cordhose zu steigen, eine, die schon so ausgeleiert war, dass sie ihn nirgendwo kniff und sogar einen Gürtel brauchte, damit sie ihm nicht auf die Füße fiel. Er ging auf die Tür des Gerichtssaals zu, die sich, noch bevor er sie erreichte, öffnete. Tilla trat auf den Flur. Das Lächeln, das über ihr Gesicht ging, als sie ihn sah, wärmte ihm das Herz. Dr. Eva-Mathilda Speck, die Staatsanwältin, der er früher die Fähigkeit zu jedweder Gefühlsregung glatt abgesprochen hatte, freute sich, wenn sie ihn sah. Dass sich diese energische Person auf ihren hohen Stilettos, deren Klack-klack in der ganzen Flensburger Staatsanwaltschaft gefürchtet war, diese attraktive Frau mit dem runden Gesicht und den hochgesteckten blonden Locken, dem knappen dunklen Kostüm mit dem kurzen Rock und der Bluse, die gerade so weit geöffnet war, dass man eine Ahnung von ihrem Dekolleté bekam, ausgerechnet in ihn, den langweiligen Hauptkommissar von Sylt, verguckt hatte, konnte er noch immer nicht glauben. Aber es gab keinen Zweifel. Sie kam zu ihm, hob sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen flüchtigen Kuss. »Es ist Freitag. Ich könnte das Wochenende auf Sylt verbringen.«
Erik freute sich, obwohl ihm schlagartig klar wurde, dass dann wohl aus der ausgeleierten Cordhose nichts wurde. Er griff nach ihrer Hand, während sie auf die Treppe zugingen, die ins Erdgeschoss führte, und lächelte über den vielsagenden Blick einer Gerichtsangestellten, die vermutlich wusste, dass die Staatsanwältin mal ein rotes Tuch für Kriminalhauptkommissar Wolf aus Westerland gewesen war.
»Wir können das Wochenende auch bei dir verbringen«, sagte Erik. »Dann sage ich Sören ab und …«
Er wurde durch eine Stimme unterbrochen, die ihm so vertraut war, dass Tränen in seine Augen schossen, als wäre ihm jemand mit Pfennigabsätzen auf die Zehen getreten.
»Hey, Papa.«
Erik fuhr herum und starrte seine Tochter an. »Carolin!« Er wollte einen Schritt auf sie zu machen, hatte dann plötzlich Angst, dass sie zurückweichen würde, traute sich mit dem Vorbeugen seines Oberkörpers, ihr entgegenzukommen, und streckte am Ende nur die Arme aus. Als sie an seine Brust flog, als er sie fest an sich drücken und sein Gesicht in ihren Haaren verstecken konnte, rollte ihm tatsächlich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Carolin.« Hastig wischte er sich über das Gesicht.
Fast zwei Monate war es her, dass sie auf Sylt von einem Augenblick auf den anderen ihre Zelte abgebrochen, zwei Koffer gepackt, ihren Ausbildungsplatz gekündigt hatte und ausgezogen war. Nach Hamburg. Mit einem Mann, der Erik ganz und gar nicht gefiel. Einmal hatte er sie in der winzigen Wohnung besucht, in der sie mit Maximilian lebte. Er war erschrocken gewesen, mit wie wenig sie sich zufriedengab, hatte seine Sorge nicht verbergen können, als er hörte, dass sie ihr Geld als Kellnerin verdiente, bis in die tiefe Nacht in einer Kneipe arbeitete und anschließend mit Maximilians Fahrrad nach Hause fuhr, damit sie schneller war als die Betrunkenen, von denen sie belästigt werden konnte. Sein Versuch, sie wieder nach Sylt zu holen, sein Angebot, bei ihrem Ausbilder, dem Hotelier, vorzusprechen und ein gutes Wort für sie einzulegen, hatte nicht gefruchtet. Nicht einmal sein Angebot, sie finanziell zu unterstützen, hatte sie angenommen. Und als er es nicht geschafft hatte, seine Antipathie gegen Maximilian Witt zu verbergen, als er dem jungen Mann sogar vorgeworfen hatte, die Zukunft seiner Tochter aufs Spiel zu setzen, hatte sie ihn gebeten zu gehen. Sie hatte ihn zum Abschied nicht umarmt, ihm nicht einmal die Hand gereicht, ihn nur gebeten, sie künftig in Ruhe zu lassen und mit guten Ratschlägen zu verschonen.
Und nun stand sie mit einem Mal vor ihm, sehr erwachsen, sehr selbstbewusst, und er durfte sie in die Arme nehmen. Sein Glück kannte keine Grenzen. Erst als er den jungen Mann bemerkte, der noch in der Tür des Gerichtssaals stand, hatte es mit seiner Euphorie schlagartig ein Ende. Er ließ Carolin los und sah ihr lange ins Gesicht, ehe er bereit war, Maximilian Witt zur Kenntnis zu nehmen, der nun zu ihnen trat.
»Guten Tag.«
Erik riss sich zusammen und zwang sich, Maximilian Witt die Hand zu reichen. »Guten Tag.«
Einen Augenblick sah es so aus, als wollte der junge Mann seine Hand ausschlagen, aber dann erwiderte er doch Eriks Händedruck. Als er Tilla begrüßte, deutete er sogar eine kleine Verbeugung an. Dann sagte er zu Eriks großer Erleichterung zu Carolin: »Wir sehen uns«, und lief die Treppe hinab.
Carolin, die als fremde junge Frau auf ihren Vater zugekommen war, wurde in Sekundenschnelle wieder Eriks kleines Mädchen. Sie war schlanker geworden, ihr Gesicht schmaler, sie sah blass aus, als bekäme sie wenig Schlaf. Aber Erik hütete sich, dazu etwas zu sagen, und nickte eifrig, als Tilla seiner Tochter ein Kompliment machte: »Du bist in den beiden Monaten ja richtig erwachsen geworden!«
Carolin hatte Maximilian nicht nachgeblickt. »Ich dachte mir, dass ich dich hier treffen würde. Deswegen habe ich keine Zugfahrkarte gekauft.«
Erik brauchte einen Moment, bis er begriff, was sie sagen wollte. »Du kommst mit nach Sylt?«
Sie nickte lächelnd. »Die Nonna ist auch da, das trifft sich gut.«
»Das weißt du?«
Ihr Lächeln vertiefte sich. »Sie ruft mich natürlich ständig an und will wissen, ob ich genug esse, ausreichend Schlaf bekomme und Freunde gefunden habe. Und natürlich, ob Maximilian nett zu mir ist und ob ich genug Geld habe.«
All das hätte Erik auch gerne gewusst, aber im Gegensatz zu seiner Schwiegermutter hatte er nie den Mut gehabt, Carolin anzurufen und ihr solche Fragen zu stellen. Jetzt hatte er auch nicht den Mut, sie zu fragen, warum sie mit nach Sylt fahren wollte. Ging es ihr um einen Besuch zu Hause? Oder wollte sie etwa …? Nein, diesen Gedanken verbot er sich. Er war zu schön. Erik würde nur schrecklich enttäuscht sein, wenn er zu hören bekam, dass sie selbstverständlich nur ein, zwei Tage auf Sylt sein wolle und dann wieder nach Hamburg zurückkehren würde.
