Das kleine Restaurant in Lillaholm - Lina Hansson - E-Book
SONDERANGEBOT

Das kleine Restaurant in Lillaholm E-Book

Lina Hansson

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das muss auch Marten feststellen, als sein Restaurant in Stockholm von jetzt auf gleich schließen muss. Der erfolgreiche Koch beschließt, eine Auszeit in seinem Heimatdorf im Norden Schwedens zu nehmen. Dort trifft er auf Finja - seine ehemals beste Freundin und heimliche Jugendliebe. Doch sie scheint irgendetwas zu verheimlichen und geht ihm aus dem Weg.

Um Finja dennoch nahe zu sein, macht Marten kurzerhand einen Deal mit dem Besitzer des lokalen Restaurants: Eine Woche lang verwöhnt er als Chefkoch die Gäste mit Haute Cuisine. Eine Woche, in der Finja als Lieferantin des Restaurants eng mit ihm zusammenarbeiten muss. Schon bald lodern alte Gefühle wieder auf und Marten und Finja müssen sich klar darüber werden, was sie wirklich wollen ...

Gourmet-Küche mitten in Schweden, wildromantische Natur und eine alte Liebe - der neue Schweden-Liebesroman von Lina Hansson.

Alle Geschichten dieser Reihe zaubern dir den Sommer ins Herz und bringen dir den Urlaub nach Hause. Die Romane sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.


eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.


Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 336

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

CoverWeitere Titel der AutorinÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumZitatKaterstimmungHausgemachte KöttbullarSalatköpfeSpülenGerüchtekücheKartoffelernteGemüsekreuzungenRezepteFischsuppeAnglerglückPfifferlingeMenüvorschlagBlaubeertörtchenFünf-Gänge-MenüBittersüßBier & Gin TonicAm HerdJung, wild & nachhaltigRühreiUnerwartete GenüsseHaute CuisineSterneEPILOG

Weitere Titel der Autorin

Winterküsse in Schweden

Mittsommerliebe

Über dieses Buch

Das muss auch Marten feststellen, als sein Restaurant in Stockholm von jetzt auf gleich schließen muss. Der erfolgreiche Koch beschließt, eine Auszeit in seinem Heimatdorf im Norden Schwedens zu nehmen. Dort trifft er auf Finja – seine ehemals beste Freundin und heimliche Jugendliebe. Doch sie scheint irgendetwas zu verheimlichen und geht ihm aus dem Weg. Um Finja dennoch nahe zu sein, macht Marten kurzerhand einen Deal mit dem Besitzer des lokalen Restaurants: Eine Woche lang verwöhnt er als Chefkoch die Gäste mit Haute Cuisine. Eine Woche, in der Finja als Lieferantin des Restaurants eng mit ihm zusammenarbeiten muss. Schon bald lodern alte Gefühle wieder auf und Marten und Finja müssen sich klar darüber werden, was sie wirklich wollen …

Über die Autorin

In Schweden hat Lina Hansson ihre zweite Heimat gefunden. Sie liebt das Land, die Lebensweise und sogar die Temperaturen. Zusammen mit ihrem Mann und den drei Kindern genießt sie insbesondere die endlos langen Sommertage auf dem Land. Sie verbringt gerne Zeit in der Natur und schreibt am liebsten in vollkommener Stille mit Blick auf eine Blumenwiese oder einen See. Lina Hanssons Romane handeln von der Liebe und machen Lust darauf, den nächsten Urlaub in Stockholm oder einem roten Schwedenhaus zu verbringen.

LINA HANSSON

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anne Pias

Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Meyhöfer

Covergestaltung: Guter Punkt GmbH Co. KG unter Verwendung von Motiven von © TTphoto/Shutterstock; double_p/iStock;: Coldimages/iStock; tiler84/iStock

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-1614-7

be-heartbeat.de

lesejury.de

»Für mich ist Kochen eine stark von Handwerk geprägte Tätigkeit. Darüber hinaus bietet es viel Raum für kreativen Ausdruck, der mir sehr wichtig ist.«

Magnus Nilsson, ehemaliger Küchenchef des Restaurants Fäviken, das mit seiner ungewöhnlichen Küche zehn Jahre lang Gourmets aus aller Welt in den Norden Schwedens lockte

Finjas Tagebuch, 27. Juni

Der Artikel stand heute in der Zeitung:

Verlischt der Stern des Bernadotte?

Für das zu Jahresbeginn mit einem Stern ausgezeichnete Team des Stockholmer Gourmet-Restaurants Bernadotte rund um Küchenchef Marten Jansson endete der gestrige Arbeitstag frühzeitig mit einer Razzia der Finanzpolizei. Gegenstand der Ermittlungen gegen Inhaber Olaf Lindquist und seinen Geschäftsführer sollen laut ersten Informationen der Verdacht der Schwarzarbeit sowie Steuerhinterziehung sein. Eine offizielle Stellungnahme gibt es bisher weder vonseiten der Behörden noch von den Beschuldigten. Dass es nicht gut für das Bernadotte aussieht, legt allerdings der Zettel nahe, der seit gestern Abend an der Tür des Restaurants hängt: »Vorübergehend geschlossen«.

Zehn Jahre harte Arbeit, das ganze Leben ausgerichtet auf den einen Traum. Und dann, als er scheinbar am Ziel ist, verpufft alles in einem Augenblick, weil er auf die falschen Partner gesetzt hat?

Ich möchte jetzt nicht ins Martens Haut stecken …

Katerstimmung

Mit einem verächtlichen Schnauben klappte Marten die Dagens Nyheter wieder zu. Die auflagenstärkste Morgenzeitung des Landes wusste also schon darüber Bescheid, dass seine beruflichen Pläne am Vorabend wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen waren. Nur wenige Monate nachdem er das erste Etappenziel erreicht hatte, drohte Marten wieder ganz an den Anfang katapultiert zu werden. Endlich hatte er den ersten Michelin-Stern erkocht, und der White Guide, der wichtigste schwedische Gastroführer, rechnete das Bernadotte mit fünfundsiebzig Punkten, von denen sechsunddreißig auf Martens Küche entfielen, der Kategorie »Meisterklasse« zu. Der Höhenflug hatte nicht lange angedauert.

In die Finanzen des Bernadotte hatte Marten wenig Einblick, die lagen in der Hand des Restaurantmanagers. Bis gestern Abend hatte er Jakob Sandberg für einen fähigen Mann gehalten. Im täglichen Geschäft hatte nichts darauf hingedeutet, dass im Hintergrund nicht alles mit rechten Dingen zuging. Nun sah es ganz danach aus, als wäre der Name Programm gewesen: Das Restaurant war auf einem Berg aus Sand errichtet worden.

