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In 'Über die Epochen der neueren Geschichte' von Leopold von Ranke taucht der Leser in eine detaillierte Analyse der verschiedenen Epochen der neueren Geschichte ein. Von der Renaissance bis zur Französischen Revolution bietet Ranke eine faszinierende Untersuchung der politischen, kulturellen und sozialen Entwicklungen, die jede Ära geprägt haben. Sein nüchterner und akribischer Stil der Geschichtsschreibung hebt das Werk von anderen historischen Werken hervor und unterstreicht Rankes Ruf als einer der bedeutendsten Historiker des 19. Jahrhunderts. Die Arbeit ist ein Meilenstein in der Entwicklung der Geschichtsschreibung und bleibt bis heute ein wichtiges Referenzwerk. Leopold von Rankes tiefe Kenntnisse und sein analytischer Blick auf die Geschichte machen dieses Buch zu einem unverzichtbaren Werk für Geschichtsinteressierte und Studierende der Geschichtswissenschaft. Durch seine präzise Darstellung und sorgfältige Forschung bietet 'Über die Epochen der neueren Geschichte' einen faszinierenden Einblick in die Vergangenheit und regt dazu an, kritisch über die Abläufe und Entwicklungen der Geschichte nachzudenken.
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Seitenzahl: 268
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Einleitung
Zum Behufe der gegenwärtigen Vorträge ist es vor allem nötig, sich über zweierlei zu verständigen: erstens über den Ausgangspunkt, den man dabei zu nehmen haben wird; zweitens über die Hauptbegriffe.
Was den Ausgangspunkt betrifft, so würde es uns für den vorliegenden Zweck viel zu weit führen, wenn wir uns mit der Anschauung in ganz entfernte Zeiten, in ganz abgelegene Zustände versetzen wollten, welche zwar immer noch einen Einfluß auf die Gegenwart ausüben, aber nur einen indirekten. Wir werden also, um uns nicht ins rein Historische zu verlieren, von der römischen Zeit ausgehen, in welcher eine Kombination der verschiedensten Momente zu finden ist.
Hiernächst haben wir uns zu verständigen: erstens über den Begriff des Fortschritts im allgemeinen; zweitens über das, was man im Zusammenhang damit unter »leitenden Ideen« zu verstehen habe.
I. Wie der Begriff »Fortschritt« in der Geschichte aufzufassen sei
Wollte man mit manchem Philosophen annehmen, daß die ganze Menschheit sich von einem gegebenen Urzustande zu einem positiven Ziel fortentwickelte, so könnte man sich dieses auf zweierlei Weise vorstellen: entweder, daß ein allgemein leitender Wille die Entwicklung des Menschengeschlechts von einem Punkt nach dem anderen forderte, – oder, daß in der Menschheit gleichsam ein Zug der geistigen Natur liege, welcher die Dinge mit Notwendigkeit nach einem bestimmten Ziele hintreibt. – Ich möchte diese beiden Ansichten weder für philosophisch haltbar, noch für historisch nachweisbar halten. Philosophisch kann man diesen Gesichtspunkt nicht für annehmbar erklären, weil er im ersten Fall die menschliche Freiheit geradezu aufhebt und die Menschen zu willenlosen Werkzeugen stempelt; und weil im andern Fall die Menschen geradezu entweder Gott oder gar nichts sein müßten.
Auch historisch aber sind diese Ansichten nicht nachweisbar; denn fürs erste findet sich der größte Teil der Menschheit noch im Urzustande, im Ausgangspunkte selbst; und dann fragt es sich: was ist Fortschritt? Wo ist der Fortschritt der Menschheit zu bemerken? – Es gibt Elemente der großen historischen Entwicklung, die sich in der römischen und germanischen Nation fixiert haben; hier gibt es allerdings eine von Stufe zu Stufe sich entwickelnde geistige Macht. Ja es ist in der ganzen Geschichte eine gleichsam historische Macht des menschlichen Geistes nicht zu verkennen; das ist eine in der Urzeit gegründete Bewegung, die sich mit einer gewissen Stetigkeit fortsetzt. Allein es gibt in der Menschheit überhaupt doch nur ein System von Bevölkerungen, welche an dieser allgemein historischen Bewegung teilnehmen, dagegen andre, die davon ausgeschlossen sind. Wir können aber im allgemeinen auch die in der historischen Bewegung begriffenen Nationalitäten nicht als im stetigen Fortschritt befindlich ansehen. Wenden wir z.B. unser Augenmerk auf Asien, so sehen wir, daß dort die Kultur entsprungen ist, und daß dieser Weltteil mehrere Kulturepochen gehabt hat. Allein dort ist die Bewegung im ganzen eher eine rückgängige gewesen; denn die älteste Epoche der asiatischen Kultur war die blühendste; die zweite und dritte Epoche, in welcher das griechische und römische Element dominierten, war schon nicht mehr so bedeutend, und mit dem Einbrechen der Barbaren – der Mongolen – fand die Kultur in Asien vollends ein Ende. Man hat sich dieser Tatsache gegenüber mit der Hypothese geographischen Fortschreitens helfen wollen; allein ich muß es von vornherein für eine leere Behauptung erklären, wenn man annimmt, wie z. B. Peter der Große, die Kultur mache die Runde um den Erdball; sie sei von Osten gekommen und kehre dahin wieder zurück.
