Kabbelsee - Bernd O. Wagner - E-Book

Kabbelsee E-Book

Bernd O. Wagner

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Beschreibung

Johann Gottfried Seume war wohl der politischste Schriftsteller seiner Zeit. Was er über die Menschen, ihr Denken und Handeln, ihre Moral und Herrschaftsmechanismen niederschrieb, gilt noch heutzutage bis ins verblüffende Detail. Man muss ihn wieder zu Wort kommen lassen. Das geschieht in diesem Buch. Seume trat im Jahre 1805 eine Reise an, die ihn zu Fuß, mit der Kutsche und dem Schiff nach St. Petersburg und Moskau, nach Helsinki, Stockholm und Kopenhagen führte. Seine kritische Haltung zu Ereignissen und Verhältnissen, die er in dem Buch „Mein Sommer 1805“ niederschrieb, verschaffte ihm den Hass der Herrschenden und das Lob der Denkenden. 210 Jahre später nimmt der Autor den Wanderer auf eine neue Reise mit, zitiert ihn an den Orten des Geschehens und stellt Seumes Ansichten den heutigen Umständen gegenüber. Nach diesem gemeinsamen Sommer steht fest, dass sich an den äußeren Gegebenheiten sehr viel, am Grundsätzlichen in den menschlichen Verhaltensweisen und Beziehungen sehr wenig geändert hat. Trotz dieses beunruhigenden Resumées ziehen sich Heiterkeit und Optimismus durch das Buch. Es motiviert den Leser, sich mit Seume und seinen Werken, aber auch mit der heutigen Zeit und mit den Schauplätzen der Handlung vertraut zu machen.

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„Ich werde wohl genöthigt seyn, mich wieder etwas in die Welt hinauszuwerfen, zu meinem physischen und moralischen Wohlbefinden“ Seume an Karl August Böttiger am 13.03.1805

INHALT

AUFTAKT

ZWISCHENSPIEL

AUFBRUCH

POLEN

LITAUEN

LETTLAND

ESTLAND

RUSSLAND

FINNLAND

ÅLAND

SCHWEDEN

DÄNEMARK

ABSCHIED

WAS ICH DIR ERKLÄREN MUSS

MENSCHEN • ORTE • DINGE

DEIN KURZES LEBEN

WAS ICH VON DIR UND ÜBER DICH LAS

Meiner lieben Petra gewidmet

November 2015

AUFTAKT

Im Lehrplan kam er nicht vor.

Niemand von uns vermisste Johann Gottfried; wir hatten genug zu tun mit den Merseburger Zaubersprüchen, dem Nibelungenlied und Walther von der Vogelweide. Mit Luther und Grimmelshausen, Gellert, Gottsched und Klopstock, mit Lessing und den ganz Großen: Goethe, Schiller, Heine, auch den Brüdern Grimm und E. T. A. Hoffmann.

Die Liste ließe sich fortsetzen, hin zu Weltenwanderern wie Becker, Kunze, Kunert, und zu den Dagebliebenen, von Kant über Heym bis Wolf.

Vier Jahre habe ich die Erweiterte Oberschule „Gotthold Ephraim Lessing“ zu Erfurt besucht, von 1964 bis 1968. Es war die einzige Stätte meiner Ausbildung, derer ich mich mit Freude und Rührung erinnere. Dort wehte ein Geist des Humanismus, der Güte, des gedeihlichen Lernens, und wir spürten die Liebe der Lehrer zu ihrem Beruf und zu uns Schülern. Lerneifer, Pünktlichkeit, Ordnung, Achtung voreinander wurden gelebt und prägten die Zeit, in der ein Mensch nach Orientierung und nach Werten sucht.

Die Ideologie jener Zeit predigte das Eins-Sein mit Staat und Gesellschaft; ich destillierte mir das „Nie wieder Krieg - nie wieder Faschismus“ heraus. Vater war schwer gezeichnet aus dem bislang letzten großen Gemetzel zurückgekehrt, er hatte sein Lachen in Stalingrad und seine Gesundheit in Jugoslawien gelassen. Großvater lernte Buchenwald kennen; er äußerte Mitte 1941 öffentlich, was man Bismarck zuschreibt: „Führt niemals Krieg an zwei Fronten. Und führt niemals Krieg gegen Russland.“

An unserer Schule herrschte ein offenes Klima: Die Hoffnungen nach dem VI. Parteitag, der ein kulturelles und ökonomisches Tauwetter versprach, waren zu Beginn meiner Oberschulzeit noch nicht vom Hagelsturm des unseligen 11. Plenums atomisiert worden.

