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Kann Liebe mit Kompromissen überleben – oder fängt sie gerade dort an?
Linus lebt seinen Traum: Als Drummer der erfolgreichen Rockband Falling for Grace reist er mit seiner Musik um die Welt – und seine große Liebe Flora ist als Tontechnikerin der Band dabei stets an seiner Seite. Doch Floras Zweifel an einer gemeinsamen Zukunft verleiten sie zu einer drastischen Entscheidung, die Linus’ Leben komplett auf den Kopf stellt.
Als sie sich nach zwei Jahren wieder begegnen, sind seine Gefühle für sie noch immer nicht erloschen. Linus ist allerdings nicht bereit, Flora zu vergeben. Er ist inzwischen Vater und will sein Herz nicht für Flora öffnen, wenn sie nicht auch eine Mutter für seine Tochter sein kann.
Können Linus und Flora den Mut aufbringen, sich anders zu lieben, als sie es sich einst erträumt haben?
Der mitreißende Rockstar Liebesroman “Trommelwirbel im Herzen” ist der vierte und letzte Band der “Rockstar-Herzen”-Reihe von Lina Hansson.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
ROCKSTAR-HERZEN
BUCH 4
Verlag:
Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH
Werinherstr. 3
81541 München
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Texte: Lina Hansson
Cover: Giusy Ame/Magcicalcover.de
Korrektorat:
TE Language Services – Tanja Eggerth, Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
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Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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ISBN: 978-3-96714-498-7
»Wir können einander langfristig nicht glücklich machen, verstehst du das nicht?«
Linus verstand es nicht. Und das lag nicht daran, dass sie nicht in seiner Muttersprache stritten. Er hörte Floras Worte, und sein Kopf war an die englische Sprache so gewöhnt, dass er sie nicht zu übersetzen brauchte, um den Sinn zu erfassen. Aber was seine Freundin ihm damit sagen wollte, das kapierte er einfach nicht. Sie waren seit mehr als sechs Jahren ein Paar. Was zur Hölle meinte sie mit ›langfristig glücklich machen‹? Für sein Empfinden war er schon sehr lange sehr glücklich mit ihr.
»Wenn ich nachgebe, werde ich das bereuen, und wenn du nachgibst, du«, erklärte sie. »Vielleicht nicht sofort, aber irgendwann. Du willst eine Familie, also musst du eine Frau finden, mit der du eine haben kannst. Es ist besser, wenn ich gehe.«
Linus starrte Flora an, als wäre ihr soeben ein zweiter Kopf gewachsen. Dabei sah sie aus wie immer. Die Stirnfransen waren schon wieder einen Hauch zu lang, und sie musste sie dauernd zur Seite streichen. Die Spitzen ihrer ansonsten schwarzen Haare waren derzeit eisblau. Die Farbe wechselte Flora je nach Jahreszeit oder manchmal auch nach Stimmung. Eisblau. Kalt. Machte sie wirklich eiskalt mit ihm Schluss?
»Du kannst nicht gehen«, sagte Linus schwach und streckte die Hand nach ihr aus.
Flora wich zurück.
»Wohin –?«
»Nach Hause«, erklärte sie so schnell und entschlossen, dass in ihm die Ahnung aufstieg, dass das kein spontaner Entschluss am Ende eines Streits war, den er versehentlich vom Zaun gebrochen hatte. Floras Zuhause lag nicht ums Eck, sondern in einem anderen Land. Sie war erst vor einem Jahr mit ihm nach Wien gezogen, nun wollte sie zurück nach England.
Gefiel es ihr hier nicht? Wollte sie in ihre Heimat, weil sie sich nicht so eingelebt hatte, wie sie es sich vorgestellt hatte? Lag es daran, dass sie die Sprache noch immer nicht fließend beherrschte? Versuchte sie, ihn dazu zu bringen, in ihr altes Leben zurückzukehren?
»Und wenn ich mitkomme?«, fragte er vorsichtig.
»Das ändert rein gar nichts!«, fuhr sie ihn an. »Nur weil deine Freunde und ihre Familien nicht mehr in unserer Nähe wären, würdest du doch nicht einfach vergessen, dass du auch Kinder willst.«
Linus wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Dass Flora sich partout nicht vorstellen konnte, mit ihm eine Familie zu gründen, war eine Neuigkeit, die er noch nicht verarbeitet hatte. Bis vor Kurzem hatte er selbst nicht darüber nachgedacht, aber seit seine Bandkollegen der Reihe nach Zuwachs bekamen, beschäftigte das Thema auch ihn immer öfter. Jonas war vor wenigen Wochen Papa geworden, Bens Frau war mit dem zweiten Kind hochschwanger, und Jakob war neuerdings quasi Stiefvater einer Teenagerin. Das war für Falling for Grace eine völlig neue Situation, aber Linus fand es eigentlich schön, dass nicht nur sie, sondern auch ihre Musik reifer geworden war. Das Album, das sie gerade aufgenommen hatten, war ihr persönlichstes – und ihr bisher bestes. Linus konnte den Erscheinungstag kaum erwarten und freute sich wahnsinnig darauf, damit auf Tour zu gehen.
Das war der springende Punkt.
Flora hatte in den vergangenen Jahren als Tontechnikerin für Falling for Grace gearbeitet. Linus hatte es immer genossen, seine Freundin auf Tour dabeizuhaben und nicht – wie Frontman Jonas – wochenlang mit seiner nur telefonieren zu können. Für die Zukunft hatten sie sich vorgenommen, ihre Tourpläne mit Rücksicht auf die Familien zu gestalten. Aber Flora interessierte sich nicht dafür, wie lang die Band fern von zu Hause sein würde, denn sie hatte nicht vor, allein zurückzubleiben. Sie war nicht bereit, ihre Arbeit für eine Familie aufzugeben. Allerdings konnte sie auch nicht von Linus verlangen, dass er sich um die Kinderbetreuung kümmerte, denn ohne ihn würden Falling for Grace nicht auf Tour gehen, was wiederum bedeutete, dass sie gar keinen Job in der Crew hatte.
»Wir würden bestimmt eine Lösung finden«, versuchte er, sie umzustimmen. »Du müsstest deine Arbeit doch nicht für eine Familie aufgeben. Dann heuerst du eben bei einer anderen Band an.«
Flora sah ihn vorwurfsvoll an. »Also würde ich mich um das Kind kümmern, während du auf Tour bist, und wenn du daheim bist, gehe ich mit irgendwem auf Tour? Und wann sehen wir beide uns dann noch?«
Ja, okay, das war ein Problem. Mal abgesehen davon, dass sie erst einen Arbeitgeber finden müsste, dessen Tourpläne zu ihren passten. Linus’ Kopf lief heiß vor Überforderung. Er konnte Flora nicht gehen lassen, nicht aus diesem Grund und schon gar nicht für immer.