Fürs zweite ist hiebei ein andrer Irrtum zu vermeiden, nämlich der, als ob die fortschreitende Entwicklung der Jahrhunderte zu gleicher Zeit alle Zweige des menschlichen Wesens und Könnens umfaßte. Die Geschichte zeigt uns, um beispielsweise nur ein Moment hervorzuheben, daß in der neueren Zeit die Kunst im 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts am meisten geblüht hat; dagegen ist sie am Ende des 17. und in den ersten drei Vierteilen des 18. Jahrhunderts am meisten heruntergekommen. Geradeso verhält es sich mit der Poesie: auch hier sind es nur Momente, wo diese Kunst wirklich hervortritt; es zeigt sich jedoch nicht, daß sich dieselbe im Laufe der Jahrhunderte zu einer höheren Potenz steigert.
Wenn wir somit ein geographisches Entwicklungsgesetz ausschließen, wenn wir andrerseits annehmen müssen, wie uns die Geschichte lehrt, daß Völker zugrunde gehen können, bei denen die begonnene Entwicklung nicht stetig alles umfaßt, so werden wir besser erkennen, worin die fortdauernde Bewegung der Menschheit wirklich besteht. Sie beruht darauf, daß die großen geistigen Tendenzen, welche die Menschheit beherrschen, sich bald auseinander erheben, bald aneinander reihen. In diesen Tendenzen ist aber immer eine bestimmte partikuläre Richtung, welche vorwiegt und bewirkt, daß die übrigen zurücktreten.
So war z. B. in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts das religiöse Element so überwiegend, daß das literarische vor demselben zurücktrat. Im 18. Jahrhundert hingegen gewann das Utilisierungsbestreben ein solches Terrain, daß vor diesem die Kunst und die ihr verwandten Tätigkeiten weichen mußten. In jeder Epoche der Menschheit äußert sich also eine bestimmte große Tendenz, und der Fortschritt beruht darauf, daß eine gewisse Bewegung des menschlichen Geistes in jeder Periode sich darstellt, welche bald die eine, bald die andere Tendenz hervorhebt und in derselben sich eigentümlich manifestiert.
Wollte man aber im Widerspruch mit der hier geäußerten Ansicht annehmen, dieser Fortschritt bestehe darin, daß in jeder Epoche das Leben der Menschheit sich höher potenziert, daß also jede Generation die vorhergehende vollkommen übertreffe, mithin die letzte allemal die bevorzugte, die vorhergehenden aber nur die Träger der nachfolgenden wären, so würde das eine Ungerechtigkeit der Gottheit sein. Eine solche gleichsam mediatisierte Generation würde an und für sich eine Bedeutung nicht haben; sie würde nur insofern etwas bedeuten, als sie die Stufe der nachfolgenden Generation wäre, und würde nicht in unmittelbarem Bezug zum Göttlichen stehen. Ich aber behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eignen Selbst. Dadurch bekommt die Betrachtung der Historie, und zwar des individuellen Lebens in der Historie einen ganz eigentümlichen Reiz, indem nun jede Epoche als etwas für sich Gültiges angesehen werden muß und der Betrachtung höchst würdig erscheint.
Der Historiker hat also ein Hauptaugenmerk erstens darauf zu richten, wie die Menschen in einer bestimmten Periode gedacht und gelebt haben; dann findet er, daß, abgesehen von gewissen unwandelbaren ewigen Hauptideen, z.B. den moralischen, jede Epoche ihre besondere Tendenz und ihr eigenes Ideal hat. Wenn nun aber auch jede Epoche an und für sich ihre Berechtigung und ihren Wert hat, so darf doch nicht übersehen werden, was aus ihr hervorging. Der Historiker hat also fürs zweite auch den Unterschied zwischen den einzelnen Epochen wahrzunehmen, um die innere Notwendigkeit der Aufeinanderfolge zu betrachten. Ein gewisser Fortschritt ist hiebei nicht zu verkennen; aber ich möchte nicht behaupten, daß sich derselbe in einer geraden Linie bewegt; sondern mehr wie ein Strom, der sich auf seine eigne Weise den Weg bahnt. Die Gottheit – wenn ich diese Bemerkung wagen darf denke ich mir so, daß sie, da ja keine Zeit vor ihr liegt, die ganze historische Menschheit in ihrer Gesamtheit überschaut und überall gleichwert findet. Die Idee von der Erziehung des Menschengeschlechts hat allerdings etwas Wahres an sich; aber vor Gott erscheinen alle Generationen der Menschheit gleichberechtigt, und so muß auch der Historiker die Sache ansehen.
