Aus Träumen wurden Meilen - Bernd O. Wagner - E-Book

Aus Träumen wurden Meilen E-Book

Bernd O. Wagner

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Beschreibung

Rund Ostsee mit dem Segelboot - lange hat der Autor davon geträumt. Als er 63 Jahre alt war, wurde der Traum zum Plan, im Frühjahr 2013 zur Realität. Mit insgesamt 26 Freunden in zwölf Mannschaften segelte er mit der Charteryacht TI AMO vom Typ BAVARIA 36 ab Rügen nach Polen, Litauen, Lettland, Estland, Russland, Finnland, Schweden, Dänemark und Norwegen. Die Seeleute sahen die alten Städte und die langen Sandstrände des Baltikums, den Glanz von St. Petersburg, Helsinki und Oslo, finnische Wälder, tausende Schären, passierten enge Fahrwasser, versanken im Nebel, waren wilden Winden ausgesetzt und tauchten tief den Oslofjord ein. Sehr junge und sehr erwachsene Menschen teilten sich das Boot, erfahrene Segler und Neulinge wurden zu Crews. Stille Buchten und laute Häfen, glatte See und hohe Wellen, Flaute und Sturm bildeten unvergessliche Kontraste. Als TI AMO nach 4859 Seemeilen wieder in Breege festmachte, lagen vier Monate intensivsten Erlebens hinter Yacht und Skipper. Mit einem Augenzwinkern erzählt der Autor von der Reise, von den Freuden, dem Staunen und den Problemchen. Seine Botschaften heißen: Lebe Deine Träume - auch wenn sie nicht von Meilen handeln. Deine Träume werden leben, Du musst es nur wollen. Das Besondere am Buch und an der Reise: Viele Segler haben die Ostsee auf unterschiedlichen Routen durchfahren. Dazu gibt es einiges an Literatur. Dieses Buch und diese Reise heben sich davon ab, - weil zu diesem Thema erstmals ein Autor aus einem neuen Bundesland schreibt; - weil der Rundum-Törn mit einer Charteryacht absolviert wurde; - weil noch nicht von einer großen Ostseerunde mit zwölf Mannschaften und 27 Teilnehmern berichtet wurde; - weil die Reise mit 4859 Seemeilen entlang der gesamten Ostseeküste in alle Anliegerländer bis hin nach Oslo geführt hat. Häfen und Ankerplätze werden beschrieben, eine Übersicht mit Seitenverweisen erleichtert das Auffinden, im umfänglichen Glossar werden Fachbegriffe erläutert.

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Twenty years from now you will be more dissapointed by the things you didn´t do, than by the things you did.

So throw off the bowlines, sail away from the safe harbor. Catch the trade winds in your sails. Explore. Dream.

In 20 Jahren wirst du mehr enttäuscht sein über die Dinge, die du nicht getan hast, als über die Dinge, die du getan hast.

Also löse die Knoten, laufe aus aus dem sicheren Hafen. Erfasse die Passatwinde mit deinen Segeln. Erforsche. Träume.

Mark Twain (US-amerikanischer Schriftsteller, 1835 – 1910)

Inhalt

Ein Traum wird wach

Der Plan entsteht

Warmsegeln

Auf zum Endspurt

Sand und Gold - Crew BALTIC - Breege bis Helsinki

Inseln über Inseln - Crew SUOMI - Helsinki bis Reposaari

Natur pur - Crew SATAKUNTA - Reposaari bis Vaasa

Ganz, ganz oben - Crew NORDLICHT - Oulu bis Umeå

Der schnelle Ritt - Crew NORRLAND - Umeå bis Stockholm

Pure Geschichte - Crew ÖSTKUSTEN - Stockholm bis Kalmar

Einmal unten rum - Crew WALLANDER - Kalmar bis Skagen

Kattegat und Fjorde - Crew NORGE - nach Oslo und zurück

Hin und her - Crew KATTEGAT - immer um Skagen herum

Auf Südkurs - Crew JYLLAND - Skagen bis Århus

Letzter Sprung - Crew HOMEWARD - Århus bis Breege

Danach

Gedankenspiele

Anhang

• Die Yacht

• Der Törn

• Die Crews

• Die Kosten

• Fachbegriffe, Abkürzungen und Fremdsprachiges

Meiner

lieben

Petra

gewidmet

Dezember 2014

Ein Traum wird wach

Der große Traum drohte zum gewaltigen Alptraum zu mutieren. Im April hatten sich Petra und ich in das Objekt der Begierde verliebt und es in einem gewagten Schnellschuss erworben.

Die Substanz war hervorragend, nur hatten die Vorbesitzer es jahrelang weder sonderlich gepflegt noch irgendetwas investiert. Die Ausstattung stammte aus den 70er und 80er Jahren, es müffelte durchdringend, war dunkel und ganz und gar nicht mehr auf der Höhe der Zeit, was die Technik anbelangte. Wenn wir für den Rest unserer Tage etwas davon haben und nicht ständig daran herumreparieren wollten, musste eine umfassende Sanierung her.

Also haben wir das Ganze vollständig entkernt, bis nur noch die nackte Hülle stand und dann wurde Stück für Stück erneuert, saniert, auf einen ordentlichen technischen Standard gebracht. Vieles haben wir mit unseren Händen vollbracht, nur die handwerklich aufwändigen oder sicherheitsrelevanten Arbeiten vergaben wir an Fachleute und so manches Mal flog uns das Budget um die Ohren. Versicherungen wurden aufgelöst, Wertpapiere verkauft und alle Hoffnungen darauf gesetzt, dass unsere Kunden ihre offenen Rechnungen bezahlen.

Oft standen wir am Rande der Verzweiflung und scheuten den nächsten Schritt. Aber es war unser Traum und nun musste es werden - das eigene Heim.

Im Plan stand als Nächstes: „Ölwanne mauern und streichen.“

Das war im Juli 1995, wir hatten vor zwei Monaten im sächsischen Kössern ein altes Haus gekauft und bemühten uns, mit kleinem Geld und großen Wünschen etwas Bewohnbares daraus zu machen.

Im Trubel zwischen Bohrhämmern, Betonmischern, Bodendielen und Behelfsbetten war uns eine Kleinigkeit entfallen:

Stefan „der Schreckliche“ hatte die „Landeier“, wie er uns mit der typischen Selbstüberhöhung des Hauptstadtbewohners nannte, zu einem Wochentörn Breege - Bornholm - Breege eingeladen. Seinen Kampfnamen bekam er erst später von mir verpasst, als er seemännische Fehlleistungen mit „Kielholen“, „An-den-Mast-Nageln“ und ähnlichen archaischen Sanktionen bedrohte.

Als wir im Herbst des Vorjahres zusagten, war „Kössern“ unserem Vokabular genauso fremd wie „Großbaumniederholer“ - wir hatten von beidem keine Ahnung, wir wussten nicht einmal von deren Existenz.

Verzagt wollten wir den Kurzurlaub absagen, aber unsere Freunde meinten lapidar, dass wir beim Bau der Ölwanne nur stören würden, wir mögen uns verziehen und ihnen vertrauen. Unsererseits ein bisschen gespielte Abwehr, sodann zügige Zustimmung, die Tasche gepackt und flink dieselte der Peugeot 309 gen Rügen.

Ein langer Steg, daran dümpelte die RUGIA, eine 41er Bavaria, auf der wir uns schließlich zu zehnt tummelten. Wir glaubten, diese Überfüllung sei die Norm und die Enge wäre gewollt.