Unruhig ließ Marten den Rest des Kaffees in der Tasse kreisen. Er war kalt – so lange saß Marten schon an seinem Frühstücksplatz und brütete über den unangenehmen Neuigkeiten. Während er sich streckte, um die Kanne der Filterkaffeemaschine zu erreichen und Kaffee nachzuschenken, fiel sein Blick auf die Küchenuhr. Zehn nach neun. Vermutlich würde es jetzt nicht mehr allzu lange dauern, bis ihn seine Eltern besorgt anriefen.

Er hatte keine Ahnung, was er ihnen erzählen sollte. Dass sein Arbeitgeber dem Anschein nach einige Mitarbeiter mit gefälschten Verträgen ausgestattet und ihre Gehälter bar ausgezahlt hatte?

Allein der Gedanke, dass er monatelang – wenn nicht sogar seit Beginn seiner Tätigkeit im Bernadotte – mit illegalen Angestellten gearbeitet hatte, verursachte bei Marten Unbehagen. Machte er sich mitschuldig, weil er die Spüler ausgewählt hatte?

Natürlich waren nur die untersten Ränge der Küchenhierarchie betroffen, diejenigen, die die einfachen Tätigkeiten verrichteten und schlecht schwedisch sprachen. Das machte Marten erst recht wütend.

Als er seinem Ärger Luft machte, indem er mit der flachen Hand auf die Tischplatte schlug, schwappte der Kaffee über und ergoss sich auf die Morgenzeitung. Zuerst wollte er sie retten, doch dann ließ er zu, dass die Seiten die Flüssigkeit aufgesaugten. Diese Ausgabe würde er wohl kaum aufheben und eingerahmt neben die Ausschnitte aus den Fachzeitschriften an die Wand hängen.

Er wischte die Tasse notdürftig mit einer Serviette ab, nahm sie in beide Hände und trank einen großen Schluck, um den Kloß in seinem Hals wegzuspülen. Dabei richtete er seinen Blick auf das Fenster, durch das die Sommersonne in seine winzige Küche fiel. Obwohl Marten mittlerweile in den Kocholymp aufgenommen worden war, lebte er in einer bescheidenen Dachgeschosswohnung im Stockholmer Stadtteil Vasastaden.

Die Enge störte ihn nicht, denn er arbeitete für gewöhnlich so viel, dass er nur zum Schlafen und Frühstücken hierherkam. Aber gerade die Morgen genoss er sehr, wenn er die Zeit dazu hatte. Dann ließ er seinen Blick gern über die umliegenden Dächer schweifen und nahm dabei die Ruhe, die hier oben herrschte, in sich auf.

Marten war einige hundert Kilometer weiter im Norden aufgewachsen, in einer Gegend, die deutlich dünner besiedelt war als der Süden des Landes und die Hälfte des Jahres kaum die Sonne zu sehen bekam. Hier in der Stadt erschienen ihm die Winternächte nie so dunkel wie in seiner Heimat. Allerdings musste er fairerweise zugeben, dass er auch die endlos langen Sommerabende nicht auf die gleiche Art genießen konnte wie zu Hause.

Nicht, dass er in den letzten Jahren im Sommer da gewesen wäre. Seit er nach Abschluss seiner Ausbildung nach Frankreich gegangen war, um dort alles zu lernen, was ein Koch können musste, der es an die Spitze schaffen wollte, verbrachte er höchstens die Weihnachtsfeiertage bei seiner Familie.

Ansonsten hielt er den Kontakt via Telefon und E-Mail, in der letzten Zeit hatten seine Eltern das Videotelefonieren für sich entdeckt. Für seine Mama hatte es den Vorteil, dass sie sich überzeugen konnte, dass ihr kleiner Junge – der vor Kurzem seinen neunundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte – die Wahrheit sagte, wenn er behauptete, es ginge ihm gut. Er war sich allerdings nicht sicher, ob er sie heute davon würde überzeugen können.

Wie aufs Stichwort leuchtete das Display seines Smartphones auf und zeigte einen eingehenden Videoanruf von Alva Jansson an. Er atmete einmal tief durch, dann nahm er ihn an.

»Hej, Mama!«, sagte er und versuchte, das Telefon so gegen die Wand zu lehnen, dass er im Bild war und es nicht wegrutschte.

Seine Mutter fiel gleich mit der Tür ins Haus: »Wir haben es gerade gelesen!«

Marten konnte ein gequältes Schmunzeln darüber, wie berechenbar seine Familie war, nicht unterdrücken.

»Das ist ja schrecklich! Aber bestimmt ist das alles nur ein großes Missverständnis.«

Auch das amüsierte ihn an diesem schwarzen Morgen ein wenig. Alva Jansson glaubte stets nur an das Beste in den Menschen. Natürlich konnte aus ihrer Sicht nur ein Irrtum vorliegen, der sich rasch aufklären würde.

»Sieht leider nicht danach aus«, erwiderte Marten, und als er ihre Reaktion sah, tat es ihm leid, dass er ihre Hoffnungen sofort zerstört hatte. »Anscheinend lief im Restaurant von Anfang an nicht alles legal. Und ironischerweise war es wohl gerade die mediale Aufmerksamkeit, die wir in letzter Zeit durch unsere Erfolge bekommen haben, die die Finanzbeamten auf die Spur gebracht hat. Davor hat niemand darauf geachtet, wie viel Personal wirklich im Bernadotte beschäftigt ist. Aber nun ist irgendeinem Beamten aufgegangen, dass so ein Restaurant wohl kaum ohne Reinigungspersonal auskommen kann.«

»Oh«, machte Alva zuerst nur, doch dann versuchte sie es noch einmal: »Vielleicht stellt sich am Ende heraus, dass es halb so wild ist. Sie zahlen alles nach, und ihr könnt wieder öffnen.«

Wenn da nicht auch noch gefälschte Verträge im Spiel gewesen wären, hätte Marten sich wohl ähnliche Hoffnungen gemacht. Aber hier handelte es sich eindeutig um Betrug, nicht nur um Schwarzarbeit, die vielleicht mit einer Geldstrafe abgegolten werden könnte. Als er sich beim zuständigen Ermittler nach der voraussichtlichen Dauer der behördlichen Schließung erkundigt hatte, hatte der ihm geraten, sich lieber schon mal nach einem neuen Job umzusehen.