Ein unbedingter Fortschritt, eine höchst entschiedene Steigerung ist anzunehmen, soweit wir die Geschichte verfolgen können, im Bereiche der materiellen Interessen, in welchen auch ohne eine ganz ungeheure Umwälzung ein Rückschritt kaum wird stattfinden können; in moralischer Hinsicht aber läßt sich der Fortschritt nicht verfolgen. Die moralischen Ideen können freilich extensiv fortschreiten; und so kann man auch in geistiger Hinsicht behaupten, daß z.B. die großen Werke, welche die Kunst und Literatur hervorgebracht, heutzutage von einer größeren Menge genossen werden, als früher; aber es wäre lächerlich, ein größerer Epiker sein zu wollen, als Homer, oder ein größerer Tragiker, als Sophokles.
II. Was von den sogenannten leitenden Ideen in der Geschichte zu halten sei
Die Philosophen, namentlich aber die Hegelsche Schule hat hierüber gewisse Ideen aufgestellt, wonach die Geschichte der Menschheit wie ein logischer Prozeß in Satz, Gegensatz, Vermittlung, in Positivem und Negativem sich abspinne. In der Scholastik aber geht das Leben unter, und so würde auch diese Anschauung von der Geschichte, dieser Prozeß des sich selbst nach verschiedenen logischen Kategorien entwickelnden Geistes auf das zurückführen, was wir oben bereits verwarfen. Nach dieser Ansicht würde bloß die Idee ein selbständiges Leben haben; alle Menschen aber wären bloße Schatten oder Schemen, welche sich mit der Idee erfüllten. Der Lehre, wonach der Weltgeist die Dinge gleichsam durch Betrug hervorbringt und sich der menschlichen Leidenschaften bedient, um seine Zwecke zu erreichen, liegt eine höchst unwürdige Vorstellung von Gott und der Menschheit zugrunde; sie kann auch konsequent nur zum Pantheismus führen; die Menschheit ist dann der werdende Gott, der sich durch einen geistigen Prozeß, der in seiner Natur liegt, selbst gebiert.
Ich kann also unter leitenden Ideen nichts andres verstehen, als daß sie die herrschenden Tendenzen in jedem Jahrhundert sind. Diese Tendenzen können indessen nur beschrieben, nicht aber in letzter Instanz in einem Begriff summiert werden; sonst würden wir auf das oben Verworfene neuerdings zurückkommen.
Der Historiker hat nun die großen Tendenzen der Jahrhunderte auseinanderzunehmen und die große Geschichte der Menschheit aufzurollen, welche eben der Komplex dieser verschiedenen Tendenzen ist. Vom Standpunkt der göttlichen Idee kann ich mir die Sache nicht anders denken, als daß die Menschheit eine unendliche Mannigfaltigkeit von Entwicklungen in sich birgt, welche nach und nach zum Vorschein kommen, und zwar nach Gesetzen, die uns unbekannt sind, geheimnisvoller und größer, als man denkt.
Gespräch
KÖNIG MAX: Sie haben oben vom moralischen Fortschritt gesprochen; haben Sie dabei auch den inneren Fortschritt des einzelnen im Auge gehabt?
RANKE: Nein, sondern nur den Fortschritt des menschlichen Geschlechts; das Individuum hingegen muß sich immer zu einer höheren moralischen Stufe erheben.
KÖNIG MAX: Da aber die Menschheit aus Individuen zusammengesetzt ist, so fragt es sich, ob, wenn das Individuum zu einer höheren moralischen Stufe sich erhebt, dieser Fortschritt nicht auch die ganze Menschheit umfassen wird.
RANKE: Das Individuum stirbt; es hat ein endliches Dasein; die Menschheit dagegen ein unendliches. In materiellen Dingen nehme ich einen Fortschritt an, weil hier eins aus dem andern hervorgeht; anders in moralischer Beziehung. Ich glaube, daß in jeder Generation die wirkliche moralische Größe der in jeder andern gleich ist, und daß es in der moralischen Größe gar keine höhere Potenz gibt; wie wir denn z. B. die moralische Größe der alten Welt gar nicht übertreffen können. Es kommt in der geistigen Welt sogar häufig vor, daß die intensive Größe zu der extensiven in umgekehrtem Verhältnis steht; man vergleiche unsre heutige Literatur mit der klassischen.
KÖNIG MAX: Sollte man aber nicht doch annehmen dürfen, daß die Vorsehung, unbeschadet der freien Selbstbestimmung des einzelnen, der Menschheit im ganzen ein gewisses Ziel gesteckt hat, auf welches dieselbe, wenn auch nicht gewaltsam, hingeleitet wird?
RANKE: Dies ist eine kosmopolitische Hypothese, die man aber nicht historisch nachweisen kann. Wir haben hiefür zwar den Ausspruch der Heiligen Schrift, wonach einst nur ein Hirt und eine Herde sein wird; aber bis jetzt hat sich dieses noch nicht als der herrschende Gang der Weltgeschichte ausgewiesen. Dafür dient zum Beweise die Geschichte Asiens, welches nach Perioden der größten Blüte wieder in die Barbarei zurückgefallen ist.
KÖNIG MAX: Ist nicht aber doch jetzt eine größere Anzahl von Individuen zu einer höheren moralischen Entwicklung gediehen, als früher?
