Trolle - Goten - Wikinger - Bernd O. Wagner - E-Book

Trolle - Goten - Wikinger E-Book

Bernd O. Wagner

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Beschreibung

Trolle, Goten, Wikinger und andere Nordlichter faszinieren noch nach tausend Jahren. In 111 kleinen Geschichten lebt auf, was längst vergessen schien - mit Augenzwinkern und Gegenwartsbezug. Kleines und Unbekanntes rückt in den Fokus, bislang verborgen hinter Großem und Berühmtem. In bewegten Zeiten tut es gut, innezuhalten und auf die Vergangenheit zu blicken. Immer mussten Menschen mit Widrigkeiten kämpfen, hatten Zukunftsängste und suchten nach Gewissheiten oder wenigstens nach Trost. Vieles ist im Grab der Zeiten versunken, doch die Spuren der Trolle und der Goten, der Wikinger und der Likedeeler, der Hanse und der Greifen, der Vasas und der Blauzähne haben sich an den Ostseeküsten eingegraben. Wenn wir davon hören und lesen, schwingt in uns die Ahnung, dass das Hier und Heute im Dort und Gestern wurzelt. Hat Gotland seinen Namen von den Goten? Warum sprechen die Finnen so eigentümlich? Wird die Bottenvik bald ein Binnensee sein? War Sven Gabelbart wirklich König von England? Haben die spanischen Granden ihr blaues Blut von den Wikingern geerbt? Was haben Drachenköpfe an christlichen Kirchen zu suchen? Fragen über Fragen. Die Geschichten - Märchen und Sagen, Geschehenes und Erfundenes, Geschichte und Gegenwärtiges - geben Antworten darauf und auf vieles andere. Eine Lektüre für einen langen Abend oder eine kurze Pause - für nebenbei und zwischendurch, den Nachttisch und die Leseecke.

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IN DEN MÄRCHEN HAT SICH DIE WAHRE GESCHICHTE DER MENSCHEN NIEDERGESCHLAGEN.

Ivo Andrić (1892 - 1975)

Serbischer Schriftsteller

Literaturnobelpreistäger

Inhalt

Ankerstopp

Hiddensee

Schwanenstein

Lohme

Steinstufe

Königsstuhl

Buskam

Mönchgut

Greifenland

Pommern

Salzkirche

Kolberg

Wollsäcke

Łeba

Hölle

Hel

Bowke

Danzig

Mariengrass

Danzig

Rammbock

Bernsteinküste

Neringa

Kurische Nehrung

Nimmersatt

Memelland

Nikolaus

Libau

Hundsköpfe

Kurland

Irrsinn

Irbenstraße

Kuhhaut

Riga

Kalevipoeg

Estland

Yggdrasil

Saaremaa

Dänenstadt

Tallinn

Schwarzhaupt

Tallinn

Räuberinsel

Gogland

Forpost

Kronstadt

Piterodin

St. Petersburg

Piterdwa

St. Petersburg

Maulsperre

Peterhof

Namenlos

St. Petersburg

Kalevala

Finnland

Friedrichstadt

Hamina

Henki

Sauna

Suomenlinna

Helsinki

Lapsi

Finnenkinder

Swastika

Uusikaupunki

Finntorgau

Turku

Ahvenanmaa

Mariehamn

Häät

Finnenhochzeit

Ravintola

Finnenküche

Eiffelturm

Kvarken

Nuuka

Laihia

Robbenflossen

Maakalla

Lakka

Moltebeere

Einarmige

Spielsucht

Weihnachtsmann

Rovaniemi

Eschenstrand

Haparanda

Majstång

Mittsommer

Ragnarök

Weltenende

Gammel

Luleå

Kopflos

Sagenweg

Allemansrätt

Jedermannsrecht

Landwuchs

Ratan

Sagavägen

Märchenstraße

Sámi

Lappenvolk

Surströmming

Heringsfischer

Vigsel

Schwedenhochzeit

Flusskrieg

Dalälven

Semaphor

Grislehamn

Codex

Uppsala

Elementar

Schärengarten

Runenjarl

Stockholm

Vasasyndrom

Stockholm

Schwanztrollin

Västervik

Gotenlos

Visby

Kirchenflut

Gotland

Gutasaga

Gotland

Pippilotta

Kneippbyn

Blåkulla

Jungfraueninsel

Neptunsacker

Byxelkrok

Jaktö

Borgholm

Elof

Öland

Steingrund

Kalmar

Luftschiffe

Kalmarsund

Dackeland

Småland

Probestück

Schonen

Skånespuk

Schonen

Sonnengrab

Kåseberga

Brieflos

Peppinge

Unirdisch

Hammershus

Krøllebølle

Bornholm

Festungsknuddel

Erbseninseln

Krohnenknast

Christiansø

Åsenasen

Ystad

Mordskurt

Ystad

Zwergenwall

Südschweden

Federwolken

Falsterbo

Ellenbogen

Malmö

Thralls

Schwedenkolonien

Alvidende

Kopenhagen

Sigrid

Västergötland

Landfahrt

Götakanal

Målene

Norwegersprache

Nøkk

Moss

Gespalten

Hvitsten

Tigerstaden

Oslo

Mosestrupp

Oscarsborg

Trollauge

Grunnane

Drachenkirchen

Høyord

Vendilskaga

Grenen

Tilsanded

Skagen

Tell

Grenaå

Blåtand

Ebeltoft

Draget

Helgenæs

Kringelstadt

Århus

Sammelland

Samsø

Bräutegrab

Åbenrå

Teufelsloch

Wismar

Ankerschluck

Hiddensee

Meiner lieben Petra gewidmet

November 2017

AnkerstoppHiddensee

Westlich von Hiddensee schnorpelt der Anker leise vor sich hin.

Die Gedanken gehen 20 Jahre zurück: RUGIA hieß die Yacht, die mein Jungfernschiff werden sollte. Bornholm war das Ziel, Stefan der Schreckliche der Skipper. Ohne Ahnungen und ohne Erwartungen stolperte ich an Deck.

Mit zehn Leuten teilten wir uns dreizehn Meter Schiff. Die Überfahrt zum dänischen Piratenfelsen, Rønne, Hasle und ein Ankerplatz unter Sternen infizierten uns unheilbar mit dem maritimen Virus.

Es gab seither kein Jahr, in dem ich nicht Tage, Wochen und schließlich Monate unter Segeln gelebt habe.

Die geforderten Papiere zum Führen eines Bootes erwarb ich nach und nach, ebenso die Berechtigungen für das Funken und das Abschießen von Leuchtraketen. Aus purer Lust, aus Neugierde und nie endender Freude an der Herausforderung legte ich im zarten Alter von 62 Jahren das britische Yachtmaster-Offshore-Examen ab.

Viel hat mein Skipperauge gesehen: wilde Calanques zwischen Toulon und Marseille; die Schicki-Micki-Küste von Saint-Tropez bis Menton; die den alten Griechen heiligen Kykladen von Serifos über Ios und Thira bis Mykonos und Delos; die einsamen Nördlichen Sporaden; Aegina und Epidauros; die Kvarner-Bucht in der Adria; venezianische Städte und Inseln in Dalmatien; den Solent zwischen Isle of Wight und Portsmouth; den sturmzerzausten Englischen Kanal; die bretonische Küste, die Channel Islands um Guernsey mit ihren Strömungen und gewaltigen Tiden; türkische Buchten und Kreuzfahrerfestungen; schließlich die Winde und Wellen um die Kanarischen Inseln, die ich allesamt besucht habe, im Winter 2017 sogar in rasendem 12-Tage-Törn auf einen Rutsch, samt dem winzigen La Graciosa, sozusagen dem Bonus-Eiland.

Das Gros meiner Reisen war einem Revier gewidmet, das mich immer wieder lockt, dem ich verfallen bin: wegen seiner Farben und seiner Stille und wegen der Menschen, die seine Küsten besiedeln.

Ententeich und Kabbelsee, Wellenberge und Brandung. Flaute, frischer Nordwest, Oststurm. Stille Ankerbuchten, bescheidene Fischerdörfer, Luxusmarinas. Alleinsein im Hafen im Frühling und im Herbst, dicke Päckchen im Sommer. Nacktbaden im Brackwasser bei 10 Grad, Dreißig-Euro-Pool im feinen Kurort. Bummeln zwischen schwedischen Schären und respektvoller Blick in Richtung verborgenen Landes hinter der Kimm im Bottnischen Meerbusen. Einsame Inselbretterbude, mittelalterliche Hansestadt, goldglänzende Zarenresidenz.

Die Ostsee - immerwährende Sehnsucht. Die Gestade von Skagen, wo der Atlantik zu sehen und zu hören ist, über Flensburg, Świnoujście, Rīga, St. Petersburg, Helsinki, Törehamn, Stockholm, Malmö und Göteborg bis Strömstad an der norwegischen Grenze. Da mögen sich Gelehrte streiten, ob Kattegat, Belte und Sund, Finnischer und Bottnischer Meerbusen dazugehören und ihre Weisheiten an Salzgehalt, Strömungen und geologischen Strukturen festmachen. Es ist mir gleichgültig. Ich habe auch den Oslofjord hinzu addiert.

Wenn jemand zu diesem Thema promovieren möchte, bitte sehr, viel Spaß. Ich segele lieber.

Über 40 Ostseetörns waren es bisher, zwei Drittel meiner 35.000 Seemeilen teilten die baltischen Wellen.

Dieses Meer, Meile für Meile, habe ich besegelt, erlebt, aufgenommen.

