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Kann man sich im Harz vor der Vergangenheit verstecken und unter falschem Namen ein neues Leben beginnen? Vier Männer, die in ihrem früheren Leben schwere Schuld auf sich geladen haben, versuchen es. Nachdem zwei von ihnen ermordet werden, entdeckt das Ermittlerteam um Hauptkommissar Pierre Rexilius auf den Computern der Opfer E-Mails mit biblischen Zitaten. Der Absender, der sich Moses nennt, ist nicht zurückverfolgbar. Rexilius ist davon überzeugt, dass die Botschaften einen Bezug zum Vorleben der Getöteten haben. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, um die Identität der weiteren Todeskandidaten zu ermitteln, bevor Moses wieder zuschlagen kann.
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Seitenzahl: 476
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Über ihnen lauert der Tod
Innentitel
Impressum
Bad Sachsa, 26. Juli, morgens
Morgenzug von Walkenried nach Bad Sachsa
Bad Sachsa, Rettungsstation, kurz nach sechs Uhr
Bad Sachsa, Rexilius’ Wohnung, morgens
Bad Sachsa, nahe Sachsenburg, vormittags
Vormittag bis früher Nachmittag
Osterode, Inspektion, nachmittags
Konferenzraum
Bad Sachsa, Seniorenheim, abends
Bad Sachsa, Pierres Wohnung, Abend bis Nacht
Bad Sachsa, 27. Juni, morgens
Bad Sachsa, Vormittag bis Nachmittag
Osterode, vormittags
Osterode, Inspektion, nachmittags
Bad Sachsa, Bierstübl, Abend bis Nacht
Osterode, Inspektion, 28. Juni, morgens
Bad Lauterberg, vormittags
Osterode, Inspektion, mittags
Braunschweig, nachmittags
Osterode, Inspektion, später Nachmittag
Herzberg, abends
Abend bis Nacht
Osterode, Inspektion, 30. Juni, morgens
Parkplatz an der B 243 nahe Münchehof, vormittags
Seesen, vormittags
Bad Sachsa, Südharz-Resort, nachmittags
Bad Sachsa, Seniorenheim, abends
Bad Sachsa, Abend bis Nacht
Osterode, Inspektion, 1. Juli, morgens
Clausthal, vormittags
Osterode, Inspektion, nachmittags
Osterode, Inspektion, abends
Bad Sachsa, 2. Juli, morgens
Osterode, Inspektion, vormittags
Bad Sachsa, später Vormittag
Bad Sachsa, Tourismus GmbH, mittags
Walkenried, Karl-Genzel-Straße, nachmittags
Osterode, Inspektion, später Nachmittag
Osterode, China-Restaurant „Shanghai“, abends
Osterode, Inspektion, 3. Juli, vormittags
Hannover, Mittag bis Abend
Osterode, Inspektion, 4. Juli, Vormittag bis Nachmittag
Kiel, 5. Juli
Vormittag bis Nachmittag
Osterode, Inspektion, 6. Juli, morgens
Bad Lauterberg, Kummelberg, vormittags
Bad Lauterberg, Hauptstraße, später Vormittag
Osterode, Inspektion, nachmittags
Bad Sachsa, Seniorenheim, abends
Bad Sachsa, Pierres Wohnung, Abend bis Nacht
Osterode, Inspektion, 7. Juli, vormittags
Abend bis Nacht
Osterode, Inspektion, 8. Juli, morgens
Goslar, vormittags
Oker, vormittags
Osterode, Inspektion, eine Stunde später
Bad Sachsa, Abend bis Nacht
Osterode, Inspektion, 9. Juli, vormittags
Bad Harzburg, vormittags
Osterode, Inspektion, nachmittags
Osterode, Inspektion, 10. Juli, vormittags
Herzberg, Krankenhaus, vormittags
Osterode, Inspektion, mittags
Osterode, Inspektion, nachmittags
Walsrode, 11. Juli, vormittags
St. Andreasberg, nachmittags
Osterode, Inspektion, nachmittags
Braunschweig, 12. Juli, vormittags
Braunschweig, nachmittags
Braunschweig, 13. Juli, Vormittag bis Mittag
Braunschweig, nachmittags
Vormittag bis früher Nachmittag
Simon Productions, nachmittags
der Firma Schulz und Co., 15. Juli, morgens
Herzberg, vormittags
Osterode, Inspektion, vormittags
Zorge, Südharz
Osterode, Inspektion
Zorge, Südharz
Osterode, Inspektion
Zorge, Südharz
Epilog
Im Bierstübl
Der Autor
Mehr Kriminelles aus dem Harz
Über ihnen lauert der Tod
ISBN 978-3-947167-11-1
ePub Edition
Version 1.0 - 11-2017
© 2017 by Rüdiger A. Glässer
Covermotiv © YIK2007 #143256287 | depositphotos.com
Autorenporträt © Ania Schulz | as-fotografie.com
Lektorat:
Sascha Exner
Druck:
TZ - Verlag & Print, Roßdorf
Verlag:
EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH
Postfach 1163, D-37104 Duderstadt
Telefon: +49 5527/8405-0 | +49 5527/8405-21
Web: www.harzkrimis.de | E-Mail: [email protected]
Sowohl die Handlung als auch die in diesem Roman vorkommenden Charaktere entspringen der Fantasie des Autors. Ähnlichkeiten mit verstorbenen oder lebenden Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.