»Ich kann auf Kinder verzichten«, behauptete er, obwohl er dabei ein mulmiges Gefühl bekam. Wenn er es sich lange genug einredete, würde es schon klappen.
»Linus.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu und sah ihn direkt an. »Ich habe dich in der letzten Zeit sehr genau beobachtet. Wie du auf Babybäuche reagierst. Wie du mit deiner Nichte spielst. Manche Männer sind dazu bestimmt, Väter zu werden. Und du gehörst dazu.«
»Das ist doch keine Bestimmung, sondern eine Entscheidung!«, widersprach Linus energisch. »Ich kann mich gegen Kinder und für die Frau, die ich liebe, entscheiden.«
»Aber ich mache dich damit unglücklich!«, rief sie aufgebracht aus, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Und damit kann ich nicht leben, und deshalb entscheide ich, dich freizugeben.«
»Freigeben?« Die Wortwahl war einfach nur absurd. Ihre Beziehung war doch kein Gefängnis. Er hatte an Floras Seite die besten Jahre seines Lebens verbracht.
»Es ist besser. Glaub mir.« Unvermittelt legte sie die Hände auf seine Wangen und küsste ihn. Linus erwiderte den Kuss, versuchte, sie an sich zu ziehen, doch sie wich zurück.
»Good bye.«
Fassungslos sah er zu, wie sie einige Schritte rückwärts in den Flur machte, sich dort nach ihrer riesigen Tasche, die sie immer mit sich herumschleppte, bückte und die gemeinsame Wohnung verließ.
»Guten Morgen, Rockstar! Ausgeschlafen?«
Maja saß gut gelaunt mit ihrem Laptop am Küchentisch und lächelte Linus breit an. Er fühlte sich noch ziemlich ferngesteuert und warf einen Blick auf die Uhr über der Tür. Halb zwei. Ihr Frühstückskaffee war das vermutlich nicht.
»Auch?«, fragte sie nur und stand auf, um eine Tasse für ihn zu holen. Sie füllte sie bis knapp unter den Rand und stellte sie auf den Tisch. Linus sank auf einen Stuhl, murmelte einen Dank und griff zu dem Muntermacher. Den konnte er jetzt wirklich brauchen. Sein Schlafrhythmus war – wie so oft, wenn er gerade von einer Tour nach Hause gekommen war – völlig durcheinandergeraten.
»Wo ist Fanny?«, war seine erste Frage, nachdem er einen Schluck getrunken hatte. Er war auf dem Weg von seinem Schlafzimmer in die Küche auf kein einziges Spielzeug getreten, obwohl er nicht auf den Boden geachtet hatte.
»Papawoche«, erwiderte Maja.
Linus nickte nur. Er wusste nicht einmal genau, welcher Tag heute war. Dementsprechend hätte er ohne diese Information auch nicht zuordnen können, ob sie sich in einer der Wochen befanden, die lila oder orange im Kalender markiert waren.
»Hast du sie vermisst?«, erkundigte sich Maja schmunzelnd.
»Natürlich.«
»Und mich?«
»Kein bisschen«, versicherte er todernst und führte wieder die Tasse an seine Lippen.
»Blödmann«, murmelte Maja. »Wer würde dir Kaffee machen, wenn ich nicht hier wäre?«
»Nur weil ich dankbar für den Service bin, heißt das nicht, dass ich dich auf Tour vermisse«, erwiderte er. »Da werde ich schließlich auch regelmäßig mit Koffein versorgt.«
Beleidigt streckte sie ihm die Zunge heraus, aber er grinste nur.
»Wie war’s eigentlich?«, wollte sie wissen.
»Gut. Anstrengend.«
»Wie lang bist du jetzt daheim?«
»Sechs Wochen oder so.« Auch da war er sich nicht ganz sicher. Hinter ihm lagen knapp vierzig Konzerte der aktuellen Tour, die sie verteilt auf drei Monate gespielt hatten. Dazwischen waren sie immer wieder ein paar Tage daheim gewesen, doch hauptsächlich hatten sie im Tourbus gelebt und ihre Familien kaum gesehen. Linus war froh, den Rest des Jahres in seinem eigenen Bett schlafen zu können. Der nächste Abschnitt der Tournee startete erst nach den Weihnachtsferien.
»Also verbringst du Weihnachten wirklich daheim? Mama glaubt nicht so recht daran, dass sie zwei Jahre hintereinander mit dir feiern kann.«
»Ich bin da«, bestätigte er und versuchte, den Stich in seinem Herzen zu ignorieren. Im vergangenen Jahr hatte er Weihnachten zum ersten Mal mit Flora bei seiner Familie verbracht, davor waren sie immer bei ihrer in England gewesen. Zum ersten und zum letzten Mal. Drei Monate später hatte sie ihn verlassen. Das Einzige, was er noch von ihr gehört hatte, nachdem sie gegangen war, war die Bitte gewesen, ihre Sachen nach England an die Adresse ihrer älteren Schwester zu schicken. Er hatte alles zusammengesucht, sich bei nicht wenigen Dingen mit der Frage gequält, wem von ihnen sie eigentlich gehörten, und am Ende mehrere riesige Kartons zur Post gebracht. Den Brief, den er Flora geschrieben hatte, hatte er nicht dazugelegt. Sie hätte sich von ihrer Entscheidung ohnehin nicht abbringen lassen. Ihr Foto hing trotzdem weiterhin an seinem Kühlschrank.
Er merkte erst, dass sein Blick dorthin gewandert war, als Maja ihre Hand auf seine legte.
»Aber sie fehlt dir noch«, bemerkte sie leise.
Linus wich ihrem mitfühlenden Blick aus. Seit sie und Fanny bei ihm eingezogen waren, fühlte sich die Wohnung, die er ursprünglich zusammen mit Flora gekauft und eingerichtet hatte, nicht mehr so leer und einsam an. Er wollte jedoch von seiner Schwester nicht bedauert werden. Allerdings wünschte er sich manchmal, er könnte seine Trennung so cool nehmen wie sie die von Fannys Vater. Die beiden waren erst kurz ein Paar gewesen, als Maja schwanger geworden war, hatten zwar noch einige Zeit zusammengewohnt, ihre Beziehung aber bereits vor der Geburt für beendet erklärt. Maja war schließlich ausgezogen, weil sich ihr Ex neu verliebt hatte.
Seither wohnte sie bei ihrem Bruder, Fanny war abwechselnd eine Woche bei Mama und eine bei Papa. Das System funktionierte, alle waren glücklich. Und Linus fragte sich, ob er nicht doch irgendwie mit Flora eine Familie hätte haben können. Es gab längst so viele alternative Konzepte, die nicht mehr einen berufstätigen Vater und eine Mutter, die bei den Kindern blieb, voraussetzten. Er wäre für jedes Experiment offen gewesen.
