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Lina Hansson

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Beschreibung

Wie jedes Jahr feiert Jule mit ihren Freunden die Walpurgisnacht. Aber sie fällt aus allen Wolken, als ausgerechnet Lasse auf der Party auftaucht - der Typ, den sie nach einem One-Night-Stand eigentlich nie wiedersehen wollte. In einer Kurzschlussreaktion stellt sie ihm Björn, den sie gerade erst kennengelernt hat, als ihren festen Freund vor. Obwohl sich ihre Freunde darüber wundern, spielen sie mit. Jule will Lasse in Zukunft aus dem Weg gehen, doch natürlich kommt es anders: Er ist plötzlich überall. Und je mehr Zeit sie in seiner Nähe verbringt, desto stärker fühlt sie sich zu ihm hingezogen ...

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

30. April

1. Mai

5. Mai

8. Mai

16. Mai

22. Mai

23. Mai

24. Mai

26. Mai

27. Mai

29. Mai

30. Mai

31. Mai

2. Juni

6. Juni

7. Juni

12. Juni

13. Juni

14. Juni

16. Juni

20. Juni

21. Juni

Weitere Titel der Autorin

Winterküsse in Schweden

Über dieses Buch

Wie jedes Jahr feiert Jule mit ihren Freunden die Walpurgisnacht. Aber sie fällt aus allen Wolken, als ausgerechnet Lasse auf der Party auftaucht – der Typ, den sie nach einem One-Night-Stand eigentlich nie wiedersehen wollte. In einer Kurzschlussreaktion stellt sie ihm Björn, den sie gerade erst kennengelernt hat, als ihren festen Freund vor. Obwohl sich ihre Freunde darüber wundern, spielen sie mit. Jule will Lasse in Zukunft aus dem Weg gehen, doch natürlich kommt es anders: Er ist plötzlich überall. Und je mehr Zeit sie in seiner Nähe verbringt, desto stärker fühlt sie sich zu ihm hingezogen ...

Über die Autorin

In Schweden hat Lina Hansson ihre zweite Heimat gefunden. Sie liebt das Land, die Lebensweise und sogar die Temperaturen. Zusammen mit ihrem Mann und den drei Kindern genießt sie insbesondere die endlos langen Sommertage auf dem Land. Sie verbringt gerne Zeit in der Natur und schreibt am liebsten in vollkommener Stille mit Blick auf eine Blumenwiese oder einen See. Lina Hanssons Romane handeln von der Liebe und machen Lust darauf, den nächsten Urlaub in Stockholm oder einem roten Schwedenhaus zu verbringen.

Lina Hansson

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dorothee Cabras

Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Meyhöfer

Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von © seyfettinozel/iStock; © theevening/iStock; © sigurcamp/iStock; © Brent_1/iStock; © yozachika/iStock; © Nadezhda Kharitonova/iStock, © MilenaKatzer/iStock

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar‍(www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-0343-7

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

30. April

»Fröhliche Walpurgisnacht, Oberhexe!«

Jule stellte die Schubkarre ab, mit der sie die letzte Fuhre Reisig zu der Feuerstelle gefahren hatte, und wandte sich zu der vertrauten Stimme um. Vor ihr stand ihre beste Freundin Malin und strahlte sie an. Doch etwas an diesem Bild stimmte nicht.

»Wieso bist du allein?«, fragte Jule überrascht. »Hat Sven seinen Flieger verpasst?«

»Nein, nein«, versicherte Malin schnell. »Planmäßig gelandet, alles gut. Er lotst gerade übers Handy seinen Kumpel Lasse her und wartet draußen auf ihn. Ich dachte mir, ich suche dich inzwischen schon mal, damit ich unsere Sachen in dein Gästezimmer bringen kann.«

Da zu erwarten war, dass bei dieser Feier des Valborgsmässoafton, der Walpurgisnacht, eine Menge Alkohol fließen würde, hatte Jule Malin und deren Freund Sven angeboten, bei ihr zu übernachten, damit sie später nicht quer durch Stockholm nach Hause fahren mussten. Jule wohnte hier auf dem Gelände der Gärtnerei ihrer Familie, wo das Fest stattfinden würde, in einem Anbau des Haupthauses.

»Gute Idee. Moment.« Jule brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln und zu entscheiden, was als Nächstes zu tun war. »Ich muss die Schubkarre noch wegbringen.«

»Okay.« Malin zuckte gelassen mit den Schultern und begleitete sie zum Geräteschuppen.

»Dieser Kumpel von Sven, den ihr da mitbringt, das ist Weihnachtsbaum-Lasse, oder?«, erkundigte Jule sich auf dem Weg.

Ihre Freundin lachte über die Bezeichnung und bestätigte: »Ja, genau, durch seine Aktion mit dem Weihnachtsbaum haben Sven und ich uns kennengelernt.«

Ohne dass sie ihn kannte, brachte das diesem Lasse einen Pluspunkt bei Jule ein. Sven war das Beste, was ihrer Freundin seit Langem passiert war, und sie gönnte den beiden ihr Glück von Herzen.

Sie stellte die Schubkarre an ihren Platz zurück und verschloss die Tür zum Geräteschuppen sorgfältig – nur für den Fall, dass später irgendwelche betrunkenen Studenten auf dumme Ideen kamen. Dann schlenderten sie weiter zu Jules Häuschen.

»Wenn wir schon da sind, solltest du dich vielleicht noch ein bisschen frisch machen, bevor die Feier anfängt«, schlug Malin vor, als Jule den Schlüssel ins Schloss steckte.

Sie wandte sich zu ihrer Freundin um. »Sehe ich so schlimm aus?«

Malin grinste. »Na, sagen wir mal, du hast wirklich was von einer Hexe.« Sie streckte die Hand aus und zog etwas aus Jules Haaren. »Von einer Hexe, die mit ihrem Besen gekämpft hat und dabei aus Versehen mit einem Verkleinerungszauber belegt wurde.« Sie schnippte den kleinen Ast zur Seite.

Jule blickte an sich hinunter und musste Malin recht geben. Sie trug eine Arbeitslatzhose, die eigentlich ihrem Bruder Ruben gehörte. Die Beine waren aufgekrempelt, und um die Hüften schlackerte sie. Die warme Vliesweste mit dem Logo der Gärtnerei auf der Brust hatte zwar die richtige Größe, war aber nicht gerade die Partykleidung ihrer Wahl. Und was ihre Freundin über den Zustand der Frisur behauptete, glaubte sie einfach einmal. Immerhin hatte sie die letzten Stunden mit hektischen Vorbereitungen für die Feier der Walpurgisnacht verbracht, zu der sich in Kürze viele Freunde und Nachbarn der Familie Nilsson auf der Wiese hinter dem Wohnhaus versammeln würden.