Frank Ludwig bog auf den Parkplatz am Priorteich ab, brachte seinen hunderttausend Euro teuren BMW zum Stehen und stieg aus. Er machte ein paar Lockerungsübungen und begann zu laufen. Wenige Augenblicke später befand er sich bereits mitten im Wald. Im Gegenlicht der Sonne glitzerten die Tautropfen an den Bäumen wie Glasperlen. Nach einer Minute hatte er seine gewohnte Laufgeschwindigkeit erreicht, die er eine gute Stunde durchhalten konnte, ohne eine Pause einzulegen. Die angenehme Ruhe des Waldes erfasste ihn, er hörte nur seinen regelmäßigen Atem. Selbst die Geräusche seiner Schritte verschluckte der weiche Boden. Er liebte diese Strecke. Nicht umsonst lief er hier mit Ausnahme der Wochenenden jeden Tag. Bald erreichte er den schmalen Weg, der von hohen Bäumen umsäumt wurde und allenfalls noch von Mountainbikes passiert werden konnte. Wie bei einem Hindernislauf sprang er über die bloßgelegten Wurzeln der Gehölze.
Wieder dachte er über Moses’ Nachricht „Brudermord“ nach. Unwillkürlich erhöhte sich sein Puls. Kein Mensch konnte etwas darüber wissen. Seine Freunde und er hatten alle Spuren beseitigt. Nein, jemand hatte sich einen bösen Scherz erlaubt. Wahrscheinlich einer der undankbaren Mitarbeiter der Tourismus GmbH, der seinen Kurs der wirtschaftlichen Optimierung nicht akzeptiert hatte. So hatten es auch seine Freunde gesehen.
Sein Puls normalisierte sich wieder. Er lief am Priorteich vorbei, der jahrzehntelang von Rettungsschwimmern betreut worden war. Vor fünf Jahren waren die Kräfte abgezogen worden, weil die Gelder ausgegangen waren. Der Algenteppich, der inzwischen den Schwimmbereich überzogen hatte, war ein unübersehbares Zeichen dafür. Für die Wasserwelt der Bad Sachsaer Tourismus GmbH war das natürlich von Vorteil, weil viele ehemalige Gäste des Badeteiches selbst bei großer Hitze das Angebot in Bad Sachsa nutzten.
Er ließ den Teich hinter sich und lief den sich anschließenden Abhang hinunter. Das Blätterdach war jetzt so dicht, dass nur wenig Sonnenlicht auf den Boden gelangen konnte. Es schien, als hielte die Nacht diesen Abschnitt fest im Griff. Es roch nach Moder, der Boden war hier spürbar weicher, sodass seine Füße leicht einsanken. War es die Dunkelheit? Oder der Modergeruch? Warum verspürte er plötzlich wieder dieses merkwürdige Gefühl der Unruhe. Er beschleunigte seine Laufgeschwindigkeit. Sein Puls spielte verrückt, er atmete völlig unregelmäßig. Wurde er verfolgt? Nein, das konnte nicht sein. Niemand kannte seine Laufroute und nie war er um diese Tageszeit jemandem begegnet. Einen Beschatter hätte er bemerkt.
Was Ludwig nicht wusste, war, dass ihm tatsächlich ein Radfahrer gefolgt war, der seinen morgendlichen Laufweg bis ins kleinste Detail kannte. Dieser hielt einen Sicherheitsabstand und wäre von dem Geschäftsführer nicht bemerkt worden, selbst wenn er sich umgedreht oder eine Pause eingelegt hätte.