»Ich gehe besser mal duschen.« Er stand abrupt auf, um seine Gedanken zu vertreiben. Er wollte nicht schon wieder über Flora grübeln, das tat er viel zu oft. Weil er sie jeden Tag vermisste, weil es immer noch höllisch wehtat, dass sie nicht mehr da war. Manchmal fühlte es sich an, als wäre sie plötzlich verstorben, so überraschend war sie aus seinem Leben verschwunden und so groß war die Lücke, die sie hinterlassen hatte.
»Gute Idee, du hast schon mal besser gerochen«, meinte Maja trocken und wandte sich wieder ihrer Arbeit am Laptop zu.
Linus ignorierte den geschwisterlichen Seitenhieb und verzog sich ins Badezimmer.
Nach der Dusche kümmerte er sich um sein Gepäck und startete die Waschmaschine. Früher waren die Tourtaschen schon mal zwei Tage liegen geblieben, bevor Flora oder er sich dazu aufgerafft hatte, sich um die schmutzige Wäsche zu kümmern. Wenn sie mitten in der Nacht heimgekommen waren, hatten sie das Bett oft erst am übernächsten Morgen endgültig verlassen und sich dem Alltag gestellt. Linus hatte dieses langsame Ankommen geliebt. Seine eigene Matratze, Flora in seinen Armen, irgendwann Essen bestellen, nichts tun … Nach den anstrengenden Wochen auf Tour gab es nichts Schöneres für ihn.
Jetzt bekam er bereits ein schlechtes Gewissen, wenn er nur den Fernseher einschaltete, während Maja arbeiten musste. Dabei war es nicht einmal so, dass sie ihm das Chillen nicht vergönnte. Trotzdem hatte er Skrupel, mitten am Nachmittag irgendeinen Film zu starten – idealerweise einen aus den Neunzehnneunzigern, den er in- und auswendig kannte, falls er auf der Couch einschlief. Stattdessen griff er zu der Tageszeitung, die auf dem Beistelltisch lag, und blätterte sie durch. Sie war vom Wochenende, trotzdem enthielt sie für Linus lauter Neuigkeiten. Mit österreichischen Nachrichten hatte er sich unterwegs kaum befasst.
Es klingelte an der Tür, und bevor Linus sich erheben konnte, rief Maja ihm von nebenan zu: »Ich gehe schon.«
Er nahm es zur Kenntnis und las die nächste Überschrift. Den dazugehörigen Artikel überflog er, sonderlich fesselnd war die Berichterstattung nicht. Oder er war einfach zu müde für alles, was über eine seichte Berieselung hinausging.
»Äh, Linus, die Herrschaften wollen zu dir.«
Er hob den Kopf und erblickte zu seiner großen Überraschung neben Maja zwei uniformierte Polizistinnen.
Die kleinere fixierte ihn mit ihrem Blick. »Linus Weber?«
Er nickte mechanisch. Hatte er irgendwas verbrochen? Er war noch keine vierundzwanzig Stunden daheim, besaß auch kein Auto, das er falsch geparkt haben könnte. Und selbst wenn, wäre das vermutlich abgeschleppt worden, und er müsste lediglich die nervige Fahrt zur Verwahrungsstelle am Rand von Wien antreten, um es auszulösen.
»Können Sie uns einen Ausweis zeigen?«, bat die zweite Beamtin.
Linus nickte, sprang auf und überlegte fieberhaft, wohin er seinen Reisepass vorhin gelegt hatte.
»Einen Moment«, nuschelte er, verschwand in seinem Zimmer, suchte hektisch alles ab, bis er ihn auf der Ablage über seiner Stereoanlage entdeckte. Wo er ihn immer aufbewahrte.
Als er zu den Frauen zurückkehrte, hatte Maja ihren Laptop weggeräumt und den Beamtinnen einen Sitzplatz am Küchentisch und etwas zu trinken angeboten.
Linus händigte seinen Pass aus und erkundigte sich vorsichtig: »Müssen wir uns setzen?«
»Es könnte eine Weile dauern«, meinten die Polizistinnen.
Was war nur los? Hatte er seine Steuern gezahlt? War irgendjemandem etwas zugestoßen? Wenn es ein Familienmitglied war, würden sie Maja sicher auch zum Gespräch bitten. Doch sie verabschiedete sich, lächelte ihrem Bruder ermutigend zu und zog sich zurück.
Linus sank auf einen Stuhl und wartete, während die Beamtinnen seine Ausweisdaten überprüften und sein Kopf weiter Theorien spann, warum die beiden hier sein könnten.
Inzwischen hatte er die Namensschilder auf den Uniformen entdeckt, die größere und vermutlich etwas ältere Frau hieß Juric, die kleinere Hofer. Automatisch startete in seinem Kopf das Lied Da Hofa, und er fragte sich, ob er wohl verdächtig aussah.
Er betrachtete auch die Markierungen der Dienstgrade, konnte aber weder mit der Farbe noch mit der Anzahl der Sterne etwas anfangen. Er entnahm ihnen lediglich, dass Frau Juric höhergestellt war. Welche Anrede benutzte man in diesem Fall am besten? Frau Inspektor? Oder einfach ihren Namen?
»Herr Weber«, begann Frau Juric, »wir haben einige Fragen an Sie.«
Er nickte zurückhaltend.
»Ist Ihnen der Name Flora Williamson bekannt?«
Linus wurde bleich. »Meine Ex-Freundin.«
»Ex-Freundin«, wiederholte ihre Kollegin und machte sich eine Notiz.
»Ja«, bestätigte er.
»Wie lange sind Sie schon getrennt?«, wollte die erste Beamtin wissen.
»Seit März.«
Die zweite schrieb auch diese Information in ihren Block.
»Wann haben Sie Frau Williamson zuletzt gesehen?«, bohrte Frau Juric weiter.
Sein Herz raste. Verdammt, wenn Flora etwas zugestoßen war, sollten sie es ihm einfach sagen! Aber er wagte es nicht, eine Gegenfrage zu stellen, sondern antwortete: »An dem Tag, an dem sie mich verlassen hat.«
»Im März?«
»Am zwanzigsten.«
»Hatten Sie seither Kontakt?«
»Nur noch einmal, als sie mir die Adresse mitgeteilt hat, an die ich ihre Sachen schicken sollte.«
»Können Sie uns diese Adresse geben?«
»Ja.« Er überlegte, ob er sie auswendig wusste oder in seinem Smartphone suchen musste. Er fand Daisys Haus selbst im Finstern problemlos, aber an die Nummer erinnerte er sich nicht. »Es ist die Adresse ihrer Schwester Daisy in Chester, in England.«
»Daisy Williamson?«
»Nein, sie ist verheiratet. Daisy Walker.«
»Wohnt Frau Williamson dort?«
Sie benutzte die Gegenwartsform, das beruhigte Linus ein wenig. Doch er konnte ihr nicht weiterhelfen. »Ich habe keine Ahnung. Sie hat sich nie mehr gemeldet. Ich wüsste ohne die Sendungsverfolgung der Post nicht einmal, ob die Pakete angekommen sind.«
»In England?«, hakte die zweite Beamtin nach.