Herr Preuß, der Deutschlehrer, kam so daher, wie er hieß: dürr, lang, scharf geschnittenes Gesicht und strenger Scheitel. Er strahlte Disziplin aus, wo er stand und ging. Der Standardgruß „Freundschaft“ zu Stundenbeginn klang bei ihm wie „Stillgestanden“. Freigiebig vergoss er seines Wissens Füllhorn über uns. Er verlangte, dass wir den Stoff aufnehmen und durch unsere Hirne jagen, ebendort individuell analysieren, interpretieren und zu etwas Neuem synthetisieren. Auf seine Meinung bestand er dabei nicht, nur auf Fleiß und Denken und dem Maß an Eloquenz, das einem Oberschüler angemessen ist.

Nun führte ich schon damals eine spitze Zunge und eine ebensolche Feder, das machte mich ihm wohl interessant. Er empfahl mir, einem Herrn Seume, Johann Gottfried, mein Augenmerk zu widmen, vielleicht einmal über ihn zu referieren. Auf diese Weise könne man doch der geneigten 15-jährigen Zuhörerschaft der Klasse 10 b2 ein paar Grundkenntnisse über diesen Wanderer, Chronisten und Willensstarken vermitteln. Mein komödiantisches Talent würde den trockenen Stoff sicher bereichern. Wer kann da schon „Nein“ sagen? Nun musste ich mich informieren.

Mein Wissensstand zum Thema: Der Dichter zierte eine 5-Pfennig-Briefmarke von 1963, erschienen anlässlich seines 200. Geburtsjubiläums. Mit einer Syrakus-Spaziergangs-Grafik; Seume in Gehrock und Zylinder vor einer italienischen Kulturlandschaft auf senffarbenem Hintergrund.

Die ehrwürdige Universitätsbibliothek zu Erfurt kannte ich gut, die Schöne in der Präsenzabteilung hatte mir schon manch Exotisches ausgegraben und herangeschleppt.

Nun also Seume. So richtig warm wurde das realsozialistische deutsche Ländlein mit ihm wohl nicht, dem „Spaziergänger“, der seinem Freiheitsdrang und seiner Meinung ungestümen Lauf ließ.

Die Literatur über ihn erwies sich als dünn. Von Kurt Arnold Findeisen gab es zwei Bücher.

Zuerst griff ich zu „Seume - Wanderer, Soldat, Patriot“, einem Traktat von 1938. Eigentlich aus dem Giftschrank und somit nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, aber … nun ja, die Bibliothekarin. Der Verfasser gurgelte im Vorwort einen seiner Zeit gemäßen Satz heraus: „Es ist ein wundervolles Bewußtsein, daß das Deutsche Reich, das damals nur in Seumes Herzen lebte, heute in machtvoller Wirklichkeit dasteht“. Und das auf dem Höhepunkt von Hitlers Herrschaft. Da mochte ich seinen gewichtigen Wälzer von 1953 „Eisvogel. Der Roman Johann Gottfried Seumes“ gar nicht erst aufschlagen und gab der hübschen Bibliotheksfrau beide Bücher zurück.

„Seume - ein Lesebuch für unsere Zeit“ aus dem Jahre 1954 gefiel mir schon besser. Ob und in welcher Weise das Werk Seumes vom Verlag gefiltert und filetiert wurde, wusste ich nicht, aber dass es schwer verdaulich für einen juvenilen Literaturnovizen ist, das tat sich mir auf. Die Wagenladungen an fremdsprachigen Zitaten und die Myriaden von Bezugnahmen auf mir unbekannte Zeitgenossen überforderten mich maßlos. Das Wort GOOGLE war noch nicht in der Welt. Wäre es bei Seume vorgekommen, hätte ich davor genau so resigniert wie vor dem

„Sed quam misere ista animalcula excruciare possint, apud nautas expertus sum …“.

Was unklar blieb: Warum duzt er alle Welt? Wo doch zu seiner Zeit der Stand, der dazu gehörende stolze Titel und das Ihr und das Er in aller Munde waren?!

Fernweh und Wanderlust wurden in mir angesichts der schweren Kost nicht wach.

Mutlos blätterte ich noch im Oskar-Planer-Wälzer von 1898, dem Ur-Werk aller Seume-Forschung, auch das vermochte mich nicht zu fesseln. Die Namen und Details flogen mir um Augen und Ohren, ich schlug den Band zu und das Vorhaben in den Wind.

Vertrauensvoll suchte der verhinderte Seume-Kenner guten Rat bei Herrn Preuß, nach der Deutschstunde im Klassenzimmer und abends auf einer Parkbank in der Erfurter Aue. Damals ging das noch, ohne dass ein Lehrer der Päderastie verdächtigt oder gar bezichtigt wurde. Er trug zu allem äußerlichen Übel auch noch kurze Popelinehosen, weiße Socken und graue Sandalen. Mit über sechzig Jahren.