Das verschwieg Marten seiner Mutter, die ihn nun über das Telefon besorgt musterte. »Wie geht es dir, mein Junge?«

Er zuckte mit den Schultern. So genau wusste er das selbst nicht. Er stand wohl noch etwas unter Schock.

»Vielleicht solltest du die Gelegenheit nutzen und dir einen Urlaub gönnen.«

Im Umgang mit Frauen stellte Marten sich meistens eher ungeschickt an. Er neigte dazu, bei Verabredungen dem Essen mehr Aufmerksamkeit zu schenken als der Frau, die ihm gegenübersaß. Und den berühmten Wink mit dem Zaunpfahl übersah er gern. Doch in den Gesprächen mit seiner Mutter konnte er gut zwischen den Zeilen lesen. Sie meinte nicht einfach nur Urlaub, sondern einen Besuch zu Hause, bei ihr und seinem Vater, vielleicht mit einem Abstecher zu einem seiner älteren Brüder, die ebenfalls noch im Norden lebten.

Er fand den Gedanken in dem Moment sogar verlockend. Als er vor zehn Jahren mit Sack und Pack nach Frankreich gezogen war, war er wild entschlossen gewesen, die Welt der Kulinarik zu erobern. Damit hatte er allerdings nicht gemeint, nie wieder einen Fuß auf heimatliche Erde zu setzen, er hatte für sich nur keine berufliche Perspektive gesehen. Dass es nur eine Hand brauchte, um abzuzählen, wie oft er seither in Jämtland gewesen war, das war einfach so passiert.

Anfangs hatte er nicht genug Geld verdient, um sich die Flüge leisten zu können. Als sich seine finanzielle Situation verbessert hatte, war es ihm ein Bedürfnis gewesen, seinen Eltern zu zeigen, wo er lebte. Anstatt also selbst in einen Flieger zu steigen, hatte er sie nach Paris eingeladen.

Zweimal hatte er in den vergangenen Jahren die Weihnachtsfeiertage zu Hause verbracht, dabei sein Elternhaus aber kaum verlassen, weil die Sonne um die Zeit ohnehin keine fünf Stunden schien. Und zur Hochzeit seines mittleren Bruders war er selbstverständlich auch angereist, doch die hatte hundert Kilometer entfernt im Heimatort der Braut stattgefunden.

So war Jahr um Jahr verstrichen, ohne dass Marten bewusst wahrgenommen hätte, wie die Zeit dahingerast war. Jetzt wunderte er sich zum ersten Mal darüber, wie radikal man seine Vergangenheit zurücklassen konnte, selbst wenn man nicht vor ihr weglaufen wollte.

Als Kind hatte er es geliebt, so wild und frei aufzuwachsen. Doch später hatte er sich von den begrenzten Möglichkeiten eingeengt gefühlt und den Drang verspürt, auszubrechen, um in der großen, weiten Welt das zu erreichen, wozu er sich schon als Fünfzehnjähriger bestimmt gefühlt hatte.

Er stieß einen tiefen Seufzer aus, weil ihm wieder eingefallen war, dass er im Begriff war, alle mühsam erarbeiteten Bewertungen in den Restaurantführern zu verlieren.

Seine Mutter deutete seine Reaktion falsch. Sie setzte eine enttäuschte Miene auf und bemerkte: »Nach Hause zieht es dich gar nicht mehr, oder?«

»Doch, doch«, versicherte Marten schnell. »Entschuldige. Ich habe nur darüber nachgedacht, wie weit es mich zurückwirft, falls das Bernadotte schließen muss.« Mit einem entschuldigenden Lächeln fügte er hinzu: »Die Sache nimmt mich doch ganz schön mit, schätze ich.«

»Gerade dann wäre eine Auszeit vielleicht eine gute Idee«, meinte seine Mutter, die sich offenbar nicht darauf verlassen wollte, dass er ihre Andeutungen verstand. »Für ein paar Tage wenigstens. Komm nach Hause, lass dich verwöhnen! Zur Abwechslung kann Mormor dich bekochen.«

Der Gedanke an seine Großmutter – die Mutter seiner Mutter – und ihre Küche entlockte Marten noch ein Seufzen. Was Mormor servierte, das war so ganz anders als die Dinge, die er kreierte. Es war bodenständig, einfach, schmackhaft.

Plötzlich überkam ihn eine wahnsinnige Sehnsucht nach dem Duft von hausgemachten Köttbullar. Seit Ikea die Fleischbällchen in der ganzen Welt bekannt gemacht hatte, waren sie gewissermaßen ein Synonym für die schwedische Küche. Man bekam sie praktisch überall, und doch lösten sie niemals das Gefühl aus wie die Erinnerung an den Geruch, wenn Mormor in der Küche stand und in einer kleinen Eisenpfanne nacheinander Dutzende Bällchen briet, um damit die ganze Familie satt zu bekommen.

»Weißt du, was«, hörte Marten sich plötzlich sagen. »Vielleicht mache ich das. Vielleicht komme ich wirklich für ein paar Tage nach Hause. Ich muss aber zuerst zur Polizei, das Protokoll meiner gestrigen Aussage unterschreiben. Je nachdem, was ich dort erfahre, entscheide ich, was ich mache. In Ordnung?«

Das Gesicht seiner Mutter hellte sich augenblicklich um mehrere Nuancen auf.

»Ist das dein Ernst?«, fragte sie.

»Ich kann nichts versprechen«, schränkte er ein. »Wenn mir der Beamte sagt, dass wir morgen wieder öffnen dürfen, dann muss ich natürlich arbeiten.«

»Ja, ja, das verstehe ich.«

»Aber wenn es wirklich so schlecht um das Bernadotte steht, wie ich befürchte, dann gönne ich mir zuerst eine Pause, bevor ich anfange, Bewerbungen zu schreiben. Ich glaube, die habe ich mir wirklich verdient.«

»Das hast du ganz bestimmt, mein Schatz. Du arbeitest so hart, da wundert sich ja sogar dein Vater manchmal, wie du das schaffst.«

Die Bemerkung entlockte Marten ein Schmunzeln. Er hatte von klein auf gelernt, dass harte Arbeit etwas Gutes war. Seinem Vater gehörte die örtliche Zimmerei, und wann immer es das Wetter und die Lichtverhältnisse zuließen, war er auf einer Baustelle anzutreffen. Wenn die Bedingungen die Arbeit im Freien unmöglich machten, beschäftigte er sich mit Planungen oder Projekten, die sich weitgehend in der Werkstatt umsetzen ließen.

