Truth or Dare. Triff deine Wahl - Maja Köllinger - E-Book
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Truth or Dare. Triff deine Wahl E-Book

Maja Köllinger

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Beschreibung

Sie waren immer eine perfekte Clique: Brianna, Yves, Xenia und Kian. Doch gegen Ende der Schulzeit driften sie auseinander. Um ihre Freundschaft zu retten, unternehmen die Jugendlichen einen gemeinsamen Ausflug, der mit einem Alkoholgelage und dem riskanten Spiel von Wahrheit oder Pflicht endet. Und schließlich mit Kians Tod. Doch keiner der drei Freunde kann sich erinnern, was genau passiert ist. Neben den Ermittlungen setzen ihnen auch anonyme Nachrichten zu: Irgendjemand weiß, was geschehen ist. Es gibt nur eine Möglichkeit: Die Freunde müssen zusammenarbeiten, um den wahren Täter zu finden. Aber was, wenn der näher ist, als sie glauben?

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Über dieses Buch

Sie sind die perfekte Clique: Brianna, Yves, Xenia und Kian. Gegen Ende der Highschoolzeit droht ihre Freundschaft zu zerbrechen. Ein gemeinsamer Campingausflug soll die Clique wieder zusammenschweißen. Doch schon der erste Abend beginnt mit zu viel Alkohol und Streit. Und endet mit Kians Tod.

War es ein Unfall oder Mord?

Liebe*r Leser*in,

 

wenn du traumatisierende Erfahrungen gemacht hast, können einige Passagen in diesem Buch triggernd wirken. Sollte es dir damit nicht gut gehen, sprich mit einer Person deines Vertrauens. Auch hier kannst du Hilfe finden: www.nummergegenkummer.de

 

Schau gern in der Triggerwarnung nach, dort findest du eine Auflistung der potenziell triggernden Themen in diesem Buch. (Um keinem*r Leser*in etwas zu spoilern, steht der Hinweis hinten im Buch.)

Für Jojo,

weil du immer an mich geglaubt hast, selbst wenn ich es nicht getan habe.

Ich werde dich niemals vergessen.

Playlist

5 Seconds of Summer – Teeth

Paramore – Still into You

Twenty One Pilots – Polarize

Set It Off, William Beckett – Wolf in Sheep’s Clothing

Linkin Park – Skin to Bone

Set It Off – Nightmare

Billie Eilish – bury a friend

Linkin Park – In my Remains

DeathbyRomy – Problems

Dream State – Primrose

Billie Eilish – all the good girls go to hell

Ghost Town – Don’t Leave

Halsey – Control

Bishop Briggs – Jekyll & Hyde

Taylor Swift feat. HAIM – no body, no crime

Prolog |Samstag, 13. April

23:44 Uhr

Das Opfer

Mein Atem geht immer schwerer, während ich mich durch das Unterholz kämpfe. Regen peitscht mir ins Gesicht und sticht mit eisiger Kälte auf meine Haut ein, als würde er aus Abertausenden kleinen Klingen bestehen. Ich ziehe den Kopf ein, während der nachtschwarze Himmel von einem grellen Blitz zerrissen wird und noch in derselben Sekunde ein ohrenbetäubendes Grollen über das Land hinwegzieht. Der Sturm ist nun direkt über mir. Windböen zerren an meiner dünnen Kleidung und drängen mich zurück in Richtung Waldhütte. Doch ich gehe auf gar keinen Fall wieder dorthin zurück. Ich kann nicht. Schließlich habe ich noch etwas Wichtiges zu erledigen. Hoffentlich werde ich nicht hängen gelassen. Und wenn ich im schlimmsten Fall nachher bei dem Gewitter den ganzen Weg zurück nach Fircreek laufen muss, um dem Chaos zu entkommen, dann sei es so.

Ein Knacken hinter mir lässt mich aufhorchen und innehalten. Die Bäume um mich herum knarren und ächzen schon die ganze Zeit, weil der Wind wie eine Urgewalt durch den Wald fegt, doch dieses Knacken klingt anders. Als wäre etwas oder jemand unabsichtlich auf einen Ast getreten. Ich drehe mich um die eigene Achse und starre der Finsternis des Waldes entgegen. Ich schwenke meine Handy-Taschenlampe und versuche irgendetwas zwischen den Baumstämmen zu erkennen. Die Schatten um mich herum wandern wild umher, erzeugen Gestalten und Fratzen, die mich verfolgen und zu verhöhnen scheinen.

»Reiß dich zusammen«, ermahne ich mich selbst. Was ist los mit mir? Sonst kann mich nicht einmal der brutalste Horrorfilm in Schrecken versetzen, und nun sollen das ein bisschen Wind und Regen schaffen? Dass ich nicht lache! Trotzdem schlägt mein Herz mit solch brachialer Gewalt gegen meinen Brustkorb, dass ich befürchte, es könne mir gleich die Rippen brechen. Obwohl es eisig kalt hier draußen ist, bricht mir der Schweiß aus, und ich beginne am ganzen Körper zu zittern. Unwillkürlich beschleunigen sich meine Schritte. Ich will hier nur noch weg …

Das Gefühl, beobachtet und verfolgt zu werden, verstärkt sich. Ich habe noch nie so deutlich gespürt, wie sich ein Blick in meine Haut brennt. In meinem Nacken macht sich ein unangenehmes Prickeln bemerkbar, welches sich in Sekundenschnelle über meinen ganzen Leib verbreitet.

Da! Das waren eindeutig Schritte!

Mein schneller Gang wandelt sich zu einem Sprint. Jegliche Vorsicht ist vergessen, mein Fluchtinstinkt übernimmt die Kontrolle und drängt mich dazu, immer schneller zu werden. Das Licht meines Smartphones zuckt über den Boden, Baumstämme und wuchernde Wurzeln verschwimmen zu einer dunklen Masse, die mich verschlingen will. Aber die Schritte hinter mir verklingen nicht, sie halten mein Tempo.

»Wer bist du?«, brülle ich gegen die Dunkelheit an und wende im Laufen den Kopf nach hinten, um meinen Verfolger sehen zu können. Ein fataler Fehler. Noch im selben Moment bleibt mein Fuß an einer Unebenheit am Boden hängen. Ein Stein oder eine Wurzel? Ich weiß es nicht, sondern realisiere nur noch, wie ich mich überschlage. Die ganze Welt steht Kopf und stürzt zugleich auf mich ein. Mein Smartphone gleitet mir aus der Hand, während ich verzweifelt versuche, Halt zu finden. Schließlich prallt mein Rücken mit voller Wucht auf den Waldboden, sodass mir jegliche Luft aus der Lunge gepresst wird. Ein Keuchen entfährt mir, als der Schmerz durch meinen ganzen Körper fährt und mich für einen Moment lähmt.

Eine dunkle Gestalt beugt sich über mich. Ich leide also nicht an Wahnvorstellungen, sondern wurde tatsächlich verfolgt. Diese Erkenntnis beruhigt mich allerdings nicht lange, denn ich weiß schließlich nicht, wer da vor mir steht. Ich wage es kaum, mich zu bewegen, geschweige denn zu fragen, warum ich beobachtet werde.

Plötzlich zuckt ein weiterer Blitz über den Himmel und hüllt die ganze Umgebung für einen Wimpernschlag in grellweißen Schein. Genug Zeit für mich, um das Gesicht meines Stalkers zu sehen. Und zu erkennen.