Tilla hatte jedoch keine Scheu, Carolin zu fragen: »Was ist mit deinen Koffern? Oder bist du etwa ohne Gepäck gekommen?«
Carolins Gesicht verschloss sich prompt. »Mein Rucksack steht in der Garderobe. Ich durfte ihn nicht mit in den Gerichtssaal nehmen.« Ihr Blick wurde angriffslustig. »Ich brauche ja nicht viel. Oder habt ihr meine Klamotten, die noch in meinem Schrank sind, etwa verkauft?«
Es sollte vielleicht wie ein Scherz klingen, aber Erik konnte nicht darüber lachen. Carolin wusste ja nicht, wie oft er heimlich in ihr Zimmer ging, ihren Schrank öffnete und die Kleidung anstarrte, die dort noch auf den Bügeln hing und in den Fächern lag. Und er war zufrieden gewesen, als seine Schwiegermutter nach ihrer Ankunft auf Sylt Carolins Bett frisch bezogen und ihr Zimmer geputzt hatte, als sollte alles für die Rückkehr ihrer Enkelin bereit sein.
Als sie die Treppe hinabstiegen, erklärte Carolin: »Maximilian will eine Reportage über die Frau schreiben, die fünf Jahre unschuldig im Knast gesessen hat. Aber er hat noch zwei andere Aufträge. Deswegen soll ich für ihn nach Sylt fahren und alle Fakten zusammentragen, die er braucht. Jetzt, wo sie freigesprochen wurde, kehrt sie sicherlich nach Sylt zurück. Ich will versuchen, ein persönliches Interview mit ihr zu führen. Es ist doch total spannend zu erfahren, wie eine Frau sich fühlt, die jahrelang dachte, sie müsste den Rest ihres Lebens hinter Gittern verbringen, obwohl sie nichts Böses getan hat.«
Aus dem Glück, das Erik bis zu diesem Moment vorgekommen war wie ein großer Berg Zuckerwatte, lösten sich einige Fetzen und flogen davon. Carolin kam also nicht wegen ihrer Familie nach Sylt, nicht, weil sie Sehnsucht hatte und alle gerne wiedersehen wollte, sondern nur, um Maximilian einen Gefallen zu tun. Sobald sie alles recherchiert hatte, was er wissen wollte, würde sie nach Hamburg zurückkehren, damit er aus dem, was sie zusammengetragen hatte, eine Reportage machen konnte.
»Wirst du es schaffen, den richtigen Mörder zu finden?«, fragte Carolin.
»Das ist schwer nach fünf Jahren«, antwortete Erik vage. »Mal sehen …«
Kalte, feuchte Luft schlug ihnen entgegen, als sie aus dem Gebäude traten. Zum Glück stand der Wagen auf dem Parkplatz des Gerichts, nur ein paar Schritte vom Eingang entfernt. Carolin warf ihren Rucksack in den Kofferraum und machte es sich auf dem Rücksitz bequem, als wäre es nicht zwei Monate, sondern erst einen Tag her, dass sie dort gesessen hatte. Erik merkte, dass seine Hände zitterten, als er den Wagen startete und zurücksetzte. Diesmal verließ er sich nicht auf die Ansicht, die ihm der kleine Bildschirm seines Autos zeigte, sondern drehte sich um und schaute nach hinten, weil er dann auch Carolin im Blick haben konnte. Sie trug ihre Haare anders, fiel ihm jetzt auf, nur noch kinnlang, mit einem gefransten Pony, der ihr bis in die Augen reichte, sodass sie ihn oft zurückpusten musste. Sie schaute ihn nicht an, starrte auf Tillas Hinterkopf, als dächte sie darüber nach, ob sie die Staatsanwältin akzeptieren wollte, obwohl sie nicht zur Familie gehörte. Dann begann sie, an den Schnallen ihres Rucksacks zu nesteln, als hätte sie einen Entschluss gefasst, den sie nicht zu erkennen geben wollte. Erik setzte so weit wie möglich zurück, dann sah er wieder nach vorn, stellte aber den Rückspiegel so ein, dass er Carolin im Blick behielt. Er wollte, dass sie auf Sylt blieb! Er wollte sie nicht wieder zurück nach Hamburg lassen. Er wollte nicht, dass ihr Maximilian Witt wichtiger war als ihre Familie. Mit aller Macht wollte er, dass wieder alles so wurde wie früher.
Tilla legte die linke Hand auf seinen Schenkel, ganz leicht, er spürte nur ihre Fingerspitzen. Aber er wusste, dass sie seine Gedanken erahnte. Und sie wollte ihm sagen, dass er geduldig sein musste. Auf keinen Fall durfte er Carolin bedrängen.
Sie hatten Glück. Von Flensburg bis Niebüll brauchten sie keine Stunde, und als sie an der Verladestation ankamen, dauerte es nur zehn Minuten bis zur Abfahrt des nächsten Autozugs. Die Ladefläche war nicht voll, im November war keine Saison. Erik stellte die Rückenlehne zurück, Tilla und Carolin schnallten sich ab, als der Zug das Festland verließ und auf den Hindenburgdamm fuhr. Es war ein sonniger, wenn auch kalter Tag. Eine silbrige Wintersonne wurde von schleierhaften Wolken garniert, die den ganzen Himmel überzogen, ohne ihm sein Blau zu nehmen. Das Wasser stieg, die Flut war aber noch von ihrem Höhepunkt entfernt. Kleine, muntere Wellen sprangen auf den Damm zu, als wollte eine die andere überholen, um als erste zu dem Zug zu kommen, der Richtung Sylt fuhr.
Erik genoss es, Carolin auf dem Rücksitz zu wissen, und die Frage schoss durch seinen Kopf, ob es ihm lieber wäre, sie säße auf dem Beifahrersitz und er könnte allein mit ihr sein. Aber ihm wurde schnell klar, dass die Überfahrt dann schwieriger würde. Er sollte froh sein, dass er nicht in Versuchung kommen würde, Carolin nach ihren Zukunftsplänen zu fragen. Das war viel zu früh. Seine Tochter würde sich nur wieder in die Familie einfügen, wenn ihr die Rückkehr leicht gemacht wurde. Und dabei half die Anwesenheit der Staatsanwältin.
Erik seufzte auf. »Hätte ich damals merken müssen, dass Sandra Lührsen unschuldig war?«
Die Frage hatte er an Tilla gerichtet. Sie nahm den Kopf nicht von seiner Schulter, während sie antwortete: »Wie denn? Es gab keinen Grund, der Aussage des Ehemanns nicht zu vertrauen.«
»Er hat eiskalt gelogen«, sagte Carolin, und Erik war froh, dass sie ihn von jeder Schuld freisprach. Er hatte tatsächlich Angst davor gehabt, dass sie ihm vorwarf, daran schuld zu sein, dass Sandra Lührsen fünf Jahre unschuldig im Gefängnis gesessen hatte.