Ludwig beschleunigte seinen Lauf und war froh, dass er die Dunkelheit verlassen und den Parallelweg zur Bahntrasse, die nach Bad Sachsa führte, endlich erreicht hatte. Fast hätte ihn die plötzliche Helligkeit geblendet. Er hatte eine Lichtung erreicht, die gut dreihundert Meter lang und dreißig Meter breit war. Sollte es jemand auf ihn abgesehen haben, dann würde er es hier bestimmt nicht versuchen. Zu groß war auch die Gefahr, von Insassen des in wenigen Augenblicken vorbeikommenden Morgenzuges gesehen zu werden. Er legte seine übliche Gymnastikpause ein und lockerte seine Muskulatur. Unwillkürlich schaute er zu dem dunklen Waldstück zurück. Sein Blut schien in den Adern zu gefrieren. Dort hielt ein Radfahrer, der ebenfalls eine Pause zu machen schien! Mit der linken Hand winkte er ihm zu, in der rechten Hand hielt er eine Kamera, mit der er wenig später Aufnahmen machte. Nein, von ihm ging keine Gefahr aus. Ludwig grüßte zurück und entspannte sich. Er kannte den Mann. Den Namen hatte er vergessen. Es handelte sich um den Reporter des NDR, der im Herbst eine Reportage machen würde, in der herausragende Persönlichkeiten des Harzgebietes vorgestellt werden sollten. Er, Ludwig, würde dazugehören. Und jetzt begleitete dieser ihn, um später über die sportlichen Aktivitäten eines erfolgreichen Geschäftsmannes berichten zu können.
Natürlich konnte Ludwig aus seiner Perspektive nicht sehen, dass der Radfahrer im hinteren Hosenbund einen großkalibrigen Revolver verborgen hatte und keineswegs beabsichtigte, einen Film zu drehen. Und so ahnte er auch nicht, dass der Tod ihm gleich einen ersten und letzten Besuch abstatten würde.
In diesem Moment kam der Zug in Ludwigs Blickfeld, wenige Augenblicke später war er auf seiner Höhe. Der Radfahrer setzte seine Fahrt fort. Das Letzte, was Ludwig sah, war der rote Laserpunkt, der in seiner Herzgegend zum Stillstand kam. Sekundenbruchteile später stürzte der Geschäftsführer der Bad Sachsaer Tourismus GmbH tödlich getroffen zu Boden.
Lotte Hanke war in Walkenried in den Sechs-Uhr-Zug eingestiegen und schaute schmunzelnd auf den Vierersitz im letzten Abteil. Heike, Elfriede und Ute, die eine Station vorher eingestiegen waren, saßen wie üblich auf den Plätzen. Ihre Handtaschen standen auf ihren Oberschenkeln. Sie hielten sie fest in ihren Händen, so, als würde jeden Moment ein Dieb vorbeikommen und sie ihnen entreißen. Wie immer unterhielten sie sich angeregt, schließlich war der gestrige Tag, wie jeder Tag, ereignisreich gewesen, da gab es viel zu berichten. Als sie Lotte sahen, stand Elfriede von ihrem Platz auf. »Heute sitzt du am Fenster«, sagte sie und ließ diese vorbei.
Ute erzählte aufgebracht von ihrer Schwiegertochter, die vor sieben Tagen Mutter geworden und schon jetzt völlig genervt war. »Diese jungen Leute können zwar gut mit ihren Computern und Handys umgehen. Maria, meine Schwiegertochter, hat gleich nach der Geburt mit ihrem Handy über zwanzig Bilder ihrer Tochter an ihre Bekannten und Freunde verschickt, aber ihr Baby kann sie noch nicht einmal richtig wickeln. Dabei ist das mit den heutigen Fertigwindeln doch einfach. Und ihre Wohnung, die müsstet ihr mal sehen! Die sieht aus, als würde dort jeden Tag eine Bombe einschlagen.«
Lotte wusste, dass das Verhältnis zwischen Ute und ihrer Schwiegertochter nicht gut war. Das lag zum Teil daran, dass Ute sich über die ständige Unordnung in Marias Wohnung beschwerte, Maria das aber als Einmischung in die ‚inneren Angelegenheiten‘ ihrer Familie empfand. Sie kritisierte schließlich auch nicht, dass Utes Wohnung wegen ständiger Reinigungsarbeiten wie ein steriles Krankenhaus wirkte, hatte sie zu ihrer Schwiegermutter gesagt, die über so viel Ignoranz entrüstet war. Natürlich hatten ihr die anderen Frauen sofort beigepflichtet.