»Du?«, raune ich fassungslos. Der Donner reißt meine Stimme hinfort. Der Schock lässt mich für einen Moment tatenlos verharren, und ich sehe an der versteiften Haltung meines Gegenübers, dass der Blickwechsel zwischen uns definitiv nicht geplant war. Bevor ich auch nur die Chance habe, mich zu rühren oder ein weiteres Wort in den Mund zu nehmen und Fragen zu stellen, schwingt mein Verfolger ein gigantisches Objekt auf meinen Kopf zu.

Ein Schrei formt sich in meiner Kehle, ohne eine Chance, jemals gehört zu werden. Ich versuche noch, die Arme zum Schutz zu heben, aber ich bin zu langsam. Der erste Schlag trifft mich an der Schläfe und sendet glühende Schmerzen durch meinen ganzen Körper, sodass ich aufkeuche und versuche, mich von dem Angreifer wegzudrehen. Der zweite Schlag lässt Blitze und Sterne hinter meinen Lidern tanzen und sendet eine weitere Schmerzwelle durch meine Glieder, obwohl die erste noch nicht einmal abgeebbt ist. Der dritte Schlag besiegelt mein Schicksal. Ich spüre den Druck, höre das Knacken meines Schädels, und bevor der Schmerzimpuls meine Synapsen erreichen kann, wird auch schon alles schwarz um mich herum.

Der letzte Gedanke, der sich in meinem Kopf formen kann, beschäftigt sich nicht mit meinem Leben, meiner Familie oder meinen Freunden, meinen falschen oder richtigen Entscheidungen oder gar meiner verlorenen Zukunft. Er dreht sich einzig und allein darum, dass ich eine solche Tat vielen Menschen zugetraut hätte, aber ganz sicher nicht dieser einen Person …

Montag, 8. April

12:10 Uhr

Brianna

Mein Blick streift über das Schülermeer in der Cafeteria. Ich erspähe einen freien Platz in der Nähe des Ausgangs und richte meinen Blick auf den gräulichen Brei, der mein Mittagessen darstellen soll, bevor ich mich durch die Masse kämpfe. Mit einem entnervten Stöhnen knalle ich schließlich mein Tablett auf den Tisch und lasse mich auf einen der wackeligen Plastikstühle plumpsen. Heute ist nicht mein Tag.

In letzter Zeit versuche ich meistens, die Schule zu überstehen, ohne jemandem zu begegnen, der meine Laune noch verschlechtern könnte. Mit anderen Worten: Ich versuche Kian, meinem Ex-Freund, aus dem Weg zu gehen. Bloß seinen Namen zu denken, verursacht schon einen üblen Brechreiz.

Nur noch den Rest dieses Schuljahres muss ich durchhalten, dann kann ich ihn endgültig aus meinem Leben streichen. Nur noch ein paar Monate, dann habe ich es geschafft.

Wenn ich an früher zurückdenke, an den Alltag, den ich bis vor wenigen Wochen noch hatte, werde ich ganz wehmütig. Denn durch die Trennung habe ich nicht nur Kian verloren, sondern auch meinen ganzen Freundeskreis. Kian, Yves, Xenia und ich – wir sind die perfekte Truppe gewesen, haben immer zusammengehalten. Egal in welcher Lebenslage. Und das schon seit Jahren.

Und was ist seit dem Bruch mit Kian daraus geworden? Die drei halten zusammen, und ich stehe alleine da. Jedenfalls kommt es mir so vor, denn ich meide Kian und damit automatisch auch die anderen. Inzwischen traue ich mich nicht einmal, mich beim Mittagessen zu ihnen an den Tisch zu setzen, und hocke lieber alleine da, während ich sie aus der Ferne beobachte. Auch jetzt tigert mein Blick unwillkürlich durch die Menge, auf der Suche nach zwei ganz bestimmten Gesichtern. Es dauert nicht lange, denn natürlich sitzen Yves und Xenia an ihrem gewohnten Stammplatz. Dort, wo ich bis vor Kurzem auch noch saß. Ein dumpfer Schmerz malträtiert meine Schläfen, verstärkt sich, sticht nun mit eiserner Härte auf mich ein. Sollte ich mich schlecht und schuldig fühlen, weil ich nicht bei ihnen sitze? Glauben sie, ich will nichts mehr von ihnen wissen? Könnte ich einfach rübergehen, ohne dass sie mich mit Vorwürfen bombardieren? Ich seufze. Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr.

»Das bringt doch alles nichts«, entfährt es mir, und aus einem Impuls heraus schmeiße ich den Löffel neben das Tablett. Der Matschhaufen vor mir, der anscheinend Milchreis darstellen soll, dampft schon lange nicht mehr. Um mich herum sitzen Hunderte Schüler und schaufeln sich das Zeug ohne Hemmungen rein. Niemand scheint etwas von meinem kleinen Ausraster mitbekommen zu haben. Ein schwerer Dunst hängt in der Luft, und der Geruch von Reinigungsmittel verbeißt sich in meiner Nase.

Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und betrachte Xenia nachdenklich von Weitem. Sie und ich kennen uns schon unser halbes Leben lang. Wir sind zusammen in die Schule gekommen und waren seitdem unzertrennlich, wir waren die besten Freundinnen, die man sich vorstellen kann. Eine Zeit lang habe ich sogar ein wenig für sie geschwärmt, aber das ist längst vorbei. Ihre kleine Statur, die blasse Haut und blonden Locken haben früher oft dafür gesorgt, dass sie von unseren Mitschülern gehänselt oder aufgezogen wurde. Mehr als einmal habe ich sie vor den anderen beschützt und Schläge für sie eingesteckt. Seitdem ich damals in der Grundschule ein paar Mal zurückgetreten habe, lässt jeder die Finger von ihr, und keiner wagt es, auch nur ein falsches Wort in ihre Richtung zu sprechen. Sie alle wissen, mit wem sie es sonst zu tun bekommen.

Im Moment herrscht zwischen uns jedoch Funkstille, mehr oder weniger. Ich meide Xenia, doch selbst wenn wir momentan kaum miteinander reden, weiß ich, dass sie jederzeit nur einen Anruf weit entfernt ist. So ist Xenia eben. Sie ist mit Abstand der loyalste Mensch, den ich kenne, und hat mich noch nie enttäuscht.

Während ich darüber nachdenke, schiebe ich mir einen Löffel des undefinierbaren Breis in den Mund. Igitt, das Zeug schmeckt widerlich!

Unwillkürlich wandert mein Blick wieder hinüber zu meinen Freunden. Yves und Xenia diskutieren über irgendetwas. Xenia neigt dazu, mit Händen und Füßen zu gestikulieren, wenn sie sich in Rage redet. Vor Entrüstung klingt ihre Stimme immer ein wenig höher als normalerweise, und auf ihrer Stirn bildet sich oft sogar eine kleine Furche. Man darf sich nicht von ihrer Zierlichkeit oder ihren warmen, goldbraunen Augen täuschen lassen, denn ihr Wesen gleicht einem Wirbelsturm. Man kann sie unmöglich zu fassen bekommen oder gar erraten, was sie denkt. In einem Moment wirkt sie ängstlich oder traurig, und schon im nächsten Augenblick sprüht sie vor Lebensfreude oder glüht vor Wut. Man könnte genauso gut versuchen, eine Flamme mit bloßen Händen zu fangen. Yves hingegen bildet das komplette Gegenteil, er bleibt immerzu ruhig. Auch jetzt betrachtet er sie schweigend, während er ab und an bestätigend nickt. Er ist ruhiges Gewässer im Vergleich zu ihrem Sturm. Ich würde all mein Hab und Gut darauf verwetten, dass Yves heimlich in sie verschossen ist. Ich muss es wissen, schließlich habe ich Xenia vor vielen Jahren mit demselben verträumten Blick angestarrt, den er gerade aufsetzt. Tatsächlich geben die beiden ein gutes Team ab, denn sie ergänzen sich perfekt. Nicht so wie Kian und ich.