Die Krönung war die Große Ostseerunde im Jahre 2013: mit zwei Dutzend Freunden in zwölf Crews führte sie knapp 5.000 Seemeilen ab Rügen an den Küsten der Ostsee entlang und ließ uns von Polen bis Norwegen alle Anliegerstaaten sehen.1 Ist nun die Zeit zum Zurücklehnen gekommen? Nein, darüber soll das Älterwerden entscheiden. Der Schritt vom Skipper zum Mitfahrer wird der erste sein, dann vielleicht Hausboot, Kreuzfahrt und zum Ende, soviel steht fest, die Seebestattung.

Segeln ist intensives Leben. Nach einem Seetag ist erst einmal Abspannen angesagt, die Verarbeitung des Gesehenen und Erlebten, das Knochenschütteln. Dann kommt der Freiraum zum Gehen, Denken, Fragen, Lesen und Forschen.

Ich halte ein und besinne mich meines Staunens und des Respekts vor dem Meer, der Natur, der Geschichte und den Menschen.

Warum trägt eine finnische Insel den schwedischen Namen Eckerö?

Die Zufahrt nach Kopenhagen ist als Lynetteløbet in den Seekarten verzeichnet. Woher kommt dieses Wort?

Der Königsstuhl auf Rügen ist 118 m hoch, das kann man nachlesen.

Wer aber hat den Kreidefelsen erstmals so genannt?

Hat Gotland seinen Namen von den Goten? Ist das die Truppe, die in Gallien bei der Hunnenschlacht auf den Katalaunischen Feldern auf beiden Seiten gekämpft hat?

Die Finnen haben eine sehr eigentümliche Sprache. Sie verstehen sich ein wenig mit den Esten; mit den Ungarn in Bruchstückchen. Litauisch und Lettisch haben damit überhaupt nichts zu tun. Warum ist das so, die Völker leben doch direkt nebeneinander?

Die Samen wohnen in Nordfinnland. Wieso heißt eine ehemalige preußische, jetzt russische, Landschaft „Samland“?

Warum wird die Bottenvik in ein paar tausend Jahren ein großer Binnensee sein?

Wir haben den Kurs der KRUZENSHTERN gekreuzt. Sie ist die ex-PADUA. Wo sind die anderen Flying-P-Liner abgeblieben?

Die Ålands gehören zu Finnland. Warum wohnen dort fast ausschließlich Schweden?

Fragen über Fragen und erst einmal keine Antworten. Das Gehirn ist ein Schwamm, da passt immer noch etwas hinein, wenn man es vom sinnlosen Grübeln über verpasste Chancen, vergangene Freundschaften und unlösbare Probleme befreit.

Nun, mit der Weisheit des Lebensspätnachmittages, habe ich realisiert, dass der Rest meines Daseins in der Zukunft stattfinden wird.

Werdendes entsteht aus Gewesenem, deshalb sollten wir den Phönix2 in unser Wappen nehmen. Neugier kennt kein Lebensalter.

Folgt mir in das Labyrinth der Fragen und Antworten rund um die Ostsee. Historisches, Etymologisches3, Seemännisches, Allzumenschliches, Trauriges und Lustiges möchte ich Euch erzählen.

Anker auf und los!

1 Bernd O. Wagner - „Aus Träumen wurden Meilen“ - ISBN: 978-3-7347-4176-0

2 Phönix: mythischer Vogel, der sich selbst verbrennt, um aus seiner Asche wieder neu zu erstehen

3 Etymologie: Wissenschaft von der Entstehung von Worten und Begriffen

SchwanensteinLohme

Rügen ist in Mode gekommen. Das größte deutsche Eiland hat Sylt den Rang abgelaufen. Die tiefe Ruhe, die ich bei meinem ersten Besuch vor 55 Jahren vorfand, wurde von den Autos, die über die neue Brücke fluten, ausgelöscht.

Es gibt noch Winkel, die sich ihre Ursprünglichkeit bewahrt haben. Man muss sie suchen und finden.

Kommt man von See, wirkt der kleine Hafen von Lohme4 unterhalb des alten Fischerdorfes wie ein Idyll aus vergangener Zeit. Kein Straßenfahrzeug zeigt sich an der Pier. Wie auch - liegen doch 50 Meter Steilküste zwischen Ort und Ostsee. Eine Holztreppe überwindet die Höhe; mit Podesten, auf denen Bänke zur Rast einladen. Neben dem schwer atmenden Aufsteiger hockt das Fernweh und blickt weit, weit nach Norden.

Am Rand der Halbinsel Jasmund, bei den Stubnitz-Wäldern, lauern ein paar Hotels und Pensionen auf Urlauber und der Fisch in den Kneipen brutzelt hungrigen Gästen entgegen.

Lohme gehört zu unseren Lieblingshäfen: klein, heimelig und mit einem freundlichen Hafenmeister.

Die hohe Lehmküste birgt Ungewissheit, im März 2005 rasten Unmengen von Erde in das Hafenbecken, ein Heim für Suchtkranke stand nur noch zwei Schritte vor der neuen Kante. Später musste es abgerissen werden. Es war ein Haus der Diakonie, vielleicht hatten die Gebete noch Schlimmeres abgewendet.

Eigentlich hätte man es wissen müssen: das altslawische „Lomŭ“ bedeutet „der Bruch“.

Große Steine sind ein Markenzeichen der Rügenküste. Die letzte Eiszeit hatte sie mitgeschleppt und, als die Kraft nachließ, hier abgeworfen.

Unsere jungsteinzeitlichen Vorfahren formten daraus mächtige Gräber, die wir bestaunen können. Wie haben die kleinen Menschen diese gewaltigen Brocken bewegen können?

Ein großer Stein ist auch im Wappen von Lohme zu sehen, darauf ein silberner Schwan mit goldener Wehr.5

Er symbolisiert den Schwanenstein, einen Findling von 160 Tonnen Gewicht und einer Größe von wohl 60 m3. Er liegt nahe des Hafens im Wasser, gehört zu den gewaltigsten auf Rügen und um ihn spinnt sich die fröhliche Sage, dass er die kleinen Kinder beherbergt, bevor sie von Storch oder Schwan zu den Eltern gebracht werden.

Hier zeigt sich der Scharfsinn der Rüganer, denn der Storch verschwindet im Herbst gen Süden, also muss ihn der Schwan im Winter vertreten.

So weit, so lustig.

Der Schwanenstein erzählt eine traurige Geschichte; sie ist auf einer Tafel geschildert, die ihm gegenüber an Land steht.

In der Nacht vom 12. zum 13. Februar 1956 erreicht ein schon wochenlang anhaltendes Schnee- und Sturmwetter seinen Höhepunkt. Ganz Rügen ist erstarrt. Im Süden wird eine Handvoll Menschen nach fast zwanzig Stunden aus einem eingeschneiten und festgefahrenen Bus befreit.

Dem Kinderheim, das nach dem Krieg in einem ehemaligen Hotel geschaffen wurde, sind am Nachmittag drei Jungen entwischt, über das Eis geschlittert und auf den Felsbrocken geklettert.

Der Sturm wird immer stärker und zum Orkan; das Eis zerkracht, es gibt kein Zurück mehr. Die wütende See bricht sich am Stein, eiskaltes Wasser überschüttet die Hilflosen.

Es ist dunkel, als das Unglück entdeckt wird. Alle Versuche, vom Ufer zum Schwanenstein zu gelangen, scheitern. Fischer von Lohme, Seepolizisten und sowjetische Matrosen, alle gestählt vom Leben auf dem Meer, seilen sich an, um schwimmend zu den schreienden Jungen zu gelangen. Das Meer triumphiert brüllend über alle Mühen, Eis zerschneidet Kleidung und Haut.

Die Feuerwehr lässt ein Schlauchboot zu Wasser, es kann die wenigen Meter nicht überwinden.

Ein Pionierzug aus Prora bleibt mit seinen Brückenlegepanzern weit vor dem Ziel im Schnee stecken.

Schließlich läuft ein Kutter von Sassnitz aus, besetzt mit erfahrenen Kapitänen. Das Schiff vereist zusehends und kann die acht Seemeilen bis zur Unglücksstelle nicht überwinden. Die Hoffnung auf die Leinenschießgeräte an Bord stirbt im Brandungsdonnern.

Nun ruht alles Bangen auf einem Hubschrauber. Der Orkan macht den Anflug aus Berlin unmöglich.

Hilflos müssen die Retter zusehen, wie die drei jungen Menschen zu Eis erstarren, eins werden mit dem Schwanenstein.

Wie zum Hohn ist am nächsten Morgen der Sturm vorbei, die Ostsee wird zum Ententeich. Ihre Wut verraucht, sie hat ihre Opfer geholt.

Die Jungen haben auf dem Friedhof in Nipmerow ihre viel zu frühe Ruhe gefunden. Die Gedenktafel war bei meinem letzten Besuch schon sehr blass geworden. Vierzig Jahre nach der Katastrophe.

Ich möchte die Namen bewahren: Helmut Petersen, Uwe Wassilowsky und Manfred Prewit. Sie wurden nicht einmal 14 Jahre alt.

Die Kinder im Heim haben ihrer gedacht, 1995 wurde ein Gedenkstein auf dem Friedhof gesetzt. Drei Jahre später schloss das Haus.

Mehr als ein Dutzend Aufenthalte in Lohme liegen hinter uns, ein Gang zum Schwanenstein gehörte immer dazu.

Es gibt wenige Stellen, an denen der Kontrast von Schönheit und Grausamkeit der See so deutlich wird - eine Mahnung zum Respekt, den der Mensch gegenüber der Natur bewahren muss.