Der Frühstart in der Morgendämmerung sollte uns eigentlich nichts angehen: „Ihr könnt ausschlafen, steht eh’ nur im Weg rum“. Skippers Ansage erschien uns logisch. Pünktlich zum Start der Maschine, die direkt neben unserer Heckkabine zu nageln begann, bekam ich meine erste maritime Beule. Beim instinktiven Auffahren und Anschlagen des Hauptes an die niedrige Decke unter der Backbordseite der Plicht.

Dann sah ich zum ersten Mal die Fahrrinne des Jasmunder Boddens, die Wittower Fähre im erwachenden Morgen, später den Leuchtturm auf dem Dornbusch im ersten Sonnenstrahl. Der versprochene Wind blieb aus, also Motoren bis Rønne, in den folgenden Tagen eine Fahrradtour durch einen Dornenwald nach Hammershus, zurück nach Rügen und Ankern vor der Westküste von Hiddensee. Viel mehr blieb mir nicht in Erinnerung von meinem Jungferntörn - außer einem seltsamen, undefinierbaren Gefühl: „Da geht noch was - das war’s noch nicht - das schreit nach Wiederholung. Nochmal. Anders. Schöner. Was weiß ich…!“

Dazu kam noch das geheimnisvolle Vokabular: Fieren, Dichtholen, Durchsetzen, Abfallen, Anluven, Klarieren. Für Fremdsprachen hatte ich schon immer viel übrig.

Und ein déjà-vu: Im Jahre 1967 war ich mit meinem Freund Thomas, genannt „Halifax“, mit dem Fahrrad nach Hiddensee gefahren.

Im Hafen von Kloster legte ein schöner Holzsegler an, etwa 10 Meter lang. Darauf zwei uralte Männer, so um die fünfzig (wir waren damals zarte 17 Jahre alt), in blaue Hosen, dicke weiße Wollpullover und ebensolche Pudelmützen gehüllt. Der eine hatte eine Tabakspfeife im Munde und nuschelte: „Chef, hier passt die HAVING grad mal so rin.“

HAVING, so hieß das Segelschiff. Da kriegte ich so etwas wie Fernweh. Und als wir dann frühmorgens auf dem Dornbusch hockten und in der Ferne Møns Klint in der aufgehenden Sonne zu leuchten begann, wurde wahrscheinlich die stille Saat gelegt, die 30 Jahre später aufging.

Hätte ich mich sonst dieser Kleinigkeit erinnert, nach einem halben Menschenleben, das nicht ganz ereignislos verlaufen war??

Zwar war für uns nach dem RUGIA-Törn die Welt der Fallen und Schoten, der Kollisionsverhütungsregeln und Seemannschaft, der Tonnen und Feuer noch eine Terra incognita, aber Wellen und Winde hatten uns tief im Gemüt gepackt. Karten, Kurse und Peilungen waren mir als EDV-Mensch ganz schnell vertraut, denn was ist Kartenarbeit anderes als praktische Geometrie und Mathematik. Deshalb wurde aus dem Landei schon beim ersten Törn „El Navigatore“, sprachlich genauso inkorrekt wie stark die Ehre kitzelnd.

Von Beschickungen und ähnlichem Teufelszeug hatte ich noch nichts gehört und auf der spiegelglatten Ostsee war es auch keine Kunst, die Inseln Bornholm, Hiddensee und Rügen zu finden.

Kurzum, es hatte uns gepackt.

Und wie: Im nächsten Winter, nämlich im Februar 1996, nahmen wir, erneut unter dem bewährten Kommando Stefan des Schrecklichen, einfach mal 1500km unter die Reifen. Wir fuhren in knapp 20 Stunden für einen 60-Meilen-Törn nach Port Grimaud, denn die inzwischen selig entschlafene Charterfirma Hetzel hatte zu einem „Admiral’s Cup“ eingeladen.

Wir landeten auf einem wohlverdienten 4. Platz - die Gesamtzahl der Teilnehmer habe ich vergessen, viel mehr werden es nicht gewesen sein. Dass es hundekalt war, weiß ich noch immer genau.

Um dem Ganzen noch mehr Sinn zu verleihen, fuhren wir anschließend nach Nizza. Wir fanden die leicht bekleideten Mädchen auf den Karnevalswagen sehr, sehr attraktiv, aber bemitleidenswert, es waren wohl erfrischende 10°C. Dann bemitleideten wir uns selbst ein wenig, denn zurück in die winterliche Heimat mussten wir ja auch wieder…

Zu groß war die Differenz zwischen den vom „Schrecklichen“ versprochenen „Frühling an der Côte“ im Februar und der kalten Realität. Jedenfalls nahmen die meisten der zu diesem Törn eingeladenen „Frischlinge“ anschließend Abstand von einer weiteren Beschäftigung mit dem Segelsport. Wir nicht. Dieser Feinfrost-Törn machte Lust auf noch mehr. Und so kam Meile zu Meile.

Die Côte d’Azur verzauberte uns mit ihrer Natur, viel stärker als mit ihrem vorgeblichen Glamour; Kroatien zeigte uns, was eine (Bora-) Harke ist; in der Ägäis drosch uns der Meltemi in die Caldera von Santorin. Dort ertönten dann laute Schreie der Verzückung angesichts der Übermacht von gewaltigem Stein, weiß-blauen Häusern und blauschwarzen Wassermassen im erloschenen Vulkankrater.

Zwischen den „exotischen“ Reisen zog es mich immer wieder auf die Ostsee - irgendwie hatte sich dieses Revier in mein Herz geschlichen mit seinen Kabbelwellen, den stillen Buchten und den Farben: grün, gelb, blau, weiß und überhaupt.

Stets fuhr ich als Crewmitglied, navigierte brav und zunehmend sicherer durch Fahrwasser und Ansteuerungen, ließ Skipper und lieben Gott (das ist doch fast dasselbe - oder?) brave Leute sein und genoss Ruhe, Frieden, Freiheit. Es kamen auf diese Weise fast 2.500 sm zusammen.

Stress hatte ich mit unseren Kunden und ihren Computern genügend, und das Leben am Windows-Laufbalken ging mir manchmal heftig auf die Ketten.

Petra, mein liebes Weib und göttliche Smutin, mischte gelegentlich in meine Tagträume den ihren. In einer Crew segeln, das sei gut und schön, aber eine oder zwei Wochen immer nur als Gast auf der Yacht, das könne nicht die Erfüllung sein. Auch fehle oft die Kompatibilität zwischen den Teilnehmern, besonders was die Neigung zu Häfen, Einkaufsmeilen und Restaurants betreffe und überhaupt: könnte man nicht auch mal zu zweit segeln und nur das tun, wann man selbst will?

Faszinierender Gedanke, aber davor hat das Gesetz den Deutschen Seglerverband und seine Scheine gestellt.

Ich hatte mich 1968 für ein EDV-Studium entschieden, weil mir der Berufsberater gesagt hatte: „Das ist ein Fach für Kluge und Faule. Wenn Du Dich einmal richtig damit beschäftigt hast, dann musst Du eigentlich nicht mehr viel dazulernen. Die Prinzipien sind immer die gleichen.“ Der Mann hatte so etwas von Recht.

Im Jahre 1991 hatte ich letztmalig und ziemlich sinnlos in einem Schulungsraum auf der falschen Seite gesessen. Nämlich auf der Hörerbank.Das sollte das letzte Mal im Leben sein - so lautete mein schrecklicher Schwur. Denn da gaben sich relativ unbedarfte „Dozenten“ einer aus dem Boden gestampften Weiterbildungsagentur redliche Mühe, aus uns arbeitslosen „Wenderückständen“ sogenannte DTP-Redakteure zu schmieden. Jawohl: Desktop Publishing. Dümmer sind wir dabei nicht geworden, aber das Zeit-Effekt-Verhältnis war schon grenzwertig. Es handelte sich um eine Arbeitsamtsmaßnahme.