RANKE: Ich gebe das zu, aber nicht prinzipgemäß; denn die Geschichte lehrt uns, daß manche Völker gar nicht kulturfähig sind, und daß oft frühere Epochen viel moralischer waren, als spätere. Frankreich in der Mitte des 17. Jahrhunderts z. B. war viel moralischer und gebildeter, als zu Ende des 18. Jahrhunderts. Wie gesagt, eine größere Expansion der moralischen Ideen läßt sich behaupten, aber nur in bestimmten Kreisen. Vom allgemein menschlichen Standpunkt aus ist es mir wahrscheinlich, daß die Idee der Menschheit, die historisch nur in den großen Nationen repräsentiert ist, allmählich die ganze Menschheit umfassen sollte, und dies wäre dann der innere moralische Fortschritt. Die Historie opponiert sich dieser Anschauung nicht, weist sie aber nicht nach. Insbesondere müssen wir uns hüten, diese Anschauung zum Prinzip der Geschichte zu machen.
Unsere Aufgabe ist, uns bloß an das Objekt zu halten.
Der Begriff des Fortschrittes, mit dem sich unsre einleitende Betrachtung vornehmlich beschäftigte, ist, wie wir sahen, nicht anwendbar auf verschiedene Dinge. Er ist nicht anwendbar auf die Verbindung der Jahrhunderte im allgemeinen; d. h. man wird nicht sagen dürfen, daß ein Jahrhundert dem andern dienstbar sei. Ferner wird dieser Begriff nicht anwendbar sein auf die Produktionen des Genius in Kunst, Poesie, Wissenschaft und Staat; denn diese alle haben einen unmittelbaren Bezug zum Göttlichen; sie beruhen zwar auf der Zeit, aber das eigentlich Produktive ist unabhängig von dem Vorhergängigen und dem Nachfolgenden. So z. B. ist Thucydides, der die Geschichtschreibung eigentlich produziert hat, in seiner Weise unübertrefflich geblieben.
Ebensowenig würde ein Fortschritt anzunehmen sein in dem individuell moralischen oder religiösen Dasein, denn dieses hat auch eine unmittelbare Beziehung zur Gottheit. Nur das könnte man zugeben, daß die früheren Begriffe der Moral unvollkommen waren; aber seitdem das Christentum und mit ihm die wahre Moralität und Religion erschienen ist, konnte hierin kein Fortschritt mehr stattfinden. Auch das ist richtig, daß z. B. unter den Griechen gewisse nationale Vorstellungen herrschten, wie über das Erlaubtsein der Rache, die durch das Christentum geläutert wurden; aber das Essentielle des Christentums ist darum nicht durch frühere unvollkommene Zustände vorbereitet worden, sondern das Christentum ist eine plötzliche göttliche Erscheinung; wie denn überhaupt die großen Produktionen des Genies den Charakter des unmittelbar Erleuchteten an sich tragen. Es kann nach Plato kein Plato mehr kommen; und so wenig ich die Verdienste Schellings um die Philosophie verkenne, so glaube ich doch nicht, daß er Plato übertroffen hat. Letzterer war in Sprache und Diktion, überhaupt in seiner poetischen Erscheinung unübertrefflich, wobei, was den Inhalt betrifft, nicht geleugnet werden kann, daß Schelling eine größere Masse von Stoff, der ihm von seinen Vorgängern überliefert wurde, zu benutzen wußte.
Dagegen ist ein Fortschritt anzunehmen in allem, was sich sowohl auf die Erkenntnis als auf die Beherrschung der Natur bezieht. Die erstere war bei den Alten in der Kindheit, und auch in letzterer Beziehung können sich die Alten nicht mit uns vergleichen. Dies hängt weiter zusammen mit dem, was wir Expansion nennen. Die Expansion der moralischen und religiösen Ideen, überhaupt der Ideen der Menschheit ist in einem unaufhörlichen Fortschritt begriffen, und da, wo einmal ein Mittelpunkt der Kultur besteht, hat dieselbe die Tendenz, sich nach allen Seiten hin auszubreiten; aber nicht so, daß man sagen könnte, der Fortschritt sei an jedem Punkte ohne allen Stillstand. – In den mehr materiellen Beziehungen also, in der Ausbildung und Anwendung der exakten Wissenschaften und ebenso in der Herbeiführung der verschiedenen Nationen und der Individuen zur Idee der Menschheit und der Kultur ist der Fortschritt ein unbedingter.