Auf das Referat hatte ich keine Lust mehr. Sollte ich das Resultat meiner Recherchen auf die Erkenntnis reduzieren, dass der bekannte Spruch: „Wo man singt, da lass' dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder“ vom Kollegen Volksmund aus einer Strophe des Seume-Gedichts „Die Gesänge“ versimpelt wurde?

„Wo man singet, lass dich ruhig nieder,

Ohne Furcht, was man im Lande glaubt;

Wo man singet, wird kein Mensch beraubt;

Bösewichter haben keine Lieder.“

Das würde den Alten Preußen nicht zufriedenstellen. Mich auch nicht. Ich war überfordert. Mein Scheitern gab ich unwillig, aber ehrlich, zu. Die bloße Biografie Seumes bot uns beiden nicht genügend Stoff für eine Deutschstunde und so wurde ich mit gnädigem Nicken verabschiedet. Zwei Sätze sagte Herr Preuß noch: „Wagner, Sie rezitieren in der nächsten Stunde aus der Dreigroschenoper die ‚Seeräuber-Jenny’; aber frei von Komik, falls Ihnen das gelingt. Und der Seume - der wird Sie eines Tages schon noch beschäftigen.“ Die erste Sentenz beinhaltete die Höchststrafe, die zweite hielt ich für irrelevant.

Dass der Aufbau-Verlag im Jahre 1977 Seumes Werke in zwei Bänden herausbringen würde, konnte ich ein Dezennium zuvor beim besten Willen nicht ahnen.

Als das geschah, bemerkte ich es nicht, denn ich hatte inzwischen ganz andere Interessen. Johann Gottfried musste noch 35 Jahre warten.

ZWISCHENSPIEL

Das Leben schwabbelte vor sich hin. Erste Liebe, zweite Liebe, Abitur, erstes Kind, Studium, Heirat, Diplom, Dienstantritt in Steingrau (Ihr entsinnt Euch: „Nie wieder Krieg“), erste Wohnung, zweites Kind, zweite Wohnung, Feinschliff in Moskau, Wende, zweimal zwei Jahre ein Streit bis aufs Messer mit dem Sensenmann, Scheidung, Umzug ins Muldenland, zweite Ehe.

Langsam kam Ruhe in die Seele. Johann Gottfried schlummerte sanft in irgendeiner Hirnlade, keine aktive Synapse schnüffelte in der Nähe herum.

Herr Seume ist schon lange tot, Herr Preuß auch. Aber mir war ersterer nicht ganz fern, in Grimma hält man ihn in hohen Ehren und irgendwann trieb es uns in das Haus am Markt, in dem er lebte und arbeitete. Der Startgarten für den Syrakus-Spaziergang, Landsitz seines Freundes Göschen, liegt in Hohnstädt, im Norden der Stadt.

Das Pennäler-Deutschstunden-Ereignis war zur Anekdote geschrumpft und dennoch - der zweite Satz meines Lehrers zeugte von seiner Gabe der Präkognition.

Mit der Weisheit von sechs Jahrzehnten im Nacken begann ich zu lesen und entdeckte einen frühen Europäer. So manche Frage blieb offen. Trotz GOOGLE und WIKIPEDIA.

Er spricht jeden mit dem vertrauten Du an - also auch mich, das hat etwas Skandinavisches. „Du“ sagt man zum Nahestehenden, zum Bekannten, zum Interessengenossen; es entspringt der Zuneigung, der Gewohnheit, dem Brauchtum oder dem Alkohol.

Das alles machte mich neugierig, dem wollte ich auf den Grund gehen. Johann Gottfrieds Werk kann man nicht lesen wie einen Roman oder studieren wie einen Baedeker. Es floss viel Wasser durchs Muldental, bis ich ein paar seiner Bücher intus hatte.

Ein Stolpern vom Begriff zur Erkenntnis, vom Aphorismus zum griechischen Zitat. Anstrengend - das soll wohl so sein. In einigem muss man ihm heute wohl widersprechen, in noch mehr zustimmen, so manche Unschärfe sollte diskutiert sein. Mit wem? Mit seinen gelehrten Interpreten? Oder mit Dilettanten, wie ich einer bin. Dass ein Dilettant ein Stümper ist, sah man zu Seumes Zeiten noch anders.

Es schien mir fruchtbringend, mit Johann Gottfried ins Persönliche zu treten. Die Reiselust verbindet uns, obwohl mein einst ungestümer Drang zu Fußwanderungen seit vielen Jahren gezähmt ist.