Ich brach meinen Schwur. Im urgemütlichen Keller eines Leipziger Hochhauses nahm ich die Segnungen der Yachtschule Bürkner auf mich und Wochen später die Sportbootführerscheine Binnen und See entgegen. Die praktische Prüfung fand bei Merseburg auf der Saale statt. Das war im April 2002. Ein Examensmensch bin ich nicht so sehr: beim heimischen Üben konnte ich den Palstek hinter dem Rücken produzieren, vor dem Prüfer ging das Knüpfen prächtigst in die Hose. Zur Strafe verlangte er den Roringstek, den Stopperstek und noch irgend etwas. Es klappte seltsamerweise. Wahrscheinlich war ich bei diesen Knoten nicht übertrainiert.

Im Herbst, nach der großen Flut, erprobten Petra und ich unsere Zweier-Bord-Verträglichkeit mittels einer Compaq 19 auf der Müritz - eine richtige Yacht, die DIONE! Ich als Skipper! Wahnsinn! Und keiner von uns beiden ertrunken, nicht mal eine Schramme kratzten wir in dieses 1:2-Modell eines richtigen Schiffes!

Zwei Jahre und weitere 1.300 sm später gönnte ich mir den Sportküstenschifferschein bei der Yachtschule MOLA, ein neues Hüftgelenk und in der Zwangspause das Seefunkzeugnis bei der Yachtschule Schneider in Dresden.

Diese beiden Firmen werden später noch eine Rolle spielen.

Während des SKS-Praxistörns lernte ich von Segellehrer Götz, dass man sich bei genauem Studium und präziser Interpretation der Seekarte auch in flachen Gewässern außerhalb der Fahrwasser bewegen kann. In diesem Zusammenhang kam es im Achterwasser zur Lektion: „wie hole ich eine Yacht wieder von einer Sandbank“. Die Lösung erfolgte mittels Schwenk des Großbaumes und des Kriechens der Crew auf selbigen. Zu diesem Thema gab es dann von Skipper Götz keine weitere Äußerung. Also doch lieber im Fahrwasser bleiben.

Petra und ich trieben uns dann als seefahrendes Ehepaar auf den Meeren herum, bereicherten die Revierkenntnisse bei den Kanarischen Inseln und blieben den alten Bekannten im Mittelmeer treu.

Die Côte d’Azur besuchten wir jeden Herbst, wahrscheinlich hatte uns beim ersten Törn mit der „MOUNA“, einer nagelneuen Feeling 32, das Kennenlernen von Ruhe, strahlenden Farben und stillen Buchten in harmonischem Einklang rettungslos infiziert.

Petra, die sich den Bordnamen „BOSSi“ (Best Of Sailing Smuties - liebevoll: „BOSSi“) redlich erwarb, betrieb das Ganze nicht so exzessiv, ließ mich aber immer ziehen und nahm mich freudig zurück. Ich war nach einer Segelzeit immer friedlich, entspannt und sogar für Haus- und Gartenarbeiten geeignet.

Ein bisschen hänge ich an Zahlen, pflege meine Dateien mit Törns, Häfen und Meilen sorgfältig, und auch die erreichten Ziele und Koordinaten werden in Grafiken und Tabellen verewigt.

So war der Stand im Jahre 2012:

Nördlichster Punkt:

Göteborg - 57° 42’ N

Östlichster Punkt:

Erbseninseln - 15° 11’ E

Westlichster Punkt:

El Hierro, das Ende der Alten Welt, ehemals Ort des Nullmeridians - 18° 03’ W

Südlichster Punkt:

ebenfalls El Hierro - 27° 44’ N.

Aber meine große Liebe heißt nun einmal: „Ostsee“…

Wie das so mit den großen Lieben ist: man möchte sie ganz kennen lernen, und sei es nur, um von ihnen gründlich enttäuscht zu werden. Es locken noch östlichere Punkte: St. Petersburg - und nördlichere: Törehamn. Man müsste es einfach mal tun.

Das keimte so vor 10 Jahren das erste Mal auf - als winziger Gedanke - und setzte sich ganz oben links in der Großhirnrinde fest. Es könnte eine Dissertation zum Dr. med. werden: Das Hirn-Areal für unerfüllte Wünsche. Dort liegen sie, die Lokführer-, Förster-, Kosmonautenberufsträume, die von der lebenslangen Liebe, vom Sessel in der Chefetage, vom Lottogewinn und von der Miss World, die zart anfragt, wie das Frühstücksei gewünscht wird.

Aus diesem längst verrottet geglaubten Lebenskompost kommt aber irgendetwas immer wieder hoch, keimt, schlingt sich in die Windungen. Wochen, Monate, Jahre unbemerkt, um dann, zu gegebenem Anlass, mit Wucht wiederzukehren. Bei mir waren die Anlässe ganz simpel: die Ostsee einfach sehen, riechen, fühlen. Das passierte zweimal, dreimal, viermal im Jahr. Also musste die Sehnsucht zwangsläufig wach werden. Sie reifte langsam, unmerklich.

Aber ich schämte mich ihrer, zumal an die Umsetzung nicht zu denken war. Jeder Grund, es nicht in Angriff zu nehmen, wurde dankbar begrüßt: keine Zeit, keine Mitsegler, kein Geld, zu wenig Erfahrung. Und überhaupt. Es war ein Traum. Der aber ließ keine Ruhe, drängte ins Freie, musste heraus.

Im Februar 2012 saß ich im Bugkorb, meinem Lieblingsplatz auf jeder Yacht, diesmal war es die „MONA LISA“. Den Delfinen und den Schaumkronen schaute ich bei ihren flinken Wendungen zu und genoss die gewaltige, bewegte, rauschende Ruhe der kanarischen See.

Da kam es plötzlich über mich, ich stiefelte die 46 Fuß nach hinten und verkündete der überraschten Crew: „So, damit Ihrs wisst, nächstes Jahr fahre ich Rund Ostsee“, drehte auf dem Seestiefelabsatz um und knackte mich wieder in meine Aussichtsplattform.

Und siehe da, schon interessierte sich die erste Seefrau dafür, dabei zu sein. Geht doch!

Dass sie dann doch nicht mitgekommen ist, ist eine andere Sache.

Ich war 62 Jahre alt und irgendwann müssen aus Träumen Pläne werden - sind Pläne doch nichts anderes als Träume mit Termin.

Der Plan entsteht

Nun hatte ich den Salat. „Gepupst ist gepupst“ sprach BOSSi zu mir. Journalistinnenweisheit. „Du hast es verkündet, nun mache es auch, das bist Du Dir schuldig und mir auch, ich baue inzwischen ein bisschen am Haus herum, da störst Du eh’ nur.“ Sie hat Recht, ich mag keine Bautätigkeit und wenn fremde Leute Staub machen, Löcher bohren oder mich gar fragen, ob mir eine Wandfarbe gefällt, wird mir unbehaglich. Sie nennt es „schwere Handwerkerallergie“.

So blieb mir nichts anderes übrig, als das Vorhaben in die Welt zu posaunen. Erstens habe ich mich auf diese Weise selbst festgenagelt, zweitens braucht man Mitsegler und drittens müssen doch ein paar Leute wissen, dass man eine gewisse Zeit nicht vorhanden ist.