»Weil sie ihn eiskalt betrogen hat«, meinte Tilla. »Sie kann froh sein, dass er so früh verstorben ist. Sonst hätte sie noch länger gesessen.«
»Was hatte er?«, fragte Carolin. »Krebs?«
Erik nickte. »Magenkrebs. Er wusste wohl ziemlich bald nach der Diagnose, dass er nicht lange überleben würde, und hat den Brief rechtzeitig geschrieben.«
Jetzt setzte Tilla sich aufrecht hin. »Ein starkes Stück.« Sie zupfte ihren Rock zurecht und kontrollierte den Knopfverschluss ihrer Bluse, als ginge es darum, in die Rolle der Staatsanwältin zu schlüpfen und gut gekleidet zu sein, wenn sie die Anklage vorlas. »Als ihr Mann damals die Aussage gemacht hat, muss sie gewusst haben, dass er sie ans Messer liefern wollte. Und auch, warum.«
»Ich weiß noch, dass sie ihren Mann angeschrien hat.« Erik schüttelte sich, als er sich an die Szene im Gerichtssaal erinnerte. »Du lügst! Warum lügst du? Willst du mich loswerden?« Er senkte seine Stimme. »Man hat sie aus dem Saal gebracht, weil sie nicht aufhörte zu schreien und zu toben.«
Tilla blieb sachlich. »Aber sie hat nicht erwähnt, dass sie einen Geliebten hatte? Dann hätte sie Jesko vor Gericht unterstellen können, dass er sich an ihr rächen wollte.«
Erik schüttelte den Kopf. »Vermutlich ist sie davon ausgegangen, dass ihr das mehr schaden als nützen könnte. Wahrscheinlich hat sie auch nicht gewusst, dass er ihr längst auf die Schliche gekommen war. Sie hatte Angst, etwas auszuplaudern, was niemand ahnte. Und wenn er sich unwissend gestellt hätte, wäre seine Aussage weiterhin glaubwürdig gewesen.«
»Aber schlimmer, als es dann gekommen ist, hätte es für sie nicht werden können.«
»Als das Urteil gesprochen war, konnte sie nichts mehr machen.« Es blieb eine Weile still im Auto, bis Erik leise fragte: »Hätten wir das erkennen können?«
»Du hast nicht gewusst, dass sie einen Liebhaber hatte. So konnte auch keiner auf die Idee kommen, dass ihr Mann sich rächen wollte. Es gab mehrere Zeugen, die übereinstimmend erklärt haben, dass Jesko Lührsen seine Frau sehr geliebt hat. Er hat viel für sie getan und sie immer gegen seine Mutter verteidigt. Als sie wegen eines Rückenleidens nicht mehr arbeiten konnte, hat er Schulden aufgenommen und ihr ein Atelier gebaut. Sie wollte dann ja Malerin werden. Sie soll schon als junges Mädchen gern gemalt haben. Aber in ihrem Elternhaus gab es selten Geld für so was wie Farben und gute Pinsel.«
»Hat sie jemals ein Bild verkauft?«, fragte Carolin neugierig.
Erik zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber sie hat Zeichenkurse gegeben, um ein bisschen Geld zu verdienen.«
»Eine erfolglose Künstlerin zeigt anderen, wie man erfolgreich malt?« Tillas Stimme war voller Spott.
»Ihre Kurse waren bei Touristen wohl sehr beliebt. Vor allem die Aktmalerei. Vielleicht versteht sie ja wirklich etwas von der Sache, ich weiß es nicht.« Erik wischte dieses Thema unwirsch aus der Luft. »Jedenfalls gab es für niemanden einen Zweifel, dass Jesko Lührsen in seine Frau geradezu vernarrt war. Das hat jeder betont, der das Ehepaar kannte. Dass er ihr derart schaden könnte, hat niemand für möglich gehalten.«
Carolin beugte sich zwischen den beiden Sitzen nach vorn. »Das gibt eine tolle Story. Hoffentlich kann ich mit ihr reden. Kennt ihr den Namen des Liebhabers?«
Erik war erleichtert gewesen, dass er während der kurzen Verhandlung nicht genannt worden war, obwohl Jesko Lührsen ihn in seinem Brief erwähnt hatte. Aber da die Verhandlung öffentlich gewesen war, hatte der Richter den Brief nicht Wort für Wort vorgelesen.
»Der Name ist unbekannt«, antwortete Erik und merkte, dass Tilla fast unmerklich nickte. Sie war also auch der Ansicht, dass Carolin diesen Namen nicht erfahren sollte. Das fehlte noch, dass er Maximilian Witt zu einer Story verhalf, in der er eine Sensation verkündete, die den nächsten Prozess wegen Rufmords nach sich zog. Er kannte diesen Kerl doch! Der würde nicht erst herausfinden wollen, ob eine Behauptung der Wahrheit entsprach. Der würde den Namen des Liebhabers raushauen, auch wenn er damit eine Ehe zerstörte und einen Mann verunglimpfte.
Sören Kretschmer kam als Erster im Süder Wung an, mit rosigen Wangen und aufgeplusterten Haaren, als er die Mütze vom Kopf gezogen hatte. Er war knapp dreißig Jahre alt, durchtrainiert und schlank. Wer allerdings nichts anderes als sein kugelrundes Gesicht sah, konnte ihn für untersetzt halten, denn es war dick und apfelbäckchenrot. Mamma Carlotta hätte ihm die schütteren blonden Haare am liebsten geglättet, die um seinen Kopf herum abstanden wie das Gefieder eines Gänsekükens. Sie hatte das Klappern seines Schlosses gehört, mit dem er sein Rennrad am Gartenzaun befestigte, und riss schon die Tür auf, kaum dass die Melodieklingel mit dem Donauwalzer begonnen hatte. Kükeltje, die rabenschwarze Katze der Wolfs, stolzierte die Treppe herunter, um nachzusehen, wer zu Besuch kam, hatte sich aber längst damit abgefunden, dass sie selten als Erste die Tür erreichte. Gegen Mamma Carlottas Tempo kam selbst eine gesunde Katze in besten Jahren nicht immer an.
»Buon giorno, Sören!« Carlotta stieß die Küchentür auf und schob den Mitarbeiter ihres Schwiegersohns hindurch. »Siediti! Nehmen Sie Platz, Sören! Un espresso? Un acqua minerale? Enrico ist noch nicht da.« Während sie darüber lamentierte, dass es für eine Köchin sehr unangenehm sei, nicht zu wissen, wann die Familie zu erwarten war, die dann aber, wenn sie heimkam, den Anspruch hatte, sofort beköstigt zu werden, gelang es Sören nicht, sie zu unterbrechen. Erst als er ein Glas vor sich stehen hatte und die Schwiegermutter seines Chefs ihm einen Limoncello eingoss, obwohl er eigentlich um einen Espresso hatte bitten wollen, schaffte er es zu sagen: »Er muss bald kommen. Die Staatsanwältin auch.«
Dem Wirbel, der auf seine Worte folgte, entzog er sich, indem er sich ausgiebig dem Limoncello widmete. Ein weiteres Gedeck musste her! Carlotta hatte ja keine Ahnung gehabt, dass die Staatsanwältin mitkommen würde! Hoffentlich reichte das Essen! Sie würde gleich die Anzahl der Mortadellaröllchen überprüfen müssen! Und wie gut, dass sie immer ein oder zwei Schweinerouladen mehr machte, als es der Personenzahl entsprach! »Dio mio!«
Bei solchen Gelegenheiten vermied Sören es, die Schwiegermutter seines Chefs zu beobachten. Ihm wurde dann immer ganz schwindelig. Dieses Tempo! Und diese Lautstärke! Manchmal war er schon versucht gewesen, sich die Ohren zuzuhalten, aber sein Taktgefühl hatte es ihm bisher verboten, so deutlich zu zeigen, wie sehr ihn ihre schrillen Schreie erschreckten, die sie häufig, und nach Sörens Meinung fast immer grundlos, ausstieß.