4 54° 35′ N, 013° 37′ E

5 Wehr: heraldischer Begriff für Schnabel und Beine

SteinstufeKönigsstuhl

Bei leichten Winden aus West haben wir geankert. Das soll man erst am späten Abend tun, wenn keine Touristenboote aus Sassnitz die staunenden Massen zum 118 m hohen Kreidefelsen kutschieren und die Naturschönheit aus plärrenden Lautsprechern gepriesen wird.

Ausflugsdampfer haben ihre festen Routen und Zeiten, scheren sich nicht um den Schwell, den sie erzeugen und so manche unseemännische Geste fliegt zu uns armen Yachties hinüber. Dabei wollen wir Euch doch überhaupt nicht am Geldverdienen hindern!

Am Morgen sind wir recht früh ankerauf gegangen, bevor ALEXANDER, NORDWIND, INSEL RÜGEN - und wie sie alle heißen - ihre Nasen auf uns richten können.

Die Stunden dazwischen sind traumhaft. Die unheimliche Landmasse im Mondschein lässt Caspar David Friedrich6 an Bord kommen; das Sternengefunkel, fern vom Lichtersmog, zeigt uns eine Milchstraße, die wir in der Stadt nicht einmal ahnen können, und wenn die Kreide im Morgenlicht zu glühen anhebt, dann ist es um die Stunden versäumten Schlafes nicht schade.

Das ganze Gebilde heißt eigentlich Stubbenkammer7. Die Große Stubbenkammer, das sind der Königsstuhl und seine unmittelbare Umgebung; die Kleine Stubbenkammer, das sind die Victoria-Sicht und ihre Kreidewand.

Slawische Stämme lösten im 7. Jahrhundert die bislang dort siedelnden germanischen Rugier ab. Die marschierten anlässlich der Völkerwanderung nach Süden und hielten Rast zwischen Wienerwald und der Donau. Ob sie der Insel die Bezeichnung hinterließen, ist umstritten. Sie könnte auch von den neuen Bewohnern abgeleitet sein, vom Stamme der Ranen, auch Rujanen geheißen.

Sie errichteten ein starkes Reich, das selbst den aggressiven Dänen trotzte, und hinterließen eine Menge Spuren, so das Svantevit-Heiligtum auf Arkona und den alten Handelsplatz Ralswiek am Jasmunder Bodden.

Im 12. Jahrhundert missionierten dänische Könige und Bischöfe die Insel, zerstörten die heidnischen Tempel und unterwarfen die Slawen.

Da hatte dieses Volk der Stubbenkammer schon längst einen Namen verpasst: „Stopin“ war in ihrer Sprache die „Stufe“ und das allbekannte slawische „Kamen“ steht für „Stein“ oder „Fels“. Sehr bildhaft.

Heute kommt man nicht mehr mit einer Stufe aus, man muss vierhundert davon vom Strand bis zum Königsstuhl abschnaufen.

Den schönsten Blick hat man vom Meer, vor allem, wenn man von weit her kommt, etwa von Bornholm8, und sich die Kreideformation gemächlich über die Kimm9 schiebt.

Wem das nicht vergönnt ist, der erklimme die Victoria-Sicht. Die heißt seit 1865 so; da hat König Wilhelm I. von Preußen10, der spätere deutsche Kaiser, mit Kronprinzessin Victoria, seiner Schwiegertochter, diesen Ort besucht. Hier präsentiert sich der Königsstuhl eindrucksvoll.

Wenn der Seemann einmal sein Schiff verlässt, um sich in die Niederungen, nein, die Höhen eines Landganges zu begeben, wohin geht dann sein Blick? Selbstverständlich auf das Meer, das sich in Unendlichkeit nach Osten dehnt, Bornholm, Memel und Estland ahnen lässt.

Nur den Stuhl, den sucht man vergebens, obwohl der Name seit 500 Jahren überliefert ist.

Die Sage behauptet, dass die Könige der Insel dort saßen, um die Huldigungen ihrer Untertanen entgegenzunehmen. Bei den alten Germanen war es üblich, gleich zwei Könige zu haben, einen für den Frieden, sozusagen den Zivilkönig, und einen für den Krieg, den Heerführer. Anfangs wurden die Könige gewählt und die Rüganer suchten sich den mutigsten und kräftigsten unter den Bewerbern aus. Zum Beweise dieser Eigenschaften musste er die Felswand bezwingen, bevor er sich auf den Thronstuhl schwingen durfte.

Heutzutage genügen schon Klimmzüge und Kehrtwenden, um ein hohes Amt zu erringen.

Die Rügenkönige hatten den Vorteil, dass an ihrem steinernen Stuhl nur schwer zu sägen war.

Nach einer anderen Version leitete der Schwedenkönig Karl XII.11 von hier oben eine Seeschlacht gegen die Dänen, vor genau 300 Jahren. Das ermüdete den Herrscher so sehr, dass er sich einen Stuhl bringen ließ.

Dabei war er gerade einmal 33 Jahre alt.

Am Ende seiner Regierungszeit war Schweden seine Vormachtstellung in Europa los. Der Monarch soll ein guter Krieger, aber ein miserabler Diplomat gewesen sein. Voltaire12 urteilte hart über ihn: „ … Seine Leidenschaft für den Ruhm, den Krieg und die Rache verhinderte ihn ein guter Politiker zu sein, ohne welche Eigenschaft es nie einen Eroberer gab.“

Die Erklärung mit den Rügenkönigen gefällt mir besser.

Wenn man vor dem Strand ankert oder anlandet, ist Aufmerksamkeit geboten. Man könnte dort nämlich sein Glück machen: In der Kreide versteckt sich eine Höhle; einstmals hauste dort Klaus Störtebeker, Anführer der Likedeeler,13 und ruhte von seinen Raubzügen aus. Gelegentlich kaperte er nicht nur Gold, Silber, Rum und Pökelfleisch, sondern auch ganz frische Ware. In Lettland schnappte er eine schöne Jungfrau ihrem Bräutigam weg und verwahrte sie in besagtem Felsenloch. Sie musste ihm spannende Geschichten erzählen und romantische Spiele zelebrieren; davon ist allerdings nichts überliefert. Als er wieder loszog, erhielt sie die ehrenvolle Aufgabe, auf seine Altersvorsorge, ein paar Tonnen geraubter Schätze, aufzupassen. Dummerweise fingen ihn die Hamburger Bürger samt seiner Crew und machten die Gesellschaft auf dem Grasbrook einen Kopf kürzer. Das mit dem Beuteverteilen hatte den Pfeffersäcken nicht so recht gefallen.

Nun wurde die Schöne in der Höhle nicht mehr von Klaus, sondern vom Hungertode heimgesucht. Die Speisekammer war nicht auf „Lebenslänglich“ angelegt und die Schätze erwiesen sich als schwer verdaulich.

Seither spukt sie gelegentlich am Strand herum, um ihre Tücher auf einem besonderen Stein zu schrubben. Der Findling heißt „Waschstein“.

Aufgemerkt: Wenn Ihr dem hübschen Geiste nach dem Schleudergang auf dem Weg in die Höhle begegnet und sie artig mit „Gott helfe Dir“ grüßt, dann fallen die Schätze an Euch.

Mit der ehemaligen Jungfrau müsst Ihr Euch anschließend nicht belasten, sie wird dann die wohlverdiente ewige Ruhe gefunden haben.

Aber wie das mit Sagen so ist. Eventuell ist das alles falsch herübergekommen und der Schatz versinkt im Nichts. Der Retter hat dann eine 625-jährige am Hals.

Wir gehen ankerauf und lassen Stubbenkammer hinter uns. Südlich grüßt Kollicker Ort mit dem Leuchtturm. Wir grüßen zurück. Hierher kommen wir auf jeden Fall noch einmal her. In der Salzurne. So steht es in unserem Letzten Willen. Sicher werden wir auch als Moleküle irgendwann an Land gespült werden.

Ob das hier in ein paar Millionen Jahren noch der Königsstuhl sein wird?

Seine kleinen Brüder, die Wissower Klinken, bröckeln regelmäßig ab und sind nun kaum noch sichtbar.

Das wird auch dem Vater aller Kreidefelsen nicht erspart bleiben.

6 Caspar David Friedrich (1744 - 1840); deutscher Maler der Frühromantik

7 54° 34′ 18“ N, 013° 39′ 30“ E

8 Bornholm: dänische Insel nordöstlich von Rügen, ca. 55 Seemeilen entfernt

9 Kimm: der Horizont auf See; eine Linie, an der Himmel und Meer „zusammentreffen“

10 Wilhelm I. (1797 - 1888); seit 1861 König von Preußen, ab 1871 Deutscher Kaiser

11 Karl XII. (1682 - 1728); schwedischer König von 1697 - 1718

12 Voltaire - eigentlich François-Marie Arouet (1694 - 1778); franz. Philosoph und Schriftsteller

13 Likedeeler: „Gleichteiler“; Kaperfahrer (Piraten, Vitalienbrüder), teilten die Beute angeblich gleichmäßig unter sich und mit den Armen

BuskamMönchgut

Wir wissen, dass im Schwanenstein die Kinder aufbewahrt werden, bevor sie Storch oder Schwan den Eltern ausliefern.

„Nein“, sagen die Leute auf der Halbinsel Mönchgut, „das ist ganz falsch, die Zustellung erfolgt vom Buskam.“ Beim früheren Kinderreichtum war es sicher angebracht, mehrere Versandzentren zu betreiben, deshalb wollen wir uns in den Streit nicht einmischen.