Im Jagdhausverein, der ein barockes Pöppelmann-Schlösschen in unserem Dorfe erhält und belebt, bin ich als Vorsitzender hoffentlich nicht ganz entbehrlich. Hier finden im Jahr zwei Dutzend Veranstaltungen statt und gelegentlich ziehe ich als barocker Kammerdiener Benno von Muldenknick durchs Gemäuer und versprühe Weisheiten zur Baugeschichte und zum Leben in der sächsischen Glanzzeit während der Herrschaft August’ des Starken. BOSSi begleitet mich dabei als Aurelia von Caterstein und wir haben oft mehr Spaß als die Zuschauer.

Noch manch andere Verpflichtung will auch erfüllt sein oder verlegt werden, weil ich z. B. ein Geringes in der Kommunalpolitik mitmische.

Die Computerkunden werden schon ohne mich auskommen, es gibt ausreichend Kompetenz auf diesem Markt und als Dozent arbeite ich schon seit Jahren nicht mehr - seit ich das Gefühl bekam, dass ich nicht viel mehr weiß als meine Zuhörer. Die sollten das nicht merken und so habe ich mich davongestohlen, als das obligatorische Feedback noch makellos war.

Also, die Große Ostseerunde will vorbereitet sein. Was habe ich mir da eigentlich so richtig vorgenommen? Erst einmal in Google Maps eine grobe Linie gezogen. Donnerwetter: viereinhalbtausend Meilen, wenn wir das volle Programm fahren und allen Küsten einschließlich des Oslofjords die Ehre unseres Besuches zukommen lassen wollen. Zwar sehen Wissenschaftler, Puristen und Alles-Besser-Wisser die Ostsee viel kleiner, Bottnischer und Finnischer Meerbusen gehören wohl nicht dazu, auch nicht Belte, Sund und Kattegat, vom östlichen Skagerrak ganz zu schweigen. Lasst sie philosophieren, wir ziehen die große Karte, darunter tun wir es nicht!

Zwei zeitliche Eckpunkte begrenzten den Spielraum: am 17. April ein 90. Geburtstag und am 8. September der Tag des Offenen Denkmals, zu dem Benno von Muldenknick im Barockgewande die Gäste zu begrüßen und zu führen hat.

Bleiben netto 19 Wochen bzw. 133 Tage für 4.500 sm. Macht im Tagesschnitt rund 35 sm. Das ist aber eine Rechnung für die Milchmädchen des Hammurapi, die mein Mathelehrer, der schöne Herr Seidemann, an der Erweiterten Lessing-Oberschule zu Erfurt immer dann augenverdrehend anrief, wenn wir armen Schülerkreaturen Schwierigkeiten mit den Integralen zeigten.

Es könnte durchaus mal schlechtes Wetter sein, auch mag dieser und jener Hafen ein paar Attraktionen bieten und warum fahre ich eigentlich Rund Ostsee, wenn ich keine Zeit für Landgänge habe?

Ja, warum eigentlich? Weil es ein Traum ist, bitte schön! Und den lasse ich mir doch nicht von irgendwelchen Milchmädchen kaputt dividieren.

Wer sich Stockholm ansehen möchte, der kann gern eine Pauschalreise buchen, bei Skipper Bernd wird gesegelt.

Basta! Fühlte mich wie Kanzler Schröder in der Meistersingerhalle im Jahre 2003.

Noch schnell ein Kürzel für das Abenteuer finden: ATB 2013 - Around The Baltics.

Nun galt es, Menschenkinder zu überzeugen, sich auf ein solches Vorhaben einzulassen.

Ganz, ganz früher träumte ich mal vom Einhand-Rund-Herum. Damals kannte ich mich noch nicht. Heute weiß ich: Es widerspricht meiner Natur. Bin mehr so ein soziales Wesen. BOSSi sprach außerdem ein striktes Verbot aus. Wenigstens sollte noch einer telefonieren können, wenn ich schon über Bord oder einem Herzklaps zum Opfer gefallen sei. Danke für die offene Kommunikation.

Zudem will bei aller Liebe zur Ostsee die Belastbarkeit der Geldbörse geprüft sein. Auch da ist geteiltes Geld doppelte Freude.

Mein Uralt-Kumpel und Segelkamerad Michael „der Sanftmütige“ (er achtet bei der Kurswahl darauf, dass die Ladies auf dem Vorschiff nicht in den Schatten der Segel geraten) sagte sofort und rundherum die Teilnahme am Gesamttörn zu. Ich nahm das anfangs ernst, hätte es aber besser wissen müssen…

Rund achtzig Freunde und Freundinnen der weißen Tücher hatte ich in der Auswahl, alles solche, mit denen ich schon mal unterwegs war und von denen ich dachte, dass sie mich und meinen Plan ertragen würden. Auf Experimente wollte ich mich nicht einlassen, bei zuvor Unbekannten kann man sich schnell einen Mitsegler einhandeln, mit dem man nicht klarkommt. Das muss ja nicht an dem „Neuen“ liegen. Aber ein „fauler Apfel“ verdirbt den ganzen Obstkorb. Stress dieser Art kann man vorbeugen, wenn man auf ein Reservoir von Segelfreunden zurückgreifen kann. Natürlich bleibt immer ein Restrisiko. Ein paar haben auf mein Ansinnen gar nicht erst geantwortet, kann man ihnen ja nicht verdenken.

Leichte Beklopptheit war schon immer ein Markenzeichen von mir. Weshalb? Wahrscheinlich genetisch bedingt. Zudem bin ich ein Nachkriegs-Ost-Kind und wurde in den ersten Jahren vielleicht nicht vollwertig ernährt. Im Kindergarten war ich nie, am gemeinsamen Zwangs-Topf-Sitzen kann es also nicht liegen. Meine Mitgliedschaft bei den Jungen Pionieren, in der FDJ, der SED und die vielen Jahre als Offizier der Nationalen Volksarmee können schon eher als Beleg dafür dienen.

Manchmal grübelte ich nachts über den Listen mit den potentiellen Crews und zweifelte am Gelingen. Worauf habe ich mich bloß eingelassen? Die Teilnehmer haben ein Recht auf einen sicheren Törn, ohne Zeitdruck und auf pünktliche Crewwechsel. Der Plan sieht gut aus, aber es bleiben Unwägbarkeiten. Wetter und Pannen sind nicht planbar, das müssen alle wissen.

Immer wieder Absagen, Verschiebungswünsche und halbseidene Töne zu möglichen Zeiträumen und Zustiegshäfen. Zwei Dutzend Mitsegler blieben letztendlich ihren Versprechen treu und so bildeten wir Crews, die in den per Flugzeug, Bahn, Bus oder Auto erreichbaren Häfen zu vereinbarten Terminen an der Pier stehen könnten. In diesem Prozess entfärbte sich mein Haupthaar endgültig zu einem klassischen Friedhofsblond.

Bis fast zum Törnbeginn änderte sich vieles immer wieder und das Puzzle geriet durcheinander, hier eine kleine Absage, dort eine Verschiebung, auch mal ein Hafen irgendwo an der finnischen Küstenpampa, der zum Zustiegspunkt erklärt wurde, aber dennoch hielt das Kartenhaus zusammen. Es blieben immer noch Lücken, über die BOSSi argwöhnisch wachte. Ihr war egal, wer dabei war, Hauptsache, Skipper war in Begleitung. Erst ein paar Wochen vor dem Ablegen war die Liste komplett. Nun durfte niemand krank werden oder ein Kind bekommen…

Die Schilderungen der Ostsee-Segel-Autoren von Wilfried Erdmann über Sönke Roever, Bastian Hauck, Christian Irrgang bis Michael Brumm hatten mich bisher nicht interessiert - nur Roevers „Auszeit unter Segeln“ war mir vor Jahren in die Finger geraten. Aber nun legte ich mir die Bücher zu. Schiffs-, Hafen- und Routenerfahrungen muss man ja nicht vollständig selbst machen wollen. Dabei fiel mir einiges auf: erstens kamen alle Genannten aus den „alten“ Bundesländern, zweitens waren sie auf eigenen Schiffen unterwegs und drittens hatte keiner von ihnen die ganz, ganz große Runde gedreht, zumindest nicht die von mir geplante.