Linus verlor allmählich die Geduld. Was sollten diese dämlichen Gegenfragen, nachdem er vorhin extra die Stadt und das Land genannt hatte?
Die ranghöhere Inspektorin erwies sich an dieser Stelle als die hilfreichere. »Herr Weber«, sagte sie mit ruhiger Stimme, »wir wollen das deshalb so genau wissen, weil Frau Williamson heute Morgen spurlos aus dem Allgemeinen Krankenhaus hier in Wien verschwunden ist. Sie hat nur diese Notiz zurückgelassen.«
Frau Juric nickte ihrer Kollegin zu, die daraufhin einen Zettel auf den Küchentisch legte, auf dem sein Name und seine Adresse standen. Linus zog ihn an sich heran. Es war zweifellos Floras Handschrift. Aber warum hatte sie das geschrieben? Warum war sie überhaupt im Krankenhaus gewesen?
»Wieso war sie da?«, erkundigte er sich vorsichtig. »Im AKH, meine ich.«
Die beiden Frauen tauschten einen vielsagenden Blick, über dessen Bedeutung Linus nur spekulieren konnte.
Wann hörten sie endlich auf, ihn auf die Folter zu spannen?
»Herr Weber«, sagte Inspektorin Juric schließlich. »Frau Williamson hat heute Nacht im AKH ein Kind zur Welt gebracht. Aufgrund dieser Notiz vermuten wir, dass Sie der Vater sind.«
Linus vergaß beinahe, zu atmen.
»Das kann nicht sein«, murmelte er.
»Rein rechnerisch –«, begann die zweite Polizistin, doch er unterbrach sie.
»Das meine ich nicht. Flora hat mich verlassen, weil sie kein Kind mit mir wollte.«
»Im März«, stellte sie nach einem Blick in ihren Schreibblock fest.
Linus sah sie verständnislos an.
»Laut Auskunft des medizinischen Personals lag der Zeitpunkt der Zeugung aller Wahrscheinlichkeit nach im Februar. Unterlagen über Vorsorgeuntersuchungen gibt es nicht.«
»Kann sie es im März schon gewusst haben?«, fragte er erschüttert.
Ihre Kollegin betrachtete die Notizen, runzelte die Stirn und kam zu dem Schluss: »Ich denke schon.«
Linus lehnte sich zurück, bemühte sich, ruhig zu atmen, und versuchte, seine wirren Gedanken zu sortieren.
Wenn Flora bereits von der Schwangerschaft gewusst hatte, warum hatten sie dann so heftig über das Thema gestritten, dass sie ihn am Ende verlassen hatte? Was genau hatte den Streit eigentlich ausgelöst? Wer hatte ihn begonnen?
Er erinnerte sich nicht mehr daran. Ihm war nur noch der Teil im Gedächtnis geblieben, als sie ihm erklärt hatte, dass sie nicht die richtige Lebenspartnerin für ihn sei, weil sie ihn nur unglücklich machen würde, wenn er auf Kinder verzichtete, weil sie keine wollte. Was ihm schon damals absurd erschienen und im Licht der neuen Erkenntnisse völlig skurril war.
Was hatte sie von ihm erwartet oder erhofft? Dass er einer Abtreibung zustimmte? Aber wenn es so gewesen wäre, hätte sie den Abbruch nach ihrer Trennung durchziehen können, ohne dass er je davon erfahren hätte. Das ergab keinen Sinn. Dass sie das Kind bekommen und quasi auf seiner Türschwelle abgelegt haben sollte, erschien Linus dagegen gar nicht so unwahrscheinlich.
War das überhaupt der Fall?
»Das Baby, was ist mit dem?«, fragte er.
»Es befindet sich auf der Geburtenstation des AKH«, erklärte Inspektorin Hofer. »Das Jugendamt hat die Obsorge übernommen.«
»Das Jugendamt?«
»So ist das Prozedere bei Kindesweglegung.«
»Weglegung?« In Linus’ Ohren klang das wie eine strafbare Handlung. Waren die Beamtinnen hier, weil sie Flora verhaften wollten?
»Oder auch bei anonymen Geburten oder wenn ein Kind zu einer Babyklappe gebracht wird«, ergänzte ihre Kollegin schnell. »Das Jugendamt ist in all diesen Fällen zuständig. Für die ersten sechs Lebensmonate.«
Linus reagierte verdutzt. »Auch, wenn ich sicher der Vater bin?«
Die Beamtin nickte. »Das Jugendamt könnte aber natürlich zustimmen, das Baby in Ihre Obhut zu geben, wenn es die Lebensumstände als geeignet erachtet.«
Für einen kurzen Moment hatte Linus sich vorgestellt, plötzlich Papa eines Neugeborenen zu sein. Doch als das Wort ›Lebensumstände‹ fiel, löste sich das Bild in Luft auf. Nie im Leben würde irgendwer einem Rockmusiker ein mutterloses Baby anvertrauen.
»Dürfte ich zu dem Kind?«, erkundigte er sich zögernd.
»Auch das muss das Jugendamt entscheiden. Aber wir werden es auf jeden Fall darüber in Kenntnis setzen, dass wir Sie angetroffen haben und dass Sie die Möglichkeit einer Vaterschaft nicht ausschließen. Ich nehme an, die zuständige Beamtin wird sich dann mit Ihnen in Verbindung setzen. Unsere Aufgabe war lediglich die Abklärung der Daten auf der zurückgelassenen Notiz.«
Linus nickte, er wusste nicht, was er dazu noch sagen sollte. Die Tragweite der Informationen, die er soeben erhalten hatte, sickerte nur langsam ein. Außerdem machte er sich Sorgen um Flora. Wenn man Frauen normalerweise riet, sich nach einer Geburt zu schonen, konnte es nicht allzu gesund sein, sich wenige Stunden nach der Entbindung allein auf den Weg irgendwohin zu machen.
»Steckt Flora in Schwierigkeiten?«, erkundigte er sich.