Ist es seltsam, sich zu wünschen, dass die beiden über mich reden? Wie gerne hätte ich ihrer Unterhaltung gelauscht, doch der Lärmpegel in der Cafeteria kommt einem Flugzeugstart gleich, also könnte ich es höchstens mit Lippenlesen versuchen.

Vor zwei Monaten haben wir noch zu viert an unserem Lieblingstisch in der Cafeteria der Fircreek Highschool gesessen. Nichts konnte uns trennen, keine dummen Gerüchte oder sinnlosen Streits. Niemand war in der Lage, uns auseinanderzureißen, außer uns selbst. Kian und ich haben es erreicht, mit unserer Trennung. Oder sollte ich eher sagen: durch seinen Betrug?

Der Breimatsch in meinem Mund klumpt sich zusammen, während ich verzweifelt gegen die Tränen anblinzele, die sich langsam in meinen Augenwinkeln sammeln. Verdammter Kian!

Er ist jahrelang mein Fels in der Brandung gewesen. Mein bester Freund, mein Zuhörer und Ratgeber. Er hat mich zu jedem einzelnen Schulball begleitet und ist mir nie von der Seite gewichen. Unsere Freundschaft war perfekt. Bis ich angefangen habe, mehr für ihn zu empfinden. Was für mich überraschend kam, denn zum ersten Mal hatte ich ernsthafte Gefühle für einen Jungen. Bis dahin hatte ich mich eigentlich immer eher für Mädchen interessiert. Kian wusste das natürlich und war daher genauso überrascht von meinem Liebesgeständnis wie ich.

Obwohl ich mich selbst dafür verfluche, kann ich mich noch sehr gut an das Kribbeln auf meiner Haut erinnern, wann immer er mich berührt hat. Als klar wurde, dass auch Kian mehr in mir sah als nur seine Sandkastenfreundin, hätte ich die ganze Welt umarmen können. Ich fühlte mich so glücklich, frei und … vollkommen. Nichts war in der Lage, dieses gemeinsame Glück zu zerstören. Zumindest anderthalb Jahre lang. Denn dann hat Kian etwas getan, was ich ihm niemals verzeihen könnte.

Am liebsten würde ich mein Mittagessen wieder ausspucken, weil ich befürchte, jeden Moment daran zu ersticken. Die Verzweiflung schnürt mir die Kehle zu und zerquetscht meinen Brustkorb. Ungesagte Worte schwirren bis heute in meinem Kopf herum. Nach unserem Bruch habe ich mit niemandem darüber geredet, was geschehen war und wie ich mich fühle. Nicht einmal so richtig mit Xenia, auch wenn sie fast täglich ihre Unterstützung angeboten hat. Xenia war von Anfang an nicht begeistert von der Beziehung zwischen Kian und mir gewesen. Deswegen bin ich immer ausgewichen, wenn sie auf die unschöne Trennung zu sprechen kam. Ich kenne meine beste Freundin. Sie hätte mich nur belehrt und mir vorgehalten, dass sie es von Anfang an gewusst hätte. Ich war allerdings noch nicht bereit, mir diesen Fehler einzugestehen. Mit Yves zu sprechen, habe ich von Anfang an ausgeschlossen. Kian und Yves kennen sich schon seit dem Kindergarten und halten fest zusammen, egal was kommt. Mir ist klar, dass er immer auf der Seite seines Kumpels stehen würde. Also bleibe ich lieber allein. Allein mit meinem zersplitterten Herzen.

Eines lässt sich jedoch nicht bestreiten: Seit der schmutzigen Trennung ist nichts mehr so wie zuvor. Unser Grüppchen, die stärkste Einheit, die ich bis dahin kannte, löste sich von einem Tag auf den anderen einfach auf. Ich denke zurück an die lauen Sommernächte, die wir gemeinsam in Parks oder am Waldrand verbracht haben. An die Abenteuer, die wir gemeinsam am Ufer des Flusses, der durch unseren Ort verläuft, erlebt haben, und an die unzähligen Male, die wir füreinander da waren, wenn jemand Probleme hatte. Dort, wo zuvor unsere Freundschaft gehaust hatte, klafft nun ein riesiges Loch in meinem Inneren. Etwas fehlt. Alles fehlt.

Was haben wir früher eigentlich gemacht, wenn wir uns gestritten haben und wieder vertragen mussten? Die Frage schleicht sich unbewusst in meinen Kopf und beschäftigt mich für eine Weile. Meistens haben wir versucht, vor der Realität zu flüchten und den Grund für den Streit hinter uns zu lassen. Sei es durch einen Campingausflug oder bei einer kleinen Wanderung durch die Wälder der Umgebung. In meinem Kopf male ich mir plötzlich aus, wie wir auch dieses Mal alle gemeinsam um das Lagerfeuer sitzen und gemeinsam lachen nach all den vergangenen Monaten, ohne Zorn, ohne schlechte Gedanken. Wunschdenken.

Allein die Vorstellung, für einen oder zwei Tage vor den Verantwortungen meines Lebens zu fliehen und lediglich eine tolle Zeit mit meinen Freunden zu verbringen, bessert meine Laune. Am liebsten würde ich die Schule sofort verlassen und blind loslaufen. Stattdessen gebe ich mich diesem Tagtraum völlig hin und spiele mit dem Kragen meines Pullovers, wobei ich ziellos vor mich hin starre. Was würde ich geben, um diesem Albtraum zumindest für ein paar Tage zu entkommen …

Meine Träumereien finden ein drastisches Ende, als die Schulglocke direkt über meinem Kopf losschrillt und mich beinahe dazu bringt, entsetzt aufzuspringen. Mein Puls stolpert kurz, doch dann atme ich tief durch, bevor ich meine Aufmerksamkeit zurück auf mein fast unberührtes Mittagessen lenke. Ich hätte nichts bestellen sollen, in der Schule kriege ich im Moment sowieso nichts mehr runter.

Kurzerhand bringe ich das Tablett weg, um nicht zu spät zur nächsten Stunde zu kommen. Bio. Dieser Kurs ist mein persönliches Kryptonit, denn nicht nur Yves hat ihn belegt, sondern auch Kian.

Würde es wohl etwas bringen zu schwänzen? Wahrscheinlich würde es MrSmith sofort auffallen. Immerhin habe ich schon gut die Hälfte seiner Sitzungen unentschuldigt verpasst. Außerdem kann ich mich nicht ewig vor Kian verstecken. Und wozu auch, ehrlich gesagt? Ich war schließlich nicht diejenige, die alles zwischen uns zerstört hat. Soll er sich doch vor mir verstecken.