Hingegen fragt es sich bei den einzelnen Geisteswissenschaften, namentlich bei der Philosophie und Politik, ob hierin in der Tat ein Fortschritt stattgefunden hat. In der Philosophie muß ich bekennen, daß mir die älteste Philosophie, wie wir sie bei Plato und Aristoteles ausgebildet finden, genügt. In formeller Hinsicht ist man nie darüber hinausgekommen, und auch in materieller Beziehung kommen neuere Philosophen jetzt wieder auf Aristoteles zurück. Dasselbe ist bei der Politik der Fall: die allgemeinen Grundsätze derselben finden sich schon bei den Alten mit der größten Sicherheit angegeben, so sehr auch die nachfolgenden Zeiten an Erfahrungen und politischen Versuchen reicher geworden sind. Die Politik, in der wir uns jetzt bewegen, beruht natürlich auf den historisch gegebenen Zuständen. Die Fragen von der konstitutionellen und ständigen Monarchie usw. sind Fragen, die auf unserem Standpunkt die vollste Berechtigung haben, die aber doch nur auf den gegebenen Zuständen beruhen; denn niemand wird behaupten können, daß mit der Monarchie in der Idee schon die Stände verknüpft seien. Die späteren Zeiten haben also nur das vor den Alten voraus, daß ihnen eine größere Fülle von Erfahrungen auf dem politischen Gebiete zu Gebote steht. Ebenso ist die Frage von der Souveränität des Volkes oder des Fürsten nicht durch die Wissenschaft zu lösen, sondern sie wird auf historischem Wege durch die Parteigestaltungen ausgemacht. – Was ich von der Politik gesagt habe, gilt auch von der Geschichtschreibung. Niemand kann, wie berührt, die Prätension haben, ein größerer Geschichtschreiber zu sein, als Thucydides, hingegen habe ich selbst die Prätension, etwas andres in der Geschichtschreibung zu leisten, als die Alten; weil unsre Historie voller strömt, als die ihrige, weil wir andre Potenzen in die Historie hereinzuziehen suchen, welche das gesamte Leben der Völker umfassen, mit einem Worte, weil wir die Geschichte zur Einheit zu fassen suchen. –
Nachdem wir so einige Hauptbegriffe und den Ausgangspunkt dieser Vorträge festgestellt haben, gehen wir nunmehr zum eigentlichen Gegenstand derselben über.
§1 Grundlagen des römischen Reiches; Überblick über die ersten vier Jahrhunderte unserer Ära
Am Eingange dieser Betrachtungen haben wir uns vorerst zu vergegenwärtigen, was das römische Reich war in bezug auf seinen intellektuellen Inhalt und Standpunkt. Man kann sagen, daß alle alte Geschichte in die römische sich hinein ergießt, gleichsam in einem Strom, der in einen See mündet, und daß die ganze neuere Geschichte wieder von der römischen ausgeht. Ich wage es zu behaupten, daß die ganze Geschichte nichts wert wäre, wenn die Römer nicht existiert hätten.
Die erste Frage, welche Ew. Majestät angeregt haben, ist die, ob die alte Geschichte abgestorben ist, oder inwiefern in der römischen Geschichte alle Elemente wirksam waren, welche die alte Geschichte angeregt hat. Die Lösung dieser Frage ergibt sich daraus, wenn wir erwägen, daß das römische Reich errichtet wurde auf dem ihm vorangegangenen, durch Alexander den Großen und seine Nachfolger gestifteten griechisch-mazedonisch-orientalischen Reiche, welches in sich die bedeutendsten Momente des Orientalismus aufgenommen hatte.
Werfen wir hier einen kurzen Rückblick auf die älteste Geschichte, so finden wir im Orient starke religiöse Gegensätze. Wir finden dort die Juden, auf der einen Seite von den Ägyptern, auf der andern Seite von dem assyrischen und dem babylonischen Reiche begrenzt, dessen religiöse Vorstellungen mit denen der Ägypter eine unverkennbare Ähnlichkeit tragen.
Inmitten dieser heidnischen Völkerschaften waren die monotheistischen Juden unaufhörlichen Kämpfen und Anfechtungen ausgesetzt. Sie wurden von den Assyrern und Babyloniern in die Gefangenschaft fortgeführt, und für einen Augenblick schien der nationale Monotheismus dem Untergange nahe zu stehen, wenn nicht ein andres Element, welches mit dem jüdischen Verwandtschaft hatte, hilfreich an dasselbe herangekommen wäre. Dieses Element war das persische. Die Perser, deren religiöse Anschauungen reiner und geläuterter waren, als die der assyrischen und semitischen Götzendiener überhaupt, machten es sich zur Aufgabe, das jüdische Element zu restaurieren. Darauf kam aber Alexander der Große, der selbst ein eifriger Götzendiener war und restaurierte wieder den nationalen Götzendienst. Während Kambyses den Apis getötet hatte, erklärte Alexander sich für einen Sohn des Jupiter Ammon und akzeptierte den orientalischen Mythus.
Die beiden Momente, nämlich die reinere Religion an der die Perser einen gewissen Anteil hatten, und welche bei den Juden als Monotheismus erschien, wie die Götzendienerschaft der anderen Völker, gingen nun in das römische Reich über, welches das mazedonische, syrische und ägyptische Reich zwar eroberte, im übrigen aber alles dort bestehen ließ, wie es war.
Die Römer waren, gleich den Nachfolgern Alexanders, heftige Gegner der Juden, und da geschah nun jenes große Weltereignis, daß aus den Juden die Idee der Weltreligion hervorging. Die Juden hatten nämlich zwar die Idee von der Einheit Gottes – wahrscheinlich die Uridee der Urzeiten – erhalten, aber sie betrachteten Gott mehr als einen Nationalgott. Da erschien Christus, und hat, auf ihre Religion fußend, den allgemeinen Gott gepredigt und von allen Völkerinteressen und Nationalgöttern abstrahiert. Aus dem Judentum ging die Weltreligion hervor, in dem Augenblicke, wo die Römer die Eroberung des Orients vollendet hatten und eine Masse orientalischer Elemente in ihr Reich aufnahmen. Der ganze religiöse Kampf, der sich im orientalischen Reiche vollzogen hatte, ging in das römische Reich über, und erst im römischen Reiche hat das Christentum seine Welteroberung gemacht.