Die ältere Beamtin schüttelte den Kopf. »Da sie das Baby in einem geschützten Umfeld zurückgelassen hat, wo zu keiner Zeit eine Gefahr bestand, liegt kein Tatbestand vor. Wenn sie eine Babyklappe benutzt hätte, wäre das ebenfalls straffrei – und dem entspricht ihr Vorgehen in etwa. Wir verfolgen die Sache nur deshalb weiter, weil sie ausdrücklich einen Hinweis auf einen potenziellen Vater hinterlassen hat.«
Er seufzte erleichtert.
»Aus unserer Sicht war das auch schon alles. Wenn Sie uns Ihre Telefonnummer geben, leiten wir sie ans Jugendamt für die Kontaktaufnahme weiter.«
»Natürlich.« Er diktierte den Polizistinnen seine Nummer. Dann erhoben sich die beiden, und Linus beeilte sich, es ihnen gleichzutun. Er brachte sie zur Tür, verabschiedete sich – und blieb völlig überfordert zurück.
»Linus.« Er spürte Majas Hand auf seinem Rücken und drehte sich zu ihr um.
»Hast du gelauscht?«, fragte er.
Sie nickte, und er sah in ihrem Gesicht deutlich, dass sie ebenso fassungslos war wie er. »Wieso hat sie das gemacht?«
Ratlos zuckte er mit den Schultern.
»Wenn sie das Baby bekommen wollte, warum hat sie dich dann verlassen, weil du eines wolltest? Das ergibt doch gar keinen Sinn.«
»Aber vielleicht sind ein Baby bekommen und ein Baby haben zwei völlig verschiedene Dinge?« Das war die einzige Erklärung, die für Linus einigermaßen logisch war. Flora hatte eine Abtreibung nicht übers Herz gebracht, aber Mutter sein wollte sie auch nicht.
Allerdings fragte er sich, warum sie das Baby nicht zur Adoption freigegeben hatte, ohne ihn je davon in Kenntnis zu setzen. War das irgendeine Form von Rache, dass er nun sehen sollte, wie er allein mit einem Kind und seinem Job zurechtkam? Aber er wäre doch bereit gewesen, für sie auf eine Familie zu verzichten. Sie konnte ihm nicht vorhalten, ihre Beziehung weggeworfen zu haben. Ein Teil von ihm wollte sie noch immer zurück.
»Was machst du jetzt? Willst du zu dem Baby?« Maja musterte ihn besorgt.
»Ja, das will ich«, antwortete Linus entschlossen. Er wollte das Baby sehen, musste es sehen, um die Geschichte richtig glauben zu können. Und auch, weil dieses Kind, nach dessen Geschlecht er nicht einmal gefragt hatte, das Letzte war, was ihm von Flora geblieben war.
»Herr Weber, freut mich, Sie kennenzulernen.« Die junge Sozialarbeiterin erwartete Linus am vereinbarten Treffpunkt und streckte ihm zur Begrüßung die Hand entgegen. Trotz des warmen Schals und der Mütze, die ihre blonden Haare großteils verdeckte, wirkte sie, als würde sie frieren. Linus bekam sofort ein schlechtes Gewissen, weil er ein wenig zu spät dran war. Er hatte die Fahrtzeit zwischen seiner Wohnung und dem Allgemeinen Krankenhaus unterschätzt.
»Paula Steiner«, stellte sie sich vor. »Wir haben vorhin telefoniert. Danke, dass Sie so spontan kommen konnten.«
»Danke, dass Sie so rasch auf meine Bitte reagiert haben«, erwiderte Linus.
Er hatte den Anruf vom Jugendamt nur eine halbe Stunde, nachdem die Polizistinnen gegangen waren, erhalten. Damit, dass das Amt ihm noch am selben Tag die Möglichkeit geben würde, seine Tochter kennenzulernen, hatte er gar nicht gerechnet.
»Ich halte es für angemessen, rasch zu handeln. So einen Fall wie Ihren hatten wir noch nie. Jedenfalls nicht, seit ich bei der MA 11 arbeite.« Sie zögerte kurz, dann fügte sie verlegen hinzu: »So lang ist das allerdings nicht.«
Welche Nummer die Magistratsabteilung hatte, die in Wien für die Kinder- und Jugendhilfe zuständig war, wusste Linus erst seit heute. Es war nur eine von vielen neuen Informationen, mit denen er zurechtkommen musste. Davon, wie in Österreich das Vorgehen nach einer Kindesweglegung geregelt war, hatte er bisher keine Ahnung gehabt – und er hatte auch nicht geglaubt, dieses Wissen jemals zu brauchen. Wie er in dem Telefonat mit der Sozialarbeiterin erfahren hatte, drehte sich dabei alles um den Schutz des Kindes und die Rechte der Mutter. Der leibliche Vater war dagegen nur eine Randerscheinung. Er vermutete, dass sie für ihn die Regeln gerade etwas ausdehnte, aber er fragte sicherheitshalber gar nicht erst nach. Was ihn betraf, würde er einfach so tun, als wäre alles, was sie hier taten, völlig normal. Auch wenn es absolut nicht normal war, von zwei Polizistinnen zu erfahren, dass man in der Nacht Vater geworden war.
»Zur Geburtenstation geht es da lang«, erklärte Frau Steiner und ließ Linus den Vortritt. »Die Polizei hat uns mitgeteilt, dass Sie von der Mutter getrennt sind und auch nicht wissen, wo sie sich aufhält, stimmt das?«, erkundigte sie sich auf dem Weg zu den Aufzügen des grünen Turms.
»Ja, wir hatten seit der Trennung keinen Kontakt mehr«, bestätigte er.
»Und sie ist britische Staatsbürgerin?«
»Ja.«
Sie nickte, als würde diese Antwort für sie irgendwas erklären, was Linus dazu veranlasste, nachzuhaken: »Halten Sie das für wichtig?«
»Die ganze Situation ist außergewöhnlich«, rechtfertigte sie sich. »Ich habe mich gewundert, warum sie überhaupt ihren eigenen Namen angegeben hat, wenn sie anscheinend nie vorhatte, das Kind zu behalten. Aber vermutlich wusste sie nicht, dass es eine andere Möglichkeit gegeben hätte.«
Hatte Flora das wirklich nicht gewusst oder wollte sie sichergehen, dass Linus sich für das Baby verantwortlich fühlte? Die Frage reihte sich bei den vielen weiteren ein, die er sich in den letzten Stunden gestellt hatte.
Linus war so in seine Gedanken versunken, dass er nicht darauf achtete, in welchem Stockwerk sie den Aufzug verließen. Er trottete wie ein Schaf neben Paula Steiner her. Als sie die Leitstelle erreichten, zückte sie ihren Dienstausweis und informierte die Frau hinter der Glasscheibe, weshalb sie hier waren. Sofort wurden sie weitergeschickt. Linus folgte der Sozialarbeiterin in die Station, wo sie die erstbeste Person, die ihnen begegnete, ansprach und auch ihr mitteilte, wen sie suchten.