Wie wäre es, seine Routen von 1805 erneut zu kreuzen, im Wortsinne, und ihn auf einen Törn um die Baltische See mitzunehmen, auf dass er Rede und Antwort stehen kann - mit Gedanken, die in seinen vielen Werken festgeschrieben sind?

Ich frage ihn, er wird sich ohnehin nicht wehren können.

Wir werden unsere Sichten auf Menschen, Orte und Dinge diskutieren, Meinungen austauschen und gewiss manches Mal einander kabbeln: uns freundlich streiten.

Kabbeln wird auch das Meer, kleine spitze Wellen aus den Strömungen und aus den Winden formen, die aus verschiedenen Richtungen kommen; genau wie unsere Argumente.

Die Kabbelsee wird uns tragen, bewegen, zum Ziel bringen, kurz: Symbol unseres Segelsommers sein.

Eine phantastische Reise steht bevor - im Wortsinn.

AUFBRUCH

Gesagt, gefragt, getan. Machen wir uns einen neuen Sommer, nicht 1805, doch genau zweihundertundzehn Jahre später.

Festhalten werde ich unsere Erlebnisse, nicht stur den zweifelhaften Vorgaben der letzten Schreibreform folgend, sondern meinem Sprachgefühl.

Johann Gottfried soll mit seinen eigenen Worten sprechen, jeweils so geschrieben, wie ich es in den Büchern fand, hier und da ganz behutsam dem Jetzt angepasst.

Bleibt noch das „Du“. Auf See ist es ohnehin Sitte, die Förmlichkeiten wegzulassen. Dann halten wir es einfach so und ersparen uns die Qual der Anrede. Wir - nur zu zweit: Du und ich, zweimal Ich, zweimal Du.

Ausreden wegen mangelhafter Qualifikation zählen nicht. Deine maritimen Fähigkeiten wurden Dir anno 1782 von höchster Instanz bescheinigt - im Hafen zu Halifax:

Als ich vom Schiffskapitän Abschied nahm, drückte er mir mit herzlicher Freundlichkeit die Hand.

»It is a pity, my boy«, sagte er, »you do not stay with us; you would soon become a very good sailor.« »Heartily I would«, sagte ich, »but you see, it is impossible.« »So it is«, rief er, »God speed you well!«

Wenn ein britischer Seelord derlei spricht, dann bedeutet das den maritimen Ritterschlag und gilt weit über den Tod hinaus.

Die Wanderung unter den weißen Tüchern hebt an. Vor das Ablegen ist das Bunkern gesetzt. Der Proviant soll Leib und Seele zusammenhalten. Hast Du Besonderes auf der Liste?

Ich trinke keinen Wein, keinen Kaffeeh, keinen Liqueur, rauche keinen Tabak und schnupfe keinen, eße die einfachsten Speisen, und bin nie krank gewesen, nicht auf der See und unter den verschiedensten Himmelstrichen.

Das spricht für Dich. Auch ich werde nicht seekrank, wiewohl mir Dein Asketentum fremd ist. Ganz so ernst hast Du es auch nicht immer genommen:

Rum wurde gegeben und zuweilen etwas Bier, welches dem Porter ähnlich war und bei den Matrosen strong beer hieß. Da ich den ersten nicht genießen konnte, tauschte ich ihn gegen das letzte aus, welches mir Wohltat war. Zuweilen wurde mir auch eine Flasche Porter zugesteckt, da ich am Wein durchaus keinen Geschmack fand.

Auf dem Weg nach Syrakus klang es schon so:

Hier in Znaim mußte ich zum ersten Mal Wein trinken, weil der Göttertrank der Germanen in Walhalla nicht mehr zu finden war. Der Wein war, das Maß für vierundzwanzig Kreuzer, sehr gut, wie mich Schnorr versicherte; denn ich verstehe nichts davon, und trinke den besten Burgunder mit Wasser wie den schlechtesten Potsdamer …

In Prewald gab man mir zuerst Görzer Wein, der hier in der Gegend in besonders gutem Kredit steht und es verdient. Er gehört unter die wenigen Weine, die ich ohne Wasser trank, welche Ehre, zum Beispiel, nicht einmal dem Burgunder widerfährt.

Man soll wohl nie „Nie“ sagen. In der Not trinkt der Seume auch mal Wein. Und es entwickelt sich weiter auf dem Spaziergang nach Sizilien. Schön. Er ist ein Mensch wie Du und Er und ich. Heine hatte später ja auch Probleme mit Wasser und Wein, allerdings bei den Weisen und Texten und Herren Verfassern im Caput I des „Wintermärchens“.