So wie in diesem Augenblick. Mamma Carlotta war zum Fenster gegangen, weil sie gehört hatte, dass ein Auto vorgefahren war. Zufrieden hatte sie festgestellt, dass es tatsächlich Eriks Wagen war, und wollte sich gerade umdrehen, um zur Tür zu gehen – da kam dieser Schrei. Sören fuhr zusammen, das Glas rutschte ihm aus der Hand. In dem Bemühen, es nicht auf die Erde fallen zu lassen, griff er nach und erwischte es direkt über seinem Knie, wo es sich entleerte, sodass Sören nun mit einer Jeans dasaß, die mit klebrigem Gelb bekleckert war. Menschen mit Fantasie würden bei diesem Anblick mit Würgereiz zu kämpfen haben.
Entsetzt sah er Mamma Carlotta an und wartete auf eine Erklärung, zum Beispiel dass sein Chef von der Bremse gerutscht war und den neuen Wagen eines Nachbarn gerammt hatte, dass ein Radfahrer in die geöffnete Tür gerauscht war oder eine Möwe tot vom Himmel gefallen war, direkt in das hochgesteckte Haar der Staatsanwältin. Aber Mamma Carlotta schluchzte nur den Namen ihrer Enkelin, taumelte zur Haustür und gebärdete sich dort wie jemand, der einen Angehörigen empfing, nachdem er jahrelang in Grönland verschollen gewesen war.
Mamma Carlotta riss Carolin an ihre Brust, die offenbar nichts anderes erwartet hatte und sich wehrlos der Umarmung ihrer Nonna ergab. Als sie sich daraus löste, war zu erkennen, dass sie ihr sogar gefallen hatte. »Hey, Nonna.«
Sie wurde mit einem Schwall italienischer Liebkosungen übergossen, die Jacke wurde ihr vom Körper gerissen, als sei sie selbst nicht in der Lage, sie auszuziehen, dann wurde sie in die Küche geschoben und lächelte, als sie Sören sah. »Hey.« Sie krauste die Stirn und blickte auf seine Jeans. »Was ist das? Eiter? Igitt!«
Sören erlaubte sich den Scherz, erst zu nicken und dann mit dem Zeigefinger über das klebrige Gelb zu fahren und ihn abzulecken.
»Iiiii!«, kreischte Carolin.
Ihre Oma kreischte vorsichtshalber mit und erkundigte sich erst anschließend, warum ihre Enkelin sich ekelte. Als sie hörte, dass Sören gelber Eiter auf der Jeans klebte, stürzte sie sich auf ihn, um ihn zu untersuchen, während sie in kürzester Kurzform einen Großonkel erwähnte, der Tage vor seinem Ende aus einer Körperöffnung geeitert hatte, die unmöglich beim Namen genannt werden konnte. Dann erst war es Sören gelungen, den Irrtum richtigzustellen, woraufhin noch einmal gekreischt wurde, diesmal vor Empörung.
Carlotta hörte, wie Tilla leise zu Erik sagte: »Das liebe ich so an deiner Familie.«
Erik antwortete nicht, was auch gut war, denn Zustimmung wäre sicherlich nicht über seine Lippen gekommen.
Als endlich alle am Tisch saßen und die Mortadellaröllchen in der Mitte prangten, fiel Mamma Carlotta auf, dass Carolin lediglich einen Rucksack dabeihatte, also offenbar nicht die Absicht hegte, wieder am Süder Wung einzuziehen. Das dämpfte ihre Euphorie gewaltig. Dennoch schaffte sie es, diesen Umstand unkommentiert zu lassen, nahm sich aber vor, die Zeit, die vor ihr lag, mochte sie auch noch so kurz sein, gründlich zu nutzen, damit das Kind daran erinnert wurde, wie wunderbar es war, zu Hause zu sein und sich verwöhnen zu lassen.
Momentan sah es wirklich so aus, als genösse Carolin den Küchentisch und die Anwesenheit derer, die neben ihr saßen. Dass Felix ein Praktikum bei einem Immobilienmakler machte, fand ihren Beifall. »Dann lernt er endlich mal, was Arbeit ist.«
Diese Aussage fand ihre Großmutter bemerkenswert, der es jedoch wiederum gelang, sich eines Kommentars zu enthalten. Offenbar hatte Carolin eine neue Einstellung zur Erwerbstätigkeit bekommen, seit sie sich mühsam mit Kellnern über Wasser hielt.
Carolin wandte sich an ihren Vater. »Du kennst doch die Adresse von Sandra Lührsen? Gibst du sie mir, damit ich sie wegen des Interviews fragen kann?«
Erik sah aus, als würde er Carolin jeden Wunsch erfüllen, sofern er in der Lage dazu war, aber dann ging ihm wohl auf, dass er damit auch Maximilian Witt einen Wunsch erfüllte. So fiel seine Zustimmung verhalten aus. »Lass ihr Zeit«, meinte er. »Wer weiß, ob sie überhaupt wieder nach Sylt zurückkommt. Könnte ja auch sein, dass sie von der Insel die Nase voll hat.«
»Aber ihr Haus steht hier«, warf Carolin ein. »Wo soll sie sonst hin?«
Erik zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat sie Verwandte oder Freunde, die sie für eine Weile aufnehmen. Jedenfalls bis Gras über die Sache gewachsen ist.« Seine Miene wurde anzüglich. »Ich könnte verstehen, wenn sie sich vor Zeitungsleuten erst mal in Sicherheit bringen will.«
Carolin wollte sich gerade an die Verteidigung aller Journalisten machen, insbesondere eines Journalisten namens Maximilian Witt, aber die donnernd ins Schloss fallende Haustür hielt sie davon ab. Felix erschien in der Küche und begrüßte seine verloren gegangene Schwester hocherfreut.
»Lässt du dich auch mal wieder bei uns blicken?« Er umarmte sie fest, was seit seiner Konfirmation nicht mehr vorgekommen war. »Mensch, Caro! Wurde aber auch Zeit!« Mannhaft versuchte er, sich seine Rührung nicht anmerken zu lassen, sondern warf sich auf einen Stuhl und konzentrierte sich auf die Mortadellaröllchen. »Bleibst du hier?«, fragte er so beiläufig wie möglich.
Es entstand eine Pause, so lange wie ein Atemanhalten. Alle warteten auf Carolins Antwort, dann machte jeder aus der Tatsache, dass sie nicht kam, das, was ihm am besten gefiel. Mamma Carlotta war sicher, dass Carolin sich noch keine Blöße geben wollte und erst allmählich damit herausrücken würde, dass sie sich nach ihrer Familie sehnte. Ein Blick in Eriks Gesicht zeigte ihr, dass er skeptischer war, während Tilla und Felix ihr Bestes gaben, so zu tun, als wüssten sie nicht, wovon die Rede war. Und Sören kratzte an den Limoncello-Flecken auf seiner Jeans herum. Er zog sich immer raus, wenn die Probleme familiär wurden.