Aber obwohl er zu hundert Prozent die Einstellung vertrat, dass die Wochentage zum Arbeiten da waren, verstand er sich bestens darauf, den Feierabend und die Wochenenden zu genießen. Beides kannte Marten aus seinem Beruf so gut wie gar nicht.

»Er war es doch, der mir immer gesagt hat, ich soll das tun, was ich liebe, weil mir dann die Arbeit leichter von der Hand geht«, wandte Marten ein.

Seine Mutter lachte. »Das stimmt. Aber selbst der größten Liebe kann eine Auszeit richtig guttun, damit man sie wieder neu entdecken kann.«

Vermutlich hatte sie auch damit recht.

Finjas Tagebuch, 29. Juni

Alva hat angerufen und mich mit ihren Neuigkeiten so geschockt, dass ich beinahe einen Autounfall verursacht hätte.

Marten will für eine Auszeit nach Hause kommen. Warum nur? Warum nicht irgendein französisches Weingut? Die Malediven? Oder Neuseeland?

Neuseeland wäre gut. Oder jeder andere Ort auf der Welt, wo sichergestellt ist, dass wir uns nicht über den Weg laufen. Jedenfalls nicht dieses Fünfhundert-Seelen-Dorf, in dem ein Wiedersehen praktisch unvermeidbar ist.

Hausgemachte Köttbullar

Marten hatte sich für den Nachtzug entschieden, der Stockholm gegen 23 Uhr verließ und Åre planmäßig kurz nach neun Uhr erreichen sollte. Der Nachteil daran war, dass dieser Zug nicht in seinem 15 Kilometer entfernten Heimatort Lillaholm anhielt und er darauf angewiesen war, dass ihn jemand vom Bahnhof abholte, wenn er nicht auf den nächsten Regionalzug warten wollte. Doch seine Eltern hatten ihm wortreich versichert, dass das überhaupt kein Problem sei und er die Anreise so gestalten solle, wie es für ihn am bequemsten sei. Die Hauptsache war, dass er kam.

Die Nacht im Liegewagen war weniger erholsam als erhofft. Marten fühlte sich wie gerädert, als er am Zielbahnhof aus dem Waggon kletterte. Über der rechten Schulter trug er denselben großen Rucksack, mit dem er vor zehn Jahren in Richtung Frankreich aufgebrochen war. In das altgediente Gepäckstück passte alles, was er brauchte, um für eine Woche Aufenthalt und jegliche Wetterlage, die im Juli in Nordschweden eintreten konnte, gerüstet zu sein.

Marten unterdrückte das mulmige Gefühl, das sich einstellte, wenn er darüber nachdachte, wie lange er wirklich bleiben wollte. Die Auskunft, die er bei der Polizei erhalten hatte, und die neuesten Medienberichte stimmten ihn nicht gerade zuversichtlich. Gut möglich, dass er nie wieder ins Bernadotte zurückkehren würde – es sei denn, es fand sich auf die Schnelle ein neuer Besitzer, der mit den kriminellen Machenschaften aufräumte und das Restaurant auf legalem Weg weiterführte. Doch selbst in dem Fall war der Ruf wohl schwer angeschlagen.

Deshalb hatte Marten sich in den letzten zwei Tagen ernsthaft den Kopf über einen Neubeginn zerbrochen. Selbstverständlich nicht hier im Norden, das war völlig unmöglich. Gourmet-Küche in diesen Breitengraden – das war ein Widerspruch in sich.

Aber er hatte entschieden, sich eine richtige Auszeit zu gönnen, die vielleicht auch länger als nur eine Woche dauern durfte. Daran, dass er nur wenig Kleidung mitgebracht hatte, würde es bestimmt nicht scheitern, denn seine Mutter wartete ja nur darauf, ihn nach Strich und Faden verwöhnen zu dürfen. Gebügelte Unterhosen gehörten da mit zum Programm.

Marten wollte nicht noch einmal denselben Fehler begehen wie bei seiner letzten Jobsuche. Er war nach den Jahren im Ausland so versessen darauf gewesen, die erworbenen Fähigkeiten in seiner Heimat unter Beweis zu stellen, dass er den erstbesten Job in einem vielversprechenden Restaurant angenommen hatte.

Das Bernadotte verfügte über ein wunderbares Ambiente, und die Küche hatte schon unter dem Vorbesitzer als gehoben gegolten. Marten war angetreten, um sie in den Adelsstand zu erheben. Er hatte sich gefühlt, als hätte Napoleon ihn zum neuen schwedischen König bestimmt, und hatte es daher fast als schicksalhaft empfunden, dass das Restaurant ausgerechnet nach General Jean-Baptiste Bernadotte benannt war. Leider sah es nun ganz danach aus, als würde sein eigener Stern deutlich schneller verlöschen als der des schwedischen Königshauses, das auch zweihundert Jahre nach Bernadottes Krönung als Karl XIV. Johann immer noch Bestand hatte.

»Marten!«

Der Ruf riss ihn aus seinen Grübeleien. Mit schnellen Schritten kam sein Vater auf ihn zu und schloss ihn in die Arme, ehe Marten überhaupt reagieren konnte.

Ole Jansson war gleich groß wie sein Sohn, allerdings doppelt so breit. Die harte Arbeit als Zimmermann hatte seinen Körper gestählt, und selbst im Alter war er kräftiger, als Marten es je gewesen war.

Der legte großen Wert auf Sport, lief zum Stressabbau mehrmals in der Woche zehn Kilometer, aber als muskulös konnte man Marten nun wirklich nicht bezeichnen. Im Vergleich zu seinen Kollegen war er sogar eher schmächtig. Die Kombination aus regelmäßigem Sport und einem guten Stoffwechsel hatte bisher verhindert, dass er berufsbedingt einen Bauch angesetzt hatte. Ein kleines Bäuchlein ließ sich jedoch nicht ganz verleugnen.

»Du siehst gut aus, mein Junge«, stellte sein Vater fest und wuschelte dabei durch Martens Haare, wie er es früher oft gemacht hatte. Damit zerstörte er, was Marten gerade erst vor dem winzigen Spiegel in der Zugtoilette zu so etwas wie einer Frisur gestylt hatte. Seine kurzen braunen Haare hatten ihm nach der unruhigen Nacht im wahrsten Sinne des Wortes zu Berge gestanden. Jetzt sah es bestimmt nicht besser aus.