Wie jedes Jahr wollten sie gemeinsam den Winter vertreiben, indem sie fröhliche Lieder sangen und ein großes Feuer entzündeten, das alle Altlasten verbrennen sollte. Über Malins Schulter hinweg sah Jule, dass soeben der Studentenchor eingetroffen war, der später alle mit dem Studentsång unterhalten würde. Sie musste sich wirklich beeilen, wenn sie sich noch umziehen wollte, bevor es losging.

»Stimmt«, murmelte sie deshalb nur und sperrte schnell die Tür auf. Im winzigen Flur schlüpften beide aus ihren Schuhen, dann ging Malin schnurstracks weiter ins Gästezimmer, um dort ihren Rucksack abzustellen. Sie hatte schon so oft hier übernachtet, dass sie nicht auf Anweisungen warten musste.

Jule streifte die Arbeitshose ab und hängte sie zusammen mit ihrer Weste auf einen Haken. Auf dem Weg ins Badezimmer entledigte sie sich hüpfend ihrer Socken. Das verschwitzte T-Shirt stopfte sie im Vorbeigehen in den Wäschesack. An jedem anderen Tag hätte sie sich schnell unter die Dusche gestellt und vor allem auch die Haare gewaschen, aber heute war das überflüssig. Eine Katzenwäsche reichte völlig aus, denn wenn nachher alle um das Feuer herumstanden, würde der Rauch jeglichen Körpergeruch überdecken. Und morgen früh würden die Haare eine Wäsche viel dringender nötig haben als jetzt.

Sie frisierte sich, bis die blonden Wellen wieder gleichmäßig fielen, und entfernte dabei noch ein Stück Reisig. Als sie sich gerade fragte, wie viel Aufwand sie mit dem Make-up betreiben sollte, erschien Malins Kopf in der Tür.

»Ah, schon viel besser«, kommentierte sie. »Jetzt bist du wieder vorzeigbar.«

»Ich bin immer vorzeigbar«, behauptete Jule und streckte ihrer Freundin im Spiegel die Zunge raus. Lidstrich und Wimperntusche mussten heute an Styling reichen. Wenn die Sonne unterging, konnte niemand sehen, ob sie Rouge aufgetragen hatte. Außerdem würde die Kälte der Nacht oder die Hitze des Feuers ohnehin für rote Wangen sorgen.

Sie überprüfte noch einmal das Ergebnis der raschen Auffrischung, dann verließ sie das Bad in Richtung Schlafzimmer. Malin folgte ihr und ließ sich auf das Bett plumpsen. Sie griff nach dem Buch, das auf dem Nachttisch lag, betrachtete das Cover und las den Titel. Im Spiegel konnte Jule erkennen, dass sie dabei die Augen verdrehte. Bei Romanen hatten sie einen völlig unterschiedlichen Geschmack. Obwohl Malin im richtigen Leben eindeutig romantischer veranlagt war, hielt sie von den Liebesromanen, in die Jule so gern abtauchte, nicht viel. Sie legte das Buch auch sofort zurück und fing stattdessen an, in der Zeitschrift zu blättern, die darunter gelegen hatte.

»Ich wollte dich übrigens noch etwas fragen«, begann sie, während Jule im Kleiderschrank nach einer Jeans und einem warmen Pullover suchte.

»Was denn?«

»Hättest du Lust, mit mir ins Fitnessstudio zu gehen? Ich dachte mir, ich fange langsam mal zu trainieren an. Vielleicht können wir dann im Sommer wieder zusammen klettern.«

An der Schranktür vorbei warf Jule ihrer Freundin einen prüfenden Blick zu. »Ist deine Schulter denn so weit?«

Malin hatte sich im vergangenen Jahr bei einem schweren Unfall eine Schulterverletzung zugezogen, die ihr noch lange zu schaffen gemacht hatte.

»Die Ärzte sagen, ja. Und ich habe letztens mit Lasse darüber geredet. Er meint, wenn ich zuerst vorsichtig die Muskeln wieder aufbaue und es dann mal nur mit Bouldern versuche und vor allem immer auf die Signale meines Körpers achte, sollte es gehen.«

»Ist dieser Lasse Arzt?«, wollte Jule wissen.

Malin schüttelte den Kopf. »Nein, Fitnesstrainer. Er arbeitet in dem Fitnessstudio, in dem Sven trainiert.«

»Kennen sie sich von dort?«

»Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Wie die zwei sich kennengelernt haben, habe ich nie gefragt. Ich weiß nur, dass sie schon seit Jahren die besten Freunde sind.«

Jule nahm die Antwort mit einem Nicken zur Kenntnis und wandte sich wieder ihrem Kleiderschrank zu. Endlich entschied sie sich für eine Jeans und zerrte sie aus dem Stapel. Dass der Rest dabei durcheinandergeriet, störte sie nicht. Ordnung war nicht gerade ihre Stärke.

»Also?«, hakte Malin nach. »Kommst du mit? Lasse hat mich zu einem Probetraining eingeladen. Aber ich habe keine Lust, da allein hinzugehen. Ich glaube, dort trainieren hauptsächlich Männer, und ich mag beim ersten Mal nicht die einzige Frau sein.«

Das konnte Jule gut verstehen. Auch wenn es ihr sonst nichts ausmachte, unter Männern zu sein – zum ersten Mal ganz allein ein Fitnessstudio zu betreten, in dem man dann vielleicht von allen Seiten angestarrt wurde, war keine Vorstellung, die ihr sonderlich behagte. Sie wusste jedoch, wenn sie mit Malin zusammen war, würden ihr die neugierigen Blicke nichts ausmachen. Ihrer Freundin ging es offenbar genauso.

»Okay«, sagte sie deshalb nur. Die Aussicht auf gemeinsame Klettertouren gefiel ihr nämlich außerordentlich. Im vergangenen Sommer war sie gezwungen gewesen, sich andere Leute als Begleitung zu suchen, und mit niemandem hatte es so viel Spaß gemacht wie mit ihrer besten Freundin. Außerdem kletterten sie zusammen, seit sie vor mehr als zehn Jahren als Vierzehnjährige den ersten Kurs besucht hatten, und verstanden sich blind, wenn sie in einer Wand hingen.