Buskam.14 Es ist der größte Findling an den deutschen Küsten. Über die Maße streiten sich die Kenner. Von 200 bis 600 m3Rauminhalt und von 550 bis 1600 Tonnen Gewicht reichen die Verlautbarungen. Egal, der Stein in Lohme ist wirklich nur ein Kiesel dagegen.

Buskam liegt östlich des Ortes Göhren und guckt ein Meterchen aus dem Wasser heraus. Auch ihn hat die Eiszeit aus Skandinavien mitgebracht. So ein Gletscherstrom muss ganz schön kräftig gewesen sein.

Der Eisrest auf der Zugspitze würde heute schon am Transport eines Zellstofftaschentuches scheitern.

Der Name lässt Interpretationen offen: vom slawischen „bogis kamen (Gottesstein)“ bis zum niederdeutschen „buhsen (rauschen)“ oder „büßen“ ist alles drin.

So ein Monolith lockt Mythen und Mythologen zum Felsen. Auf ihm brachten vor 3.000 Jahren bronzezeitliche Mädels und Jungens Opferschalen an, deren Aushöhlungen noch sichtbar sind. Praktischerweise konnten selbige im Mittelalter auch für das Kreuz genutzt werden, das die Herren des Mönchguts darauf errichteten.

In der Walpurgisnacht kamen die Hexen zu dem nassen Brocken, da brauchten sie nicht einen weiten Anflug zum Original im Harz auf sich zu nehmen und konnten sich die vom Tanzen glühenden Füße in der Ostsee kühlen. Ob der Teufel persönlich kam oder einen Vertreter schickte, ist nicht überliefert. Seit ich die Hexen auf der Isle of Wight15im Sturm höhnisch krächzen hörte, ist mir die Spezies nicht sehr sympathisch.

Da gefallen mir die Seejungfrauen schon viel besser. Auch sie sollen auf dem Steine tanzen. Sind die Hexen gar die alt gewordenen Meerjungfern? Wenn man sein ganzes Feenleben als Jungfrau verbringen muss, kann man im Alter schon mal grantig werden.

Fragen über Fragen. Als Segler kann man den Buskam ohnehin nicht besuchen, um ihn herum lechzen viele Steine aller Größen im flachen Wasser nach unserem Kiel.

Zum Mönchgut kommt man da schon leichter. Wir legen in Gager16 an und - schwupps - sind wir auf der kleinen Halbinsel. Es ist ein schönes Stück Land.

Wir bewegen uns behutsam, das Ganze steht unter Naturschutz.

Die Küste ist ziemlich verbeult, bei 10 Kilometern in der Ausdehnung und dreien in der Breite hat sie einen Verlauf von über 50 Kilometern.

Wie der Name verrät, gehörte sie seit dem Mittelalter den Mönchen vom Kloster Eldena bei Greifswald. Die waren etwas zickig - vielleicht heißt ein Teil des Mönchgut daher auch Zicker. Im Drang nach klaren Verhältnissen legten sie den Mönchsgraben an, der die Halbinsel vom übrigen Rügen trennt. Durch die Reformation wurde der Klerus alle Fischgründe, Wiesen und Äcker los, das Kloster verfiel und die guten Greifswalder nutzten die große Backsteingotikanlage am Ryck17 als Steinbruch für ihre Universität. Besser kann man den Übergang vom Mittelalter zur Aufklärung nicht symbolisieren.

Die Bewohner des Mönchgut waren als Fischer und als Lotsen bekannt.

Das ging bis ins zwanzigste Jahrhundert gut, dann nahmen die Flossentiere und die Revierunkundigen rapide ab.

Was geblieben ist, sind die prächtigen Trachten, die zur Beförderung der Touristenströme gern gezeigt werden.

Besser geht es denen, die im Herzogsgrab, einer Großsteinanlage, ihre wirklich letzte Ruhe gefunden haben. Die fasst keiner an. Am Abend besteigen die Neugierigen den Rasenden Roland, die Kleinbahn nach Binz und Putbus und dann zieht wieder die Klosterstille über dem Ländlein ein.

Oft sahen wir in Gager die Abendsonne ihren Purpurschein auf die kleine Steilküste der Reddevitzer Höft werfen, schauten auf die gleichfarbige Flüssigkeit in unserem Glas und ließen die Mönche, die Fischer und den lieben Gott gute Leute sein.

Still, hört Ihr das Wehklagen? Nein, es ist nicht der Wind. Am Svantegard, einer Landkante in der Nähe, wehklagen die Nonnen, die in das dortige Nonnenloch geworfen wurden. Sie stammten aus dem Kloster in Bergen und hatten das Keuschheitsgelübde gebrochen. Nun stehlen sie ehrlichen Seeleuten den Schlaf.

Sie sollten sich mit den Jungfrauen und den Hexen vom Buskam austauschen und ihre Erfahrungen teilen. Zum Beispiel mittels WhatsApp.

Ob das auch in der Geisterwelt funktioniert? Den Nixen würde ich es schon beibringen wollen - obwohl, vom Nabel abwärts sind sie der Sage nach recht fischig.

Morgen geht es ins Polnische.

14 54° 20′ 45“ N, 013° 45′ 18“ E

15 Wight: Insel im englischen Solent, die dortigen Hexen beschrieb Heinrich Heine (1797 - 1856)

16 54° 18′ N, 013° 41′ E

17 Ryck: Fluss, der Greifswald mit dem Greifswalder Bodden verbindet

GreifenlandPommern

An Steuerbord18 bleiben Greifswalder Oie und Insel Usedom mit dem Streckelsberg, dem Schauplatz des Romans „Maria Schweidler - die Bernsteinhexe“ von Wilhelm Meinhold19, der die Zustände zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges schildert. Meinhold war ein früher Marketingexperte, der sein Werk als aufgefundenes Manuskript von 1640 ausgab.

In Wirklichkeit hatte er es selbst geschrieben. Das tat dem Erfolg aber keinen Abbruch. Auch mein Motto lautet: Geschichten müssen nicht stimmen, schön müssen sie sein.

Wir sind vor der pommerschen Küste, die bei Ribnitz-Damgarten beginnt und am Frischen Haff, östlich von Gdańsk (Danzig), endet.

Ribnitz liegt in Mecklenburg, Damgarten in Vorpommern.

Die Mecklenburger und die Pommern sollen sich früher nicht grün gewesen sein, sie beschimpften sich mit ihren Wappentieren: „Mecklenburgische Ossenköpp“ und „Pommersche Aasvögel“.

Der Name „Pommern“ ist selbsterklärend für jeden, der die Spur einer Ahnung von slawischen Sprachen hat: po more - am Meer.

Dabei klingt das Ganze so deutsch, nach Stettin, Kolberg, Köslin, Rügenwalde und Stolpmünde.

Das hat sich erledigt. Der selbsternannte GRÖFAZ („Größte Feldherr aller Zeiten“)20 war in Feuer und Rauch zur Hölle gefahren und Pommerland war abgebrannt, noch bevor der Maikäfer flog.

Seit 1945 ist es zwischen Deutschland und Polen geteilt, alles hinter Usedom wurde verspielt. Und nun heißen die Städte eben Szczecin, Kołobrzeg, Koszalin, Darłowo und Ustka.

Jahrzehntelang wurde daran gebaggert, das wieder zu ändern. Bis in die siebziger Jahre zeigte die ARD-Wetterkarte die Grenzen des Deutschen Reiches von 1937.

Nun will wohl kein Deutscher die Landschaften von Stettin bis Memel wiederhaben - so ist zumindest zu hoffen.

Dabei gehörte Pommern nicht lange zu Deutschland. Es war im frühen Mittelalter von den slawischen Wenden besiedelt, dann folgte die 500-jährige Herrschaft der Greifendynastie, benannt nach ihrem Wappentier. Das hockt auch in den Städtenamen und -wappen von Greifswald und Greifenberg (Gryfice).

Bei der Gründung von Greifenberg hat der Phantasievogel selbst mitgewirkt: Man hatte anfangs die Absicht, sie an anderer Stelle, auf dem Lübzower Berg, zu erbauen. Schon war das Bauholz angefahren, da trug der Greif, der in der Nähe nistete, während der Nacht alles Bauholz zu der Stelle, wo die Stadt jetzt steht, und die ersten Häuser wurden folgsam dort errichtet.

In Greifswald war der Vogel strikt gegen den Bebauungsplan: Als die Mönche des Klosters Eldena eine Stadt gründen wollten, fanden sie in einem Walde ein Nest, in dem ein großer Greif brütete. Dies schien ein günstiges Zeichen zu sein: an dieser Stelle wurde die Stadt erbaut, aber der vertriebene Greif hat manches Kind geholt und gefressen. Später hat man fürchterliche Gestalten gesehen: bald ging des Nachts ein großes Weib herum mit einem Schlüsselbund, womit sie schrecklich rasselte; bald sah man ein Frauenzimmer mit einer Herde schneeweißer Gänse; bald setzte sich dort ein Rappe, manchmal auch ein schneeweißer Schimmel, den Leuten auf die Schultern und drückte sie nieder, bis ihnen das Blut aus Mund und Nase kam.

Das hat glücklicherweise im Laufe der Zeit nachgelassen und sich schließlich ganz gegeben.

Die Greifen waren als Herzöge von Pommern den Polen, den Dänen, dem deutschen Kaiser, den Brandenburgern und dem Deutschen Orden untertan, stellten aber auch mit König Erich I. von Pommern-Stolp21 einen echten Monarchen.