Carolin antwortete schließlich mit einem Themenwechsel. »Was wäre aus Sandra Lührsen geworden, wenn ihr Mann gesund geblieben wäre?«
Erik zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hätte er sich irgendwann besonnen und die Wahrheit gesagt. Vielleicht hätte sich Sandra Lührsens Unschuld aber auch nie herausgestellt.«
»Jesko Lührsen hätte ja auch einen Autounfall haben können«, warf Felix ein. »Oder einen Herzinfarkt. Tot von jetzt auf gleich! Dann hätte er keine Gelegenheit mehr gehabt, diesen Brief zu schreiben.«
Mamma Carlotta griff sich ans Herz. »Che fortuna! Fünf Jahre unschuldig im Gefängnis ist ja schon schrecklich genug.« Sie wusste, dass es problematisch war, eine konkrete Frage zu Eriks Fall zu stellen. Dann reagierte er meistens ungehalten und gab ihr mehr oder weniger deutlich zu verstehen, dass sie sich in seine Arbeit nicht einmischen solle und sie das Ganze sowieso nichts anging. Deswegen richtete sie ihre Frage vorsichtshalber an die Staatsanwältin. »Wie war das mit dem Brief, Tilla?«
Die Staatsanwältin gab bereitwillig Auskunft. Der Brief von Jesko Lührsen war in seinem Nachlass gefunden worden. Auf dem Umschlag hatte die Anschrift des Gerichts gestanden und der Name des Richters, der Sandra Lührsen vor fünf Jahren zu lebenslanger Haft verurteilt hatte. Der war erschüttert gewesen, als sich herausstellte, dass Jesko Lührsen seine Frau mit seiner Aussage schwer belastet hatte. So schwer, dass der Richter von Sandra Lührsens Schuld überzeugt gewesen war. »Erik auch, und ich ebenfalls. Aber es war eine Falschaussage gewesen, um Sandra Lührsen zu schaden!« Nun aber hatte Jesko Lührsen in seinem letzten Brief, der nach seinem Tod gefunden wurde, bekannt, dass er seine Frau für ihre Untreue hatte bestrafen wollen. Als seine Mutter Witta Lührsen ermordet wurde, hatte Jesko gerade herausbekommen, dass seine Frau ihn schon lange betrog. Und er rächte sich, indem er dafür sorgte, dass Sandra ins Gefängnis kam. Er hatte eine falsche Uhrzeit genannt, zu der sie angeblich an jenem verhängnisvollen Abend heimgekommen war, und behauptet, er habe beobachtet, wie sie sich Blut von den Händen wusch. Das war eine glatte Lüge gewesen. Da vor allem Jeskos Aussagen zu der Verurteilung geführt hatten, musste natürlich ein Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet werden. »Nun geht alles wieder von vorne los«, endete Tilla Speck.
»Madonna!«, stöhnte Mamma Carlotta. »Weiß man überhaupt, ob es stimmt, was dieser Jesko behauptet hat? Hat die Frau ihren Mann wirklich betrogen?«
Sie sprang auf und ging zum Herd, um die Suppe zu erhitzen. Sören folgte ihr mit den Blicken und murmelte: »Das wäre der Gipfel, wenn Jesko Lührsen ein eifersüchtiger Ehemann war, der sich die Untreue seiner Frau nur eingebildet hat.«
»Er hat während des Prozesses kein einziges Mal davon gesprochen, dass seine Frau ihn betrügt«, meinte Erik.
Tilla lachte trocken. »So was gibt kein Mann gerne zu. Das kratzt am Selbstbewusstsein, wenn die Frau einem Hörner aufsetzt.«
Die Schweinerouladen waren gegessen, und Erik spürte, wie Müdigkeit in seinen Körper zog. »Wir müssen ins Büro«, sagte er lahm und war froh, dass weder Sören noch Tilla zustimmten.
Seine Schwiegermutter durchschaute ihn. »Ihr braucht erst mal einen Espresso. So eine Gerichtsverhandlung ist sicherlich sehr anstrengend.«
Damit fand sie einhellige Zustimmung, obwohl Erik sich heimlich eingestand, dass es alles andere als anstrengend gewesen war, auf einer Bank zu sitzen und einer Verhandlung beizuwohnen, deren Ende sehr bald abzusehen gewesen war. Eventuell konnte man von emotionaler Anstrengung sprechen, mit dieser bequemen Erklärung gab er sich zufrieden. Tilla nickte, Sören blickte hocherfreut, Carolin lehnte sich zufrieden zurück, und sogar Felix blieb Teil der Tischrunde, als wollte er die Zeit mit seiner Schwester genießen. Er, der sonst nie Espresso und viel lieber Kakao trank, nickte ebenfalls.
Als der Rhabarberkuchen auf den Tisch kam, war es mit Eriks trägem Vorsatz, sich unverzüglich in den dafür vorgesehenen Räumlichkeiten um die Ergreifung von Witta Lührsens Mörder zu kümmern, sowieso vorbei. Die Pläne, wie sie vorgehen wollten, konnten sie genauso gut schmieden, während sie Espresso tranken und Rhabarberkuchen aßen.
»Sandra Lührsen war damals nicht die einzige Verdächtige«, sagte Erik langsam, »wenn auch von Anfang an die Hauptverdächtige.«
Tilla fragte: »Warum eigentlich?« Sie war damals nicht die zuständige Staatsanwältin gewesen. In dem Prozess gegen Sandra Lührsen hatte ein Kollege die Anklage vertreten, der kurz darauf durch einen Autounfall ums Leben gekommen war.