In dem Moment wurde Jule bewusst, wie sehr ihr diese Touren fehlten. Es war wirklich höchste Zeit, dass Malin wieder fit wurde, und sie würde alles tun, um sie dabei zu unterstützen.

»Okay, dann vereinbare ich nachher mit Lasse gleich einen Termin.« Malin strahlte und legte die Zeitschrift zur Seite, auf deren Cover das Kronprinzenpaar abgebildet war. Der Anblick dieses Fotos machte Jule misstrauisch. Immerhin war Daniel, der Ehemann von Prinzessin Victoria, ihr Fitnesstrainer gewesen.

»Du willst mich doch nicht mit diesem Lasse verkuppeln?«, fragte sie. »Hast du ihn deshalb für heute eingeladen?« Um zu unterstreichen, wie sie darauf gekommen war, deutete sie mit dem Zeigefinger auf die Zeitschrift.

Malin bemühte sich vergeblich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Ihre Miene verriet Jule ganz eindeutig, dass genau das ihre Absicht gewesen war. »Lasse ist ein wirklich netter Kerl«, versicherte sie.

»Aber das heißt noch lange nicht, dass ich es wie Prinzessin Victoria mache«, entgegnete Jule.

»Verkuppeln wollen wir dich auch gar nicht. Ich dachte mir nur, es ist irgendwie unfair dir gegenüber, wenn Sven und ich uns ganz aufeinander konzentrieren, weil wir uns eine Woche nicht gesehen haben. Vielleicht magst du Lasse ja, und ihr verbringt einen netten Abend miteinander, auch nachdem wir uns zurückgezogen haben.«

»Um in meinem Gästezimmer ausgiebig euer Wiedersehen zu feiern?«, neckte Jule.

Malin grinste und wurde ein bisschen rot.

»Na, solange ihr euch auf das Bett im Gästezimmer beschränkt ...« Jule warf ihr einen gespielt missbilligenden Blick zu.

Ihre Freundin hob zwei Finger zum Schwur. »Ich verspreche hoch und heilig, wir werden uns im Rest deiner Wohnung zusammenreißen.« Doch dann setzte sie einen träumerischen Gesichtsausdruck auf und überlegte laut: »Obwohl ... eine Dusche schadet nach dem Walpurgisfeuer bestimmt nicht.«

Jule schleuderte gespielt erbost einen Pullover nach ihr, den Malin kichernd auffing und sogleich zurückwarf.

»Los, zieh dich endlich an!«, forderte sie Jule auf. »Die Jungs suchen uns bestimmt schon, sie wissen ja nicht, wie es hier bei euch zu Valborg läuft, woher sie was zu trinken bekommen und überhaupt. Und wir verpassen am Ende noch das Entzünden des Feuers, wenn wir hier noch lange herumhängen.«

Den Moment wollte Jule sich nicht entgehen lassen. Deshalb schlüpfte sie schnell in die Jeans und zog sich den Pullover über. Dann fuhr sie sich durch die Haare und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. An einem gewöhnlichen Samstagabend würde sie so nicht fortgehen, doch für die Walpurgisnacht war ihr Outfit genau richtig.

Im Flur entschied sie sich für derbe Boots, wie auch Malin sie trug, und eine warme Jacke im Military-Style. Zur Sicherheit steckte sie eine Mütze ein, denn in Schweden konnten die Nächte um diese Jahreszeit noch sehr kalt werden, obwohl im Großteil von Europa schon der Frühling ins Land gezogen war.

Voller Vorfreude verließen beide das Haus und machten sich auf die Suche nach Sven und seinem Kumpel.

»Da sind sie!« Malin entdeckte sie zuerst am Rand der Wiese, in deren Mitte alles für das Feuer vorbereitet war. Ihre Sorge, die beiden könnten sich ohne sie nicht zurechtfinden, war unbegründet gewesen. Neben Sven und Lasse stand Jules Bruder Ruben, mit dem Sven sich in den letzten Wochen angefreundet hatte, während sie gemeinsam Malin bei der Renovierung ihrer Wohnung geholfen hatten.

Als sie an das Grüppchen herantraten, hörte Jule ihren Bruder gerade sagen: »Klar, warum nicht? So ein bisschen Training schadet mir bestimmt nicht.«

Versuchte dieser Lasse etwa, jeden, den er traf, zu einem Probetraining zu überreden? Jule überlegte kurz, ob sie das unsympathisch fand, doch dann wurde ihr bewusst, dass sie auch jedem, der auf der Suche nach Pflanzen war, die eigene Gärtnerei empfahl. Vermutlich war es also nur ein Hinweis darauf, dass Lasse seinen Job wirklich gern machte.

Sven entdeckte die Mädels zuerst. »Hej, Jule!«, grüßte er freundlich lächelnd und küsste sie auf beide Wangen. Dann deutete er auf den Mann zu seiner Rechten. »Darf ich vorstellen: mein Kumpel Lasse – Malins beste Freundin Jule.«

Sie streckte Lasse die Hand entgegen, doch als sie ihm direkt ins Gesicht sah, erstarrte sie mitten in der Bewegung.

Das hier war der ultimativ schlimmste aller möglichen Zufälle.

Jule musste ihr gesamtes schauspielerisches Talent einsetzen, um ihrem Gegenüber einigermaßen gelassen in die Augen schauen zu können. Ernsthafte blaue Augen, an die sie sich noch gut erinnerte. Sie hatten irgendwie nicht zum Rest von ihm gepasst. Lars – so hatte er sich ihr vorgestellt – war arrogant gewesen und überheblich, aber wenn Jule ihm in die Augen geblickt hatte, hatte sie etwas anderes gesehen, was sie als sehr sexy empfunden hatte.

Schnell vertrieb sie die Erinnerung und zwang sich dazu, endlich seine Hand zu ergreifen und zu sagen: »Hej, Lasse! Freut mich, dich kennenzulernen.«

Falls es ihn irritierte, dass sie so tat, als wären sie sich noch nie begegnet, ließ er sich das nicht anmerken. Hatte er sie überhaupt erkannt? Im Gegensatz zu damals im Sommer versteckten sich Jules Kurven unter der warmen Jacke. Außerdem waren ihre Haare heute blond und schulterlang – ganz anders als der dunkle Pagenkopf, den sie bei ihrem Kennenlernen getragen hatte.

»Hej, Jule!« Er erwiderte ihren Blick entspannt und offen, doch für einen kurzen Moment huschte ein ganz anderer Ausdruck über sein Gesicht.

Er hat dich erkannt.