Und sie hatten andere Einstellungen. Die Lebensfreude von Sönke, gepaart mit Gelassenheit, kam mir am allernächsten, das könnte ein Vorbild sein. Die 25 Jahre, die er jünger ist, na und? Bei anderen Autoren wurde ich manchmal nachdenklich. Bezeichnungen wie „Arschlöcher“ und Bierflaschenwürfe können für mich keine Ausdrucksformen menschlichen Miteinanders sein, an anderen Stellen fand ich für meinen Geschmack zu viele Vorurteile und rasante Schlussfolgerungen. Aber wie gesagt - für meinen Geschmack. Die Hochachtung vor der seemännischen Leistung, vor allem derer, die sehr lange Strecken einhand unterwegs waren, hat darunter nicht gelitten. Ich habe viel aufgenommen und den Willen entwickelt, es zu verarbeiten, mich dessen zu erinnern und möglichst daraus zu lernen.

Schon im Herbst begann auch die Schiffssuche. Es musste darüber nachgedacht werden, welches Vehikel mich Rund Ostsee schippern sollte. Ein eigenes Boot wollte und will ich nicht haben. Es sind von unserem lieblichen Muldental bis zum nächsten Ostseehafen rund 400km, ich möchte aber in vielen Revieren unterwegs sein. „Winterlager“, „Versicherungen“, „Kranen“, „Schleifen“ und viele andere Begriffe aus der Eignerwelt erzeugen bei mir körperliche Abwehrreaktionen.

Also habe ich bei MOLA angefragt, meinem Lieblingsvercharterer aus Breege, mir ein Angebot für die Langzeitcharter einer 36er BAVARIA mit drei Kabinen, Lattengroß, Radar, Spibaum und vollem Kartensatz unterbreiten lassen, selbiges mit einem anderen Anbieter verglichen und im September zugeschlagen. Ich bin kein großer Verhandler. Vertrauen gegen Leistung gegen Geld. Punkt.

Bei „Admiral“ Christoph, dem MOLA-Stützpunktleiter, mit dem ich schon viele, viele Meilen geteilt habe, wusste ich die Vorbereitung in guten Händen. Von Chef Thomas fühlte ich mich nicht übervorteilt und mit Eigner Willi und seiner Frau Gisela traf ich Bootsbesitzer mit viel Herz. Was will man mehr? Die TI AMO wurde zum Traumschiff. Der Name ward Programm; Synonym für meine Liebe zur See und zum Segeln, für meinen großen Plan und seine Umsetzung, auch für das Vertrauen, das ich in die Yacht hatte.

Zudem wird der Name überall verstanden. Und wäre man Casanova, so könnte man sich bei der jeweiligen Dame seines Herzens in jedem Hafen verständlich machen, indem man im Schein der untergehenden Sonne auf den groß und deutlich am Bug erkennbaren Schriftzug weist. Wo war ich stehengeblieben?

Bei mir schlug die Programmiersucht zu - Berufskrankheit. Aber anstelle von kalten Algorithmen berauschte ich mich an Tabellen. Orte, Routen und Crews fügten sich zu Plänen. Ein schöner Spruch aus DDRZeiten: „Planen und geplant zu werden ist das größte Glück auf Erden. Ist die Planung dann gelungen, gibt es schließlich Änderungen.“ Gilt auch heute - noch - oder wieder - oder immer. Egal. Planung ist Vorfreude und die halbe Miete, oder sagt man: die halbe Charter? Auch egal.

DSV-Hafenhandbuch Ostsee II, Gästhamnsguiden 2012 (schwedisch - kann man noch interpretieren), Käyntisatamat 2012 (finnisch - könnte auch Suaheli sein), ein paar Websites wie portpilot.de, portfocus.com, portbooker.com und noch viel mehr Literatur ließen einen Törnplan wachsen, der, angefangen von den Wassertiefen über die Ansteuerungen, Distanzen und Zeiten bis zu den Versorgungsmöglichkeiten in sich schlüssig erschien.

Zum Valentinstag 2013 lud ich BOSSi zum Essen ein. Meine Restaurantauswahl blieb ihr nur solange ein Rätsel, bis sie mitbekam, dass Jörg Jonscher, ein erfahrener Ostseeskipper, in der „Seerose“ zu Beucha einen Vortrag zu seinem großen Törn im Vorjahr halten wird. Für dessen Terminwahl kann sie mir ja wohl keine Schuld geben.

Es war interessant und lebendig, wir fanden Gefallen an der Darstellung und am Inhalt und ich habe Jörg nach dem Vortrag und später „unterwegs“ mehrfach konsultiert.

Wir waren so gefesselt, dass uns die „Seerose“-Mannschaft beim Betätigen der Ausgangstür schüchtern fragte, ob wir eventuell die Rechnung bezahlen möchten. Peinlich, peinlich, ein namhaftes Trinkgeld hat uns hoffentlich exkulpiert.

Jedenfalls gab es mal wieder was zu lachen, wie immer, wenn BOSSi dabei ist.

Insgesamt hatte ich ein paar hundert Stunden in die Vorbereitung investiert und nun fragte ich mich ernsthaft, ob ich überhaupt noch losfahren müsse.

Ich war doch schon bestens vertraut mit den Gegebenheiten.

Das bildete ich mir jedenfalls ein.

Warmsegeln

Man kann nicht nur vor dem Schreibtisch hocken und auf den Monitor starren. Schließlich soll die Praxis nicht verloren gehen, wenn so Großes vor einem liegt.

Also nahm ich 2012 nochmal knapp 2.500 sm unter verschiedene Kiele, den bereits erwähnten Kanarentörn eingerechnet, auf dem ich mein Vorhaben gefasst und herausgegrölt hatte.

Die drei Ostseetörns, insgesamt fünf Wochen auf TIMPETU und CALLA mit wechselnden Crews, waren schon lange geplant.

Dann kam eine Nachricht von der Yachtschule Schneider, dass es für „Crossing-The-Channel“ im Sommer noch Plätze gebe. Sollte da ein weiterer Traum zu einem Plan werden? Solent, Channel, Isle of Wight, Guernsey, das klingt doch. Hatten wir noch nicht. Strom und Gezeiten vom Feinsten - das darf man nicht verpassen.

Ach ja, so hieß es dann, anschließend vier, fünf Ausbildungstage und den RYA Yachtmaster ablegen, ganz nach Gusto: Coastal oder Offshore, wie’s beliebt. Klingt ja verlockend, Krone des Yachtsports und so, Schirmherrin Her Royal Highness The Princess Royal Anne Mountbatten-Windsor, Lady of the Order of the Garter - nun denn: „Honi soit qui mal y pense“.

Dazu gehört eine schriftliche Prüfung, und das wollten wir uns doch nicht mehr antun, Skipper Bernd? Selbst wenn sich das Ding verharmlosend „Assessment” nennt. Es kam, wie es kommen musste: im Juli besuchte ich zusammen mit Michael dem Sanftmütigen den Theoriekurs samt besagtem Assessment in München. Davor aber standen Kartenarbeit, Gezeiten- und Stromberechnungen nach Art der Admiralität, englische Vokabeln auffrischen and so on. Schließlich 14 Tage auf der ZARA, zuerst über den Kanal bei knackigen 40 kn, die manchmal zu einer 32-er Flaute nachgaben.