Auf dem Weg zum Kursraum verknoten sich meine Organe gefühlt zu einem gigantischen Bündel. Nur wenige Meter vor mir marschiert Yves durch den Gang. Es wäre so leicht, ihn anzusprechen und eine lockere Unterhaltung zu führen. Trotzdem tue ich es nicht. Eine innere Barriere hält mich davon ab und verhindert, dass ich den Kontakt zu meinen Freunden wiederherstelle. Allein der Gedanke, Yves könne wütend auf mich sein, weil ich mich so von der Gruppe distanziert habe, oder irgendwie komisch reagieren, mauert mich ein und macht mich handlungsunfähig.

Ein Seufzen kommt mir über die Lippen, sobald ich den Kursraum betrete und mich auf meinen gewohnten Platz plumpsen lasse. Von hier aus habe ich leider eine perfekte Aussicht auf Yves’ Rücken. Kian hat sich noch nicht zum Unterricht bequemt, und wer weiß, vielleicht habe ich heute tatsächlich Glück, und er erscheint nicht. Was allerdings einem Wunder gleichkommen würde.

Für einen Moment überlege ich, ob es sich noch lohnt, zur Ablenkung mein Smartphone hervorzuziehen und ein bisschen durch meinen Newsfeed zu scrollen. Im nächsten Moment klingelt es jedoch bereits, und nur wenige Sekunden später betritt MrSmith den Raum, dicht gefolgt von Kian, der wie immer zu spät dran ist und den kompletten weiblichen Teil des Kurses im Schlepptau hat. Sie gleichen einem kichernden, parfümierten und unfassbar nervigen Schatten.

Bei seinem Anblick zieht sich alles in mir zusammen. Mein Blick tackert sich trotz besserem Wissen an ihm fest, obwohl er mich gar nicht beachtet. Wenn man ihn so sieht, könnte man Kian für einen arroganten Eisprinzen halten. Gut aussehend, kühl und unerreichbar. Kaum zu glauben, aber es gibt auch noch eine andere Seite an ihm, die ich nur zu gut kenne. Bis vor Kurzem habe ich nämlich noch seine Wärme und Nähe genossen. Von außen betrachtet kommt er mir inzwischen wie ein anderer Mensch vor. Mein bester Freund wird für mich langsam zu einem Fremden.

Schweigend beobachte ich, wie er sich neben Yves auf dem Stuhl drapiert, als sei er ein verdammtes Model und kein stinknormaler Schüler. Eines muss ich ihm trotz allem lassen: Selbst in der schlichten Jeans-und-Shirt-Kombi, die er heute trägt, sieht er besser aus als die meisten anderen Jungs. Kian könnte einen Kartoffelsack anziehen und vermutlich immer noch als Gesamtkunstwerk durchgehen. Mit seinen schulterlangen blonden Haaren, den hellblauen Augen und dem ebenmäßigen Gesicht grenzt sein Aussehen an Perfektion.

Hör jetzt endlich auf, ihn anzustarren, Brianna! Was ist denn los mit dir? Du solltest es dir selbst verbieten, diesem Mistkerl hinterher zu trauern!

Wenn ich nur halb so entschlossen wäre wie die vernünftige Stimme in meinem Kopf, würde ich mich jetzt nicht in diesem Schlamassel befinden. Es gleicht purer Folter, ihn anzusehen, ihm so nahe zu sein und gleichzeitig so fern. Unglückliche Liebe und trübe Frustration wirbeln durch mich hindurch und stiften nichts als Verwirrung. Was soll ich bloß tun?

»Hey, was geht, Yves?« Kian schenkt seinem Kumpel sein typisches Zahnpastalächeln, mit dem er überall punktet. Seine Stimme jagt einen Schauder über meine Wirbelsäule und erzeugt Gänsehaut auf meinem ganzen Körper. Es ist ein Reflex, den ich nicht kontrollieren kann. Über anderthalb Jahre lang hat mich diese Stimme umschmeichelt, mir Komplimente gemacht und mich jeden Tag begleitet. Und nun sprechen wir so gut wie gar nicht mehr miteinander. Manchmal wünsche ich mir, sie einfach vergessen zu können.

Yves und Kian stecken die Köpfe zusammen und tuscheln über irgendetwas. Garantiert gibt Kian seinem Kumpel Flirttipps für bessere Chancen bei Xenia. Ich muss bei diesem Gedanken unwillkürlich grinsen. Es wäre so typisch für die beiden.

Yves’ Blick zuckt nervös hin und her und streift kurz über mich hinweg. Schnell ducke ich mich, um zu vertuschen, dass ich die beiden die ganze Zeit beobachtet habe. Allerdings beachtet Yves mich nicht einmal. Stattdessen flüstert er Kian etwas zu, woraufhin dieser plötzlich ganz still wird.

Jetzt schweigt Kian für eine halbe Ewigkeit, und ich versuche verzweifelt herauszufinden, was hinter seiner gefurchten Stirn vorgeht. Worüber sprechen er und Yves bloß? Es muss etwas Ernsteres als nur ein paar Flirttipps gewesen sein, wenn Kian so reagiert. Normalerweise habe ich keine Probleme damit, seine Gesten zu interpretieren, aber jetzt gerade stellt er ein Buch mit sieben Siegeln für mich dar. Deshalb kann ich nur abwarten und hoffen, dass er sich selbst verrät.

Mir ist durchaus bewusst, wie seltsam ich mich verhalte. Am liebsten würde ich Kian und auch Yves aus meinem Leben schneiden. Gleichzeitig kann ich das Band der Freundschaft, das uns alle miteinander verbindet, noch nicht loslassen. Ich möchte weiterhin ein Teil ihrer Welt sein und wissen, was sie tun. Zugleich wäre ich gerne so weit von den beiden entfernt wie nur möglich.

Ein lautes Seufzen entweicht Kian plötzlich, und er sackt gegen die Stuhllehne. Damit lenkt er nicht nur meine Aufmerksamkeit auf sich. Er öffnet bereits die Lippen, aber bevor er Yves eine Antwort geben kann, vernehme ich ein Räuspern aus dem vorderen Teil des Klassenzimmers.

»Kian, wenn der Stickstoffkreislauf zu langweilig für dich ist, kannst du meinen Kursraum auch gerne verlassen«, fährt MrSmith ihn an. Er klickt aggressiv mit seinem Kugelschreiber und durchsticht meinen Ex-Freund mit seinen Blicken.

»Nein, das ist nicht nötig. Entschuldigen Sie bitte, MrSmith«, entgegnet Kian schnell und wirft Yves daraufhin einen erbosten Blick zu, als sei er an der Ermahnung des Lehrers schuld. Hinter mir beginnt eine gesamte Sitzreihe voller Mädels zu kichern, und ich kann nicht anders, als die Augen zu verdrehen. Wenn sie wüssten, wie der verehrte Eisprinz sein kann, würden sie ihn garantiert nicht so anhimmeln.

Schließlich wendet sich unser Biolehrer wieder der Tafel zu, und Kian nutzt direkt die Gelegenheit, um Yves schnell etwas ins Ohr zu raunen. Obwohl ich mich wirklich mit dem Unterricht auseinandersetzen sollte, grübele ich stattdessen die ganze restliche Stunde lang darüber nach, was die beiden miteinander beredet haben könnten.