Wir haben somit gesehen, daß in religiöser Beziehung das Römerreich ein Komplex aller früherer Elemente war. Gehen wir nun auf die politischen Gegensätze über.
Die alten Völker des Orients waren religiös entzweit, aber politisch vereint und waren alle Gegner der Griechen. Es hatte sich dort eine ungeheure Monarchie ausgebildet, deren Herrschaft sich nur die entfernten Karthager entziehen konnten, und nun trat diesem Koloß das kleine Häufchen der Griechen entgegen, welche sich dem ungestümen Andrang zu widersetzen wagten. Die Elemente der stetigen Unabhängigkeit und der großen konzentrierten Monarchie gerieten miteinander in einen Konflikt, in welchem weder die Perser die Griechen, noch die Griechen die Perser unterwerfen konnten, so lange nämlich die ersteren republikanisch waren, weil während dieser Epoche die Eifersucht des Volkes jeden stürzte, dem eine größere Unternehmung zu glücken schien.
Die Perser wurden nur dadurch dem griechischen Elemente untertan, daß auch in Griechenland die Monarchie aufkam, eine Monarchie, welche das griechische Wesen mit orientalischen Formen repräsentierte. Die Monarchie, die bisher rein orientalisch und barbarisch gewesen war, wurde gräzisiert. Man kann sagen: wenn die Monarchie bloß persisch geblieben wäre, so hätte sie niemals im Okzident populär werden können, und wir hätten dann vielleicht nichts andres gesehen, als ein wunderliches Wesen, ähnlich der Herrschaft der Sassaniden. Allein, wie gesagt, so sehr sich auch die Nachfolger Alexanders als die Nachfolger der Pharaonen und andrer Dynastien betrachteten, so wurde doch die orientalische Monarchie mehr zivilisiert, indem diese Könige nun zugleich als Träger der Kultur auftraten. Man denke z.B. nur an Alexandria, jene große Pflanzschule des griechischen Geistes!
Das monarchische Element blieb also in den Gebietsteilen, welche später römisch wurden, sehr lebendig, so sehr, daß ich glaube, daß, wenn Markus Antonius, der nach Ägypten ging und mit der Cleopatra haushielt, gesiegt hätte, er vermöge seiner orientalischen Sympathien die orientalische Monarchie auf den Okzident übertragen haben würde. –
Der griechisch-republikanische Geist wurde aber durch diese Vorgänge nicht unterdrückt, sondern erhielt sich fortwährend lebendig und wirkte auf Rom zurück, zu einer Zeit, wo dort nur mehr die Formen der Republik bestanden. Dieser griechisch-republikanische Geist hatte einen um so größeren Einfluß auf Rom, als er das republikanische Prinzip mehr theoretisiert hatte und es in solcher Gestalt fortpflanzte, indem die vornehmen Römer eine vollkommen griechische Erziehung sich aneigneten. Auf diesem griechisch-republikanischen Boden hat Augustus seine Monarchie errichtet, keine Monarchie, wie wir sie uns denken, sondern ein Prinzipal, in dem alle republikanischen Formen stehenblieben. Augustus hätte es nie gewagt, sich König zu nennen, und insofern unterschied sich die Tendenz des Antonius total von der des Augustus.
Bei den Griechen war indes außer der Religion und Politik noch ein Moment hervorragend, welches Rom in sich aufnahm, nämlich das der Kunst und Literatur, ein Moment, welches sich schon unter den Nachfolgern Alexanders des Orients zu bemächtigen gesucht hatte. Ein Gedanke, auf den ich hier Wert lege, ist der, daß bei den andern Nationen die bisherigen literarischen Bestrebungen vereinzelt geblieben waren, bei den Griechen aber sich nach und nach eine Erscheinung entwickelte, die man Literatur nennen darf, d.h. ein Umkreis von literarischen Produktionen, welche die Tendenz hatten, alles Wissenswürdige in sich aufzunehmen. Dieses alles ging in das römische Reich über. Freilich kann man sagen: wenn das römische Reich einen andern Charakter gehabt hätte, der dem griechischen nicht analog gewesen wäre, so würde es sich nicht auf diese Weise haben entwickeln können. Dadurch aber, daß die republikanische Form in Rom die Oberhand behielt, blieb die Analogie zwischen den beiden Volksgeistern fort und fort aufrecht. Die Schriftsteller unter Augustus brauchten sich bloß an Griechenland anzuschließen, was, wenn Antonius die Oberherrschaft errungen hätte, nicht der Fall gewesen wäre. So aber trat die ganze orientalische, jüdisch-semitisch-griechische Welt in allen Produktionen in das römische Reich ein und kam mit demselben in einen unbedingten Zusammenhang. –
In dem ersten Jahrhundert unsrer Ära hingegen trat Rom in Zusammenhang mit dem Okzident. Dieses erste Jahrhundert, das man gewöhnlich so mißachtet, war ein Jahrhundert voll von Geist und Leben.