In der Mitte des 17. Jahrhunderts war es mit der Greifenherrlichkeit vorbei. Der letzte Herzog hatte keine Nachfahren zustande bekommen und geriet zum evolutionären Ballast.

Pommern wurde 1648 zwischen Schweden und Brandenburg geteilt, der jetzt deutsche Teil wurde schwedisch, der jetzt polnische Teil brandenburgisch. Ziemlich verrückt.

Um 1720 krallte sich Brandenburg das südliche Vorpommern und mit dem Wiener Kongress22 kam ganz Pommern endgültig zu Preußen und damit später zum Deutschen Reich, das in den beiden selbst verschuldeten Weltkriegen unterging. Deutschland ist heutzutage nur noch ein Torso seines einstmals gewaltigen Territoriums.

Wir schleichen uns an der pommerschen Küste entlang, die mit der Zeit recht eintönig wird. Sandstrand, Wald, Einsamkeit. Man freut sich über jede Düne oder gar einen Menschen am Strand.

Nach Szczecin23 führt der Kanał Piastowski, die frühere Kaiserfahrt, wie das Fahrwasser von der Ostsee in das Stettiner Haff bis 1945 hieß. Dort leuchten noch die wohl letzten großen Torfeuer der christlichen Seefahrt. Zwölf Meilen ist der Kanal lang, über zwei Stunden zotteln wir nach Süden. Die Stadt erinnert an Berlin, viele Spuren der deutschen Vergangenheit sind noch sichtbar. Manche Stadtviertel erwecken den Eindruck von Prenzlauer Berg oder Wedding. Es sind nur 150 Kilometer zwischen den Städten, Stettin war beliebter Ausflugsort für die Reichshauptstädtischen.

Gemütlich ist es hier nicht. Lass uns wieder ablegen.

18 die in Vorausrichtung rechte Seite eines Schiffes

19 Schriftsteller und Theologe; 1797 - 1851

20 Adolf Hitler (1889 - 1945); deutscher Diktator während der NS-Zeit (1933 - 1945)

21 König Erich I. (1382 - 1459); auch Erik VII. von Dänemark, Erik III. von Norwegen, Erik XIII. von Schweden, von 1412 - 1439 König der Kalmarer Union, eines Bündnisses der drei Länder

22 Wiener Kongress: 1815 nach den Napoleonischen Kriegen; territoriale Neuaufteilung Europas

23 53° 25′ 29“ N, 014° 33′ 19“ E

SalzkircheKolberg

Kolberg (Kołobrzeg)24 ist eine alte preußische Festung und musste sich so manche Belagerung gefallen lassen; durch die Kaiserlichen im Dreißigjährigen Krieg, danach kamen die Schweden, später die Russen und schließlich Napoléons Truppen.

Gegen letztere gelangten Kommandant Gneisenau25, der Freikorpsoffizier Schill26 und der Bürgervertreter Nettelbeck27 im Jahre 1807 zu Ruhm und Ehre, weil sie die Stadt bis zum Friedensschluss hielten.

Die Nazis missbrauchten diese Geschichte für funkensprühende Durchhaltefeuerwerke und drehten den aufwändigsten Film ihrer Herrschaftszeit. Er trug als Titel den Namen der Stadt und Joachim Nettelbeck wurde von Heinrich George gespielt, der für diese und andere Propagandarollen sein Leben in einem sowjetischen Lager lassen musste.

Der Hafen ist freundlich, wir wollen uns die Stadt ansehen.

Die Reste des alten Forts Münde erzählen von blutigen Kämpfen und mahnen zum Frieden. Viel war von Kolberg nicht mehr übrig, als es zu Kołobrzeg wurde.

Der backsteingotische Dom ist wieder aufgebaut, Pulverturm und Braunschweigisches Haus zeugen von der bewegten Historie des Ortes.

Aber das Kriegerische ist nicht das Typische an Kolberg. Seine Geschichte ist eng mit der Sole verknüpft. Schon im 7. Jahrhundert war die Salzinsel besiedelt. Das verdankte sie den Mineralquellen, dem Ursprung der Stadt. Um 1000 erwähnt Thietmar von Merseburg28 erstmals „Salsa Cholbergiensis“.

Natürlich gibt es auch hier eine Sage. Die ist aber nicht sonderlich mystisch und erzählt vom Hund eines Jägers, der im Sumpf stecken blieb.

Als Herrchen ihn fand und herauszog, bemerkte er, dass das Wasser salzig war. Das war’s. Nicht sehr spektakulär. Eine gepökelte Quellnymphe hätte mehr hergemacht. Wir wollen aber ehrlich bleiben.

Die Salzbrunnen gehörten erst den Greifen, dann den reichen Klöstern und Bischöfen in Kamin und Oliwa bei Danzig. Schließlich wurden die Bürger zu Eigentümern der sprudelnden Quellen der Sole und des Wohlstandes. Die Salzherrengilde war die begütertste der Stadt.

Es gab einen „Salzweg“ nach Polen hinein, so wie es auch in Halle und in Böhmen, in Bayern und Schleswig, in Thüringen und Westfalen, in Tirol, bei Rom, im Piemont und in der Provence alte Salzstraßen von und zu den Salinen gibt. Das zeugt von der damaligen Bedeutung und dem Wert des heute profan und billig daherkommenden Natriumchlorids.

Der Reichtum der Stadt war im Jahr 1000 derart gewaltig, dass sie beim Casting für ein neues Küstenbistum den bedeutenden Städten Wolin, Stettin und Danzig den Rang ablief. Der frischgebackene Episkop namens Reinbern29 wurde als „Bischof der Salzkirche Kolbergs“ aktenkundig.

Jahrhunderte sprudelten die Quellen vor der Stadt, es wurden riesige Gradierwerke zu deren Anreicherung erbaut, bis es vor 175 Jahren mit der kristallinen Pracht zu Ende ging. Das Grubensalz kam als übermächtiger Konkurrent daher.

Heutzutage verfolgen Souvenirverkäufer den genervten Touristen. Allerorten wird Pfannensalz angeboten, das natürlich viel gesünder, heilkräftiger und besser als die Supermarktware ist. Den Händlern tut es in jedem Falle wohl.

Die Salzgürkchen sind wahrlich gut und das Mineralwasser „Ostseeperle“ schmeckt auch.

Die Wirkung der Heilbäder, die von den Salzquellen gespeist werden, soll nicht bestritten werden. Schließlich werden all die Kataloge, die uns an das Ufer der Persante locken sollen, nicht lügen. Oder?

Frisch gepökelt verlassen wir den schönen Yachthafen. Unser Schifflein passiert den Leuchtturm und lange Molen, der Bug wird nach Osten gerichtet. Die Danziger Bucht lockt, bis dahin sind es noch ein paar Stationen.

24 54° 10′ 35“ N, 015° 34′ 31“ E

25 August Neidhardt von Gneisenau (1760 - 1831), preußischer Feldmarschall und Heeresreformer

26 Ferdinand von Schill (1776-1809), preußischer Offizier und Freischärler

27 Joachim Nettelbeck (1738-1824), Seemann und angesehener Kolberger Bürgervertreter

28 Thietmar von Merseburg (975 - 1018); Bischof von Merseburg, Geschichtsschreiber

29 Reinbern (*? - ca. 1013) - sächsicher Priester aus dem Mansfelder Land, pommerscher Bischof

WollsäckeŁeba

Eine lange Weile ändert sich am Küstenbilde nichts: es ist langweilig.

Das Auge wird müde und der Seemann auch. Nur gut, dass die polnischen Fischer ihre Netze lediglich mit winzigen Styropurkugeln an der Oberfläche halten, somit erzwingen sie unsere volle Aufmerksamkeit und verhindern das unfallträchtige Einschlafen.

Steuerbord voraus tut sich etwas, der Horizont erhebt sich über die Kimm. Die Seealpen? Nein, die liegen 2.000 Kilometer südwestlich.

Fernglas her und kontrolliert, was das Küstenhandbuch ankündigt. Dieses Druckwerk ist neu und in mancher Passage trügerisch, insbesondere die Wassertiefen in Häfen und Fahrwassern scheinen die Verfasser im Dartspiel gewonnen zu haben. Doch wir wollen ihnen nicht unrecht tun: die gewaltigen Wanderdünen bei Łeba30 haben sie richtig positioniert.

Die Lontzkedüne (Wydma Łącka, auch Łącka Góra) ist die größte von ihnen, anderthalb Kilometer lang und einen halben breit, dabei bis zu 42 m hoch. Zwölf Meter schleicht sie sich pro Jahr nach Osten, getrieben vom Westwind. Der jagt die Sandkörner über die Dünenkante, sie rollen herab und so entsteht die scheinbare Bewegung. Dabei walzt der kriechende Sandhaufen ganz gemächlich, aber unerbittlich alles nieder, was sich ihm entgegenstellt, Wald und Wiese, Sumpf und Menschenwerk. Der Ort Łącka musste schon daran glauben.

Das Ganze war zu Urzeiten eine Bucht, die der Sand erobert hat. Reste sind die Küstenseen Łebsko (Leba-See) und Gardno (Garder See).

Wir bewundern es vom Schiff aus, das ist die einfachste Weise. Zu Fuß wären es acht Kilometer von Łeba zur Lontzkedüne, der Strandweg dehnt sich auf über 15 Kilometer. Eintritt verlangt die Düne auch und man sollte sich an die vorgeschriebenen Wege halten. Es würde sonst ein übertrieben großes Grabmal werden, und auf der Rückseite wird kaum ein Nachkomme auf unser Wiedererscheinen harren wollen.