»Oh, das Blümchen«, sagte die Schwester.
Linus horchte auf.
»Sie sind der Vater?«, wandte sie sich an ihn, und als er nickte, fuhr sie fort: »Die Mutter hat keinen Namen festgelegt. Weil sie Flora heißt, haben wir die Kleine vorläufig Blümchen getauft.« Sie lächelte ihn entschuldigend an, aber Linus fand das im Grunde ziemlich süß.
»Warten Sie am besten hier.« Sie wies ihnen ein freies Zimmer zu, in dem ein Bett, ein Tisch mit zwei Stühlen und ein bequemer Sessel standen. »Ich bin gleich wieder bei Ihnen.«
Linus trat zusammen mit Frau Steiner ein und blieb unschlüssig stehen.
»Nervös?«, erkundigte sie sich.
Er nickte.
»Das ist bestimmt alles ein wenig überfordernd.«
»Nicht nur ein wenig«, murmelte Linus. Er hätte sich gern hingesetzt, konnte sich aber nicht dazu entschließen. Die Sozialarbeiterin nahm auf einem der Stühle Platz.
Minuten vergingen, in denen keiner von ihnen ein Wort sprach, bis sich die Tür öffnete und die Kinderkrankenschwester ein Bettchen mit einem quengelnden Baby hereinschob.
Linus hielt vor Aufregung die Luft an.
»Das Blümchen hat wahrscheinlich Hunger«, verkündete die Pflegerin. »Ich habe gleich ein Fläschchen mitgebracht. Haben Sie das schon mal gemacht?« Sie sah Linus fragend an.
Er verkniff es sich, nachzuhaken, ob sie wirklich ihn meinte, und antwortete stattdessen: »Nicht bei einem Neugeborenen.«
Fanny war bereits einen Monat alt gewesen, als er sie zum ersten Mal getroffen hatte.
»Setzen Sie sich hin!«, forderte die Schwester ihn auf und zeigte auf den Sessel.
Gehorsam sank er in die Polster.
Sie bettete zuerst ein Stillkissen unter seinen linken Arm, dann hob sie das Baby aus dem Bett und reichte es ihm mit den Worten: »Immer auf den Kopf achten!«
Sie ging so bestimmt vor, dass Linus gar keine Zeit blieb, sich zu fragen, ob er überhaupt bereit dafür war, seine Tochter kennenzulernen, von deren Geburt er vor vierundzwanzig Stunden noch nicht einmal etwas geahnt hatte. Plötzlich lag dieses faltige Baby mit dem leicht verformten Schädel in seinen Armen. Es hatte die Augen geschlossen und jammerte leise.
»Hier!«
Automatisch griff er zu dem Fläschchen, das die Schwester ihm reichte.
»Einfach anbieten!«
Das hatte er zwar schon mal gemacht, trotzdem führte er den Sauger nur zögernd an den winzigen Mund, ließ zuerst ein paar Tropfen herausrinnen und wartete die Reaktion ab. Eine Zungenspitze erschien.
»Sie muss das auch erst lernen«, erklärte die Kinderkrankenschwester.
Das Mädchen öffnete die Lippen ein bisschen, und Linus schob den Sauger hinein. Tatsächlich fing es zu nuckeln an.
Erfreut blickte er auf.
»Sie machen das gut.«
Linus strahlte. Nicht nur, weil er es auf Anhieb geschafft hatte, seiner Tochter das Fläschchen zu geben, sondern vor allem, weil ihn plötzlich die Erkenntnis traf, dass sie seine Tochter war. Dieses süße Wesen mit den runzeligen kleinen Fingern, den überraschend langen Fingernägeln und dem dunklen Flaum auf dem Kopf.
»Ich lasse Sie allein. Wenn Sie etwas brauchen, drücken Sie den Knopf.« Die Schwester zeigte auf eine Steuerung, die um den Haltegriff des Betts gewickelt war, und verließ gleich darauf den Raum.
»Ich muss hierbleiben. Vorschrift.« Dass die Sozialarbeiterin noch hier war, hatte Linus beinahe vergessen.
»Schon okay«, murmelte er, wandte sich aber sofort wieder dem Baby auf seinem Arm zu. Es hatte die Hände zu Fäusten geballt und öffnete auf einmal die Augen, als wollte es wissen, wer es umsorgte. Spätestens jetzt war Linus rettungslos verliebt.
»Darf ich ihr einen Namen geben?«, fragte er.
Paula hob zögernd die Schultern. »Ich denke schon. Ich glaube nicht, dass das Jugendamt auf einen bestimmten bestehen wird. Wissen Sie, welchen?«
Linus hatte eine Idee, aber er war unsicher. Einerseits, weil es ein englischer Name war, andererseits, weil zweifellos viele die Verbindung zu seinem herstellen würden, jedoch niemand verstehen würde, welche Bedeutung das für ihn hatte.
Er entschied, die Sozialarbeiterin nach ihrer Meinung zu fragen: »Was halten Sie von ›Lucy‹?«
Sie schmunzelte. »Ob das so gut ist? Was, wenn sich herausstellt, Nomen est Omen? Lucy ist doch eine ziemliche Nervensäge und schikaniert mit Vorliebe Linus.«
Sie jedenfalls hatte die Anspielung sofort verstanden, was sie ihm auf Anhieb sympathisch machte.
»Ja, das stimmt schon«, gab er zu. »Aber tief in ihrem Inneren hat sie ihn gern.«
Er schwieg eine Weile, dann fügte er hinzu: »Ihre Mutter liebt die Peanuts.«
Frau Steiner nickte verständnisvoll.
»Und es gibt dieses Klavierstück Lucy and Linus.« Was es damit auf sich hatte, erklärte er ihr nicht. Ben, der Pianist von Falling for Grace, beherrschte es locker solo, aber obwohl auch Linus einige Jahre Klavierunterricht gehabt hatte, reichten seine Fähigkeiten nur für die vierhändige Version. Dasselbe galt für Flora. Früher hatte er das Stück manchmal aus Spaß zusammen mit Ben gespielt. Bis Flora irgendwann dessen Part übernommen hatte. Es war so etwas wie ›ihr Lied‹.
»Ich finde, Lucy ist ein sehr schöner Name«, sagte die Sozialarbeiterin nach einer weiteren kurzen Stille.
Linus betrachtete das Baby und wollte eigentlich feststellen, ob der Name auch passte, doch da fiel ihm auf, dass es eingeschlafen war. Er stellte das Fläschchen zur Seite und wischte vorsichtig die Spuren der Milch vom Kinn. Das Mädchen verzog im Schlaf das Gesicht und sah dabei noch süßer aus, als es ohnehin schon war. Linus war wie verzaubert und konnte den Blick gar nicht abwenden.