Krampfhaft versuchte Jule, die aufsteigende Panik niederzuringen. Sie hatte Malin nichts von dem Date mit Lars erzählt, und ganz bestimmt sollte ihre beste Freundin auch heute nichts von der Aktion erfahren. Sie musste irgendwie verhindern, dass der Typ erwähnte, dass sie sich bereits kannten – und vor allem, woher.

Oder du ergreifst schnellstens die Flucht.

Die Idee ihrer inneren Stimme erschien Jule in dem Moment verlockender als alles andere. Sie brauchte Zeit, um einen klaren Kopf zu bekommen.

»Was möchtet ihr trinken?« Ihre Stimme klang gefühlt eine Oktave höher als sonst, als sie diese Frage in die Runde stellte. Während sie so gelassen wie möglich von einem zum anderen blickte, prüfte sie jede einzelne Miene. Hatte jemand Verdacht geschöpft?

Malin schien zum Glück viel zu beschäftigt damit zu sein, sich an ihren Sven zu schmiegen, als dass sie Jules Panik wahrgenommen hätte. Sven antwortete ganz ohne Argwohn auf Jules Frage. In Lasses Gesicht sah sie nur ganz kurz, aber sie entdeckte eine kleine Falte auf seiner Stirn, die ihr schon bei ihrem Date aufgefallen war. Damals hatte sie genau wie der Ausdruck seiner Augen nicht in das Bild gepasst, das er ansonsten vermittelt hatte. Er hatte sich total cool und lässig gegeben, doch diese Falte war Jule wie ein Zeichen von Anspannung vorgekommen.

»Für mich bitte auch ein Bier«, sagte Ruben und lenkte damit Jules Aufmerksamkeit auf sich. Normalerweise hätte sie darauf erwidert, dass er hier zu Hause war und sich sein Bier schön selbst holen konnte, anstatt sich von seiner kleinen Schwester bedienen zu lassen. Doch im Moment war ihr gar nicht nach den üblichen Plänkeleien mit ihrem Bruder zumute. Sie wollte nur weg, ein paar Minuten allein sein und sich in Ruhe überlegen, wie sie diese Feier überstehen konnte, ohne dass alle von ihrem Geheimnis erfuhren. Die zuvorkommende Gastgeberin mimend, ergriff sie die Flucht und verschwand in einem der Glashäuser.

Viele Besucher brachten zu dieser Walpurgisnacht-Feier ihre eigenen Getränke mit. Für die übrigen hatte ein wohltätiger Verein, dem Jules Eltern angehörten, eine Bar eingerichtet, an der man alkoholische und antialkoholische Getränke sowie Brennnesselsuppe, die bei dieser Feier nicht fehlen durfte, käuflich erwerben konnte. Der Erlös kam jedes Jahr einem sozialen Projekt zugute.

Obwohl Jule lieber allein gewesen wäre, steuerte sie direkt auf diese Bar zu und orderte drei Dosen Bier und zwei Cider. Den jungen Mann, der ihr die Getränke aushändigte, kannte sie nicht, sie waren sich aber im Laufe des Nachmittags schon mehrmals bei den Vorbereitungen über den Weg gelaufen. Da hatte er allerdings die Mütze noch nicht getragen, die ihn als Studenten auswies. Für diese Gruppe war der dreißigste April ein besonderer Tag zum Feiern, denn er markierte das Ende der Prüfungszeit. Deshalb wunderte es Jule ein wenig, dass ein Student freiwillig den Bardienst übernahm, anstatt mit seinen Kollegen darauf anzustoßen, dass der stressige Teil des Hochschuljahres vorüber war.

»Du schaust irgendwie aus, als bräuchtest du eher einen Schnaps als Bier oder Cider«, bemerkte er, als er die Dosen vor ihr abstellte und einen Geldschein von ihr entgegennahm.

»Damit liegst du gar nicht so falsch«, murmelte Jule und steckte das Wechselgeld ein.

»Soll ich dir einen Aquavit ausgeben?«

Sie sah ihn an und war wirklich versucht, das Angebot anzunehmen, zögerte aber.

»Los komm, trinken wir zusammen einen Schnaps!«, forderte er sie auf, und Jule hatte den Verdacht, dass er aus Berechnung Bardienst machte. Vermutlich nutzte er die Chance, um kostenlos an Alkohol zu kommen.

Noch ehe sie ihm eine Antwort gegeben hatte, holte er zwei Schnapsgläser hervor und füllte sie mit Kümmelschnaps. Dann hob er eines der Gläser an und sagte: »Skål!«

Jule machte es ihm nach und trank ihres in einem Zug aus.

»Bist du von den Vorbereitungen so fertig oder ist irgendwas passiert?«, erkundigte der Student sich. »Ich bin übrigens Björn. Du bist Jule, oder? Eine Tochter von Linnea und Olaf. Meine Eltern sind mit ihnen im Verein.«

Jule nickte nur. Der Schnaps brannte in ihrer Kehle, und sie hatte das Gefühl, den Alkohol sofort in ihrer Blutbahn zu spüren. Nach einigen Sekunden rang sie sich zu einer Antwort durch. »Ich bin gerade dahintergekommen, dass das ›Date‹«, sie malte die Gänsefüßchen in die Luft, »das meine Freundin für mich organisiert hat, ein Typ ist, den ich eigentlich in meinem ganzen Leben nie wiedersehen wollte.«

»Verstehe«, antwortete Björn. »Und was machst du jetzt?«

»Wenn ich das nur wüsste!«, stöhnte Jule. »Am liebsten im Erdboden versinken. Da das aber nicht geht ...« Sie brach ab, weil ihr wirklich gar keine Alternative einfiel. Das Problem war, dass sie gar nicht so recht wusste, was sie eigentlich wollte. Lasse nur davon abhalten, dass er ihre gemeinsame Geschichte erwähnte? Ihn sich vom Leib halten? Ihn tatsächlich nie mehr wiedersehen und schon gar nicht diesen Abend mit ihm verbringen?

Sie konnte ja wohl kaum so plötzlich Kopfschmerzen vorschützen und sich für den Rest der Nacht in ihr Schlafzimmer zurückziehen, während draußen alle feierten. Malin wusste genau, wie sehr Jule die Walpurgisnacht liebte und dass sie sich dieses Fest um nichts in der Welt entgehen lassen würde.

»Wenn er als dein Date hergekommen ist, dann nutzt es dir auch nichts, wenn er glaubt, du hättest schon einen Freund, oder?«, meinte Björn dazu.