Man erzählt, der „Wüstenfuchs“ Rommel31 habe hier seine Soldaten für den Afrikakrieg ausgebildet. Das hat letztendlich auch nichts genutzt, die meisten von ihnen endeten unter ägyptischen Sandhaufen, fern der Heimat, und die Lieben daheim warteten vergeblich.

Die gewaltigste Düne ist nicht die höchste. Die „Kleinen Wollsäcke“ sind 56 Meter hoch und liegen mit ihren Geschwistern, den kleineren „Großen Wollsäcken“ im Westen des Lebasees. Die darf man aber nicht betreten.

Die Namen verdanken sie der rundlichen Ansicht und dem hellen Weiß, das sich über die Strände erhebt. Seeleute, die die mächtigen Hügel als Landmarken für die Ansteuerung der pommerschen Küste nutzten, haben sie so genannt.

Erstaunlich, dass keine Sagen und Legenden zu diesen Gebilden zu finden sind. Ersatzweise die Erklärung von kamelopedia.net, einer Website, die das allwissende WIKIPEDIA kräftig auf die Schippe nimmt: Danach soll die erste Wanderung einer Düne durch eine Wüstenstauballergie ausgelöst worden sein. Die Düne wollte dem knochentrockenen ägyptischen Klima entkommen und in den kühlen feuchten Norden fliehen. Diesen beschwerlichen Weg über die Alpen nahmen später immer wieder Dünen auf sich. Bevorzuge Ziele waren die Strände an Nord- und Ostsee, wo man Nachkommen zahlreich vorfindet.

Noch heute zeugen die versteinerten Zeitzeugen nahe der Alpen von den vielen Wanderdünen, die ihren Wunsch nach staubfreier Luft mit dem Leben bezahlt haben.

Lass’ das bloß nicht den pommerschen Sagenpapst Otto Knoop32 hören, der fährt aus seiner ewigen Ruhe auf und kommt an Bord.

Der Yachthafen ist in Ordnung, die Wassertiefen weichen wieder gewaltig von den Kartentiefen ab, die Fingerstege sind arg kurz - aber sonst: alles im grünen Bereich.

Hela steht auf dem Plan.

30 54° 45′ 33“ N, 017° 33′ 11“ E

31 Erwin Rommel (1891 - 1944 ); Nazi-Generalfeldmarschall, kommandierte das sog. Afrikakorps

32 (1853 - 1931); Sagensammler, Lehrer und Volkskundler

HölleHel

Das chamäleonzungenförmige Gebilde über der Danziger Bucht, das den Ort Hel gleich einem Beuteinsekt an seiner Spitze hält, ist die Halbinsel gleichen Namens. Sie hieß einmal Putziger Nehrung. Ob das der lustigen Form geschuldet ist?

Das wird jener Frau ziemlich egal gewesen sein, die von hiesigen Fischern im Jahre 1836 so lange eingetaucht wurde, bis ihr die Luft auf ewig wegblieb. Man hatte sie als vermutete Hexe der Wasserprobe unterzogen und, als sie nicht untergehen wollte, ein wenig nachgeholfen.

Heute sind Frauen im Kurort willkommen und die Hafenmeisterin in Hel, dem deutschen Hela, ist weder vom Aussehen noch vom Alter noch vom Habitus als Hexe einzuordnen. Die Zeiten ändern sich.

Dennoch ist man sich in Hel seines Lebens nicht sicher. Bechstein33 wusste mehr davon. Ich erzähle das Wesentliche der Hela-Sage nach: Hel hieß die Todesgöttin im skandinavischen Mythos, Inbegriff der Erstarrung und der Kälte im unheimlichen unterirdischen Reich.

Auch war Hel der Totenort in der altnordischen Welt. Manche behaupten, dass von diesem Namen das deutsche Wort „Hölle“ abstamme.

Einige tausend Schritte vom heutigen Hel, am äußersten Oststrande, war vor Zeiten eitel irdischer Glanz, dort stand eine reiche, große und prächtige Stadt, belebt vom Handel und Wandel, besucht von allen Völkern des Morgen- und des Abendlandes, gleich Stavoren34 und Vineta35. Aber wie man es in diesen blühenden Städten trieb, so geschah es auch in Hela: der Reichtum machte die Menschen gottvergessen. Es soll in einer brausenden Meeresflut in der Nacht vom ersten zum zweiten Pfingsttage untergegangen sein, weil der Krämergeist keines Sonn- und Feiertags mehr achtete und profane Werktage aus ihnen machte.

Zu Pfingsten kann bei ruhiger See das vom Meer verschlungene Hela erblickt werden. Da sieht man in den reichen Straßen die Bewohner geschäftig wandeln in ihrer Prunktracht und Verkehr treiben und kann die Uhren schlagen hören und die Glocken läuten, aber in die Kirchen sieht man niemanden gehen, weil das die Leute verlernt hatten über dem Jagen nach dem Mammon.

Wenn aber der erste Pfingsttag still ist und uns den Blick nach Hela vergönnt, erhebt sich bei Sonnenuntergang der Nordost und wühlt das Meer auf, als wolle er die ganze Landzunge verschlingen. Da eilen Schiffer und Fischer, ihre Boote zu bergen und den sicheren Strand zu gewinnen, denn furchtbar toben der Ostsee empörte Wogen.

Nun lasst Euch das gesagt sein und zu Herzen gehen. Geld und Gewinn und Besitz sind nicht alles und auf dem Meeresgrund haben das dickste Auto und das dünnste Model nur ein sehr beschwerliches Fortkommen.

Das moderne Hela hat immer noch eine Vorliebe fürs Märchenhafte.

Zumindest erinnert das moderne Hafengebäude mit seinen dicken blauen und weißen Streifen und der Kugelform fatal an Obelix’36 Hose.

Drinnen wirkt es ein wenig morbide und nicht ganz hygienisch. Trug der gallische Held eine Unterhose? Wenn nicht, könnte der Vergleich mit seinem Beinkleid sehr zutreffend sein.

Wie sagte der in den Zaubertrank gefallene Hinkelsteinproduzent so treffend: „Die spinnen, die Skipper!“ Aber gern doch. Voll zurechnungsfähig ist kaum einer, der sich mit fünf Millimetern Kunststoff unterm Hintern in die Wind- und Wellenwelt hinauswagt. Allerdings sind sicher schon mehr Hausfrauen beim Fensterputzen davongeflattert als Yachtsegler ertrunken. Wetten?

Tschüss, schöne Hafenlady, die Du in einer Hose wohnst.

Danzig ruft uns lauthals. Auf eine alte Dame soll man hören. Wir kommen!

33 Ludwig Bechstein (1801 - 1860 ), dt. Schriftsteller, Bibliothekar, Archivar und Märchensammler

34 Ort in den friesischen Niederlanden, im Mittelalter verfallen, ab 1600 wieder erblüht

35 Sagenstadt, wegen moralischem Verfall untergegangen, soll vor Usedom bzw. Wolin gelegen haben

36 Obelix: große und beleibte Figur aus René Goscinnys und Albert Uderzos Comic „Asterix“

BowkeDanzig

Nach einem Höllenritt, von Hel her, schlüpfen wir in die Tote Weichsel, die uns in die Innenstadt von Gdańsk leitet. An Backbord ist die Westerplatte zu erkennen. Mit dem Beschuss der Insel durch die SCHLESWIG-HOLSTEIN, die zum „Freundschaftsbesuch“ hier lag, wurde der Zweite Weltkrieg eingeläutet, an dessen Ende nicht nur Danzig in Trümmern lag. Wir dippen37 die Nationale38 und erweisen den Opfern die Ehre. Die Lust auf Scherze hat sich davongemacht.

Bald taucht das altehrwürdige Stadtzentrum auf.

Schon dessen Entstehung zeugt von listigen Ureinwohnern dieses Landstriches.

Sie wollten eine befestigte Stadt erbauen und erbaten vom damaligen Herrscher Sobiesław39 nur soviel Land, wie sie mit ihren Armen umfassen konnten, dazu das notwendige Bauholz. In totaler Unterschätzung des pommerschen Intelligenzquotienten nickte der Herzog gnädig. Die Bäuerlein kamen zum Ortstermin vollzählig anmarschiert, einschließlich der Kinder und der Greise, fassten sich an den Händen und okkupierten auf diese Weise ein Gelände, das die heutige Altstadt umfasst. Dem Adligen ist zugute zu halten, dass er seine Exekutive nicht losließ, um die Zusage rückgängig zu machen. Die Regierenden hatten manchmal noch Moral. Damals.

Den Stadtnamen brachten die Schlitzohren auch gleich mit. Sie kamen aus dem Orte Wiek, gar nicht weit von hier, am Ostseestrande gelegen.

Die Siedlung gründete zu Wikingerzeiten ein Däne, der sich sein täglich Brot mit Kaperfahrten beschaffte und die Beute in der Bucht versteckte. Eine Bucht heißt auf nordisch Wiek oder Wyk oder Vik oder so ähnlich. In aller Bescheidenheit nannte der Pirat sein Refugium „Dänen-Wiek“, woraus Danswiek und schließlich Danzig wurde.

Die wechselhafte Geschichte füllt Bände über Bände, wir wollen uns lieber den Kleinigkeiten widmen. Zügig haben wir angelegt und im Hafenbüro bei einer kettenrauchenden und dementsprechend duftenden Schönen die Formalitäten erledigt. Sekundensache, bis auf das Złoty-Zählen.