Da hörte er das Foto-Geräusch eines Handys.
»Sorry«, entschuldigte sich die Sozialarbeiterin. »Ich hätte zuerst fragen sollen. Aber ich dachte, so einen Moment muss man festhalten. Soll ich Ihnen das Foto schicken?«
Linus nickte, und Sekunden später vibrierte das Smartphone in seiner Hosentasche.
»Also … schreibe ich ›Lucy‹ in ihren Akt oder wollen Sie noch darüber nachdenken?«, erkundigte sie sich dann.
Er überlegte, ob ihm andere Namen einfielen, doch es poppte nichts auf, was ihm passender erschien.
»Lucy«, bestätigte er deshalb.
Wieder schwiegen sie eine Zeit lang, bis sie das Wort ergriff. »Eigentlich wäre das Prozedere bei einer anonymen Geburt jetzt, schnellstens eine Pflegefamilie zu finden.«
Linus musste sich erst von Lucy losreißen, ehe er die Frau fragend ansehen konnte.
»Verwandten und Angehörigen geben wir den Vorzug, zumindest bei Kindern, die temporär weg von ihrer Familie müssen. Können Sie sich vorstellen, Lucy zu sich zu nehmen?«
Linus’ rosarotes Schloss, in das er in den letzten Minuten in Gedanken zusammen mit Lucy eingezogen war, löste sich augenblicklich in Luft auf. Niedergeschlagen schüttelte er den Kopf. »Ich kann nicht«, flüsterte er kaum hörbar. »Mein Job –«
»Was machen Sie beruflich?«, wollte Paula wissen.
»Musiker. Drummer. In einer Band. Nach Weihnachten geht die Tour weiter.«
Er erwartete, dass sie sich sofort auf die Suche nach einer geeigneteren Familie begeben würde, aber stattdessen fragte sie: »Und familiäre Unterstützung haben Sie keine?«
Linus runzelte die Stirn. Zählte Maja? »Ich wohne mit meiner Schwester zusammen, aber sie hat selbst eine zweijährige Tochter.«
Die Miene seines Gegenübers hellte sich auf. »Das ist doch großartig. Wenn im Haushalt bereits ein Kind wohnt, bedeutet das, dass er auf Kinder eingestellt ist. Und dass Sie zumindest über ein gewisses Maß an Erfahrung mit Kindern verfügen.«
Er war dazu imstande, Fanny mit Essen zu versorgen, ihr zum Einschlafen ein Fläschchen zu machen und ihre Windeln zu wechseln, deshalb erwiderte er: »Ja, das schon.«
»Sind Sie finanziell abgesichert?«
Linus nickte und schöpfte ein wenig Hoffnung. Die Wahrheit war zwar, dass er keine Ahnung hatte, worauf er sich einließ, wenn er Lucy zu sich nahm, aber je länger er sie im Arm hielt, desto weniger konnte er sich vorstellen, sie fremden Menschen anzuvertrauen.
»Ihre Schwester müsste bereit sein, mit Ihnen zusammen die volle Verantwortung zu tragen.«
»Darüber muss ich mit ihr reden.«
»Tun Sie das!«, riet sie. »Wenn Sie ihre Unterstützung haben, werde ich mich dafür einsetzen, dass Lucy nicht zu einer Pflegefamilie muss.« Sie hielt inne und setzte nach: »Außer natürlich, Sie bevorzugen diese Variante. Sie würde dann nach sechs Monaten zur Adoption freigegeben werden.«
Linus wollte sich das nicht einmal vorstellen und zog Lucy automatisch näher an sich heran.
»Sprechen Sie mit Ihrer Schwester!«, betonte die Sozialarbeiterin. »Ich habe das Gefühl, das wäre das Beste für Lucy.«
* * *
»Wenn wir das nicht machen, kommt Lucy zu einer fremden Pflegefamilie?«, fasste Maja zusammen, nachdem Linus ihr am Abend alles über den Besuch im Krankenhaus und das Gespräch mit Paula Steiner erzählt hatte.
»Genau«, bestätigte er. »Und nach sechs Monaten wird sie zur Adoption freigegeben. Es sei denn, Flora überlegt es sich doch noch einmal anders und meldet sich.«
»Hast du schon versucht, sie zu erreichen?«, wollte sie wissen.
Linus nickte. »Ja, aber sie hat anscheinend eine neue Telefonnummer. Morgen versuche ich es bei Daisy.«
»Könnten theoretisch auch die englischen Verwandten das Sorgerecht fordern?«, fragte seine Schwester.
Daran hatte er bisher keinen Gedanken verschwendet. »Keine Ahnung, ehrlich gesagt.«
»Würdest du es ihnen überlassen?«
Auch das wusste er nicht. »Daisy? Ich weiß nicht. Wir haben uns immer gut verstanden, und sie hat schon zwei Kinder, weiß also, was sie tut. Flora würde ich das Sorgerecht selbstverständlich überlassen, wenn sie sich plötzlich doch dazu entschließen würde, ein Kind haben zu wollen.«
»Aber in dem Fall würdest du lieber wieder mit ihr zusammenkommen und eine richtige Familie mit ihr haben«, unterstellte Maja und sah ihn forschend an.
Linus seufzte tief. Seine Gefühlswelt war in den vergangenen Stunden in Bezug auf Flora ziemlich gemischt, weil er einfach nicht verstand, warum sie das alles gemacht hatte. Aber er konnte nicht leugnen, wie sehr er sie noch immer vermisste.
»Konzentrieren wir uns mal auf Lucy«, bat er.
»Okay.« Maja dachte einige Sekunden nach. »Wir müssen mit Mama reden. Plötzlich ein Neugeborenes zu haben, wird eine Umstellung, aber nichts, was nicht zu bewältigen ist, solange du daheim bist. Ich meine, vergiss Schlaf, der nicht unterbrochen wird, und flexible Freizeitgestaltung – ansonsten kriegst du das hin.«
»Ich?«
Maja legte ihre Hand auf seine. »Ich unterstütze dich selbstverständlich. Aber sie ist deine Tochter. Für Fanny trage ich schließlich auch die Hauptverantwortung, wenn sie bei uns ist.«
Er nickte zögernd, woraufhin sie fortfuhr: »Ich brauche einen Plan für die Zeiten, wenn du auf Tour bist. Falls das in eine Woche fällt, in der Fanny bei mir ist, ist es weniger ein Problem. Aber wenn Roland sie hat und ich dabei bin, eine große Kampagne vorzubereiten, kann ich das nicht mit einem Baby daneben tun. Mein Arbeitsleben ist auf einen zweiwöchigen Rhythmus ausgelegt, den muss ich einhalten, sonst verliere ich Aufträge.«
Dass die Selbstständigkeit seiner Schwester unter Linus’ neuer Lebenssituation litt, wollte er auf keinen Fall. Sie betrieb ihre Social-Media-Agentur mit sehr viel Disziplin, damit sie die Ansprüche ihrer Tochter und ihrer Kunden unter einen Hut brachte.