16:03 Uhr

»Formation! Wir proben noch einmal die Pyramide! Auf eure Position!«, bellt Coach Sanderson durch die Sporthalle und sorgt dafür, dass jede aus unserem zwanzigköpfigen Team zusammenzuckt, inklusive mir. Ich atme schwer, und schwarze Pünktchen tanzen vor meinen Augen, während ich mich mit den Händen auf den Knien abstütze. Nur noch eine Sekunde …

»Brianna! Los, beweg dich!« Ich stöhne auf. Nicht einmal ein kurzes Durchatmen ist mir vergönnt. Wir trainieren schon seit über einer Stunde und hatten gerade die allererste Fünf-Minuten-Pause! Ich weiß, die Meisterschaften stehen kurz bevor, und Couch Sanderson steht unter Druck, aber das hier gleicht purer Folter. Und ich dachte schon, die Biostunde mit Kian und Yves sei schlimm gewesen.

»Ich komme!«, rufe ich zurück und laufe in lockerem Tempo zu meinen Teamkameradinnen hinüber. Sie sehen genauso fertig aus, wie ich mich fühle. Niemand hat sich die Mühe gemacht, die Haare ordentlich hochzustecken oder gar Schminke aufzutragen. Inzwischen wäre sowieso alles vom Schweiß davongeschwemmt worden. Cheerleader geben nach außen hin immer das Bild von perfekten Schönheiten ab, die volle Körperkontrolle besitzen. Doch niemand schaut hinter die Maske oder gar hinter die geschlossenen Türen der Sporthalle, um zu sehen, wie wir monatelang schwitzen und trainieren für unsere Auftritte.

»Auf mein Kommando! Eins, zwei … eins, zwei, drei!« Coach Sanderson beginnt im Takt zu klatschen und uns die Formationen, die wir einnehmen sollen, entgegenzurufen. Innerhalb eines Sekundenbruchteils sind meine körperlichen Beschwerden und meine Kurzatmigkeit Nebensache. Ich muss jetzt funktionieren, um mein Team nicht hängen zu lassen. Wir proben zum zehnten Mal hintereinander die neue Pyramide für unseren nächsten Auftritt, und bisher haben wir sie noch kein einziges Mal richtig hinbekommen.

Wir starten mit einem kurzen tänzerischen Einstieg, bevor ich mich in Position begebe. Als Flyer darf ich jetzt nicht falsch stehen, um keinen Verlust meiner Base zu riskieren. Ich strecke meine Arme in einer V-förmigen Bewegung über den Kopf, bevor ich sie zusammenführe und vor meine Brust recke.

»Brianna! Lächeln!«, peitscht Coach Sandersons Stimme durch meinen Kopf. Ich weiß nicht, ob sie mir den Befehl tatsächlich zuruft oder ob ich ihn inzwischen schon so oft gehört habe, dass ich ihn mir einbilde. Egal, ich schenke ihr auf jeden Fall das breiteste Fake-Lächeln, das ich auf Lager habe. Darin bin ich inzwischen leider sehr geübt.

Schnell beuge ich mich nach vorne und gehe in die Hocke, um genug Schwung zu sammeln für einen halben Rückwärtssalto. Mein Körper kennt die Routine und übernimmt so selbstverständlich die Kontrolle über mein Denken, dass ich kaum realisiere, wie ich mich von der Matte abdrücke und nach hinten katapultiere. Die Welt überschlägt sich und für einen Wimpernschlag lang scheine ich mich in völliger Schwerelosigkeit zu befinden, da ich mein eigenes Gewicht kaum spüre. Im nächsten Moment finde ich mich schon in den Armen von Renee, Maeve und Tammy wieder. Meine Base.

Die drei verschränken ihre Arme unter meinem Körper und sammeln ihre Kraft, um mich wie ein Trampolin wieder in die Luft zu werfen. Ich fliege bestimmt zwei Meter hoch und vollführe einen Tumbler, indem ich mich noch in der Luft um meine eigene Achse drehe.

»Arme eng am Oberkörper im Kreuz verschränken!«

»Fußspitzen gerade halten!«

Wenn ich nicht so beschäftigt damit wäre, all die Anweisungen zu befolgen, könnte ich das überwältigende Gefühl des Fliegens vielleicht sogar genießen. Denn es ist einfach das Beste überhaupt. Ich weiß genau, dass meine Teamkollegen mich immer fangen werden und mir nichts passieren kann. Es hat lange gedauert, bis ich meinen Körper so unter Kontrolle und die Technik perfektioniert hatte. Ich weiß genau, wie ich mich verhalten muss, um mich schnell genug zu drehen und eine gute Landung zu vollziehen. Bei dieser Pyramide ist allerdings alles anders. Anstatt wie sonst bei meiner Base zu landen, müssen mich die Mädels auf der zweiten Ebene der Pyramide fangen und waagrecht halten.

Eine letzte Drehung, und ich bereite mich auf das Gefangen-Werden vor, indem ich meinen gesamten Körper anspanne. Aber genau in der Sekunde, in der ich eigentlich die schützenden Hände von Olivia und Rachel unter mir spüren sollte, geschieht nichts. Gar nichts. Bevor ich auch nur ansatzweise realisieren kann, was los ist, falle ich auch schon in die Tiefe. Das schwerelose Fliegen verwandelt sich innerhalb eines Augenblicks zu einem Albtraumsturz. Aus einem reinen Instinkt heraus drehe ich mich im Fallen seitlich und halte meine Hände vom Körper weg, um mich nicht abzustützen und einen Bruch zu riskieren. Ich sehe den Aufprall kommen, und trotzdem erschüttert er mich bis ins Mark. Meine Knochen knacken, und mein Kopf prallt auf der Matte auf. Schmerzen zucken durch mein Rückgrat, und ich kann nur gepresst Luft holen, weil mein Oberkörper in Flammen zu stehen scheint. Jeder Atemzug ist pures Feuer. Ein Wimmern kommt über meine bebenden Lippen, weil ich es nicht einmal schaffe, mich auf den Rücken zu drehen. Scheiße, tut das weh …

Nur am Rande bekomme ich mit, wie sich die Formation auflöst und sich das gesamte Team zurückzieht. Wahrscheinlich werden sie von Coach Sanderson gerade in die Umkleide geschickt. Nur zwei andere Cheerleader bleiben in der Halle. Olivia und Rachel. Diejenigen, die mich fallen gelassen haben.

Plötzlich beugt sich eine andere Person über mich, und ich muss mehrfach blinzeln, bis ich sie erkenne. Es ist Max, unser Sportsanitäter. Er hilft mir in eine liegende Position und beginnt langsam, meinen Körper abzutasten. Ich schaffe es, meine Lippen zusammenzupressen und keinen Laut von mir zu geben. Zumindest, bis er an meine rechten Rippen gelangt. Er berührt die Stelle gerade einmal mit seiner Fingerkuppe, als eine Schmerzwelle über mich hinwegspült und ich für einen kurzen Moment den Fokus verliere. Ein kreischender Schrei entfährt mir, so animalisch und laut, dass es für kurze Zeit niemand wagt, auch nur ein Wort zu sagen.

Max lässt sofort von meinen Rippen ab und kontrolliert, ob ich möglicherweise eine Gehirnerschütterung erlitten habe. Dazu leuchtet er mir in die Augen und weist mich an, seinem Zeigefinger zu folgen, den er von links nach rechts bewegt. Zeitgleich stellt er mir einige Fragen, die ich zum Glück ohne Probleme beantworten kann.