Jule sah ihn an und ließ sich den Gedanken durch den Kopf gehen. Streng genommen war das ja kein richtiges Blind Date. Malin und Sven hatten Lasse einfach mitgebracht, um mit ihm die Walpurgisnacht zu feiern und bei der Gelegenheit ihre besten Freunde miteinander bekannt zu machen. »Eigentlich ist es gar kein Date«, begann sie zögernd. »Meine Freundin hatte mehr so die romantische Vorstellung, ihre beste Freundin und der beste Freund ihres Freundes könnten sich ineinander verlieben, und wir würden alle zusammen glücklich bis an unser Lebensende sein.«

»Also würde es dir doch helfen, wenn du mit einem anderen Typen rummachen würdest«, schloss Björn daraus.

»Bietest du dich gerade an?«, fragte Jule grinsend. Er schien zwar etwas jünger als sie zu sein, aber gut aussehend und machte einen netten Eindruck. Sie mochte den Schalk in seinen braunen Augen. Er wirkte auf sie wie jemand, der für jeden Spaß zu haben war, und das war eine Eigenschaft, für die sie viel übrighatte.

»Könnte unter Umständen sein, dass wir da ins Geschäft kommen«, stellte er in Aussicht und grinste ebenfalls.

»Und was willst du dafür?«

»Gar nichts«, behauptete er, doch Jule sah ihn so eindringlich an, dass er doch erklärte: »Ich habe mit meinen Kumpels eine Wette am Laufen, wer es heute Nacht am schnellsten schafft, ein Mädchen aufzureißen. Das wäre also eine Win-Win-Situation. Du hilfst mir, die Wette zu gewinnen, dafür halte ich dir den lästigen Typen vom Leib.«

Jules Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Das Angebot war verlockend, sehr sogar. Aber würde es ausreichen, um Lasse davon abzuhalten, allen zu erzählen, wie sie sich eigentlich kennengelernt hatten? Was, wenn er die Geschichte in ihrer Abwesenheit schon längst zum Besten gegeben hatte? Daran wollte sie gar nicht denken. Allein die Vorstellung, zu ihren Freunden zurückzukommen und ihre vielsagenden Blicke zu sehen, reichte aus, um wieder Panik in ihr aufsteigen zu lassen.

»Wie lange musst du noch hinter der Bar stehen?«, erkundigte sie sich bei Björn – hauptsächlich um irgendetwas zu sagen.

»Ich kann hier jederzeit weg«, antwortete er. »Eigentlich war ich nur für den Aufbau eingeteilt. Aber es hat so seine Vorteile, zwischendurch auch mal an der Bar auszuhelfen.« Er zwinkerte Jule verschwörerisch zu.

»Und du würdest jetzt wirklich ... Ich meine ... du würdest vor dem Typen so tun, als hätten wir beide was miteinander?«

Irgendwie steigerte sich Jules Nervosität noch dadurch, dass sie keine genaue Vorstellung hatte, wie sie das anstellen sollten. Sie konnte schlecht hingehen und Björn als ihren Freund vorstellen, ohne wenigstens Malin vorzuwarnen. Aber wenn Jule sie einweihte, musste sie ihr zumindest eine minimale Erklärung liefern. Jule überlegte krampfhaft, was sie von dem Date erzählen konnte, ohne dass die Sprache unweigerlich auf die peinlichen Teile kam.

Björn schien bei dieser Show weniger Bedenken zu haben. Für ihn war es auch deutlich leichter. Er musste nur vor seinen Kumpels irgendein Mädel küssen, bevor das ein anderer von ihnen schaffte. Niemand würde nachfragen, wie er Jule dazu gebracht hatte.

Er rief jemandem zu, dass er sich jetzt in die Party stürzen wollte, und kam hinter der Bar hervor. »Brauchst du Hilfe beim Tragen?«

Die Getränke hatte Jule schon völlig vergessen. »Ja, bitte«, stammelte sie, und er griff sofort nach den drei Bierdosen. Sie nahm den Cider und folgte ihm hinaus ins Freie. Eigentlich wollte sie ihn fragen, was er vorhatte, doch sie blieb stumm. Das alles war im wahrsten Sinne des Wortes eine Schnapsidee.

Vor dem Glashaus gab Björn Jule ein Zeichen, dass sie ihm folgen sollte. Gemeinsam bogen sie um die Ecke und blieben neben dem Geräteschuppen stehen.

Endlich fand Jule ihre Sprache wieder. »Was genau tun wir hier?«

»Wir starten einen Testlauf«, erklärte er.

»Einen Testlauf?«, wiederholte sie verständnislos.

»Ich werde dich küssen, und danach entscheidest du, ob wir einen Deal haben oder nicht.«

Zögernd nickte Jule. Sie überlegte, ob sie die Dosen irgendwo abstellen sollte, doch Björn schien das nicht für nötig zu halten. Er machte einen Schritt auf sie zu, beugte sich vor und küsste sie ohne Umschweife.

Unter anderen Umständen wäre Jule von dem Kuss enttäuscht gewesen, denn obwohl sie Björn durchaus attraktiv fand, fühlte sie rein gar nichts. Immerhin war seine Kuss-Technik okay, und es war nicht seltsam oder unangenehm, probehalber mit ihm zu schmusen.

»Also, haben wir einen Deal?«, fragte Björn, nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten.

Jule hatte immer noch Zweifel, ob das Ganze in Bezug auf Lasse eine gute Idee war. Allerdings hatte sie kein Problem damit, Björn bei seiner Wette zu helfen, deshalb antwortete sie: »Von mir aus können wir das zumindest vor deinen Kollegen wiederholen, damit du deine Wette gewinnst.«

»Perfekt!« Vor Begeisterung über ihre Zusage küsste er sie gleich noch einmal.

»Oh, Entschuldigung, ich dachte, das wäre der Weg zu den Toiletten.«

Erschrocken fuhren Jule und Björn auseinander. Er fing sich schneller, zog sie zur Seite und erklärte freundlich, dass der Weg richtig war und die Mobilklos hinter der nächsten Ecke zu finden waren. Jule dagegen war vor lauter Schreck ganz starr, denn auch ohne den Mann zu sehen, der sie unterbrochen hatte, hatte sie Lasses Stimme erkannt. Mit Mühe gelang es ihr, ein Lächeln aufzusetzen und sich zu ihm umzudrehen.