Erik zählte die Gründe auf: »Sie war zusammen mit ihrem Mann die Nutznießerin von Witta Lührsens Tod. Ihre Schwiegermutter war ziemlich vermögend, und Jesko und Sandra waren ständig in Geldnot. Außerdem gab es viel Streit zwischen Witta und Sandra. Die Alte war überhaupt nicht einverstanden mit der Wahl ihres Sohnes, sie mochte ihre Schwiegertochter nicht. Das war kein Geheimnis.«
»Und ihr Sohn?«, fragte Tilla. »Der war doch ebenfalls Nutznießer.«
Sören war es, der die Antwort gab: »Der hatte ein Alibi. Ein Nachbar hatte ihm geholfen, Kaminholz aufzustapeln.«
Erik nickte bestätigend. »Es war allgemein bekannt, dass Witta Lührsen den Banken seit der Finanzkrise 2008 nicht mehr traute und viel Bargeld zu Hause aufbewahrte. Das wusste natürlich auch die Schwiegertochter.«
»Und das Geld war weg«, stellte Tilla fest. »Aber es wurde nicht bei Sandra Lührsen gefunden.«
Erik bestätigte es. »Es wurde überhaupt nicht gefunden. Wir dachten damals, dass sie es eben sehr gut versteckt hat.«
Dass Mamma Carlotta schwieg, fiel ihm nicht auf. Dass sie immer dann schwieg, wenn sie viel erfahren wollte, wusste er eigentlich, aber es war immer dasselbe, er bemerkte es jedes Mal zu spät. Auch Carolin sagte nichts. Die Frage, ob sie sich in ihren Gedanken bereits Notizen machte, die sie später an Maximilian Witt weitergeben würde, wischte Erik einfach zur Seite. Seiner Schwiegermutter würde er leichten Herzens den Vorwurf machen, neugierig und an Dingen interessiert zu sein, die sie nichts angingen, bei seiner Tochter war das etwas anderes. Mit ihr wollte er sich unter keinen Umständen anlegen, sie sollte sich hier, in ihrem Zuhause, rundum wohlfühlen. Er musste nur darauf achten, nicht mehr preiszugeben als das, was ohnehin bekannt war. »Die Tatzeit war nicht ganz klar«, sagte er, »weil die Leiche von Witta Lührsen erst Tage später entdeckt wurde. Der Todeszeitpunkt ließ sich dann aber durch Zeugenaussagen einkreisen: Witta Lührsen musste zwischen 20:00 und 21:30 Uhr gestorben sein. Sandra Lührsen hat behauptet, sie sei zwischen halb neun und neun nach Hause gekommen. Wenn ihr Mann das bestätigt hätte, wäre sie aus dem Schneider gewesen. Um acht die Schwiegermutter erschlagen und dann gleich ins Auto, um nach Hause zu fahren, das ist unwahrscheinlich. Außerdem ist Witta Lührsens Haus gründlich durchsucht worden. Dafür hätte sie garantiert noch mal eine Stunde gebraucht, nach Geld, nehme ich an. Ihr Mann jedoch sagte vor Gericht aus, es sei schon 22:30 Uhr gewesen, als sie heimkam. Und dann will er beobachtet haben, wie seine Frau sich Blut von den Händen wusch. Das hat er sehr glaubhaft geschildert.«
»Dann müsste es Blutspuren gegeben haben«, sagte Tilla Speck prompt. »An den Möbeln, in den Schränken, überall dort, wo Sandra Lührsen angeblich nach Geld gesucht hat.«
Erik schüttelte den Kopf. »Nein, Vetterich hat nirgendwo Blut gefunden. Aber auch dafür gab es eine Erklärung. Jesko Lührsen hat ausgesagt, er hätte ein paar Tage später, als er im Garten Büsche beschneiden wollte, seine Gummihandschuhe vermisst.«
»Dann wäre es Mord mit Vorsatz gewesen«, ergänzte Sören. »Der Richter war davon überzeugt, dass Sandra Lührsen die Gummihandschuhe eingepackt hat und mit der Absicht zu ihrer Schwiegermutter gefahren ist, sie umzubringen.«
»So hat es ausgesehen«, lenkte die Staatsanwältin ein. »Aber so war es ja offenbar nicht.«
Erik wurde nervös. »Es ist bekannt, dass Jesko Lührsen seine Frau sehr geliebt hat. Niemand ist auf die Idee gekommen, er könnte gelogen haben, um sie ins Gefängnis zu bringen.«
Sören schob sich ein Stück Rhabarberkuchen zwischen die Lippen und sagte mit vollem Mund: »Aber kurz vor seinem Tod hat er das zurückgenommen.«
Erik nickte. »Er hat in seinem Brief zugegeben, dass er gelogen hat. Seine Frau hat sich nie Blut von den Händen gewaschen. Und sie war schon vor neun zu Hause.«
In diesem Augenblick ging die Türklingel. Diesmal ertönte Marmor, Stein und Eisen bricht. Erik hob der Form halber seinen Unterkörper an, als wollte er zur Tür gehen, aber natürlich war Mamma Carlotta auch diesmal schneller. Kükeltje machte gar nicht den Versuch, als Erste an der Tür zu sein. Sie sah nur den Platz, der nun unbesetzt war, und den Teller mit dem Rhabarberkuchen davor, und sprang auf den Stuhl, den Mamma Carlotta soeben frei gemacht hatte.
»Dottore!«, hörte man sie rufen. »Prego! Treten Sie ein!«
Sie hatte Dr. Hillmot lange nicht gesehen. Vor seiner Pensionierung war er häufiger ins Haus gekommen, vornehmlich dann, wenn er wusste, dass Eriks Schwiegermutter zu Besuch war, und er darauf hoffen durfte, zum Essen eingeladen zu werden. Aber seit Dr. Mikkelsen sein Amt übernommen hatte, war Dr. Hillmot nicht mehr im Süder Wung erschienen. Allerdings wusste Mamma Carlotta trotzdem eine Menge über ihn. Zum Beispiel, dass er endlich seinen Vorsatz wahr gemacht hatte, gesünder zu leben und abzunehmen. Schließlich telefonierte sie regelmäßig mit ihrer Cousine Violetta, auf die Dr. Hillmot zum Erstaunen aller ein Auge geworfen hatte, als sie zu Besuch auf Sylt gewesen war.
»Dottore!« Sie sah ihn an, als müsse sie sich vergewissern, wirklich den dicken, schwerfälligen Gerichtsmediziner vor sich zu haben. »Sie sind ja nicht wiederzuerkennen.«
Dr. Hillmot legte kokett die Hände in die Taille oder vielmehr dorthin, wo er eine Taille vermutete, die jedoch trotz aller positiver Veränderungen noch nicht sichtbar war, und drehte sich vor Mamma Carlottas Augen, um ihr zu zeigen, dass aus seinem fetten Leib ein Bauch geworden war, der nur noch beim Schuheschnüren im Wege war, aber beim Treppensteigen kaum noch störte. Dann machte er ein paar Trippelschritte auf Zehenspitzen, um anzudeuten, dass er viel beweglicher war als früher. In seinem jetzigen Zustand würde er sich womöglich sogar zu einer Leiche hinabbeugen können, ohne zu stöhnen, aber er war dennoch froh, dass es damit vorbei war.
»Fast vierzig Kilo weniger«, betonte er und ließ sich von Mamma Carlotta loben und bewundern. Er beugte sich zu ihr und raunte: »Aber das wissen Sie natürlich längst, Signora.« Dann zwinkerte er ihr zu, als hätten sie ein gemeinsames Geheimnis, von dem niemand wissen dürfe.
Ja, Mamma Carlotta war im Bilde. Violetta hatte ihr in langen Telefonaten berichtet, wie sehr Dr. Hillmot sich anstrengte, damit sein Arzt ihm das Okay für eine Reise nach Süditalien gab. Tatsächlich konnte man es jetzt für möglich halten, dass er seine Leibesfülle auf einem Platz im Flugzeug unterbrachte und den Klimawechsel ohne akuten Kreislaufzusammenbruch überstand. Vorsichtshalber hatte er aber doch den November für seinen ersten Besuch in Kalabrien gewählt, denn große Hitze wäre wohl immer noch ein Problem für ihn gewesen. Zurzeit aber herrschte in Tropea, wo Violetta wohnte, die angenehme Temperatur von achtzehn Grad, die Dr. Hillmot sich zutraute.
Carlotta war dennoch ein wenig in Sorge, weil sie wusste, dass Violetta einen wichtigen Aspekt ihrer Wohnverhältnisse verschwiegen hatte. Zwischen dem Strand, auf den Dr. Hillmot gespannt war, weil er sich natürlich wesentlich vom Sylter Strand unterschied, und dem Ortskern von Tropea, in dem Violetta wohnte, gab es einen gewaltigen Höhenunterschied, der durch hundertzwanzig steile Stufen zu überwinden war. Carlotta hatte Violetta mehrfach ermahnt, Dr. Hillmot darauf vorzubereiten, aber ihre Cousine glaubte fest daran, dass er damit zurechtkommen würde, wenn ihm nichts anderes übrig blieb. Sie wollte einfach nicht das Risiko eingehen, dass er angesichts dieser bevorstehenden Strapazen auf den Besuch bei ihr verzichtete.