»Hej, Papa«, sagte er endlich und lächelte breit. Es fühlte sich gut an, von seinem Vater mit so viel Wärme empfangen zu werden – noch dazu an einem Wochentag mitten in der Arbeitszeit. Dass er eine Baustelle links liegen gelassen hatte, um seinen Sohn vom Bahnhof abzuholen, zeugte von seiner Freude über dieses Wiedersehen.

»Wie war die Fahrt?«, erkundigte sich Ole und bot gleichzeitig mit einer Geste an, Martens Gepäck zu tragen.

Er winkte ab, konnte jedoch ein Gähnen nicht unterdrücken, als er antwortete: »Nicht besonders erholsam.«

Ole klopfte lachend mit seiner großen, kräftigen Pranke auf Martens freie Schulter. »Aber jetzt kannst du dich erholen. Deine Mutter und Mormor können es gar nicht erwarten, dich zu verwöhnen.«

Mit einem schiefen Grinsen überspielte Marten den kurzen Schmerz in seiner Schulter und setzte sich in Bewegung. Nebeneinander trotteten sie den Bahnsteig hinunter, überquerten die Gleise und passierten das gelbe Gebäude, an dessen Seite Marten die deutsche Aufschrift »Bahnhof Café« las.

Am Parkplatz angekommen war er darauf angewiesen, dass sein Vater ihm zeigte, welches sein Auto war. Ole kaufte aus Prinzip eine schwedische Marke, doch davon parkten auf dem Bahnhofsgelände gleich drei SUVs. Ole steuerte zielstrebig auf den silbernen zu und nahm seinem Sohn den Rucksack ab, um ihn im Kofferraum zu verstauen.

Wenig später verließen sie den Bahnhof von Åre und gelangten über einen Umweg, den sie wegen einer Baustelle nehmen mussten, zur E14. Als Marten die Umgebung zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wieder im Schein der Sommersonne betrachtete, kam er aus dem Staunen nicht heraus. Im Großen und Ganzen sah Åre immer noch so aus, wie er es aus seiner Kindheit und Jugend in Erinnerung hatte. Aber im Kleinen hatte es sich verändert: das Haus hier, das Geschäft da. Unwesentliche Details, doch die Summe machte Marten noch deutlicher bewusst, wie lange er fort gewesen war.

Wieder wunderte er sich darüber, wie schnell die Zeit verstrichen war. Manchmal kam es ihm vor, als bräuchte es Feiertage wie Weihnachten oder Geburtstage hauptsächlich dazu, dass man Fixpunkte im Leben hatte, die einem deutlich machten, dass schon wieder ein Jahr vergangen war. Doch jetzt waren es ganze zehn Jahre, die sich wie ein Wimpernschlag anfühlten.

Ole war kein Mann der vielen Worte und Marten von seiner Umgebung völlig eingenommen, daher legten sie die Fahrt nach Lillaholm schweigend zurück, ohne dass es sich unangenehm angefühlt hätte. Marten war sogar recht froh, dass seine Mutter nicht mitgekommen war. Sie hätte bestimmt in einer Tour auf ihn eingeredet und ihm kaum die Gelegenheit gegeben, in seinem Tempo anzukommen.

Als sie von der Hauptverkehrsstraße abbogen, erhaschte Marten einen kurzen Blick auf eine kleine Gruppe roter Häuser am Ortsrand.

»Lebt Finja noch hier?«, fragte er unvermittelt, während er den Oberkörper drehte, um möglichst viel von den Weiden und Feldern zu erkennen, die zum Hof gehörten.

Sein Vater brummte zustimmend und nickte.

Marten sank zurück in seinen Sitz und schüttelte ungläubig den Kopf.

Finja.

Wie lange hatte er nicht mehr an sie gedacht? Seine beste Freundin aus Kindertagen, das Mädchen zum Pferdestehlen und seine heimliche erste Liebe. Gemeinsam hatten sie so manchen Plan ausgeheckt, angefangen von Kinderstreichen bis zur Weltherrschaft.

Okay, Weltherrschaft war übertrieben. Aber Finja war es gewesen, die mit Marten seine Strategie zur Eroberung des Küchenolymps entwickelt hatte. Sie hatte ihn bei seinen Recherchen für den Umzug nach Paris unterstützt, ihn angefeuert, seine Zweifel zerstreut und ihm immer und immer wieder versichert, dass er es schaffen würde, dass sein Talent und harte Arbeit ihm den Weg ebnen würden. Und dann war er losgezogen, um die Welt zu erobern, hatte Finja zurückgelassen – und vergessen.

Nein, das stimmte so nicht. Er hatte sie nie vergessen. Sie hatten einander nur recht bald aus den Augen verloren, und er verstand bis heute nicht, wie das passiert war. Marten hatte ihr anfangs aus Frankreich täglich E-Mails geschrieben, mit der Zeit aber immer seltener – vor allem deshalb, weil Finja nach einer Weile immer seltener geantwortet hatte. Sie waren wohl beide zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich das Leben aufzubauen, das sie sich gewünscht hatten.

Allerdings hatten Finjas Pläne nicht so ausgesehen, dass sie noch nach zehn Jahren auf dem Hof ihrer Eltern leben und arbeiten würde.

Marten runzelte die Stirn. »Ist sie verheiratet?«, fragte er.

Wieder fiel die Antwort darauf knapp aus, Ole schüttelte nur den Kopf und gab einen undefinierbaren Laut von sich.

Ihr Eintreffen bei der Zimmerei verdrängte Finja wieder aus Martens Gedanken. Alva stürmte aufgeregt aus dem Wohnhaus, und auch Mormor erschien in der Tür, blieb dort aber stehen. Ihre Tochter dagegen konnte es nicht erwarten, den verlorenen Sohn in die Arme zu schließen. Ole hatte den Motor noch nicht einmal abgestellt, als sie schon die Beifahrertür öffnete. Marten fiel beinahe aus dem Auto, so energisch zog sie ihn an sich. Ihre feste Umarmung schnürte ihm beinahe die Luft ab.

»Mama, du hast nicht lange etwas von mir, wenn du mich erdrückst«, bemerkte Marten lachend und gab ihr einen Kuss.

Sofort ließ sie ihn los. »Ach, natürlich, tut mir leid.« In Alvas Augen standen Tränen, und sie gestikulierte planlos mit ihren Händen.

Martens Herz wurde ganz warm von so viel Wiedersehensfreude. Er zog seine Mutter an sich, nahm sie nun seinerseits in den Arm und drückte sie liebevoll, aber sanft.