Anfang Mai geht es los.Ab Rügen, der größten deutschen Insel. Zu Deiner Zeit gehörte sie zu Schweden, wurde erst nach dem Wiener Kongress preußisch. Metternichs großer Auftritt blieb Dir erspart, da ruhtest Du bereits fünf Jahre in böhmischer Erde.

Schon früher verlor Gustav IV. Adolf ganz Pommern an Frankreich und Finnland an Russland. Außer seiner bedeutenden Nase hatte dieser König wohl nichts Besonders an sich, wurde zur Abdankung gezwungen und damit war es aus mit der Linie Holstein-Gottorp auf dem Schwedenthron. Er hatte sein Ohr nicht am Volk und nicht an seinen Ständen.

Wo das Volk keine Stimme hat, steht's auch um die Könige schlecht, und wo die Könige kein Ansehen haben, steht's schlecht um das Volk.

Wahr hast Du gesprochen. Gut, dass die Könige in deutschen Landen ausgedient haben. An ihre Stelle sind die Regierungen mit ihren Ministern getreten.

Man irrt sich oft jämmerlich, wenn man den Ministern in ihren öffentlichen Verhandlungen vernünftige Konsequenz unterlegt. Die Folge zeigt bald, daß es Schwachheit war, was wir für ordentlichen Plan zu halten geneigt waren. Die Schwachheit wird dann Feigheit, die Feigheit Schurkerei, die Schurkerei Elend, das Elend Verderben.

Starker Tobak, Seume. Denkst Du ans aktuelle Hellas oder die neue Völkerwanderung? Lenke ich mit dieser Frage ab von Schwächen in unserem Dunstkreis? Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg wäre so ein Fall. Ich weiß, Du kennst ihn nicht, den Mann mit der gewaltigen Ahnen- und Vornamenreihe, und hierzulande ist er auch schon fast vergessen. Lassen wir das.

Unser Schiff ist klein und bietet Platz für zwei. Nicht viel und doch genug Raum für Selbst- und Zwiegespräche.

Meine erste Frage, als die Küste schwindet: Wie fühlst Du Dich?

Für mich, den Skipper, ist Seefahrt voll von Muße und Anspannung, Freiheit und Disziplin, Sinnen und Handeln, Tun und Nichtstun, Vorfreude auf Unbekanntes und Hoffnung auf Bewährtes, Denken und Gedankenlosigkeit, Verantwortung und Loslassen.

Es wird stürmisch auf der Überfahrt von Rügen an die Pommernküste, ich bleibe hellwach. Aiolos brüllt sein Lied aus Richtung Ost, sechs Beaufort zeigt das Instrument, das sind 25 Seemeilen in der Stunde oder sechs Deiner Landmeilen. Sagt Dir „Beaufort“ etwas? Er war Hydrograf der britischen Admiralität und sorgte für gute Seekarten, auf dass die Royal Navy sicher in ihre Schlachten segeln konnte. Nach ihm benannte man später die Skala der Winde und ihrer Wirkung auf die See, wiewohl er an deren Definition, ein Jahr nach Deinem skandinavischen Sommer niedergeschrieben, nur geringen Anteil nahm.

Dich lässt das alles sichtlich kalt.

Der Wind ging stark und die See hoch, aber ich schlief gut: man erkannte gleich daraus und aus meinem festen Schritt auf dem Verdeck, dass ich schon ein alter Seemann sein müsse.

Donnerwetter, Du als mein Vorbild?! Oder schätzt Du die Gefahr gering, obgleich Du so manches Mal in wenig beneidenswerter Lage warst und weißt, dass nicht immer ein Ausweg winkt?

Schlafen bei Gefahr, das kann ich nicht. Dennoch war ich bislang frei von Furcht in solchen Verhältnissen und brachte Schiff und Besatzung heil heraus. Sehr, sehr viel später, oftmals nach Tagen und in schweren Träumen, erlebte ich das Ganze noch einmal, badete in meinem Schweiß und lauschte dem donnernden Herzklopfen. Ich malte mir aus, was alles hätte passieren können. Ein Segen, dass es so ist; der umgekehrte Ablauf wäre fatal gewesen.

An Steuerbord gleitet die Greifswalder Oie vorbei. Wir satteln unser Steckenpferd: Begriffe erklären. Auf Dänisch, Schwedisch, Norwegisch heißen Inseln Ö oder Ø oder Oj. Oder so. Das winzige Eiland war auch mal dänisch. Soviel zu diesem Stück Erde.