»Lasse«, sagte sie. »Da geht’s lang.« Sie zeigte in die Richtung und hoffte, er würde endlich weitergehen, doch er machte keinerlei Anstalten. Das ließ Jules Panik auf ein neues Level ansteigen, und plötzlich hörte sie aus ihrem Mund die Worte: »Das ist übrigens mein Freund Björn.«

Zum Glück war Björn die Gelassenheit in Person. Er streckte Lasse die Hand entgegen, begrüßte ihn und bemerkte: »Du bist dann wohl der beste Freund vom Freund der besten Freundin.« Wie er es sagte, klang es keinesfalls verlegen, weil er die Namen von Malin und Sven nicht kannte, sondern einfach nur, als wollte er witzig sein. Lasse schien seinen Humor jedoch nicht zu teilen. Jule konnte den Blick nicht deuten, den er ihr zuwarf. War er überrascht? Fragend? Vorwurfsvoll?

»Ich schätze mal, eines davon ist für dich«, plauderte Björn weiter und deutete dabei auf die Bierdosen in seinen Händen. »Wir bringen die zu den anderen und treffen dich dann dort.«

Diesmal verstand Lasse die unterschwellige Aufforderung, dass er endlich weitergehen sollte. Während er sich langsam in Bewegung setzte, wiederholte Björn noch einmal die Wegbeschreibung, wie um sicherzustellen, dass er die Toiletten auf jeden Fall fand.

Kaum war Lasse außer Hörweite, breitete sich ein schelmisches Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Ich nehme mal an, das war der Typ, den du loswerden willst.«

»Ja«, gab Jule ihm recht und fühlte sich elend. Was war nur in sie gefahren, dass sie Björn gleich als ihren Freund vorgestellt hatte? Das passte bestimmt hinten und vorne nicht mit dem zusammen, was Malin ihm im Vorfeld der Feier über sie erzählt hatte.

»Ich glaube, wir sollten uns schnellstens eine Geschichte zurechtlegen, die wir ihm nachher auftischen können«, stellte Björn fest.

Viel Zeit blieb ihnen auf dem Rückweg zu ihren Freunden nicht, aber sie reichte aus, um einige Eckdaten festzulegen. Zu Jules großer Erleichterung erfuhr sie, dass Björn zum Studentenchor gehörte. Das bedeutete nämlich, dass es einen schlüssigen Grund gab, warum er den Abend nicht dauernd in der Nähe seiner angeblichen Freundin verbringen konnte. Sie würden die Gespräche mit ihren Freunden – und damit die potenziellen Gelegenheiten aufzufliegen – sehr knapp halten können.

»Da bist du ja endlich!« Malin kam ihnen ein paar Schritte entgegen. »Du hättest gleich sagen können, dass du Hilfe beim Tragen brauchst! Dann wäre ich mitgekommen und du hättest dir nicht erst jemanden suchen müssen.«

»Also eigentlich hilft Björn mir nicht nur beim Tragen«, begann Jule und reichte ihrer Freundin eine Dose Cider.

»Wobei noch?«

Sie wusste nicht, wie sie die Sache vernünftig erklären sollte, deshalb platzte sie einfach heraus: »Können wir für die Dauer dieser Feier bitte so tun, als wäre Björn mein Freund, mit dem ich seit Jahren eine On-Off-Beziehung führe?« Das war die Erklärung, die sie sich zurechtgelegt hatten, damit auch Sven die Geschichte schluckte. Wenn er – berechtigterweise – Zweifel anmeldete, weil er in den vier Monaten, die er Malin kannte, noch nie etwas vom Freund ihrer besten Freundin gehört hatte, dann würden sie behaupten, dass sie zu Jahresbeginn – wieder einmal – Schluss gemacht hatten.

»Muss ich auch verstehen, warum du das tust, oder muss ich nur mitspielen?«, war Malins einzige Frage, und Jule wurde in dem Augenblick wieder einmal bewusst, warum sie die allerbeste Freundin auf der ganzen Welt war.

»Nur mitspielen«, bat sie. »Und vielleicht auch Ruben dazu bringen, dass er uns nicht auffliegen lässt.«

»Okay ...« Malin warf einen Blick über ihre Schulter hinüber zu Sven und Ruben, die sich ein paar Meter entfernt angeregt unterhielten. »Dann sollte er wohl nicht dabei sein, wenn du Björn – freut mich übrigens, dich kennenzulernen! – und Sven miteinander bekannt machst.«

Jule konnte förmlich sehen, wie es in Malins Gehirn ratterte. Sie nahm Björn zwei der Bierdosen ab, drehte sich abrupt um und ging auf die beiden Männer zu. Sekunden später folgte Ruben ihr zu einem der Beete neben dem Haupthaus, wo sie auf irgendeine Pflanze zeigte. Inzwischen gesellte Jule sich zusammen mit Björn zu Sven, der allein zurückgeblieben war und den beiden stirnrunzelnd nachblickte.

»Was macht sie da?«, fragte Jule unschuldig.

»Anscheinend ist Malin gerade eingefallen, dass sie da vorne eine Pflanze gesehen hat, deren Namen sie wissen wollte«, erklärte Sven. »Und den muss Ruben ihr jetzt verraten, solange es noch hell genug ist, dass er überhaupt erkennen kann, was sie meint. Irgendein Busch, der im Winter blüht oder so? Keine Ahnung.«

»Aha. Na ja, wenn es um Pflanzen geht, ist sie bei ihm richtig.« Jule hoffte allerdings, dass die beiden da drüben über etwas ganz anderes sprachen als über irgendwelche Büsche, die im Winter blühten. Wenn Malin Ruben nicht dazu brachte mitzuspielen, konnte Jule die ganze peinliche Geschichte mit Lasse auch gleich selbst erzählen. »Das ist übrigens Björn«, sagte sie dann und zog ihn am Ärmel ein Stück näher heran. »Mein – nun ja – aktuell wieder mal mein Freund.«

»Wieder mal?«, hakte Sven nach.