Aber Micha Schneider, unser Instructor, war ein As. Ruhe, Überblick, Empathie - so stellt man sich einen Skipper eben vor. Stiller Vorsatz: Nacheifern!

Sechs Meter Tidenhub in Cherbourg, nachts an Backbord das Lichtermeer von Cap La Hague (genau, das Ding mit dem Atommüll), stundenlanges Warten vor dem Sill in St. Peter Port, sieben Knoten Strom gegenan in den Alderney Races. So etwas kann man schwerlich schildern, da muss man dabei gewesen sein. Nix für sonnensuchende Vorschiffsladies. Schließlich eine Woche Vorbereitung auf die Prüfung. Samt Trockenfallen in Newport und skippergesteuertem Auflaufen im Beaulieu River. Nobody is perfect.

Eine sehr nützliche Erfahrung in der Ausbildung: Crash Tack, die feine englische Art des MOB-Manövers: schnell, sicher, pragmatisch. Kein „Weg - Hin - Rum - Ran - Aufschießer“. Den konnte ich eh’ nur einmal perfekt vorführen, zur SKS-Prüfung, und das erst beim zweiten Versuch. Schließlich zwei Tage mit dem Prüfer an Bord, drei Prüflinge, Nebelfahrten mit original Blind Navigation, nervenaufreibend, adrenalinerzeugend, fair, prachtvoll. Am 10. August erhielten Peter aus der Schweiz, Michael der Sanftmütige und Skipper Bernd die Bestätigung, dass wir nun RYA Yachtmaster Offshore seien. Weltweit anerkannt als höchste Qualifikation, nur eben in Deutschland nicht, dort braucht man den Sportseeschifferschein (SSS), um als Skipper zahlende Gäste zu kutschieren. Mach’ ich nicht, brauch’ ich nicht.

Man kann meine Beweggründe auch falsch verstehen.

Ein von mir hochgeschätzter Skipper bezeichnete das Yachtmasterzertifikat später mal als „unnützen Schein“. Recht hätte er, wenn ich das Ding jedem unter die Nase halten würde, um eine Runde anzugeben oder um beim Vercharterer einen Rabatt zu bekommen.

Mein Motiv, sich selbst etwas zu beweisen, auch wenn man schon 63 Jahre zählt und es eigentlich nicht mehr nötig hat, blieb ihm wohl fremd. Muss er auch nicht verstehen. Übrigens hat er sich bei einem anderen Segelfreund nach den Voraussetzungen für den Erwerb des „unnützen Scheines“ erkundigt. No comment.

Ein zusätzlicher großer Gewinn im Channel: in der ersten Woche habe ich Elfriede aus Bayern kennen gelernt. Sie ist ganz taff, wollte auch mal einfach so über den Kanal segeln. Und sie erklärte sich höchlichst interessiert, als „Quotenwessi“ an der bisher voll ostdeutsch besetzten Großen Ostseerunde teilzunehmen. Wenn das nichts ist.

Nach diesem Erlebnis fielen eine Woche Rund Rügen und ein Überführungstörn Flensburg - Heiligenhafen kaum noch ins Gewicht. Und im Januar - die obligaten drei Wochen Kanaren als Co-Skipper unter Admiral Christoph, damit war das Warm-up für die Ostseerunde beendet.

Auf zum Endspurt

Der Countdown läuft: X - 78.

Täglicher Blick auf die Planung, das Ganze nimmt Formen an. Die Crews sind bereit, die Anteile bezahlt, in Breege wird das Schiff von MOLA hergerichtet.

Ach ja, nicht vergessen: Mütterchen Russland - das Geheimnisvolle.

Im Jahre 1981 war ich schon einmal in Leningrad, nur ein paar Tage. Es war als Lockerungsübung gedacht, inmitten von 10 Monaten Postgradual-Runderneuerung in Moskau.

Das reichte aus, die Pracht der Stadt Peter des Großen zu ahnen und den Wunsch zu wecken, noch einmal dorthin zu reisen.

Es war schön hell zur Mitternacht, als wir aus der „Tschaika“ („Möve“) wankten, einer angesagten Kneipe irgendwo im Gewimmel der Newa-Stadt. Wodka, Kaviar, Salat „Stolitshnaya“ - war alles bezahlbar.

Dass 32 Jahre später eine Yacht das Transportmittel der Wahl sein würde, ahnte ich damals noch nicht. Wie auch?

Die sowjetische Bürokratie, gepaart mit gehöriger staatlicher Paranoia, war mir damals vertraut geworden.

Ob sich die aktuelle russische Denkweise davon stark unterscheidet? Zweifelhaft. Und so begann ich denn, den Schilderungen in Büchern und Foren Beachtung zu schenken. Dass dort viele Gerüchte kolportiert werden, ahnte ich zwar dumpf, aber wer weiß das schon genau…? Pass und Visum sind erforderlich, klar. Also einen Reisepass beantragt, erhalten und bezahlt, dann die Agentur Passport Hamburg mit der Visabeschaffung beauftragt, es klappte ganz problemlos.

Hier kam nun erstmals Tatjana Bykowa ins Spiel, sie beschafft die erforderliche Einladung für das Privat-Visum und erhält dafür einen Obolus. Soweit „vsjo v porjadke“, wie der Russe spricht („alles in Ordnung“). In einem eindrucksvollen Schreiben mit gewaltigen Logos, das sie als „Vertretung der Kreuzer-Abteilung des Deutschen Segler-Verbandes, des Deutschen Motoryachtverband E. V., von TRANS OCEAN - Verein für Förderung des Hochseesegelns E.V. - und der Danish Ocean Cruising Association in Sankt Petersburg“ auswies, deutete sie das schwierige Procedere in dieser Stadt an. Sie präsentierte zudem eine beeindruckende Liste unbedingt notwendiger Papiere, die teilweise notariell beglaubigt und sämtlich in russischer Sprache vorliegen müssten.

Der erste Eindruck, dass ohne Tatjana und ihre gut bezahlte „Blindenhund-Funktion“ gar nichts läuft, war wohl gewollt. Ihre Liste, meine angeborene Gutgläubigkeit und das „Wissen“ anderer (die nie dort waren - ich werde sie fürderhin die „Wissenden“ nennen) führten zur Schaffung eines gewaltigen Konvoluts von Dokumenten, Verträgen, Nachweisen in jeweils vierfacher Ausfertigung, die einen dicken Ordner füllten. Glücklicherweise vermochte ich den Kram selbst in Russische zu übersetzen, mein Segelfreund Caesar, der dieser Sprache richtig mächtig ist, nickte es ab und dann konnten ein Rosenstrauß und eine Wagenladung Charme eine staatlich anerkannte Übersetzerin überzeugen, den Papierberg abzustempeln. Ich hatte vor Urzeiten einige Male ihren PC zum Laufen gebracht.

Was ich in Russland wirklich brauchte, dazu später… jedenfalls brachte sich Tatjana regelmäßig in Erinnerung, Grundaussage: alles unklar, unbedingt in Verbindung bleiben, ohne mich läuft überhaupt nichts. Manchmal träumte ich von Tatjana. Irgendwie hatte sie dann Ähnlichkeit mit Baba-Jaga. Ein Alptraum. Sicher tat ich ihr großes Unrecht an. In meinen Träumen.