Pommern klettert über die Kimm. Das Land und sein Name fühlen sich deutsch an. Es klingt nach Stettin, Bromberg, Rügenwalde, Köslin und Greifenberg, nach Deutschem Orden und Stolpmünde.

Dabei wurde es erst preußisch, als es Dich nicht mehr gab. Zuvor prügelten sich Rugier und Goten, slawische Zirzipanen und Tollenser, polnische Piasten und Dänen, Brandenburger und Sachsen, Böhmen und die polnisch-deutsche Greifendynastie, Schweden und schließlich Franzosen um den Landstreifen. Beim Wiener Kongress schenkte Preußen den Dänen das Ländchen Lauenburg an der Elbe, zahlte die dänischen Kontributionen an Schweden und bekam dafür Pommern.

Einhundertdreißig Jahre blieb es so, bis der zweite apokalyptische Reiter über den Kontinent herfiel. Als er wieder davondonnerte, war Pommerland abgebrannt, noch bevor der Maikäfer flog. Seitdem ist Vorpommern deutsch und Hinterpommern polnisch. Nur der Name ist geblieben, ein slawischer: „po more“ - „am Meer“. Was meinst Du dazu?

Die Etymologie ist das beste Studium, die Schreckgespenster der heiligen und profanen Gaunerei loszuwerden.

Sag’ ich doch. Aber auch Hobby-Etymologie kann schiefgehen: Die Landpomeranze hat nichts mit Pommern zu tun, auch wenn es so klingt. Pomum aurantium ist Pseudolatein für die Bitterorange (Citrus aurantium L.), ein goldfarbenes Früchtchen, dessen Form und Farbe an die Apfelwangen hübscher, jedoch mit mangelnder Bildung begnadeter Dorfmädchen erinnert.

POLEN

Im polnischen Hinterpommern machen wir fest. Kolberg heißt der Hafen.

Die Einfahrt gibt sich wackelig. Die Persante ist nur ein kleiner Fluss, bringt aber einen bemerkenswerten Strom zustande. Was hier bei stark auflandigem Wind lostoben wird, lässt sich ausmalen. Das muss man nicht haben.

Komm, Johann Gottfried, gehe über, springe an Land und ziehe das Schiff fest an die Pier. Auch wenn es Dir widerstrebt.

Die Gesellschaft mochte doch aus meiner Wortfügung und der Art, sie zu sagen, schließen, daß ich nicht so ganz ein Burlak sein könnte.

Keine Bange, wer am Festmacher zieht, ist noch lange kein Treidler! Zudem gibt es an Bord eine Hierarchie, auch wenn man nur zu zweit ist. Skipper’s Word Is Law. Und sprich mir nicht von Tyrannei. Auf See ist die Welt noch in Ordnung.

Die Gerechtigkeit bringt reine Ordnung, aber man möchte uns gar zu gern jede dumme Ordnung für Gerechtigkeit verkaufen.

Musst Du immer das letzte Wort haben?

Bei Deinem letzten Besuch gab es kein Polen mehr. Dreimal war es geteilt worden in Deiner Lebenszeit und zerfetzt zwischen Preußen, Österreich und Russland. Jedes Land, das sich verkleinert sieht oder die Staatlichkeit verliert, versinkt erst einmal in Apathie und Orientierungslosigkeit, sucht nach dem Selbst und nach Wegen, sich treu zu bleiben. Das kann lange dauern und Folgen haben.

Im Ernst glaube ich, daß jetzt eine Reise durch Polen mit Ehren für einen nicht kleinen Feldzug gelten kann. Die Bequemlichkeiten für Reisende haben besonders seit der letzten Staatsveränderung oder Staatsvernichtung noch beträchtlich abgenommen. Das scheint vielleicht unmöglich zu sein; aber es ist doch wahr. Ich kann die Vergleichung sehr wohl ziehen, da ich ehemals das Land unter Stanislaus Poniatowsky in verschiedenen Richtungen verschiedenemal durchreist bin.

Ich sah kürzlich Serbien und Makedonien, die Länder sind „Diminutivnatiönchen“ - wie Du es nanntest - übrig geblieben oder abgerissen vor zwei Jahrzehnten vom einstmals stolzen Jugoslawien. Ein Feldzug war meine Reise wahrlich nicht, doch fand ich nur noch eine dünne Kruste der Zivilisation. Hoffnungslosigkeit, Verfall und Ruinen allerorten, nur in den winzigen Exklaven der großen Vermögen protzten Villen von erschreckender Geschmacklosigkeit, einem plötzlichen Reichtum entsprungen, dem Kultur fremd ist.

Der Staat sollte die Wohlhabenheit aller zu befördern suchen, befördert aber nur den Reichtum der einzelnen.