»Das ist ein bisschen kompliziert«, behauptete Jule. »Wir kommen zusammen, nach einer Weile gehen wir uns auf die Nerven, dann streiten wir dauernd, schwören am Ende, dass es diesmal ganz bestimmt für immer aus ist, irgendwann treffen wir uns wieder zufällig und – na ja – das Ganze geht von vorne los.«

»Weil wir irgendwie doch nicht die Finger voneinander lassen können«, ergänzte Björn und legte dabei seinen Arm besitzergreifend um Jule. Die seufzte theatralisch und fügte hinzu: »Genauso ist es.«

Sie beobachtete gespannt, wie Sven auf diese Geschichte reagierte. Zu ihrer Überraschung wirkte er kein bisschen misstrauisch, sondern höchstens ein klein wenig verwundert. Er streckte Björn die Hand entgegen und bemerkte an Jule gewandt schmunzelnd: »Und ich dachte schon, Malin wollte dich mit Lasse verkuppeln.«

Björn tat empört. »Das war hoffentlich nicht ihr Plan.«

Jule beschloss, der Angelegenheit einen neuen Aspekt zu geben, der hoffentlich zur Glaubwürdigkeit beitrug. »Also, ich bin mir eigentlich gar nicht so sicher, dass sie das nicht wollte«, mutmaßte sie. »Sie steht dieser On-Off-Sache schon die ganze Zeit ziemlich skeptisch gegenüber. Wahrscheinlich hat sie dir deshalb auch nicht von ihm erzählt.«

Björn kratzte sich verlegen am Kopf. »Nun ja, ich schätze, ich habe in der Vergangenheit meinen Teil dazu beigetragen, dass Malin nicht gerade mein größter Fan ist.«

Jule fand, Björn hatte ihre Vorlage großartig aufgegriffen, und sie spann die Geschichte mühelos weiter. »Malin ist einfach mehr der Typ für richtig feste Beziehungen – und ich eben nicht.«

Dieser Teil war nicht einmal gelogen. Jule konnte auf die Schnelle gar nicht sagen, mit wie vielen Männern sie in den vergangenen Jahren ausgegangen war oder kurze Affären gehabt hatte. Malin dagegen war im selben Zeitraum mit genau zwei Männern zusammen gewesen. Zuerst jahrelang mit ihrem Ex-Freund Adrian, nun seit einigen Wochen mit Sven. Wenn man es genau nahm, dann vereinfachte die Behauptung, Jule und Björn wären immer wieder ein Paar gewesen, die Darstellung ihres Liebeslebens sogar deutlich.

»Umso besser für mich«, meinte Sven und empfing Malin, die gerade mit Ruben und Lasse im Schlepptau zurückkam, mit einem verliebten Lächeln. Wie schon so oft hatte Jule Mühe, ein gerührtes Seufzen zu unterdrücken. Die beiden waren so süß zusammen, und sie war sich absolut sicher, dass diese Beziehung sehr, sehr lange halten würde.

»Das ist übrigens Björn«, informierte Malin Lasse, während Ruben ganz so tat, als wäre es gar nichts Besonderes, dass Björn den Arm um seine Schwester gelegt hatte.

»Wir hatten schon das Vergnügen«, fiel Lasse ihr ins Wort, bevor sie auch noch den angeblichen Beziehungsstatus ergänzen konnte.

»Ähm, ja, er hat uns vorhin beim Knutschen hinter dem Schuppen erwischt«, erklärte Björn mit einem verlegenen Grinsen. »Ach ja, das ist ja dann wohl deines.« Er reichte Lasse die letzte Bierdose.

»Und was ist mit dir?«, wollte Ruben wissen. »Trinkst du gar nichts? Seit wann denn das?« Mit Erstaunen nahm Jule zur Kenntnis, welch guten Job ihr Bruder machte. Sie hätte eher erwartet, dass er Björn fragen würde, wer um alles in der Welt er war und warum er es wagte, seine kleine Schwester anzufassen – einfach, um Jule damit eines auszuwischen und diese Feier für sie zum Albtraum werden zu lassen.

»Später«, winkte Björn ab. »Wenn ich zu viel Bier intus habe, treffe ich keinen Ton mehr. Und ihr habt uns doch nicht dafür engagiert, dass wir euch quälen, sondern unterhalten.«

»Oh, du singst im Chor«, bemerkte Sven. Nach einem kurzen Blick auf seine Kopfbedeckung ergänzte er: »Hätte ich mir eigentlich denken können.«

Björn rückte die weiße Mütze zurecht und antwortete stolz: »Ja, genau. Und das ist auch der Grund, warum ich euch jetzt leider verlassen muss. Wir fangen gleich mit dem Einsingen an. Passt mir in den nächsten paar Stunden gut auf Jule auf!« Ohne Vorwarnung drückte er ihr einen schnellen Kuss auf den Mund. »Brav bleiben!«, mahnte er noch.

»Und du halt dich von euren Groupies fern!«, konterte Jule, was ihm ein Grinsen entlockte. Sie hatte das Gefühl, dass ihm dieses Spiel großen Spaß machte.

»Kommst du dann noch rüber und wünschst mir Glück, bevor wir anfangen?«, fragte er, während er sich schon im Rückwärtsgang entfernte. »So in zwanzig Minuten?« Er zwinkerte Jule zu, und sie verstand, dass sie dann ihre Hälfte der Vereinbarung erfüllen sollte.

»Okay, mache ich«, versprach sie und winkte ihm noch kurz nach.

Kaum war er weg, wandte Sven sich an seine Freundin. »Der macht doch einen ganz netten Eindruck. Was hast du gegen ihn?«

Malin war total überrumpelt. »Wer hat behauptet, dass ich was gegen ihn habe?«

»Er selbst.«

»Das stimmt doch gar nicht, ich bin nur ...«

Offensichtlich war Malins Fundus an guten Ausreden schon aufgebraucht, doch Jule fand, dass das in dieser Situation gar nichts ausmachte. Sie legte einen Arm um ihre Freundin und sagte: »Schon gut, ich weiß doch, dass du es nur gut mit mir meinst und dir nicht ganz sicher bist, ob er der Richtige für mich ist.«

»Und du bist dir sicher?« Es war Lasse, der diese Frage stellte.

»Ich bin mir absolut sicher, dass es diesmal mit uns klappt«, behauptete Jule. »Wir haben in der Vergangenheit beide Fehler gemacht.« Dabei vermied sie es tunlichst, Lasse in die Augen zu sehen. Zum Glück erklang im selben Moment das Läuten einer altmodischen Glocke. Damit signalisierte ihre Mutter normalerweise den Familienmitgliedern, die auf dem Gelände verteilt arbeiteten, dass das Mittagessen fertig war. Heute diente es als Zeichen, dass das Feuer in Kürze entzündet werden würde.

»Oh, es geht los!« Jule klatschte aufgeregt in die Hände. »Los, kommt, bevor wir nur noch Plätze in den hinteren Reihen bekommen!« Äußerst erleichtert darüber, das Thema auf diese Art beenden zu können, ging sie voran in Richtung Feuerstelle.

Sie fanden einen guten Platz auf der Seite, aus der der Wind kam, sodass sie zumindest vorläufig nicht im Rauch stehen würden. Während ihre Freunde die letzten Vorbereitungen für das Entzünden des Feuers beobachteten, sah Jule sich nach Björn um.