»Wie lautet dein Name?«

»Brianna Callister.«

»Wie alt bist du?«

»Siebzehn.«

»Wo wohnst du?«

»In Fircreek.«

»Wie lauten die Namen deiner Eltern?«

»Aubrey und Thomas.«

Die Fragen nehmen scheinbar kein Ende, doch irgendwann steckt Max seine kleine Taschenlampe weg und hilft mir auf, indem er mich an der Hüfte in die Höhe hebt und mir schließlich seinen Arm anbietet, um das Gleichgewicht zu halten.

»Du solltest möglichst schnell einen Arzt aufsuchen. Ich sehe zwar keine Anzeichen für eine Gehirnerschütterung, aber deine Rippen könnten angeknackst sein.«

Ich kann nichts anderes tun, als auf seine Ausführung hin verkniffen zu lächeln und zu nicken. Was habe ich auch für eine Wahl?

Schließlich begeben wir uns zu Coach Sanderson und den Unfallverursachern. Ich ahne schon, was jetzt kommen wird …

»Wie konnte das passieren?«, keift Coach Sanderson gerade los. Ihre strenge Art sorgt dafür, dass selbst ich zusammenzucke, obwohl ich gar nichts falsch gemacht habe. Ich kann sogar aus zwei Metern Entfernung erkennen, wie stark die Pulsader an ihrem Hals pocht. Das ist niemals ein gutes Zeichen.

»Ich weiß nicht … ich habe alles so gemacht wie immer … und dann bin ich gefallen«, sprudele ich hervor und schaue Olivia an. Ihre giftgrünen Augen blitzen wütend auf, aber ich erkenne noch mehr darin: einen Anflug von Triumph. Erneut knirsche ich mit den Zähnen, weil mir die böse Ahnung kommt, dass Olivia meinen Unfall mit Absicht provoziert hat. Natürlich. Leider kenne ich den Grund dafür nur allzu gut.

Sie ist seit Jahren in Kian verliebt. Seit ich mit ihm zusammenkam, macht sie mir das Leben zur Hölle und lässt keine Gelegenheit aus, mich zu schikanieren. Wenn ich nur daran denke, was sie alles getan hat, um Kian und mich auseinanderzubringen … und das mit Erfolg, wie sich schließlich gezeigt hat. Sie hat alles gegeben und ihn für eine Nacht für sich gewonnen. Aber bekommen hat sie ihn deswegen noch lange nicht.

Ein Schwall von Übelkeit steigt in meiner Speiseröhre hoch, und ich muss mich zusammenreißen, um ihr nicht vor die Füße zu kotzen. Kian und sie passen im Nachhinein betrachtet wirklich gut zusammen. Die beiden sind hinterhältig und kennen keine Grenzen, wenn es um den eigenen Egoismus geht.

»Was habt ihr dazu zu sagen?«, giftet Coach Sanderson Olivia und Rachel an.

»Vielleicht hat sie es ja verdient zu fallen«, gibt Olivia grinsend zurück. Hat sie das gerade wirklich gesagt? Ich kann es nicht fassen! Dass sie es wagt, solche Gedanken laut auszusprechen, zeigt nur, wie durchtrieben sie ist. Ich stelle für sie anscheinend nicht die geringste Bedrohung dar.

In der Zwischenzeit nimmt das Gesicht unseres Coaches eine ungesunde rote Färbung an. Es wirkt fast so, als würde ihr gleich der Schädel platzen.

»Ich will so was nie … NIE wieder hören! Verstanden? Ihr seid ein Team, und eure privaten Schwierigkeiten haben hier nichts verloren!«, stellt sie ein für alle Mal klar. Doch ich glaube, Olivia sieht das anders. Auch seit Kian und ich ihretwegen getrennt sind, behandelt sie mich fies und von oben herab und sabotiert immer wieder das Cheer-Training, damit ich schlecht dastehe. Ich verstehe nicht, warum sie das tut. Immerhin hat sie doch längst bekommen, was sie wollte.

»Wir befinden uns kurz vor den Meisterschaften und haben vielleicht endlich die Chance, es aufs Treppchen zu schaffen. Wenn du meinst, unkameradschaftliches Verhalten an den Tag legen zu müssen, habe ich kein Problem damit, dich aus dem Team zu werfen und zu ersetzen, Olivia Hall.«

Das sitzt. Olivias Gesichtsausdruck wechselt innerhalb einer Millisekunde von überlegen zu entsetzt. Wäre ich nicht gerade so beschäftigt damit, meine Schmerzen still zu ertragen, würde ich mich sicher freuen, dass sie endlich mal die Konsequenzen ihrer Taten zu spüren bekommt.

»Das können Sie nicht machen!«, protestiert Olivia mit brüchiger Stimme. Ich beobachte stumm, was als Nächstes geschieht, auch weil ich nicht genug Atem habe, um mich einzumischen.

»Ich kann und ich werde. Gib mir nur noch einen Grund, und du wirst aus dem Team gekickt. Ohne Kompromisse. Eure kleinen Rivalitäten haben bei so einem großen Wettkampf nichts zu suchen, und wenn du dich nicht professionell verhalten kannst, musst du mit den Folgen rechnen. Das ist mein letztes Wort.« Coach Sanderson dreht sich auf der Stelle um und sammelt ihre Unterlagen ein, die sie auf der Trainingsmatte liegen gelassen hat. Olivia sieht mir nicht einmal in die Augen, sondern verschwindet schnell in der Umkleide.

Am liebsten würde ich mich bei Coach Sanderson bedanken, dass sie in solch einer starken Art und Weise zu mir gehalten hat, doch Max lotst mich ebenfalls in Richtung Umkleide und wartet sogar, bis ich mich an der Wand abstützen und Schritt für Schritt selbst hineinhumpeln kann.

Eigentlich habe ich damit gerechnet, Olivia und Rachel dort zu begegnen. Stattdessen entdecke ich jemand anderen auf einer der Bänke. Überrascht bleibe ich einige Sekunden lang stehen und blinzle mehrmals – nur um sicherzugehen, dass sie keine Halluzination meines durchgeschüttelten Gehirns ist.

»Xenia? Was machst du denn hier?« Ich freue mich wirklich, sie zu sehen, auch wenn mich meine Schmerzen fast verrückt machen. Trotzdem wundere ich mich, denn meine beste Freundin hat mich noch nie beim Training besucht, geschweige denn in der Umkleide auf mich gewartet.

Sie springt sofort auf und eilt zu mir herüber, als sie zu bemerken scheint, dass ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Ihre Locken wirbeln ihr dabei wie eine Wolke um den Kopf herum, und sie blickt mich plötzlich ganz sorgenvoll an.

»Mir geht es gut …« Die Worte liegen mir bereits auf der Zunge, auch wenn das ganz offensichtlich nicht der Fall ist. Ich schlucke sie hinunter.

Erst vor wenigen Stunden wünschte ich mir nichts sehnlicher, als mit ihr sprechen zu können. Jetzt, wo Xenia tatsächlich vor mir steht, würde ich sie allerdings am liebsten wegschicken. Ich bin zu mitgenommen von dem Unfall.

»Ich wollte dich etwas fragen und hatte keine Lust, vor der Sporthalle zu warten. Aber was zur Hölle ist mit dir passiert?«, fragt sie mich und stützt mich am Ellenbogen, damit ich mich setzen und kurz verschnaufen kann.

»Hast du noch nichts von Smartphones gehört? Du hättest mir deine Frage einfach schreiben können«, keuche ich. Atmen und Sprechen fallen mir immer noch schwer. Hoffentlich haben die Rippen meine Lunge bei dem Sturz nicht verletzt. Das wäre fatal für eine Teilnahme an den Meisterschaften.