Auf dem Balkan sieht man das deutlich, woanders ist es wahrscheinlich besser getarnt.

Wir sind erstaunt, entsetzt, empört über die vielen Kosovaren, die jetzt zu uns kommen. Vor Jahren konnte Deutschland nicht drängend genug die Unabhängigkeit des Landstrichs fordern, die Loslösung von Serbien. Dabei wusste man schon vom Tun der UÇK, die sich als Befreier gerierte und Geld aus Drogen schöpfte. Doch Serbien ist der große Gegner, und der Feind meines Feindes ist mein Freund. Das Roosevelt-Wort vom Bastard, der unser Bastard ist, liegt auch heute ganz oben in der Werkzeugkiste der abendländischen Demokratie. Man hat das Gefühl, das Geschehen im Sarajevo von 1914 sei immer noch nicht verziehen. Dabei wurde die Stadt doch 80 Jahre später wohl genug gestraft. Kann man eine Stadt bestrafen? Und wofür? Stelle diese Frage in Rotterdam, in Coventry, in Hamburg und in Dresden.

Die Menschen, die jetzt aus den zusammenbrechenden Staaten zu uns fliehen, wissen sicher nicht um den Anteil der „westlichen Zivilisation“ an ihrem Elend. Wissen wir darum?

Nun aber Polen. Nach Deiner Reise brauchte es noch 140 Jahre, um wieder Staat zu werden. Du warst ohnehin skeptisch und sehr deutlich in Deiner Meinung.

Die Polen hängen mit Schwärmerei an dem Andenken vergangener Zeiten und ergreifen jeden Schimmer zur Hoffnung einer Auferstehung ihres Vaterlandes.

Aber:

Wenn Polen wieder hergestellt werden sollte, gibt es einen erbärmlichen König, elende Bauern und unvernünftige Magnaten und Edelleute. Das liegt notwendig in dem dortigen Stocksklavensystem. Man bindet einer Halbnation einen politischen Weichselzopf ein.

Damals hattest Du Dir mit Deinem „Sommer“ Probleme eingehandelt - wegen der Beschreibung deutscher Zustände. Heute wärest Du mit obiger Sentenz an der politischen Korrektheit gescheitert und die Feuilletons aller Couleur hätten sich an Dir abgearbeitet. Feuilleton heißt wörtlich „Blättchen“. Nomen est omen.

Zudem glaubtest Du ans Panslawische.

Übrigens ist mehr Verwandtschaft zwischen den Polen und Russen, da sie Völker eines und desselben Stammes sind, sich sogleich leidlich verständlich gegeneinander erklären und sich bald als Brüder ansehen. Auch mag bei vielen der geheime Wunsch, unter einem einzigen Zepter zu stehen, mitwirken, weil sodann die Hoffnung zum Wiederaufleben des Staats aus vielen Gründen größer wird.

Das ist gründlich danebengeraten, mit und ohne Zepter.

Die beiderseitigen Vorurteile zwischen Russen und Polen, die ihre Wurzeln auch in religiösen Divergenzen (hie orthodox, da katholisch) haben, wurden gepflegt und vertieft. Die Zarenzeit mit ihrer sprichwörtlichen Knute, der polnische Sieg im Krieg mit Sowjetrussland nach der Oktoberrevolution, der Hitler-Stalin-Pakt und die unrühmliche Rolle der Roten Armee beim Warschauer Aufstand waren einer guten Nachbarschaft nicht förderlich. Heutzutage stehen sich diese Slawenbrüder eher feindlich gegenüber.

Wir folgen Deinem Wunsche nach einem Spaziergang zum backsteingotischen Mariendom und zur Alten-Fritz-Festung mit der Hafenbastion Münde. Mir scheint, es gefällt Dir hier. Polen kennst Du von der Landseite, Warschau sahest Du und Białystok, das Du Bialastock nennst, in Deinem Sommer 1805.

Die Stadt Kolberg wurde zwei Jahre später vom jungen Gneisenau, von Schill und von Nettelbeck gegen die Franzosen verteidigt, bis zum Frieden von Tilsit. Dieses Geschehen musste am Ende des Zweiten Weltkrieges dafür herhalten, im aufwändigsten Film der Nazizeit zum Durchhalten aufzufordern. Heinrich George hat für die Hauptrolle teuer bezahlt.

Colberg schrieb man früher. Du bist gegen das „vornehme“ C im Namen.

Könnern will ich schreiben und Köthen und Köln und Kölleda, nach den Gesetzen der Aussprache.