Der Chor war gerade dabei, Aufstellung zu nehmen, doch noch wirkten alle Sänger recht entspannt. Sie plauderten und schenkten ihrem Leiter keine besondere Aufmerksamkeit. Jule fand, das war der richtige Moment, um Björn »Glück zu wünschen«. Sie trat näher an die Chorsänger heran und winkte ihm. Sofort entschuldigte er sich bei seinen Kollegen und kam auf sie zu.

»Bereit?«, fragte er, kaum dass er vor ihr stand.

»Sollten wir nicht vielleicht noch kurz plaudern?«, schlug sie vor. »So, als würde ich dir wirklich Glück wünschen wollen? Sonst kommt ihnen das Ganze möglicherweise doch zu plump vor, und du wirst disqualifiziert, weil du die Wette manipuliert hast oder so.«

»Ach, mach dir keine Sorgen«, wehrte Björn lässig ab. »Bei diesen Wetten sind grundsätzlich alle Mittel erlaubt.«

»Und warum gehen dann die anderen nicht auch einfach hin und fragen irgendein Mädel, ob es mitmacht?«, wunderte Jule sich.

Er grinste. »Wer sagt denn, dass sie das nicht versucht haben?«

»Oh, das heißt also, ich bin hier die Einzige, die verzweifelt genug ist, um mitzumachen«, stellte Jule ernüchtert fest.

»Oder cool genug«, entgegnete Björn und zwinkerte ihr vergnügt zu. Damit brachte er sie zum Lächeln, denn seine Sichtweise schmeichelte ihrem Ego deutlich mehr als ihre eigene. Ohne weitere Umschweife stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund.

Angestachelt von dem Gejohle seiner Kollegen fiel der Kuss deutlich länger aus als die zwei Versuche zuvor. Jule fand langsam Gefallen daran. Zwar hatte sie immer noch keine Schmetterlinge im Bauch, aber Björn küsste verdammt gut, und das hier machte ihr einfach Spaß. Ja, Jule war definitiv cool genug, um bei so einer Aktion mitzumachen, wenn man das Anliegen nur charmant genug vorbrachte. Und Björn war ihr richtig sympathisch.

»Du hättest nicht vielleicht später Zeit, das zu wiederholen?«, fragte sie, nachdem sie ihn losgelassen hatte. »Das würde unsere Geschichte sehr viel glaubwürdiger machen.« Und es würde hoffentlich Lasse von ihr fernhalten. Plötzlich war es Jule ein noch größeres Anliegen als zuvor, sich den restlichen Abend möglichst wenig in seiner Nähe aufzuhalten. Sie wusste nicht genau, warum. Es war ein eigenartiges Gefühl, eine Erinnerung, die in ihr aufgestiegen war, während sie Björn geküsst hatte.

Der grinste breit und meinte schulterzuckend: »Wieso nicht? Die Flasche Aquavit ist mir zwar schon sicher, aber das heißt ja nicht, dass wir nicht noch mehr Spaß miteinander haben können.«

»Na dann ...« Jule lächelte ihn verführerisch an. »Dann legst du dich jetzt mal beim Singen ins Zeug, und wir treffen uns später wieder.«

»Mache ich«, versicherte Björn, rückte seine Mütze zurecht und gesellte sich wieder zu seinen Chorkollegen.

Jule liebte die Walpurgisnacht-Feier. Obwohl es mit der Zeit recht unangenehm werden konnte, ein glühend heißes Gesicht zu haben, während man am Rücken fror, genoss sie es, zusammen mit Freunden und Familienmitgliedern am Feuer zu stehen und den Liedern der Studenten zu lauschen. Viele davon konnte sie mitsingen, und nach und nach stimmten immer mehr Besucher mit ein, bis ein einziger großer Chor um die Feuerstelle versammelt war.

»Kann ich kurz mit dir reden?«

Jule zuckte erschrocken zusammen, als Lasse sie in der Pause zwischen zwei Liedern unerwartet ansprach. Sie hatte nicht bemerkt, dass er sich neben sie gestellt hatte, und sein Gesicht so nahe bei ihrem Ohr irritierte sie.

»Okay«, sagte sie trotzdem, machte aber einen Schritt zur Seite. Mit einem Nicken lotste er sie ein paar Meter von ihren Freunden weg. Die waren zum Glück zu beschäftigt damit, in die lodernden Flammen zu schauen, als dass sie bemerkt hätten, was neben ihnen vorging.

»Was gibt’s?«, erkundigte Jule sich so gelassen wie möglich und vergrub dabei beide Hände in den Taschen ihrer Jacke. Sie wollte ihm keinesfalls so etwas wie einen Wunsch nach seiner Nähe signalisieren. Lasse sollte nicht auf die Idee kommen, heute könnte irgendetwas zwischen ihnen noch so sein wie bei ihrem Date im Sommer.

»Ich war einer der Trennungsgründe, oder?«, fragte er und bedachte sie mit einem Blick, den Jule als missbilligend deutete.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, behauptete sie defensiv und verschränkte die Arme vor der Brust. Selbstverständlich wusste sie ganz genau, wovon er sprach. Aber bis zu diesem Moment hatte sie noch die winzig kleine Hoffnung gehegt, Lasse könnte sie gar nicht erkannt haben und sie hätte in seine Miene nur etwas hineininterpretiert, weil es ihr so unangenehm war, ihm wieder gegenüberzustehen.

»Ich denke, das weißt du doch, Julia«, erwiderte er und verschränkte ebenfalls die Arme. So standen sie da und fixierten sich gegenseitig mit Blicken.

Im ersten Impuls wollte Jule ihm vorwerfen, dass auch er sich mit einem anderen Namen vorgestellt hatte. Doch sie besann sich rechtzeitig. Erstens hatten beide offenbar ihre Taufnamen benutzt und nicht irgendetwas völlig frei Erfundenes, und das war ja nun wirklich kein Verbrechen. Und zweitens – und das wog in dem Augenblick noch schwerer – wäre ihr Vorwurf in diesem Fall gleichzeitig das Eingeständnis, dass er recht hatte.

»Niemand nennt mich Julia«, sagte sie deshalb.

»Mich auch nicht Lars«, entgegnete er.

Wie schon zuvor verspürte Jule den dringenden Impuls, die Flucht zu ergreifen. Sie wollte weglaufen – vor Lasse, vor der Erinnerung und vor den Gefühlen, die sie mit sich brachte. Doch kaum setzte sie dazu an, ergriff er ihr Handgelenk und hielt sie fest.