Dann ging auch noch SCHLECKER pleite. Es war ein echter Verlust. Transportkistenmäßig. BOSSi hatte beim Drogeriezaren für Cpt. Emil Flint, unseren Kater, die Katzenstreu bestellt, versandkostenfrei, in schönen stabilen Kartons. Die wurden von mir mit großen EDDING-Nummern versehen und das gesamte Gebretze (sächs.: Kram, Zeug) für den Törn kam hinein, von den Büchern über die Socken bis zum Nähzeug und zum Mückenspray. Alles wurde fein säuberlich in Listen festgehalten und so behielt ich den Überblick über die diversen Reiseutensilien samt Pantryzubehör und Gewürzen. Roald Amundsen wäre angesichts meiner Vorbereitungen wahrscheinlich vor Neid erblasst. Aber der wollte ja lediglich zum Südpol.

Eines Morgens meldete Outlook, dass ein Kontrolltermin beim Hausarzt ansteht. Ei, da war doch noch etwas. Ein Geringes sollte man sich schon darum sorgen, was zu tun ist, falls unterwegs dies und jenes gesundheitliche Problemchen auftauchen sollte. Neben den obligatorischen blauen Flecken am Schienbein, den kleinen Beulen von den Baumberührungen und den rauchenden Handflächen nach dem Ausrauschen einer Schot wäre es denkbar, dass die kleinen Zipperlein meiner 63 Jahre um erhöhte Aufmerksamkeit buhlen.

Meinen Krebs habe ich vor fast 20 Jahren in 18 Runden Chemotherapie niedergerungen, er scheint sich verkrochen zu haben. Die Hüft-Endoprothese verhält sich seit sieben Jahren ruhig, sie dient gelegentlich als Wettervorhersage-App. Den Diabetes habe ich per einigermaßen vernünftiger Ernährung im Griff und die kaputten Nieren erhalten regelmäßig ihre Pillenunterstützung. Gegen den Tinnitus kann man nichts tun. Solange ich ihn noch vom Pfeifen des Wasserkessels und einem Schiffstyphon unterscheiden kann, soll er zwitschern, ich höre ihm einfach nicht zu.

So ließ ich mir von Hausarzt Matthias Lange sagen, dass nichts gegen die Reise einzuwenden sei, und er sicherte mir zu, dass ich ihn bei medizinischen Problemen aller Art zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen könne. Das beruhigt doch schon einmal. Zudem nickte er meine Liste der mitzunehmenden Pillen, Tuben, Pflaster ab und gab noch ein paar Tipps samt Rezepten.

Das fand auch vor BOSSis strengen Augen Gnade, schließlich ist sie gelernte Krankenschwester. Sie packte eine blaue Tasche, die ich mit einem großen roten Kreuz versah und in der sich von Aspirin und Immodium über Leukosilk und Talcid bis Voltaren und Zovirax alles fand, was gegen kalkulierbare Leiden helfen könnte. Nur den Blutstillschwamm konnte sie nicht auftreiben. Hier half eine Kegelschwester, die das Zeug aus Tschechien herbeischaffte.

Nächster Auftrag: BOSSi, die überaus gern Gäste bewirtet, mahnte immerzu, dass ein Termin für das große Captain’s Dinner festzulegen sei. Es hat bei uns Tradition, vor einem größeren Törn die Crew einzuladen, alles Notwendige zu bereden, vielleicht ein Video aus dem Ziel-Revier anzusehen und vor allem auf das Gelingen des Vorhabens einen ordentlichen Schluck (oder auch mehrere) zu inhalieren. Nun aber fast dreißig Ostseerundlinge in unserem Wohnzimmer? Das sind völlig neue Dimensionen. Eigentlich scheute ich den Riesenaufwand, ließ mich aber dann doch überzeugen.

Das Sich-Überzeugen-Lassen-Können ist schließlich eine Grundbedingung für eine dauerhafte Beziehung, jenes wundersame und einzigartige Konglomerat von Kompromissen.

Zudem hat so ein Treffen auch eine wichtige soziale Funktion. Das Fremdeln in den ersten Stunden an Bord fällt aus, man hat schon einen Eindruck vom Mitsegler und entwickelt - meist unbewusst - erste Verhaltensstrategien. Ein paar Crews lernten sich beim Captain’s Dinner überhaupt erst einmal kennen. So sammelten sich denn Anfang April in unserer Hütte 25 Seeladies und -lords, vernichteten die Getränkevorräte, ließen meine einführenden Worte geduldig über sich ergehen, sahen das Vorfreude-Video mit den Routenplänen an und tauschten auch noch so manche nützliche Information aus.

BOSSi hatte für ein leckeres Buffet gesorgt. Meine Nachkriegskind-Panik, dass das Essen nicht reichen könnte, hatte mich zum Erwerb von vier Kilo Hackepeter veranlasst, BOSSi hatte nach anderthalb verlangt. Das kam mir beim Fleischer dann doch zu wenig vor. Neben Suppen, Platten, Schnitzelchen, Salaten und viel, viel mehr machte sich der Hackepeter, in Keramikschweinchen verpackt, wirklich sehr gut. Der Appetit der Anwesenden auf diese Delikatesse war wohl vorhanden, aber doch recht mäßig. Auch meine Nach-23-Uhr-Rufe: „Es ist noch Hackepeter da“ verhallten ungehört.

Es wurde außerordentlich früh und irgendwie haben wir die zehn oder zwölf Übernachter dann in unseren Räumen, Betten und Dachkammern untergebracht. Sonntag mittag waren sie wie eine ablaufende Sturmflut wieder verschwunden. Der Hackepeter nicht. Mein BOSSi bereitete dann den Rest des Tages Buletten, Kraut mit Hackepeter usw. Das alles musste ich dann bis zur Abreise aufessen.

Eine Woche vor dem Tag X meldete ein Zahn mit Pochen und Ziehen sein Unwohlsein. Genau das fehlte mir noch: mit einem maroden Beißwerkzeug loszufahren und die Aussicht, einem lettischen, russischen oder finnischen Zahnarzt meine Mundhöhle samt einer Entzündung zu präsentieren. Zwar hatte ich meinen Dentisten im Januar konsultiert und eine günstige Prognose für das kommende Jahr erhalten, aber wer steckt schon in der Zahntasche?! Also hin, Leiden geschildert und nachdenkliches Kopfwiegen geerntet. Irgendein Riss in irgendeinem Zahn.

Dr. Ducke griff zu den Instrumenten, bohrte, schliff und stocherte, dass es eine Art hatte, und erklärte, dass ich nun erst einmal mit einer größeren Lücke zwischen zwei Zähnen zu leben hätte. Die müsste ich ständig reinigen, aber für die Reisezeit würde wohl Ruhe herrschen. Er legte ein Medikament in die leichte Entzündung ein und gab mir eine Notdosis für einen eventuellen Rückfall mit. Es herrschte Ruhe im Kauwerk, und das blieb gottlob auch während des Törns so. Zahnärzte küsst man nicht, auch wenn einem danach ist… zumindest nicht als erklärter hetero-männlicher Patient.

Bei Tommy, meinem Fitnesstrainer in Bad Lausick, meldete ich mich für die kommenden Monate ab. Er bastelte mir ein Konstrukt aus Gummileinen, Karabinerhaken und Handgriffen. Damit sollte ich an Bord meine täglichen Leibesübungen zur Erhaltung der Kräfte absolvieren. Dass es unbenutzt bleiben würde, wussten damals weder er noch ich. Die guten Vorsätze waren aber da.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: es gab noch ein Leben neben der Törnvorbereitung: ein 90. Geburtstag stand ins Haus und auch die Baumaßnahmen, die BOSSi während meines Törns geplant hatte, wollten vorbereitet werden.

Langeweile kannte ich aber schon vorher nicht.