»Ich freue mich wahnsinnig, hier zu sein«, flüsterte er ihr ins Ohr und spürte dabei, wie ihre Freudentränen seine Wangen berührten.

»Ach, du kratzt ja«, sagte Alva, wie um ihre eigene Aufmerksamkeit auf etwas Banales zu lenken und nicht mehr weinen zu müssen. Sie streichelte kurz über seine unrasierten Wangen, dann schob sie ihn von sich weg. »Mormor wartet schon.«

Marten hielt es für das Beste, seiner Mutter ein paar Augenblicke zu geben, um sich zu fangen und ihre aufgewühlten Gefühle zu sortieren, und wandte sich seiner Großmutter zu. Mit wenigen Schritten überwand er die Distanz zum Haus, nahm beide Stufen zu der kleinen Veranda mit ihren kunstvollen Verzierungen auf einmal und blieb vor Mormor stehen.

Sie musste den Kopf weit in den Nacken legen, um zu ihm aufzublicken, trotzdem sagte sie: »Wenn das nicht unser kleiner Marten ist.«

»Hej, Mormor!« Er zog auch die zierliche alte Frau in eine vorsichtige Umarmung, die sie überraschend fest erwiderte. Die Reaktion erleichterte Marten, weil sie davon zeugte, dass seine Großmutter mit ihren neunundsiebzig Jahren noch durchaus fit und agil war.

Erst jetzt bemerkte er, dass er sich insgeheim immer gefürchtet hatte, der nächste Anlass, nach Hause zu kommen, könnte ihre Beerdigung sein. Mormor war von seinen Großeltern als Einzige übrig, doch sie machte den Eindruck, als hätte sie nicht vor, diese Erde in naher Zukunft zu verlassen. Sie schien geschrumpft zu sein, aber sie strotzte vor Lebensfreude.

»Komm herein, mein Junge!«, forderte sie ihn auf, als wäre das hier ihr Haus. Ole folgte den beiden Frauen und seinem Sohn wortlos in die Küche und stellte unterwegs den Rucksack im Flur ab.

Obwohl es erst zehn Uhr war, roch es nach Köttbullar. Marten saugte den Duft in sich auf, nicht nur mit seiner Nase, sondern mit jeder Faser. Er spürte förmlich, wie auch seine Kleidung den vertrauten Geruch aufnahm und nicht mehr loslassen würde.

»Wir dachten uns, du wirst im Zug bestimmt kein ordentliches Frühstück bekommen«, erklärte Alva, schob Marten sofort zum Küchentisch und zwang ihn auf seinen früheren Stammplatz auf der Bank.

Er wagte gar nicht zu erwähnen, dass er eigentlich nicht sonderlich hungrig war. Widerstand war zwecklos, daran ließen die beiden Frauen keine Zweifel aufkommen.

Binnen weniger Minuten servierten sie ihm ein deftiges zweites Frühstück bestehend aus Köttbullar, die Mormor ganz frisch zubereitet hatte, hausgemachtem Tunnbröd und Käse, gefolgt von Erdbeerkuchen, den Alva am Vortag gebacken und von dem sie extra ein Stück für ihn zurückbehalten hatte.

Martens Hunger kam mit dem Essen, und er ließ sich alles schmecken. Die beiden Frauen waren erst zufrieden, als er sich schließlich zurücksinken ließ und verkündete: »Jetzt platze ich gleich.«

Ole hatte unterdessen stumm in der Zeitung geblättert – was für ihn um diese Tageszeit höchst ungewöhnlich war. Aber er genoss wohl auch dieses ungewöhnliche Ereignis und gönnte sich eine verfrühte Fika, die obligatorische Kaffeepause der Schweden, bevor er zurück an die Arbeit ging.

Während Alva und Mormor damit beschäftigt waren, sauber zu machen, schob Ole Marten wortlos die heutige Ausgabe der Dagens Nyheter hin. Seufzend las er die neueste Meldung rund um die Schließung des Bernadotte.

»Sieht nicht gut aus, oder?«, brummte sein Vater.

Marten schüttelte nur den Kopf. Die Presse beförderte täglich neue Skandale zu den Geschäften von Olaf Lindquist ans Tageslicht. Dem Anschein nach waren die gefälschten Verträge im Bernadotte nur die Spitze des Eisbergs, und der angeblich so erfolgreiche Unternehmer hatte sein Vermögen durch Steuerhinterziehung und andere Verstöße gegen das Gesetz angehäuft. Marten wunderte sich, wieso das alles niemand früher gemerkt hatte. Allerdings musste er zugeben, dass ihm selbst nie der Gedanke gekommen war, im Restaurant könnte irgendwas nicht mit rechten Dingen zugehen.

Anfangs hatte die Polizei ihm nicht geglaubt, dass er von nichts eine Ahnung hatte. Bis Jakob Sandberg – und das rechnete Marten ihm hoch an – ausgesagt hatte, dass er allein für die Finanzen und das Personal des Bernadotte verantwortlich gewesen war. Diese Angabe hatte Marten aus der Schusslinie genommen. Diese und eine weitere, weniger schmeichelhafte: Dass sie Marten als Küchenchef angestellt hatten, weil er nicht nur sehr talentiert, sondern ebenso blauäugig war.

Er war eine Spielfigur gewesen, die den Auftrag gehabt hatte, das Restaurant zu höheren Weihen zu führen. Das Einzige, was ihm ein wenig Genugtuung bereitete, war die Tatsache, dass die Erfüllung ebendieser Aufgabe ihre kriminellen Machenschaften ans Licht gebracht hatte.

»Haben sie euch schon gekündigt?«, erkundigte sich Ole.

Marten schüttelte den Kopf. Das ging wohl nicht so schnell, obwohl die Presse mittlerweile auf den Zusammenbruch des gesamten Imperiums von Olaf Lindquist spekulierte. Der Belegschaft hatte man mitgeteilt, dass sie formell vorläufig ihre Urlaubstage nahmen, was für Marten völlig in Ordnung war, da er erstens noch genügend übrig hatte und zweitens wirklich Urlaub machte.

Was ihm weniger gefiel, das war der Gedanke an seine Mitarbeiter, die Familien und größere finanzielle Verpflichtungen hatten. Insbesondere um seine alleinerziehende Sous-Chefin Livia machte er sich in der Hinsicht Sorgen. Ganz zu schweigen davon, dass sie möglicherweise demnächst alle auf Jobsuche gehen mussten.