»Und das hier ist nicht schlimm. Ich bin nur beim Training gestürzt«, murmele ich schließlich und weiche Xenias Blick aus. Ehrlich gesagt ist mir die ganze Situation unangenehm, weil sie mich so verletzlich sieht. Ja, sie ist meine beste Freundin. Trotzdem hätte ich diesen Anblick gerne vor ihr verborgen, jedenfalls im Moment. Sicher hat sie inzwischen auch die unzähligen blauen Flecken entdeckt, die ohnehin meinen ganzen Körper überziehen. Sie sind die Male meiner Fehler. Falsche Landungen, zu schnelle Starts, zu wenig Koordination und Flüchtigkeitsfehler. Alles hat seinen Preis beim Cheerleading. Jeden Fehltritt spürt man mindestens eine Woche lang. Obwohl der Sport mir so viel abverlangt und mich jedes Mal an meine Grenzen bringt, liebe ich ihn wie am ersten Tag. Das Gefühl des Fliegens, die wahnsinnige Verbundenheit zu meinem Team und natürlich das Adrenalin, das durch meinen Körper pumpt und jeden Auftritt unvergesslich macht.

Überraschenderweise sagt Xenia nichts zu meinen Verletzungen, auch wenn ich deutlich sehen kann, wie sie sich auf die Unterlippe beißt. Stattdessen hilft sie mir aus den Sportsachen und in meine normalen Klamotten hinein. Sie besorgt sogar aus einem Nebenraum ein Kühlpad, das ich vorsichtig gegen meine Rippen drücke. Selbst diese leichte Berührung treibt mir vor Schmerzen die Tränen in die Augen. Aber ich halte durch und verdrücke sie.

»Soll ich mit dir in die Notaufnahme fahren?«, fragt sie mich, und die ehrliche Besorgnis in ihrer Stimme bringt mich zum Lächeln. Das letzte Mal, als sie sich so fürsorglich um mich gekümmert hat, war, als ich komplett verheult vor ihrer Haustür stand. Etwa eine Stunde nachdem Kian und ich Geschichte waren.

»Nein, ich muss mich heute nur ein bisschen ausruhen. In ein bis zwei Tagen bin ich wieder fit, du wirst schon sehen«, versuche ich sie und mich zu beruhigen. Mir ist bewusst, dass ich mich damit gegen den professionellen Rat von Max wende, allerdings kann ich momentan nicht riskieren, krankgeschrieben zu werden. Die Ärzte würden mich mit Schmerzmitteln vollpumpen und mir Bettruhe verordnen. Das kann ich dem Team so kurz vor den Meisterschaften nicht antun. Ich muss performen. Ich muss einfach. Selbst, wenn ich die Choreografie unter Schmerzen hinter mich bringe.

»Bist du dir sicher, Bri? Du siehst wirklich … nicht gut aus.« Xenia nuschelt die letzten Worte nur. Es soll nicht verletzend klingen, das weiß ich. Trotzdem versetzt es mir einen kleinen Stich, diesen Satz aus ihrem Mund zu hören. Ich keuche auf und schließe die Augen, bevor ich nach meiner Sporttasche greife und zum Ausgang der Umkleide humple. Doch dann fällt mir etwas ein, und ich bleibe stehen.

»Wolltest du mich nicht etwas fragen?« Ich sehe sie an. Sofort hellt sich die Miene meiner Freundin ein wenig auf.

»Ja! Yves und ich haben am Wochenende einen Campingtrip geplant. So wie früher! Du sollst unbedingt mitkommen.«

Das kommt überraschend. Und es klingt wirklich schön. Verlockend sogar. Ich fühle mich ertappt, weil ich heute Mittag noch von einem Neuanfang geträumt und mir vorgestellt habe, wieder mehr Zeit mit meinen Freunden zu verbringen. Die Idee ist perfekt. Fast schon zu perfekt … Irgendetwas lässt mich zögern, begeistert zuzusagen. Und das offensichtlich zu Recht, denn Xenias Mundwinkel zuckt verräterisch. Täusche ich mich, oder wirkt sie auf einmal unsicher?

»Was ist der Haken? Du verschweigst mir doch etwas, oder?«, frage ich zögernd. Sofort fällt die überglückliche Farce meiner Freundin in sich zusammen, und Risse bilden sich in ihrer fröhlichen Maske. Ich wusste es. Sie kann mir nichts vormachen.

»Kian wird auch dabei sein.« Sie senkt schnell den Kopf und starrt auf ihre Fußspitzen.

Ihre Worte lassen die Übelkeit in meinem Magen erneut emporschießen, und ich muss mich wirklich zurückhalten, um dem Drang meines Körpers nicht nachzugeben. Säure kratzt in meinem Hals und brennt in meiner Brust. Jetzt weiß ich immerhin, worüber erst Yves und Xenia und dann Yves und Kian in der Schule geredet haben. Sie müssen über das Wochenende gesprochen haben. Und Kian hat offensichtlich nach erstem Zögern zugesagt. Nie hätte ich gedacht, dass mich ausgerechnet so eine Nachricht einmal derart aus der Fassung bringen würde: die Ankündigung, dass ein gemeinsames Wochenende mit Kian geplant ist. Mit Kian, einem meiner besten Freunde und meiner ersten großen Liebe. Kian, der mich verlassen und betrogen hat.

Trotzdem: Unter der Übelkeit spüre ich, wie mein Puls bei seinem Namen in die Höhe schießt. Verdammtes, verräterisches Herz!

»Bitte, sei nicht böse. Yves und ich möchten so gern mal wieder mit euch allen etwas unternehmen. Als Clique, du weißt schon. Ich verstehe, dass du wegen Kian am liebsten ans andere Ende des Landes flüchten würdest, und meinetwegen könnte er auch wegbleiben, aber er ist nun mal Yves’ Kumpel. Und immerhin ist es unser letztes Schuljahr. Wenn wir uns zusammenreißen, wird es vielleicht keine Vollkatastrophe. Was sagst du?« Endlich sieht Xenia wieder auf und schaut mir in die Augen. In ihrem Blick liegen so viel Hoffnung und Zuversicht. Ich weiß, wie wichtig Xenia unsere Freundschaft und der Zusammenhalt der Gruppe ist. Sie ist gewissermaßen der Kleister, der uns alle beisammenhält. Wenn ich sie jetzt hängen lasse, verliere ich vielleicht den letzten Bezug zu den anderen und habe nie wieder die Möglichkeit, mich mit Kian auszusprechen. Ich bin noch lange nicht bereit loszulassen.

»Du hast ja recht. Es ist wirklich an der Zeit für eine Veränderung. Die Sache mit Kian macht mir zwar zu schaffen …« Ich beiße mir auf die Unterlippe. »… aber das ist weder deine noch Yves’ Schuld. Vielleicht sollte ich wirklich endlich über meinen Schatten springen.« Noch während ich das sage, bereue ich es schon ein wenig. Denn jetzt gibt es keinen Rückzieher mehr. Ich kann mich nicht mehr hinter einer Mauer aus Schweigen und Ignoranz verstecken, sondern muss mich dem Feind stellen.

»Oh danke, Bri! Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet. Das Wochenende wird unvergesslich, versprochen.« Xenia zieht mich in eine enge Umarmung, bevor ich protestieren kann. Obwohl ich ihre Nähe wirklich genieße, kann ich ein schmerzerfülltes Ächzen nicht verhindern, sobald sie meine Rippen flüchtig berührt.