Dr. Hillmot war entzückt, die Staatsanwältin anzutreffen, der er einen Handkuss aufdrängte, dem sie sich nicht rechtzeitig entziehen konnte. Carolin jedoch pfiff auf jede Höflichkeit und versteckte ihre Rechte unter dem Tisch, ehe Dr. Hillmot sich über sie beugen konnte. Dass von dem Rhabarberkuchen noch drei Stücke übrig waren, beglückte ihn sehr, und Mamma Carlotta gab den Kindern zu verstehen, indem sie kurz warnend die Augen aufriss, dass sie darauf verzichten sollten, sich ein weiteres Stück Rhabarberkuchen auf den Teller legen zu lassen. Trotz seiner neuen Ernährungsgewohnheiten waren drei Stück Kuchen für Dr. Hillmot nach wie vor kein Problem. Angeblich hatte er mittags nichts zu sich genommen und rechnete sich flugs aus, dass Kuchen mit Obstbelag beinahe kalorienfrei sei. Dafür verzichtete er auf den Zucker, den er sich früher löffelweise in den Kaffee rührte, und hatte sich zurechtgelegt, dass es doch schrecklich unhöflich sei, der Schwiegermutter des Hauptkommissars einen Korb zu geben, wenn sie ihn an den Tisch einlud. Er bekannte sogar, dass ihm ein wenig verschmitzt und leichtsinnig zumute sei und seine derzeitige Gemütslage geradezu ausgelassen genannt werden könne, weswegen er an diesem Tag alles ein wenig großzügiger sehen wollte als sonst. Er wurde verlegen und lief rot an, als er bekannte, dass die Liebe ihn komplett verändert habe und die Vorfreude auf das Wiedersehen mit Violetta ihn zu Luftsprüngen verleiten könnte, wenn er denn fähig sei, sie zu versuchen.
Alle Anwesenden gaben sich große Mühe, Verständnis für ihn zu zeigen. Aufbringen konnte es niemand, denn jedem, der Violetta kannte, war es rätselhaft, wie Dr. Hillmot sich in diese durchgeknallte Italienerin hatte verlieben können, die der kompletten Verwandtschaft schrecklich auf die Nerven ging. Dass er immer dann, wenn alle sich mit Fluchtgedanken trugen, Violetta mit besonders verliebten Augen betrachtete, würde wohl für immer und für alle ein Mysterium bleiben.
Dr. Hillmot gab vor, sich verabschieden zu wollen, ehe er nach Kalabrien flog, und bot an, Violetta Grüße von der ganzen Familie Wolf zu überbringen. Dann aber kam er schnell auf den Fall Lührsen zu sprechen, weil er natürlich von dem Wiederaufnahmeverfahren gehört hatte. Sein Gesicht, das nicht mehr ganz so prall war wie früher, produzierte eine Menge Sorgenfalten, als er laut und wortreich darüber nachdachte, ob er vor fünf Jahren einen Fehler gemacht haben könnte. Selbstverständlich erwartete er, dass ihm diese Befürchtung ausgeredet wurde, was auch auf der Stelle geschah.
»Natürlich haben Sie nichts falsch gemacht«, erklärte die Staatsanwältin kategorisch und hätte dafür beinahe einen weiteren Handkuss kassiert. »Zu dem Urteil ist es durch die Aussage des Ehemanns gekommen. Eine Falschaussage, wie wir jetzt wissen.«
Dr. Hillmot atmete erleichtert auf. »Es war nicht einfach, den Todeszeitpunkt festzulegen. Witta Lührsen war ja schon viele Stunden tot, als sie gefunden wurde.« Umständlich berichtete er vom sogenannten Henssge-Nomogramm, mit dem der Todeszeitpunkt durch Messen der Rektal- und der Umgebungstemperatur festgelegt werden konnte. »Aber schon über einen Zeitraum von zwanzig Stunden kann sich eine Unsicherheit von mehreren Stunden ergeben.«
Zum Glück hatte es jedoch Hinweise gegeben, die dabei geholfen hatten, den Zeitpunkt einzukreisen. Eine Nachbarin war an dem Haus vorbeigekommen und hatte Witta Lührsen mit jemandem streiten hören, womöglich mit dem Mörder, und konnte genau sagen, wann das gewesen war. Ihr Handy hatte einen Alarm ausgelöst, den sie eingestellt hatte, um pünktlich bei ihrer Gymnastikgruppe zu erscheinen. Somit war klar, dass Witta Lührsen um zwanzig Uhr noch gelebt hatte, was durch die Aussage eines anderen Nachbarn bestätigt wurde, der kurz vor der Tagesschau gelüftet und ebenfalls Wittas Stimme gehört hatte.
»Sandra Lührsen hatte behauptet«, sagte Erik nachdenklich, »sie sei schon vor einundzwanzig Uhr nach Hause zurückgekehrt. Zu wenig Zeit, um ihre Schwiegermutter umzubringen und das Haus zu durchsuchen, um ihr Geld zu finden.«
»Jetzt wissen wir, dass sie wohl die Wahrheit gesagt hat«, ergänzte Tilla. »Wenn Witta Lührsen mit ihrem Mörder gestritten hat, muss sie ihn gekannt haben.«
»Wir wissen nicht«, erwiderte Erik, »ob Witta Lührsen den Streit, den die Nachbarin gehört hat, mit ihrem Mörder geführt hat.«
»Möglicherweise war vorher noch jemand anderes bei ihr«, ergänzte Sören. Er beugte sich vor und sah Dr. Hillmot eindringlich an. »Können Sie sich noch erinnern, wie Sie die Tote vorgefunden haben?«
Dr. Hillmot ließ sich Zeit mit der Antwort und schob sich zunächst den Rest des Kuchenstücks in den Mund. »Sie lag im Schlafzimmer, bäuchlings, vor dem geöffneten Kleiderschrank. Mit einer sehr, sehr hässlichen Kopfwunde. Da hatte jemand kräftig zugeschlagen. Zweifellos mit dem Ziel, die Frau für immer zum Schweigen zu bringen.«
Carlotta warf Felix, der an Dr. Hillmots Lippen hing, einen besorgten Blick zu und blieb dann auf Carolins Gesicht haften, die aussah, als machte sie sich gedanklich Notizen. Ob Erik vergessen hatte, dass alles, was seine Tochter hier zu hören bekam, für Maximilian Witt ein gefundenes Fressen sein würde? Mamma Carlotta kam mit einem Mal der Verdacht, dass die Behauptung, er habe mit anderen Reportagen zu tun, eine faule Ausrede gewesen war. Womöglich hatte Maximilian Witt sich genau das ausgerechnet, was nun geschah: Carolin erfuhr wesentlich mehr, als ihm selbst jemals zu Ohren gekommen wäre. Und sie würde ihm alles haarklein erzählen, sodass er demnächst eine Reportage anbieten konnte, die mit Insider-Wissen gespickt sein würde.
Dr. Hillmot kam nicht auf die Idee, in Gegenwart der Kinder und der Schwiegermutter des Kriminalhauptkommissars zu schweigen, was sowohl von Mamma Carlotta als auch von Felix und Carolin begrüßt wurde. »Es gab noch mehrere Verdächtige, wenn ich mich recht erinnere?«, fragte er.