Am Krantor stellt man sich schaudernd vor, wie die Motoren, nämlich die Knechte, im Hamsterrad die Umdrehungen erzeugten, mit denen der Kran die Ladungen aus den Schiffen holte. Daneben gibt es eine urige Kneipe „Gdański Bowke“. Deftiges Essen, hausgebrautes Bier und immer gegenwärtig der Name sowie eine dicklich-kleine Gestalt, eben der Bowke.

Johannes Trojan40 hat ihn bedichtet:

Denk' Danzig's ich, der Vaterstadt,

Die soviel Trautes an sich hat,

Dann immer ins Gedächtnis kommt

Mir wieder, im Erscheinen prompt,

Der Bowke.

Der Bowke ist ein pfiff'ger Wicht,

Besser ist's, man traut ihm nicht.

Er bummelt gern umher und glaubt,

Ein jeder Kniff sei ihm erlaubt,

Dem Bowke.

Doch ist der Danzger Bowke auch

Ein Schmeichelwort im Sprachgebrauch,

Wie es „du Schelm!“ heißt anderwärts,

Sagt man zum Kinde dort im Scherz:

„Du Bowke!“

O, war das nett und klang so süß,

Wenn man das Kind ein' Bowke hieß!

Ich wollt', ich würde nochmal klein,

Nur, um noch einmal dann zu sein

Ein Bowke!

Nun ist der Gasthaus-Name erklärt, da schmeckt es noch einmal so gut.

Einen Wodka obendrauf, da wird die Seele leicht.

37 eine Flagge zur Ehrenbezeugung senken

38 die Nationalflagge, die am Heck jedes Schiffes weht

39 Sobiesław I. (um 1130 - 1187); ab etwa 1155 der erste Herzog Pommerellens

40 (1837 - 1915), deutscher Schriftsteller aus Danzig

MariengrassDanzig

Es dauert, bis am nächsten Morgen der Bowke-Nebel verflogen ist.

Reuevoll wenden wir uns der St.-Marien-Kirche zu. Die Backstein-Basilika war einst das größte lutherische Gotteshaus auf Erden. Mit der Übernahme Danzigs durch die polnische Republik wurde sie katholisch und rutschte im Größenindex nach unten. Der römische Klerus hat noch ein paar gewaltigere Lobpreisungsimmobilien aufzuweisen. Trotz aller Bescheidenheit des aktuellen Heiligen Vaters.

Kühl schluckt uns das Kirchenportal. Das Schiff kann 25.000 Menschen aufnehmen, man kommt sich ziemlich winzig vor. Genau das haben die Bauherren gewollt.

In jeder Ecke lauern Geschichten. Manche sind ganz schön gruselig.

Die Kreuzigungsschnitzerei vor der St.-Hedwigs-Kapelle (andere sagen dazu Kapelle der 11.000 Jungfrauen, was ziemlich unglaubwürdig klingt - fast jede Kirchenbesucherin eine Jungfrau?) ist von einer solchen Lebendigkeit, dass man der Sage glaubt. Danach hat der Künstler den Bräutigam seiner Tochter eigenhändig an ein Kreuz genagelt, um ein realistisches Vorbild zu haben, vor allem für das qualvolle Sterben. So konnte er den Gesichtsausdruck vollendet hinbekommen. Da sind mir Picassos41 Frauengemälde lieber. Wie einige von denen aussehen, derart hätte man keine Frau quälen können. Der Danziger „Künstler“ hat seine Performance42 dann doch bereut und sich selbst entleibt. Wahrscheinlich schmort er jetzt in Hela.

Einem zum Tode verurteilten Töpfer gelang ein derart wunderfeines Abbild der Jungfrau Maria, dass er wegen dieses Werkes begnadigt wurde und in Ehren in der Stadt leben durfte. Ein Marienwunder, handgemacht.

Undankbar erwies sich der Rat der Hansestadt, als er dem Uhrmacher, der ein astronomisches Kunstwerk an der Kirche schuf, das Augenlicht nahm. Er sollte keine zweite Arbeit dieser Qualität bauen. Die Ratskollegen in Straßburg hatten diese grobe Art der Wettbewerbsverzerrung bereits mit dem Uhrenbauer ihres Münsters vorgelebt.

Aber der Danziger Meister, der Düringer hieß und trotzdem aus Bayern, nämlich aus Nürnberg, stammte, rächte sich unter Hingabe seines Lebens und über sein Ende hinaus. Bevor er sich vom Turm stürzte, zerstörte er das Uhrwerk unwiederbringlich.

Die Männer der Kirche verhalten sich nicht immer artgerecht. Davon zeugt das steinerne Brot in der Marienkirche.

Ein Mönch hat zur Zeit großer Hungersnot ein Brot in der Kutte getragen, als ihn ein hungerndes Weib für ihr verschmachtendes Kind um ein paar Krümel anflehte. Er erwiderte, er habe kein Brot, trage nur einen Stein in die Kirche. Da sei, untermalt vom Notschrei der armen Frau, das Brot wahrlich zu Stein geworden.

Genug der erzählten Elends, draußen hocken Bettler, die sich für solche alten Geschichten wohl kaum erwärmen würden. Wenn sie denn echt sind, die Bettler. Selbst dessen kann man sich heutzutage nicht mehr sicher sein.

Schade, dass ich die Sagen, die man in 500 Jahren über das Hier und Heute erzählen wird, nicht mehr lesen kann. Rein karmamäßig43 dürfte ich mich dann gerade mal wieder zur Waldameise heraufgequält haben.

Nach den architektonischen nun zu den literarischen Größen.

Das Günter-Grass-Museum gibt es seit 2009. Schließlich wurde der Literaturnobelpreisträger 1927 in der Hansestadt geboren und hat seine Kindheit hier verbracht.

In seinem Debüt „Die Blechtrommel“ gibt er Danzig ein Gesicht und setzt sich selbst ein Denkmal.

Zudem macht er die Kaschuben unsterblich. Er selbst stammt mütterlicherseits von diesem slawischen Volk ab, das westlich von Gdańsk siedelt und dessen Zunge genauso vom Untergang bedroht ist wie mehr als die Hälfte der heute noch existierenden Sprachen.

„Kaschuben“, sagt die Großmutter von Oskar Matzerath, dem Helden des Buches, „missen immer dablaiben und Koppchen hinhalten, damit de anderen drauftäppern können, weil unserains nich richtich polnisch is und nich richtich deitsch jenug, und wenn man Kaschub is, das raicht weder de Deitschen noch de Pollacken“.

Zu sozialistischen Zeiten galten sie als Separatisten, durften nicht studieren, Wehrpflichtige mussten Ersatzdienst in Bergwerken leisten.

Später machten die Regierenden sie zur folkloristischen Kuriosität; die Kaschuben sollten zwar Tanz und Gesang pflegen, jedoch nicht als eigenständiges Volk auftreten. Ihre Sprache stufte man zum polnischen Dialekt herunter.

Die eigentümlichen Bräuche gingen verloren. Welches andere Volk schnupfte schon vor dem Kirchgang gemeinsam Tabak?

Unter diesen Bedingungen ist Überleben schwer. Nun tut sich wieder etwas: Zeitungen und Broschüren erscheinen in kaschubischer Sprache, das Neue Testament wird in Kaschubisch gedruckt, Priester lesen die Messen in dieser Sprache. Zweisprachige Straßenschilder gibt es noch nicht. Nur am Lebensmittelladen und an der Schule von Glodnica prangt das Wappentier der Kaschuben, der schwarze Greif. Da ist es wieder, das Symbol der Pommern.

Do widzenia, Gdańsk.

Leb’ wohl, Günter Grass. Auch wenn Du in Lübeck ruhst, seit dem Jahre 2015, so denkst Du auf Deiner Wolke sicher gern an die Zeiten zurück, als Du ein richtiger Danziger Bowke warst.

Das nächste Land liegt vor uns.

41 Pablo Picasso (1881 - 1973) spanischer Maler, Grafiker und Bildhauer, ca. 50 000 Werke, teils sehr experimenteller Stil

42 situations- und handlungsbetonte, meist vergängliche künstlerische Darbietung, oft fragwürdig

43 Karma: spirituelles Konzept, jeder wird entsprechend seinem Wirken wiedergeboren und muss sich erneut „nach oben“ arbeiten

RammbockBernsteinküste

Fast dreißig Stunden braucht es für die Überfahrt von Gdańsk nach Klaipėda, von Polen nach Litauen - es sind 140 Seemeilen44.

Zwischen Start und Ziel hat das Potsdamer Abkommen45 eine russische Exklave gepackt, das Gebiet Kaliningrad um das ehemals preußische Königsberg. Die östlichste Großstadt Deutschlands wurde zur westlichsten Großstadt Russlands. Das hätten sich Immanuel Kant46, E. T. A.

Hoffmann47 und Käthe Kollwitz48 nicht träumen lassen. Sie waren geborene Königsberger und in ihre Heimatstadt am Pregel vernarrt.

Wir haben dem Gebiet großzügig auszuweichen, die russische Flotte achtet streng auf die Einhaltung der 12-Meilen-Zone. Das wollen wir beherzigen.

So bleibt uns nur das Spähen nach Steuerbord, wo das Leuchtfeuer Majak auf dem Kap Taran seine Kennung sendet. Drei lange weiße Lichterscheinungen aller 15 Sekunden oder wie der Seemann schreibt: Oc(3)15s. Das Feuer leuchtet 60 m über dem Meer und ist über 25 Meilen weit zu sehen. Nur heran darf man nicht.