Für Marten selbst war das unangenehm, aber er war sich sicher, relativ schnell etwas Neues zu finden. Vielleicht musste er seine Ansprüche zu Beginn herunterschrauben und sich langsam wieder hocharbeiten. Die Vorstellung ärgerte ihn zwar, bereitete ihm jedoch keine Zukunftssorgen. Er war völlig ohne Kontakte, nur ausgestattet mit seinem Talent, seiner Grundausbildung und dem eisernen Willen, in der Pariser Gastronomie Fuß zu fassen, nach Frankreich gegangen.

Dank seiner Hartnäckigkeit hatte er sein Ziel erreicht und einen Job gefunden, von dem aus er sich Schritt für Schritt weiterentwickelt hatte. Heute war seine Küche mit einem Stern dekoriert, die Gourmet-Welt hatte seinen Namen wahrgenommen. Einen Koch der »Meisterklasse« würden die Restaurants in Stockholm nicht einfach abweisen. Marten rechnete sich daher ganz gute Chancen aus, dass der eine oder andere Restaurantbesitzer vielleicht schon darauf spekulierte, ihn anwerben zu können.

Weniger zuversichtlich war er jedoch, was den Rest des Personals betraf. Eine Alleinerziehende, die sich um den Posten eines Sous-Chefs bewarb? Selbst in Schweden, das sich auf die Fahnen schrieb, Vorreiter in Sachen Gleichberechtigung zu sein, würde Livias Jobsuche ungleich schwieriger werden als seine eigene.

»Wir haben ein gutes Sozialsystem«, bemerkte Ole, als hätte er Martens besorgte Gedanken erraten.

»Ja, das schon«, stimmte er zu. »Aber für einige wird es trotzdem schwer werden.«

»Wer gut ist und hart arbeitet, findet immer einen Job.«

Diese Lebensweisheit hatte Marten unzählige Male aus dem Mund seines Vaters gehört. Noch nie hatte er sich so sehr wie in diesem Moment gewünscht, dass sie auch stimmte. Hart arbeiten konnten alle aus seinem Team. Käme es nur darauf an, müssten sie mit Jobangeboten zugeschüttet werden.

Die Stimmung am Tisch schlug innerhalb von Sekunden um, als Mormor und Alva sich zu ihnen gesellten. Wenige der voll Ungeduld gestellten Fragen reichten aus, dass Ole seine Pause für beendet erklärte. Er leerte die Tasse in einem Zug und stand auf, um sie in die Spüle zu stellen. Auf dem Weg hinaus berührte er kurz die Schulter seiner Frau und ließ seine Hand dort ruhen, bis Alva gewohnheitsmäßig darüber gestreichelt hatte, erst dann verließ er die Küche.

Marten beobachtete die zärtliche Geste zwischen seinen Eltern mit einem Lächeln. Die beiden waren so unterschiedlich und bildeten doch eine untrennbare Einheit, die ihm immer ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt hatte, das sich auch jetzt sofort einstellte. Martens Zuhause war zeit seines Lebens ein warmer, herzlicher Ort gewesen. Solange er und seine Brüder hier gelebt hatten, war es allerdings deutlich lauter gewesen.

Während er geduldig die vielen Fragen beantwortete, mit denen seine Mutter und Großmutter ihn förmlich bombardierten, verspürte er den Drang, die beiden fest in seine Arme zu schließen und diesmal ganz lange nicht mehr loszulassen. Es war, als wollte ihn der Raum mit seiner Geborgenheit überwältigen, die gesamte Dosis, die ihm in den vergangenen zehn Jahren zugestanden hatte, in einem Schwall über ihn ergießen. Jedes vertraute Detail vermittelte ihm: »Du bist zu Hause.«

Zum Mittagessen servierte Mormor eine reichhaltige Suppe, was Marten sehr entgegenkam, denn davon konnte er sich zwar die Portionen nehmen, die seine Großmutter von ihm erwartete, dabei aber darauf achten, dass er hauptsächlich Flüssigkeit in seinen Teller füllte. Er war vom zweiten Frühstück noch mehr als satt und aß nur aus reiner Höflichkeit. Aus Höflichkeit und weil ihn auch diese Suppe in ein Gefühl von Geborgenheit hüllte. Während Marten sie löffelte, verglich er sie mit seiner eigenen Küche und verspürte erstmals in seinem Leben das Bedürfnis, sie genauso zubereiten zu können wie Mormor.

Als er begonnen hatte, sich für das Kochen zu interessieren, hatte sie immer wieder versucht, ihr Wissen an ihn weiterzugeben, doch er hatte das abgelehnt, weil er sich zur Haute Cuisine berufen gefühlt hatte. Die beschränkten Möglichkeiten, mit denen die Menschen hier im Norden in Sachen Kulinarik zurechtkommen mussten, hatten sich wie ein Korsett angefühlt, dessen Sprengung er als unbedingte Voraussetzung für seinen beruflichen Weg angesehen hatte.

Aber nun fragte er sich, ob er dabei nicht eine Chance verspielt hatte, einen Aspekt des Kochens zu erlernen, der mehr konnte, als nur Geschmacksexplosionen zu kreieren. Diese Küche vermochte noch etwas anderes: Sie erzeugte Emotionen.

In Martens Hinterkopf entstand ein leiser Gedanke, der es noch nicht wagte, sich richtig zu Wort zu melden. Er spürte, dass da etwas im Werden war, eine Idee, eine Inspiration, die bei ihm angeklopft hatte. Doch er war noch nicht bereit, sie sich anzuhören.

Trotz aller Liebe, Wärme und Geborgenheit, mit der er empfangen worden war, war Marten froh, sich nach dem Mittagessen ein wenig zurückziehen zu können. Alva hatte sein altes Zimmer für ihn vorbereitet, in dem nicht mehr viel daran erinnerte, dass hier einst ein ziemlich unordentlicher Teenager gehaust hatte.

Beim Betreten des Raumes war Marten zuerst überrascht, wie hell er war. Dann fiel ihm ein, dass er ihn zum ersten Mal an einem Sommertag neu gestaltet sah. Wenn er über die Weihnachtsfeiertage hier gewesen war, hatte kaum ein Sonnenstrahl die hell gemusterten Tapeten berührt, denen nach seinem Auszug die dunkle Vertäfelung gewichen war. Das Bett war noch sein altes, aber es war ebenso wie alle übrigen Möbel weiß gestrichen worden. Seine Mutter hatte mit einfachen Mitteln seine Teenager-Höhle in ein einladendes Zimmer, das einem Prospekt von einem hübschen Landhotel entsprungen sein könnte, verwandelt.