»O mein Gott, es tut mir leid! Habe ich dir wehgetan?« Sie weicht schnell von mir ab und begutachtet mich von oben bis unten. Ich versuche, gerade zu stehen, ohne am ganzen Körper zu zittern, und bringe meine Mundwinkel sogar dazu, nach oben zu zeigen.

»Alles in bester Ordnung. Mach dir keine Sorgen um mich.« Meine Stimme wackelt so sehr, dass ich mich nicht einmal selbst von meinen Worten überzeugen kann.

Xenia begleitet mich daraufhin noch bis zum Parkplatz. Hier trennen sich unsere Wege, denn sie wohnt am anderen Ende der Stadt. Obwohl ich heute mit dem Auto meines Dads fahren darf und sie bei ihr zu Hause absetzen könnte, besteht sie darauf, den Bus zu nehmen, damit ich schneller heimkomme.

»Melde dich, wenn du heile angekommen bist, ja?«, meint sie nun schon zum hundertsten Mal. Ich schicke sie mit einem zaghaften Lächeln fort, bevor ich die Autotür öffne und auf dem Ledersitz zusammenklappe. Mein Körper kann nicht mehr. Ich lasse den Kopf für einen Moment auf das Lenkrad sinken, um durchzuatmen.

Ich kann das schaffen.

Ich muss es schaffen.

Ich bin mir selbst noch nicht im Klaren darüber, ob ich damit die Autofahrt meine oder das Cheer-Training oder das Aufeinandertreffen mit Kian.

Samstag, 13. April

15:23 Uhr

Ich fasse es nicht. Ich tue es wirklich! Insgeheim habe ich gehofft, dass irgendetwas mich daran hindern würde, an diesem Campingtrip teilzunehmen. Sei es Xenias strenger Dad, meine eigenen Eltern oder der nahende Weltuntergang. Alles wäre mir recht gewesen.

Stattdessen hat Xenias Vater nicht nur dem Campingtrip zugestimmt, sondern uns für den Notfall sogar die Schlüssel für seine Jagdhütte versprochen. Mom und Dad waren ganz begeistert von der Idee, vermutlich weil sie das komplette Wochenende durcharbeiten können, ohne dass ich sie störe. Obendrein bewegt sich heute keine einzige Wolke über den strahlend blauen Himmel. Das Universum hat sich offiziell gegen mich verschworen.

»Freust du dich schon, Kleine?«, fragt mein Dad vom Fahrersitz aus und wirft einen Schulterblick zurück zu mir. Er hat sich zum Glück bereit erklärt, mich zu Xenia zu fahren. Ich weiß nicht, ob ich es mit meinen schmerzenden Rippen geschafft hätte, einen Rucksack durch die halbe Stadt zu schleppen. Denn trotz aller guten Ratschläge bin ich mit meiner Verletzung nicht zum Arzt gegangen. Ich habe nicht einmal meinen Eltern von dem Sturz erzählt. Die Angst, zur Schonung verdonnert zu werden, war zu groß. Nein, auf gar keinen Fall werde ich zum Arzt gehen. Mein Körper kann sich sehr gut selbst heilen.

»Total, das wird sicher fantastisch«, sage ich und zwinge meine Mundwinkel nach oben. Zum Glück bemerkt Dad den Sarkasmus hinter meinen Worten nicht und richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. Als Xenias Haus in Sicht kommt, reiße ich die Tür auf, noch bevor das Auto vollständig zum Stehen kommt. In einer ruckartigen Bewegung, die ich sofort bereue, ziehe ich den Rucksack zu mir heran. Der Schmerz in meinem Brustkorb bricht wie eine Welle über mir ein und raubt mir für einen Augenblick die Luft. Ich schnappe nach Sauerstoff und presse die Zähne zusammen. Warte auf den Moment, in dem der Schmerz langsam abebbt und sich nur noch als dumpfes Pochen äußert.

»Danke fürs Fahren, Dad!«, rufe ich nach vorne und warte seine Antwort gar nicht erst ab. Dann knalle ich die Tür hinter mir zu. Hoffentlich hat er nichts von meinem Schwächeanfall mitbekommen. Nein, offensichtlich nicht. Er hupt zwei Mal schnell hintereinander, bevor er mich in einer Abgaswolke stehen lässt. Ich sehe ihm nach: Die Versuchung, dem Auto hinterherzurennen, ist unermesslich groß.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du wirklich auftauchst«, vernehme ich eine tiefe Stimme hinter mir. Sie klingt amüsiert. Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer dort steht. Für einen kurzen Moment erstarre ich, bevor ich mich zusammenreiße.

»Bilde dir bloß nichts drauf ein«, grummle ich, bevor ich mich hastig umwende und an Kian vorbeistiefele. Ich bin definitiv nicht in der Stimmung, mich mit ihm auseinanderzusetzen. Die körperlichen Schmerzen sind gerade so stark, dass sie meinen seelischen durchaus Konkurrenz machen. Gerade kann ich nur mit einem umgehen.

Entschlossen gehe ich einfach an ihm vorbei und schenke weder seinem bohrenden Blick noch seiner für einen Campingausflug vollkommen ungeeigneten Montur Beachtung. Lediglich seinem Duft kann ich nicht entkommen. Es ist bloß ein Anflug von Minze, das reicht jedoch völlig aus, um alte Erinnerungen zu wecken und mich mental in eine Zeit zu katapultieren, in die ich nicht mehr zurückkehren will. Jedenfalls heute nicht. Ich habe Xenia versprochen, mich zusammenzureißen, und das werde ich auch.

Ohne zu zögern, stoße ich das kleine Tor zum Vorgarten der Familie Chadburn auf und stapfe in Richtung der Haustür. Noch bevor ich die Klingel betätigen kann, schwingt die Tür nach innen auf und offenbart eine strahlende Xenia. Ich kann ihr förmlich ansehen, wie sehr sie sich diesen Moment herbeigesehnt hat.

»Hey, da seid ihr ja!«, begrüßt sie uns überschwänglich, während ihr Blick hinter uns wandert. Ich drehe mich um. Auch Yves hat sich inzwischen in den Vorgarten gesellt und winkt Xenia zu.

Kian wirkt geradezu gelangweilt und nickt nur in Xenias Richtung. Er trägt einen klobigen Schlafsack unterm Arm, sieht aber ansonsten so aus, als wäre er gerade in einem Designerladen shoppen gewesen und nicht auf dem Weg zu einem Campingtrip. Die helle Hose und das ordentlich gebügelte Hemd werden diesen Ausflug bestimmt nicht überleben.

Ich habe mir immerhin die Mühe gemacht, meine alten Wanderschuhe hervorzukramen. Das ist zumindest ein Fortschritt im Vergleich zu Kian. Der Einzige von uns, der jedoch wirklich so etwas wie Vorfreude versprüht, ist Yves. Sein Grinsen und das Leuchten in seinen dunkelbraunen Augen stecken mich sofort an, weshalb ich sogar über den schlecht gelaunten Kian hinwegsehen kann. Yves war schon immer derjenige, der die Stimmung der Gruppe am meisten lenken konnte.

Hinter Xenia schiebt sich ihr Vater in den Türrahmen und lässt ein müdes Stöhnen hören. »Na dann mal los«, grummelt er. »Ihr könnt eure Sachen schon ins Auto bringen.«