Rasend schnell vergingen die letzten Tage, dann warf ich acht Kartons, zwei Reisetaschen, diverses Loses und mich selbst in den Caddy und dieselte am 18. April nach Breege.

Kaum zu glauben - es geht los!

Sand und Gold - Crew BALTIC - Breege bis Helsinki

Donnerstag, 18. April 2013

Breege liegt am frühen Nachmittag in der Gegend herum und langweilt sich. Es gibt sogar ein paar freie Parkplätze an der Pier. Trotz der zeitraubenden Anreise - ab Stralsund zieht es sich ganz schön, quer über die Insel - ist mir Breege ein kuscheliger Hafen, vor allem: hier begann ja 1995 meine „Seglerkarriere“.

Ein fröhliches „Hallo, Bernd“ lässt mich herumfahren: Eine 70-jährige Sportkameradin aus dem Fitness-Studio in Bad Lausick grinst mich breit an. Herzliche Umarmung. Ein echter Sailor hat eben in jedem Hafen eine Braut, auch wenn sie nur auf Rügen-Urlaub ist, so wie alle Jahre.

TI AMO wartet mit dem Bug zum Steg auf mich. Sofort bekomme ich eine emotionale Beziehung zu diesem GFK-, Stahl-, Holz- und Wasweiß-ich-denn-noch-Gebilde. Bisher kannte ich Liebe auf den ersten Blick nur von Mensch-zu-Mensch-Begegnungen. Man lernt nie aus. Das Schifflein wird nun für mehr als vier Monate Wohn- und Schlafzimmer, Transportmittel und Aussichtsplattform, Traum- und Hassobjekt sein.

Ich halte mich, die Füße noch auf der Pier, am Bugkorb fest, neige meinen Blick nach unten auf den Anker und mir verschwimmt alles vor den Augen. Instinktiv glaube ich an Tränen der Rührung, die mir den Blick trüben, dabei ist lediglich meine Brille in das Brackwasser des Breeger Hafens geklatscht. Das geht ja schnell. Kalkuliert habe ich eigentlich eine Brille pro zwei Wochen, das ist so der langjährige Schnitt auf Törns, aber dass die erste weg ist, bevor ich das Schiff betrete, das stellt jeden Rekord ein. Mit Coolness wird die erste Ersatzbrille aus dem Rucksack gefingert und weitergemacht. Es geht gut los.

Irgendwie habe ich nach drei Stunden die Kartons, Taschen und losen Teile aus dem Caddy auf das Schiff geladen, ganz zu Fuß und Arm: die Reifen der MOLA-Transportkarren lassen allesamt die Luft vermissen.

Im Büro ist es wie bei jeder Charter, nur mein Verlangen nach 19 Logbüchern lässt die dort residierende Seejungfrau kurz zusammenzucken. Eigner Willi samt Gattin Gisela sind am Schiff - wir haben Spaß mit- und Freude aneinander, das passt also auch.

Admiral Christoph macht mich mit TI AMO vertraut, das ist keine große Sache. Er findet dann auch noch heraus, dass ich mir einen Reifen zuschanden gefahren habe. Etwas unwohl wird mir bei der Betrachtung der dicken Beule im Gummi links vorn. Wäre der bei 180km/h auf der Autobahn geplatzt, hätte wohl die Reiserücktrittsversicherung an die Witwe zahlen müssen. Admiral verspricht Heilung bis zum Törnende. Darauf müssen wir einen Kleinen trinken und dann noch einen auf die gelungene Vorbereitung und noch einen auf den Törn und einen auf die Seefahrt im Allgemeinen und so fort.

 

Freitag, 19. April 2013

Die präsenile Bettflucht jagt mich beim Morgengrauen - deshalb heißt das ja auch „Grauen“ - aus dem Schlafsack und ich checke TI AMO sorgfältig durch. Gestern abend haben wir sortenrein getrunken, also keine Nachwirkungen unterm Cortex. Die Flachzange wird geschnappt und die Inspektion begonnen.

Auf Kontrolle und Nachziehen der Schäkelbolzen für das laufende Gut lege ich besonderen Wert, seit vor Jahren auf der Flensburger Förde der Großbaum bei schöner Backstagsbrise gegen die Wanten pfiff und meine BOSSi verzweifelt an der Schot hing. Sie glaubte sich stärker als der Wind, schaffte es aber nur bis zum physikalischen Gleichgewicht: Der Baum blieb an den Wanten, sie blieb an Bord. Beides erst einmal nicht schlecht. Die Situation tröpfelte aus meinen erstaunten Augen ganz langsam in mein Großhirn und bewegte mich zu Anluven und Aufschießer. BOSSi hatte Gibbon-Arme, die sich nur ganz langsam wieder verkürzten. Schäkel und Bolzen der Großschottalje fand ich dann, säuberlich getrennt, in der Plicht. Wieder einmal Glück gehabt. Das Trauma blieb und trug zu besserer Seemannschaft bei.

TI AMO ist in gutem Zustand, ein paar zu beanstandende Kleinigkeiten schafft MOLA schnell aus der Welt.

Ganz besonders prickelnd ist das Nachzählen des gefühlten Zentners Seekarten, vor allem, wenn man diejenigen zwischen Klaipėda und dem St.-Petersburg-Fahrwasser vermisst. Dreimal sortiert, gezählt, abgehakt - sie sind einfach nicht da. Admiral spricht von Poststreik. Bestellt seien sie, aber nicht angekommen. Das erklärt das Fehlen der Karten, ist aber letztlich kein Trost. Müssen wir uns eben unterwegs kümmern.

Ansonsten sind alle Utensilien in den Schapps, Backskisten und Schwalbennestern verschwunden, diese BAVARIA 36 C ist ein Raumwunder. Unsere vier Plüsch-Maskottchen Seebär, Matroseebär, Rettungsbär und Tully - ein kleiner Franzosenmatrosenbär aus Toulon - beobachten das Bordgeschehen mit Interesse. Die haben es gut, müssen nicht mit zupacken.

An Deck schnüffele ich das Wetter: wechselnde Bewölkung, viel Sonne, dazu pfeift ein schöner West bis Nordwest, der es in Böen auch mal auf eine Sechs bringt. Langsam komme ich zur Ruhe, genieße die Muße und warte auf Michael den Sanftmütigen, mit dem ich die Crew BALTIC bilde und in fünf Wochen bis Helsinki zu kommen trachte.

Seine Begrüßungssentenz verstimmt mich etwas, denn noch habe ich die drei Stunden Schlepperei von gestern in Hirn und Armen: „Scheiße, wie soll ich mein Gepäck an Bord kriegen…“. Geht gut los. Ich habe mehr Begeisterung für den Start eines Supertörns erwartet. Aber er neigt nun mal zur Spontaneität und zum schnellen Spruch. Also gemeinsam die drei Taschen an Bord gehievt, sodann geht Micha auf Nahrungssuche für den ersten Törnabschnitt.

Bald ist ausreichend Flüssigkeit an Bord: Diesel, Motoröl, Trinkwasser, Bier und sogar Alkoholfreies. Auch an fester Nahrung mangelt es nicht. Viele, viele Aufbackbrötchen und eine Menge an Haltbarem; für das Tägliche und Frische hoffen wir auf die Versorgungsmöglichkeiten an Land. Von Hungersnöten in den Zielstaaten hat man bisher nichts vernommen.

Jetzt heißt es nochmal: Die Güter ordentlich und auffindbar verteilen.

In die Steuerbordbackskiste kommt alles, was Leinen, Festmacher, Rettungsinsel, Pütz, Tauchzeug heißt oder seemännisch von Relevanz ist.