Nachdem Marten sich genug darüber gewundert hatte, wie viel Unterschied helle Tapeten und ein Topf weißer Farbe machen konnten, musste er einfach nachsehen, ob wirklich alle Spuren, die er in diesem Raum hinterlassen hatte, beseitigt worden waren.

Er öffnete die Tür zum Wandschrank, die ebenfalls mit der Tapete bezogen war und sich daher kaum von der Wand abhob, und hockte sich auf den Boden. Suchend strich er mit seinen Fingern über das Holz, bis er eine ganz bestimmte Stelle fand. Das eingeritzte Herz, das er dort ertastete, brachte ihn zum Lächeln. Er erinnerte sich noch genau an den Tag, als er es dort in einem Anfall von Liebeskummer verewigt hatte. Zusammen mit einem »F« für Finja. Ein heimliches Zeugnis seiner wahren Gefühle für sie, die mit der Zeit jedoch ebenso erloschen waren wie der Kontakt zwischen ihnen.

Marten seufzte. Finja. Er musste herausfinden, was aus ihr geworden war, solange er sich hier aufhielt. Bei seinen Besuchen der vergangenen Jahre war nur Zeit für seine Familie gewesen. Eltern, Großmutter, Brüder, Schwägerinnen, Nichten und Neffen – jeder von ihnen war bestrebt gewesen, einen Anteil von Martens Aufmerksamkeit zu bekommen. Nach den Feiertagen war er ziemlich erleichtert in den Flieger nach Stockholm gestiegen und hatte Tage gebraucht, um all die Eindrücke und Gespräche zu verarbeiten.

Doch diesmal versprach sein Heimatbesuch etwas ruhiger zu verlaufen und ihm Zeit für sich zu geben. Auch wenn Mutter und Großmutter ihn im Moment am liebsten keine Sekunde aus den Augen lassen wollten, würde dieser Zustand nicht dauerhaft anhalten. Schließlich hatten die beiden ihre alltäglichen Aufgaben zu erledigen, unabhängig davon, ob Marten vorläufig in seinem Jugendzimmer wohnte oder nicht.

Er packte endlich seinen Rucksack aus und verstaute die Kleidung im Wandschrank. Dann nahm er sein Smartphone zur Hand und sank damit auf sein Bett. Er war müde, deshalb tat es gut, sich ausstrecken zu können. Ein Mittagsschläfchen wäre schön. Doch anstatt die Augen zu schließen, richtete Marten sie auf das Display und tippte die Nachrichten an, die im Laufe des Vormittags eingegangen waren.

Die meisten waren in die Chatgruppe geschrieben worden, die er für sein Küchenteam eingerichtet hatte. Ursprünglich hatte sie dazu gedient, die Mitarbeiter aus den verschiedenen Schichten auf dem gleichen Informationsstand zu halten. Jetzt wurde darüber diskutiert, wie die Chancen standen, dass sie jemals wieder gemeinsam in einer Küche arbeiten würden.

Der Pessimismus überwog, und Marten fiel wenig Positives ein, das er schreiben konnte, um seine Mannschaft aufzubauen. Wie man es drehte und wendete, es sah nicht gut aus für das Bernadotte, und er konnte es seinen Köchen nicht verübeln, dass einzelne bereits laut darüber nachdachten, sich in anderen Restaurants zu bewerben. Noch sank das Schiff nicht, aber das Wasser drang von allen Seiten ein.

Ein zaghaftes Klopfen unterbrach ihn, und er gab ein aufforderndes Brummen von sich, ohne den Blick vom Display zu lösen. Im Augenwinkel sah er, dass sich die Tür langsam öffnete und auf halber Höhe ein Kinderkopf erschien.

»Onkel Marten?«

»Svenja!«, rief er überrascht aus und schickte die Nachricht ab, ohne sie noch einmal durchzulesen. Hoffentlich hatte die Autokorrektur keinen allzu großen Schaden angerichtet. »Wo kommst du denn her?« Er setzte sich auf und breitete seine Arme einladend aus.

»Papa wollte dich sehen«, verriet sie und kam langsam näher.

»Ach, nur dein Papa.« Er machte ein enttäuschtes Gesicht. Svenja war von seinen insgesamt vier Nichten und Neffen diejenige, zu der er die engste Beziehung hatte.

Ihre Mutter kam aus Stockholm, und ihre Großeltern waren bereits Stammgäste im Bernadotte gewesen, bevor Lindquist das Restaurant gekauft und Marten als Koch engagiert hatte. Da Svenja mit ihren acht Jahren groß genug war, um auch mal die eine oder andere Ferienwoche ohne Eltern bei ihrer Stockholmer Familie zu verbringen, hatte Marten sie in den letzten beiden Jahren tatsächlich am häufigsten von allen getroffen.

Er verstand sich gut mit ihrer Tante Sonja, der Schwester seiner Schwägerin, die sich mit ihm das Patenamt für Svenja teilte. Daher sorgte Sonja dafür, dass er es mitbekam, wenn das Mädchen in der Stadt war, und sich einen Tag Zeit für sie nahm.

»Hej, meine Süße«, begrüßte er sie und drückte sie kurz an sich. »Das ist ja eine schöne Überraschung! Ich dachte, ich muss zu euch fahren, um dich zu sehen.«

»Papa war sich nicht sicher, ob du das machst«, verriet sie, und ihr verschwörerischer Gesichtsausdruck brachte ihn zum Lachen. »Er hat gesagt, es ist sicherer, wenn wir zu dir fahren. Sonst haust du vielleicht einfach wieder ab.«

Marten musste seinem ältesten Bruder insgeheim zugestehen, dass die Sorge nicht unberechtigt war. Er hatte Liams Haus noch nie in natura gesehen, geschweige denn betreten. Genau genommen kannte er es nur von einigen Fotos und einer ausführlichen Führung via Videochat, die Liam mit ihm gemacht hatte, als die Familie vor fünf Jahren eingezogen war.

»Wer ist alles da?«, erkundigte er sich, während er Svenja seine Hand reichte und sich übertrieben schwerfällig vom Bett hochziehen ließ.

»Nur Papa und ich. Er hat auch gesagt, wenn du die anderen sehen willst, musst du nach Östersund kommen.«

»Na meinetwegen«, murmelte er gespielt halbherzig, obwohl er den Besuch bei Liam und seiner Familie fest eingeplant hatte. Er folgte Svenja gehorsam ins untere Stockwerk, wo sein Bruder ihn schon in einem der beiden Wohnzimmer erwartete.