Taran ist Russisch und bedeutet „Rammbock“. Der Punkt hieß einmal Brüsterort und liegt auf der Nordwestspitze von Samland.

Samland hat nichts mit den Samen zu tun, den finno-ugrischen Völkern, die wir die „Lappen“ nennen und die sich selbst als „Sámi“ bezeichnen.

Die hiesigen Ureinwohner wurden von den herumstromernden Dänen einst „Semben“ gerufen, das Land in ihren Besitzverzeichnissen als „Zambia“ geführt. Nun ist die Verwirrung komplett. Was trieb das vormalige Nordrhodesien zu Wikingerzeiten im späteren Preußen?

Überlassen wir das Grübeln den Etymologen.

Vier Kilometer zieht sich ein Riff in die Ostsee hinaus und wurde zum Grab vieler Schiffe. Vielleicht kommt daher der russische Name?

Südlich liegt die Stadt Palmnicken, nunmehr Jantarny. Jantar, so heißt Bernstein auf Russisch und schon wird uns einiges klar. Diese Gegend nennt man die „Bernsteinküste“.

Baltische Stämme, die mit dem Schmuckstein handelten, hat schon Tacitus49 erwähnt und das ist ein paar Ewigkeiten her.

Die gewaltigen Vorkommen, die eine Gewinnung des fossilen Harzes im Tagebau ermöglichen, stammen aus Riesenwäldern und wurden von einem Urzeitfluss in die Gegend getragen. So sagt die Wissenschaft. Die Geschichten berichten von 4.000 Pfund Bernstein, die ein Herbststurm im Jahre 1862 an die Küste geworfen hat. Da kommt man sich mit seinen am Binzer Strand aufgefundenen Stecknadelköpfchen, bei allem Stolz, sehr bescheiden vor.

Die griechische Sage hält nichts von Urwäldern. Bernstein - das sind die geronnenen Tränen der Schwestern des Phaeton50. Der hatte, ohne im Besitz des entsprechenden Führerscheins zu sein, seinen Vater überredet, ihm den Sonnenwagen für eine Spritztour zu überlassen, die Pferde nicht in den Griff bekommen und bei dieser Gelegenheit die Erde angekokelt. Mit einem finalen Rettungsschuss holte ihn Göttervater Zeus persönlich per Blitz vom Himmel. Da weinten seine zu Bäumen erstarrten Schwestern gar sehr und ihre Tränen gerannen zu Bernstein.

Schon haben wir einen Bezug zur wissenschaftlichen Erklärung und auch den ersten beurkundeten Blitzer im himmlischen Verkehr kennen gelernt. Dass ein bedeutender Autohersteller sein Luxusgefährt PHAETON nennt, ist unter diesen Umständen nicht so richtig zu verstehen.

Vielleicht erklären sich somit die matten Verkaufszahlen.

Bernstein hat magische Kräfte, so behaupten Kenner.

„Dieses ist ein edles Medicament in Haupt, Magen, Gedärmen und andern Sehnen-Beschwerden, ebenfalls auch wider den Stein.“ Das meint zumindest Paracelsus51.

Mystiker aller Richtungen, vor allem solche, die eine Geldquelle wittern, entdecken die „Yang-Schwingungen“, die „Harmonieförderung auf der bioplasmatischen Ebene“ und die Aktivierung von Chakras, was auch immer das ist - auf jeden Fall etwas Esoterisches. Ich bin nur klassisch abergläubisch, wie sich das für einen Seemann gehört. Es reicht mir, wenn an Bord nicht gepfiffen wird, damit sich Rasmus, der für den Wind Zuständige, nicht aufregt.

Nebenbei, für die Potenz soll Bernstein auch gut sein. Aha. Kauen, Trinken, Rauchen oder Dranbinden?

Zudem verdanken Fensterscheibe und Schnapsbehälter dem gelblichen Wunder ihren Namen. „Glaes“ - das Glänzende, so nannten die alten Germanen den Bernstein. „Glas“ hat hier seinen Ursprung.

Schönes und Grausames verbinden sich mit der Bernsteinküste: Alexander von Humboldt52 rühmte 1809, nach einer sturmgepeitschten Nacht am Leuchtturm, den Ort „als das Größte und Schönste, was ich seit meiner Abreise aus Italien erlebt habe.“ Im Januar 1945 trieb die SS die 3.000 Überlebenden des Todesmarsches aus dem KZ Stutthof, den 7.000 Häftlinge angetreten hatten, bei Palmnicken in die Ostsee und nahm sie unter Maschinengewehrfeuer.

Es waren ausnahmslos jüdische Frauen. Fünfzehn blieben am Leben.

Zur Ehrenwahrung der Palmnicker sei vermerkt, dass viele versuchten, den Todgeweihten zu helfen. Sie verhinderten, dass die Wachmannschaften die Jüdinnen in einem Bergwerk einmauerten. Retten konnten sie niemanden.

Die Rote Armee stand zu dieser Zeit 10 km vor der Bernsteinküste.

Mit all diesen Erkenntnissen kann man sich die zähe Zeit zwischen Polen und Litauen vertreiben und dabei etwas lernen. Der Rammbock schiebt sich nach Steuerbord achteraus. Wir fahren in die Sonne. Helios hat die Zügel selbst wieder in die Hand genommen. Mit neuem Bernstein ist nicht zu rechnen, Phaetons Schwestern haben auch schon ein Alter erreicht, in dem sie einem Verkehrstoten gelassen begegnen könnten.

Da noch immer Russland hinter der Kimm herumlungert, darf ein Satz zum Bernsteinzimmer nicht fehlen. Man sucht es allenthalben, seit es zum Ende des Zeiten Weltkrieges aus dem Königsberger Schloss verschwand.

Wenig bekannt ist dagegen, wie es nach Russland gelangte, es war eigentlich für das Charlottenburger Schloss der Preußenkönige bestimmt, wurde jedoch im Berliner Stadtschloss installiert. Dort sah es Peter der Große53 voll Bewunderung. Der „Soldatenkönig“54 verkunkelte das Ganze anlässlich der soeben geschlossenen Allianz gegen Schweden für eine Handvoll Langer Kerls55, die seine Garde dringend benötigte. Schon damals wurde das in den Medien gefeiert oder aber alleruntertänigst kritisiert. Als schöner Handel: Menschenschicksale gegen Göttertränen.

Das Blut sieht man der Rekonstruktion des Zimmers nicht an. Es ist bei großer Kunst oft so.

Weg mit diesen trüben Gedanken, das alte Memel winkt, der Leuchtturm lugt über die Kimm.

45 Potsdamer Abkommen der Siegermächte des 2. Weltkrieges im Jahr 1945 über die Neuordnung Mitteleuropas

46 Immanuel Kant (1724 - 1804); deutscher Philosoph, „Kritik der reinen Vernunft“

47 Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (1776 - 1822); deutscher Schriftsteller der Romantik

48 Käthe Kollwitz (1867 - 1945); deutsche Grafikerin, Malerin und Bildhauerin

49 (um 58 - um 120); bedeutender römischer Historiker und Senator; „Germania“

50 „Strahlender“ - Sohn des Sonnengottes Helios und der Klymene, einer Meeresgöttin

51 Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim, (um 1493 - 1541), genannt Paracelsus, Arzt, Alchemist, Astrologe, Mystiker, Laientheologe und Philosoph

52 (1769 - 1859), berühmter deutscher Naturforscher, Mitbegründer der Geographie

53 Peter I. (1672 - 1725); von 1682 bis 1721 Zar und Großfürst von Russland

54 Friedrich Wilhelm I. (1688 - 1740 ); ab 1713 König in Preußen und Markgraf von Brandenburg, baute eine große Armee auf

55 Lange Kerls: Grenadiere des Garderegiments mussten mindestens 6 preußische Fuß (ca. 1,88 m) messen

NeringaKurische Nehrung

Für wenige Cent blubbert uns die Fähre zur Kurischen Nehrung hinüber. Das ist eine Landzunge, ein ganz schmaler Sandstreifen, der das Kurische Haff von der Ostsee trennt und fast zum Binnensee macht.

Das Haff mit der Yacht zu befahren, das widerstrebt einem freiheitsliebenden Sailor. Dreißig Meilen Fahrwasser mit ungewisser Tiefe, streckenweise kläglich betonnt, sind keine Traumroute.

Der Bus schaukelt auf der einzigen Straße in Richtung Nida, dem ehemaligen Nidden.

Uralt ist der Ort nicht, die erste Ansiedlung lag im 14. Jahrhundert fünf Kilometer südlich, mehr im „Landesinneren“, wenn man so etwas bei weniger als viertausend Metern Nehrungsbreite sagen darf.

Die große Düne machte sich über die Siedlung her. Schlau, wie die Kuren waren, hüpften sie über den Sandberg und siedelten direkt am Haff. Der Pest von 1709, also kurz danach, war das egal, sie raffte die Einwohner dahin und auch der Sand zeigte sich trotzig und schüttete den Ort erneut zu. Also wurde Nida ein drittes Mal aufgebaut, da, wo es noch heute zu finden ist und 1.500 Menschen eine Heimat bietet.

Deren Vorfahren wechselten nicht mehr die Position56, aber häufig die Staatsangehörigkeit: Polnisch-Litauen, Preußen, Deutsches Kaiserreich, Völkerbund57-Mandatsgebiet Memelland, Litauen, Deutsches Reich, Sowjetunion, Litauen. In 100 Jahren sechs verschiedene Pässe, das macht müde.