Leider fiel Erik zu Carlottas Enttäuschung rechtzeitig ein, dass Gespräche dieser Art im Büro geführt werden sollten und nicht am Esstisch unter den Augen und Ohren von Neugierigen. Er rückte seinen Stuhl zurück, um anzuzeigen, dass es Zeit wurde, aufzustehen und sich an die Arbeit zu machen. »Ich hoffe, Sie haben eine tolle Zeit mit Violetta in Tropea.« Er sah Dr. Hillmot an, als bedauerte er ihn von Herzen, während dieser mit einem glücklichen Strahlen antwortete.
»Ich hätte nie gedacht«, sagte er, »dass mir noch mal die Liebe begegnen würde.« Dr. Hillmot blickte um sich, als erwartete er, dass in den mitleidigen Gesichtern endlich Zustimmung erschien. Aber er hoffte vergeblich. Dass er sich ausgerechnet in Mamma Carlottas Cousine, die größte Nervensäge der Verwandtschaft, verguckt hatte, rief nichts als Verständnislosigkeit hervor. Erik schüttelte sogar den Kopf.
»Eine so schöne, temperamentvolle Frau«, ergänzte Dr. Hillmot und schien nicht zu bemerken, dass Felix die Küche verließ und Carolin sich plötzlich in das Zählen der Espressotassen vertiefte, die auf einem Bord über dem Kaffeeautoamten standen. Auch dass Mamma Carlotta unbedingt auf der Stelle das Geschirr in die Spülmaschine packen wollte, machte ihn nicht stutzig. Er erhob sich mit Tilla, Erik und Sören, ließ sich von Mamma Carlotta eine gute Reise wünschen, sagte ihr zu, ihrer Cousine herzliche Grüße auszurichten, und nickte brav, als sie ihn vor zu großen Anstrengungen warnte und ihn bat, gut auf seinen Kreislauf achtzugeben.
Dass Felix murmelte: »Sex soll ja sehr gesund sein«, überhörte sie, bis Dr. Hillmot aus dem Haus war. Dann erst bedachte sie ihren Enkel mit einem Klaps auf den Hinterkopf und schimpfte ihn so lange aus, bis sie merkte, dass er längst aus der Küche geflohen war.
Sie fuhren auf der Nordmarkstraße nach Westerland hinein, direkt auf den Telekomturm zu. An dessen Fuß war vor geraumer Zeit ein Containerdorf entstanden, in dem das Polizeirevier Westerland untergebracht war. Das alte Gebäude gegenüber des Bahnhofs wurde noch immer renoviert. Leider waren bei genauerem Hinsehen eklatante Schäden aufgetaucht, mit denen niemand gerechnet hatte, sodass die Renovierung sich länger hinzog, als zu erwarten gewesen war. Die Beamten der Wache arbeiteten nun schon seit über einem Jahr in den Containern, die Kriminalpolizei hatte immerhin das Glück, in der oberen Etage des Telekomgebäudes etwas komfortabler und weniger fußkalt untergebracht zu sein.
Erik stellte den Wagen ab und sah auch schon Sören, der wie immer mit seinem Rennrad unterwegs war, die Kreuzung überqueren. Mal wieder war er beinahe so schnell gewesen wie ein Pkw. Erik wartete mit Tilla neben dem Auto auf ihn und murmelte: »Freitagnachmittag! Es reicht, wenn wir Montagmorgen mit der Arbeit beginnen. Nach fünf Jahren kommt es auf zwei Tage nicht an. Jetzt machen wir erst mal eine Bestandsaufnahme.«
Enno Mierendorf, der jüngste von Eriks Mitarbeitern, hatte bereits alle Akten hervorgeholt, die den Fall Witta Lührsen betrafen, und sie auf Eriks Schreibtisch gelegt. Tilla besorgte Kaffee, während Erik und Sören versuchten, sich zu erinnern, wie die Ermittlungsarbeit damals verlaufen war.
»Wir hatten diesen Immobilienmakler auf dem Kieker«, sagte Erik, als er angefangen hatte, die Akten durchzublättern. »Der, bei dem Felix zurzeit sein Praktikum macht. Norbert Dombrowsky.«
Die Staatsanwältin trat in diesem Augenblick mit einem kleinen Tablett ein, auf dem drei Kaffeebecher standen. »Wie gut kennst du den?«
Erik zuckte mit den Schultern. »Nur flüchtig.« So knapp wie möglich erzählte er Tilla, dass Norbert Dombrowsky aus dem Ruhrgebiet stammte, aber schon seit Jahren auf Sylt lebte. »Nach seiner Scheidung ist er hergekommen. Soviel ich weiß, hat er mehrere Kinder, aber die sind bei der Mutter geblieben. Mittlerweile dürften sie längst erwachsen sein. Dombrowsky soll keinen Kontakt zu ihnen haben. Der würde sie nicht erkennen, wenn er ihnen auf Sylt begegnete.«
»Sehr sympathisch«, meinte Tilla lakonisch. »Und hat er wieder geheiratet? Oder eine Lebensgefährtin?«
»Der hat von Frauen die Nase voll.« Sören wusste mal wieder mehr als sein Chef. »So oder so ähnlich äußert er sich immer, wenn er mit unzufriedenen Ehemännern am Stammtisch sitzt. Ich habe ihn mal sagen hören: ›Frauen saugen einen Mann aus, sie wollen immer Geld.‹« Sören lachte verächtlich. »Und sein Geld will Dombrowsky für sich allein haben. Vielleicht hat er deshalb das Verhältnis mit seiner Sekretärin beendet. Frau Wissler heißt sie und arbeitet immer noch für ihn. Lange hat sie angeblich darauf gehofft, von der Sekretärin zur Ehefrau aufzusteigen.«
»Warum geriet Dombrowsky in Verdacht?«, fragte Tilla.
»Er wollte aus dem Wohngebiet, in dem Witta Lührsen ihr Haus hatte, eine Feriensiedlung machen«, antwortete Erik. »Den anderen Hausbesitzern hatte er schon Angebote gemacht, die sie nicht ausschlagen konnten. Nur Witta Lührsen weigerte sich. Sie stand seinen ehrgeizigen Plänen entgegen.«
»Diese Immobilienhaie können die Pest sein«, murmelte Sören. »Will Felix wirklich in diese Branche einsteigen? Gefällt ihm die Arbeit bei Dombrowsky etwa?«
Erik sah nicht glücklich aus. »Er will nicht studieren, und er will auf der Insel bleiben. Außerdem wird im Immobiliengeschäft gut verdient.«
»Was ist aus dem Haus von Witta Lührsen geworden?«, fragte Tilla.
»Mit ihrem Sohn ist sich Dombrowsky schnell einig geworden«, antwortete Erik. »Kaum hatte Jesko das Haus seiner Mutter geerbt, wurde schon der Kaufvertrag ausgefertigt und kurz darauf das Haus abgerissen. Jetzt steht dort eine schmucke Ferienhaussiedlung. Ein Haus wie das andere, praktisch und stillos. Aber alle mit Reetdach.«
Sören sah seinen Chef nicht an, während er fragte: »Könnte Felix nicht mal in Dombrowskys Archiv rumstöbern? Vielleicht entdeckt er etwas Interessantes.«