»Und auf keinen Fall«, fügte sie hinzu, »rüttle ich an dem Arrangement mit Roland. Fanny hat sich an den Wechsel gewöhnt. Es wird für sie Umstellung genug sein, dass sie bei uns nicht mehr die Nummer eins ist. Sie soll nicht auch noch das Gefühl haben, wir schieben sie zu ihrem Papa ab, weil wir das neue Kind lieber haben.«
»Alles, was du willst«, versicherte Linus. »Also müssen wir Mama einweihen?«
»Du musst es ihr doch ohnehin bald sagen«, meinte Maja. »Oder glaubst du, du kannst deine Tochter zu dir nehmen, ohne dass irgendwer was davon merkt? Sag es ihr, sag es deinen Bandkollegen! Bevor eine endgültige Entscheidung gefallen ist. Glaub mir, wir brauchen jede Unterstützung, die wir bekommen.«
Linus nahm erleichtert wahr, dass sie inzwischen von ›wir‹ sprach.
»Vielleicht kann Jakobs Stieftochter außerhalb der Schulzeiten gelegentlich babysitten«, überlegte Maja laut. Die Freundin des Bassisten hatte eine mittlerweile sechzehnjährige Tochter in die Beziehung mitgebracht.
»Wenn Lea sie nicht braucht, Ben ist dann schließlich auch nicht daheim«, schränkte Linus ein. Eigentlich war Hanna die Babysitterin der Kinder des Pianisten von Falling for Grace.
»Ja, aber ich bin sicher, wenn du deine Freunde um Hilfe bittest, kriegst du die auch. Ich muss vielleicht kreativ werden und meine Besprechungen immer in Annas Café legen, damit Lea oder Hanna oder sonst jemand Lucy im selben Haus betreuen können. Irgendeine Lösung findet sich schon.«
Allein diese Idee bewies Linus, dass seine Schwester eine sehr viel genauere Vorstellung als er davon hatte, was ihnen bevorstand. Allerdings teilte er ihre Überzeugung, dass seine Freunde ihn unterstützen würden – sobald er sich dazu durchgerungen hatte, ihnen zu erzählen, dass er plötzlich Vater war.
Er würde zuerst mit Ben und Lea reden. Ihre eigene Tochter war erst acht Monate alt, daher bestand die realistische Chance, dass sie Babykleidung abzugeben hatten. Maja hatte die Sachen von Fanny leider längst weiterverkauft, weil sie nicht erwartet hatte, ein zweites Kind zu bekommen.
Obwohl das ein wichtiger Punkt war, setzte Linus es nur als Nummer drei auf seine Liste. Seine Schwester hatte recht, er musste mit seinen Eltern – insbesondere seiner Mutter – reden. Danach wollte er versuchen, Daisy zu erreichen, um etwas über den Verbleib von Flora zu erfahren. Es ging ihm nicht darum, sie zu finden und dazu zu bringen, dass sie sich selbst um ihr Baby kümmerte. Aber er musste wissen, ob sie okay war. Wenige Stunden nach der Geburt ohne Zustimmung der Ärzte aus dem Krankenhaus zu verschwinden, beinhaltete zweifellos ein gewisses gesundheitliches Risiko.
»Ich spreche gleich morgen früh mit Mama«, entschied er. »Erst mal schlafe ich eine Nacht über das alles.«
»Gute Idee«, meinte Maja.
»Dann müssen wir sofort eine Entscheidung treffen, sonst sucht das Jugendamt eine Pflegefamilie aus.«
»Aber das wäre nicht endgültig, oder?«, hakte sie nach. »Ich meine, du bist der leibliche Vater, das muss doch etwas zählen.«
»Ehrlich gesagt glaube ich, dass wir für das Jugendamt nicht unbedingt ein alltäglicher Fall sind, deshalb improvisieren die auch ein bisschen. Jedenfalls würden für uns für die ersten sechs Monate dieselben Regeln wie für eine Pflegefamilie gelten. Also sie schauen sich zuerst an, ob wir überhaupt ein geeignetes Umfeld bieten können. Und wenn Lucy zu uns kommt, kontrollieren sie regelmäßig, ob alles in Ordnung ist. Der Unterschied ist nur, dass ich sie nach sechs Monaten nicht adoptieren müsste.«
»Verlangen sie einen Vaterschaftstest?«
Linus zuckte mit den Schultern. »Davon hat zumindest bis jetzt niemand geredet.«
»Gut, wäre auch egal«, meinte sie. »Wenn Flora die Mutter ist, bist du sicher der Vater. Da wird sich ja nicht irgendeine Frau als deine Ex-Freundin ausgegeben haben, um dir ein Kind unterzuschieben.«
Linus sah seine Schwester entsetzt an. Auf so eine Idee wäre er nie gekommen.
»Was?«, fragte sie grinsend. »Ihr seid in England Stars. Wer weiß, worauf die Fans so kommen, um eure Aufmerksamkeit zu erregen.«
»Ich bin bloß der Drummer, und im Gegensatz zu meinen Bandkollegen habe ich mich nie mit Fans eingelassen. Wenn so was nach Bens unrühmlicher Phase passiert wäre oder vielleicht auch bei Jakob … aber ich habe mich nie von Fans anbaggern lassen. Immerhin war Flora dauernd mit auf Tour.«
»Und überhaupt hattest du sowieso nur Augen für sie«, neckte Maja, doch dann änderte sich ihr Ausdruck. »Ich hoffe, es geht ihr gut.«
»Das hoffe ich auch.«
»Wenn Lucy zu uns darf, sollten wir ihre Entwicklung genau dokumentieren. Nur für den Fall, dass Flora die Entscheidung irgendwann bereut. Damit sie dann wenigstens Bilder oder Videos hat.«
Linus nickte. Einen ähnlichen Gedanken hatte er selbst gehabt. Auch wenn Flora bereits bei ihrer Trennung unmissverständlich klargestellt hatte, dass sie keine Mutter sein wollte, hatte er keinesfalls vor, ihr die Möglichkeit zu nehmen, Lucy zumindest aus der Ferne zu beobachten. Falls sie ein Bedürfnis danach hatte. Wenn nicht, musste er wohl irgendwann doch akzeptieren, dass ihre Beziehung endgültig zu Ende war.