Recht hast Du. Es können die Tabakanpreiser noch heute „Cigarette“ und „Cigarre“ schreiben, davon wird das Kraut nicht besser. Beim „Caffè“ gilt ähnliches.

Seetage machen müde und selbst Dir vergeht die Spazierlust. So schwatzen wir ein wenig auf dem Achterdeck, lernen uns besser kennen und verstehen.

Apropos Wanderlust. Bevor ich mir Deine Werke tiefer ins Gemüt schob, war eine Sentenz schon eingeprägt: „Es ginge alles viel besser, wenn man mehr ginge“. Schlecht zitiert - oft verwendet. Vor allem von Leuten, die Wanderschuhe verkaufen wollen.

Du schreibst, dass Du im Sommer 1805 nur sehr wenig - im Vergleich zur Syrakus-Tour - gegangen seiest.

Diesmal habe ich nur den kleinsten Teil zu Fuße gemacht; ungefähr nur hundertundfünfzig Meilen.

Nun waren zu Zeiten Deiner Wanderungen Meilen nicht gleich Meilen. Die französische Revolution gebar neben Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, der Guillotine und Kaiser Napoléon auch den Code civil und das Meter. Außer den Feldzügen des Diktators war im restlichen Europa von alldem erst viel später zu spüren.

Nun wollen wir nicht kleinlich um Maße feilschen. Die sächsischen Meilen waren irgendwie zwischen sieben und neun Kilometer lang, die oldenburgischen brachten es auf zehn und die schwedischen auf fast elf Kilometer. Wie meinst Du ganz richtig:

Die schwedischen Meilen sind bekanntlich verdammt groß …

Rechnen wir einmal großzügig für die Seumesche Durchschnittsmeile acht Kilometer, so ist der „kleinste Teil“ der Sommerwanderung rund 1.200 Kilometer lang. Das will gelaufen sein.

Ich habe einmal Google Maps bemüht, insgesamt zerrte sich die Tour auf 5.500 Kilometer. Chapeau! Grob gerechnet: jeden Tag hast Du rund 30 Kilometer hinter Dich gebracht..

„Google“? Dein Auge glänzt neugierig. Ja, wie erkläre ich es Dir? Man könnte es als kleinliche Rache abtun für „Eupatriten“ und „Parergon“, mit denen Du mich vor Jahrzehnten schon auf den ersten Seiten außer Gefecht setztest. Aber so nachtragend will ich nicht sein.

Google ist die verballhornte Bezeichnung für eine Eins mit hundert Nullen, genannt das Googol, in die Welt gesetzt vor 80 Jahren von einem Nordamerikaner, und es gilt als Symbol für die Unendlichkeit des Wissens. „Maps“, die Landkarten, sind Dir nicht fremd. Man kann sich heutzutage jegliches Kartenstück des Erdenrunds vors Auge holen, scheinbar von Aither gesendet. Erebos und Nyx können stolz auf ihren Sohn sein.

Es Dir sachlich zu erklären, das braucht Geduld und Mühe. Selbst die Elektrizität war noch Theorie und praxisuntaugliches Experiment zu Deiner Zeit. Hast Du je gehört von du Fay, Franklin, Galvani und Volta? Dass der Bernstein bei den Griechen ἤλεκτρον heißt, ist Dir geläufig. Doch Internet und Computer - davon trennen Dich acht Generationen. Cookies würdest Du essen wollen. Ich zeige Dir das Ganze in praxi, unter Deck, wenn wir ergründen, wie morgen die Winde wehen. Erschrick nicht, ein Computer ist kein Hexenwerk, nur einer der Urururnachfahren eures Telegrafen. Das waren hohe Türme, welche schwenkbare Arme trugen, mit deren Hilfe man Zeichen darstellte, die vom nächsten Turm aus gesehen und weitergegeben werden konnten. Einige Leuchttürme an der Côte d’Azur tragen noch den traditionellen Namen: Semaphor. Es versteht trotzdem heute niemand mehr, was Du notierst:

Das alte Schloß hat einen Telegrafen, von dem ich nicht weiß, wohin er schreibt; es muß nach der Gegend von Malmö hinauf und so weiter an der Küste sein.

Internet, Computer, Cookies, Maps? Albion hast Du mit eigenem Auge gesehen; bitte nimm zur Kenntnis, dass die Sprache dieser Insel unsere Welt zu dominieren anhub und nun weitgehend beherrscht.

Wir sind, wenn wir so fortfahren, in Gefahr, weggewischt zu werden wie die Sarmaten; und bald wird man in unsern Gerichten fremde Befehle in einer fremden Sprache bringen.

Ob die Menschheit dabei gewinnt oder verliert, wer vermag das aus dem Buche des Schicksals zu sagen?