Hier aber müssen wir in unsern Betrachtungen einen Augenblick zurückgehen in die frühere Geschichte des Westens. Diese Geschichte beruht darauf, daß in früheren Zeiten die keltischen Völkerschaften in Gallien und Spanien die Oberhand hatten, in ersteren zum Teil in Verbindung mit den Germanen. Gallier waren bis nach Rom vorgedrungen; ein Brennus hatte Rom, ein andrer Delphi genommen; sie hatten ein kleines Reich in der Nähe von Byzanz gegründet; sie waren nach Syrien hinübergegangen und wollten einen Augenblick sogar Ägypten erobern. Kurz, die Gallier waren eine Zeitlang das mächtigste Volk, und ein Teil der römischen Geschichte beschäftigt sich damit, die Hinaustreibung der Gallier aus Italien zu beschreiben.
Da kam Cäsar und vollzog die große Eroberung Galliens; eines der wichtigsten Ereignisse der Weltgeschichte, denn auf Gallien beruht die ganze nachmalige Konfiguration des Okzidents. Ich sage in meiner Französischen Geschichte: das sind die großen Eroberer, welche zu gleicher Zeit auch die Kultur verbreiten, und dadurch zeichnete sich auch Cäsar aus! Er eroberte Gallien nicht allein, um es zu haben, sondern romanisierte und kultivierte es zugleich. Nun kann man zwar die Zwischenfrage einwerfen, ob es nicht möglich gewesen wäre, daß die Kelten sich selbst kultiviert hätten. Ich glaube kaum, diese Frage mit Ja beantworten zu können; denn sie waren von karthagischen und andern zivilisierenden Einflüssen umgeben, und doch brachen sie stets als Räuber in Italien und Asien ein und setzten sich fortwährend der Kultur entgegen, und erst durch ihre Besiegung bekam die Kulturwelt in Italien in Griechenland und im Orient Ruhe vor diesen Barbaren.
Nachdem Cäsar auch nach Britannien übergesetzt hatte, so erschien später Augustus und erwarb sich durch seine Eroberungen immense Verdienste um den Okzident; denn er ist es, der Spanien vollends den Römern unterwarf, Gallien von Lyon aus nach allen Richtungen hin kolonisierte und seine Kulturbestrebungen bis an den Rhein ausdehnte. Mit einem Worte: was Cäsar verrichtete, war unübertrefflich im Kriege; was aber Augustus vollführte, war noch stabiler; er vollendete die Romanisierung Galliens, und die Kelten mußten anfangen, alle lateinisch zu sprechen. Eine der größten Taten des Augustus war aber die, daß er, mit Hilfe des Drusus und Tiberius, die Alpen öffnete. Solange die barbarischen Bevölkerungen der Alpentäler sich wie ein Querbalken zwischen die Kulturwelt – Italien usw. – und den übrigen Okzident legten, war eine Verbreitung der Zivilisation in Mitteleuropa nicht denkbar. Nun aber, nachdem die Alpen eröffnet waren, fingen die Römer an, auf der einen Seite bis nach Pannonien vorzudringen – so Tiberius –, auf der andern Seite rückten sie in Deutschland bis an das Innerste von Westfalen vor. Hier wurden sie zwar geschlagen; aber demungeachtet wurde das ganze Gebiet längs des Rheines und südlich der Donau romanisiert: Köln und Augsburg waren römische Städte.
Was Cäsar in einer andern Richtung begonnen hatte, vollendete Claudius, der als einer der dümmsten Menschen verschrien ist, nämlich die Eroberung Britanniens. Diese Ländererwerbungen zogen sich fort bis in das 2. Jahrhundert, in welchem Trajan nach Besetzung Daziens und Moesiens das Gebiet der Rumänen oder Walachen vorbereitete. Die Herrschaft der Römer erstreckte sich über das Schwarze Meer bis an den Euphrat und fand ihre westliche Grenze im Atlantischen Ozean.
Das Hauptereignis des ersten Jahrhunderts unsrer Zeitrechnung war also, daß die in Rom aufgenommene orientalisch-griechische Kultur, die sich mit der lateinischen vereinigt hatte, nunmehr in den Okzident strömte, daß also alles in diesem ersten Jahrhundert eroberte Land Kulturgebiet wurde. Es ist ein Glück, daß diese Eroberungen ihre Grenze in Deutschland fanden, aber ohne die römischen Eroberungen würden wir nichts von Kultur wissen, und innerhalb dieser Grenzen war ihre Erscheinung das größte Weltereignis, welches je vor sich gegangen ist. Diese ungeheure Einheit löste sich zwar wieder auf in zwei Hälften, in eine griechische und eine lateinische; der Westen redete lateinisch, der Osten griechisch; aber das Ganze bildete doch eine Einheit.
Es fragt sich nunmehr, was, nachdem das Reich der Römer in den ersten Jahrhunderten gegründet worden war, auf diesem von ihnen eingenommenen unermeßlichen Schauplatz zustande kam. Dies kann der Natur der Sache nach nicht mehr etwas nach außen hin, sondern nach innen Gehendes gewesen sein, da es nicht möglich ist, daß ein Reich sich unaufhörlich nach außen entwickle. Auch Rom fand also seine Grenze, und es trifft in gewisser Hinsicht mit der welthistorischen Tendenz, die man freilich erst hinterher erkennen kann, zusammen, daß die erobernde Kraft sich bloß nach dem Okzident ergoß. Wenn man sich wundert, daß die Römer nicht auch, wie Alexander der Große, nach Arabien und Indien gingen, sondern alle ihre Kräfte darauf verwendeten, Spanien, Gallien, Germanien, Dacien zu zivilisieren, so liegt der welthistorische Grund dieser Erscheinung darin, daß die zivilisierende Tendenz im Osten schon durchgeführt war, und der welthistorische Beruf Roms nur der war, von der Mitte der Welt aus, welche Rom eingenommen hatte, den Okzident zu zivilisieren. Dazu brauchten die Römer aber nichts weiter, als die bereits eroberten Elemente; die übrigen konnten sie ausschließen.
Die Produktionen, welche Rom zum Vorschein brachte, sind folgende: erstens eine allgemeine Weltliteratur – zweitens die Ausbildung des römischen Rechts zu einem allgemeinen Rechte – drittens die Bildung der monarchischen Verfassung und damit im Zusammenhang die Bildung einer durchgreifenden Verwaltung – viertens die Erhöhung der christlichen Kirche zur Herrschaft.
1. Gründung einer allgemeinen Weltliteratur
Das ganze römische Wesen hatte zwar einen griechischredenden und einen lateinischredenden Teil, die beiden vorausgehenden Literaturen aber hatten, obwohl die eine im Orient herrschte und die andre im Okzident herrschend wurde, doch gewissermaßen ein Hauptziel. Dieses sieht man unter anderm in der Historie mit der größten Bestimmtheit: sobald die Römer zur Weltherrschaft gelangten, hatten die Griechen keine höhere Idee, als das römische Gemeinwesen zu erfassen und zu beschreiben – Polybius, Dionys von Halicarnassus! – Diese Tendenz setzte sich auch in den folgenden Jahrhunderten fort, wie denn der Hauptgeschichtschreiber der Kaiserzeit, Dio Cassius, ein Grieche war. Die Römer haben zwar in ihrem Tacitus einen der größten Geschichtschreiber, welche je gelebt haben, aufzuweisen; allein dieser ergreift mehr die moralische Seite der Weltgeschichte und beschreibt die Inkonvenienzen, die durch das Prinzipal im römischen Staate hervortraten; aber das Universalhistorische in der Geschichte wurde mehr von den Griechen, als von den Römern erfaßt – so von Appian, von Plutarch, der die Römer als Persönlichkeiten zu begreifen suchte, indem es ihm darauf ankam, sie durch Vergleichung mit den Helden einer andern Nation zu welthistorischer Bedeutung und Würde zu erheben.
Es bildete sich also jene sonderbare Erscheinung einer Doppelliteratur, jene Literatur in zwei Sprachen, welche, obwohl beiderseits mit einer besondern Tendenz, doch in der Idee ganz identisch ist. Hienach fragt es sich: welches war der Erfolg dieser Literatur? Um die Frage zu beantworten, werfe ich einen kurzen Rückblick auf die klassische griechische Literatur. Die Produkte dieser Zeit entstanden wie Naturprodukte, jedes in eigentümlicher Weise auf eigentümlichem Boden; jeder Autor schrieb in seinem Dialekte, und die klassische Literatur von Athen z.B. ist in den Epochen des prägnantesten, ich möchte sagen, schroffsten Geistes entstanden. Diese Art von literarischer Produktion konnte nun später nicht mehr stattfinden. Die Dialekte schliffen sich ab, und anstatt des attischen kam der allgemeine Dialekt auf; es konnten jetzt auch Schriftsteller von der Größe, wie in der früheren Zeit nicht mehr entstehen. Die nunmehrigen Autoren der Griechen teilen nur das allgemein Wissenswerte mit, und ihnen gesellten sich die Römer bei. Da keine Reibung der Parteien mehr stattfand, so hörten selbstverständlich auch die großen Redner auf, und man schrieb Briefe, wie Plinius und andere.
Mit einem Wort: es wurde eine allgemeine Literatur gegründet, welche alle Zweige des Wissens umfassend, sich in beiden Sprachen bewegte, in der griechischen mit mehr Glück, in der lateinischen mit mehr Applikation.
2. Juristische Entwicklung
Hier muß man davon ausgehen, daß der eigentlich wissenschaftliche Genius der Römer juridischer Natur war. In keinem Zweige sind sie so originell gewesen, wie im bürgerlichen Rechte. Die anderen Nationen haben zwar hierin auch einiges geleistet, aber die Römer haben von Ursprung ihres Staates an die Begriffe des Rechts so scharf erfaßt und mit so großer Konsequenz ausgebildet, wie kein anderes Volk.