Ute war das Alpha-Tierchen der Frauengruppe. Sie war charmant, wusste immer etwas zu erzählen und war für ihre fünfundfünfzig Jahre attraktiv. Aber sie hatte auch eine andere, dunkle Seite, wie Lotte inzwischen herausgefunden hatte. Ihr Mann hatte vor einigen Jahren das Weite gesucht, weil sie ihn wie ein Haustier gehalten hatte. Lotte hatte ihn nach der Scheidung einmal in einem Café getroffen. Er hatte sich bei ihr ausgeweint. Im Monat hatte Ute ihm großzügigerweise fünfzig Euro Taschengeld zugestanden. Dafür hatte er mit dem Rauchen aufgehört. Und auch der wöchentliche Besuch des Fußballspiels in Nordhausen, wo er sich immer mit seinen Bekannten traf, wurde kurze Zeit nach der Hochzeit eingestellt. An der Haustür musste er seine Schuhe ausziehen, in die Hand nehmen und dann auf Socken die Wohnung betreten. Im Flur setzte die erste Kontrolle ein. Auch noch viele Jahre, nachdem er das Rauchen aufgegeben hatte, musste er Ute anhauchen, danach roch sie an seiner Kleidung. Selbst wenn sie dann nichts Verdächtiges entdecken konnte – was auch? –, musterte sie ihn weiterhin kritisch und war überzeugt, dass er eine Möglichkeit gefunden hatte, die Spuren seines Lasters vor ihr zu verbergen. ‚Irgendwann‘, hatte sie immer gesagt, ‚werde ich dir auf die Schliche kommen.‘ Bevor er sich an den Esstisch setzen durfte, schob sie ihn ins Bad und verlangte von ihm, dass er seine Hände mit einem Desinfektionsmittel wusch. In allen Bereichen bevormundete sie ihn. Das Einzige, was er noch ohne Utes Zustimmung tun konnte, war das selbstständige Atmen.
Nach der Scheidung hatte er ihr das Haus überschrieben, wollte nur noch weg. Heute bewohnte er eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in Walkenried und war zufrieden. Er habe sein ‚Selbstbestimmungsrecht‘ wieder erhalten, so hatte er sich Lotte gegenüber geäußert. Wie er es geschafft hatte, Utes Drangsalierungen so viele Jahre auszuhalten, das war für ihn mittlerweile ein Rätsel.
Ute und ihre Schwiegertochter gerieten fast jeden Tag aneinander. Zwei dominante Persönlichkeiten standen sich gegenüber, keine von beiden konnte nachgeben. Lotte war gespannt, wie es weiterging. Vermutlich zog Utes Schwiegertochter bald aus. Dann würde sie das Haus alleine bewohnen. Auf fast zweihundert Quadratmetern! So wie Utes Ex-Mann Lotte erzählt hatte, litt auch der gemeinsame Sohn unter der dominanten Mutter. Er war zum Spielball der beiden Frauen geworden, da war sich Lotte sicher. Wie es ihrem Sohn dabei gehen würde, das konnte Lotte nicht abschätzen. Wahrscheinlich ging er zwischen den Fronten unter.
Sie schaute aus dem Fenster. Der Zug fuhr hier nur 30 Stundenkilometer. Sie sah den Jogger, der jeden Morgen seine Runde drehte. Plötzlich fiel er um und blieb liegen.
»Habt ihr das gesehen?«, fragte Lotte aufgeregt, ohne den Blick von dem Mann zu lösen.
»Was denn?«, fragte Heike.
»Der Jogger, den wir jeden Morgen hier laufen sehen«, sagte sie aufgeregt, »der ist gerade umgekippt und liegen geblieben! Der hat bestimmt einen Herzanfall!«
Schlagartig drehten die drei Freundinnen ihre Köpfe zum Fenster und schauten auf den Weg, der parallel zu den Gleisen verlief. Sie konnten den liegenden Mann nicht mehr sehen, weil er aus ihrem Blickfeld verschwunden war.
»Ich werde den Notruf wählen«, sagte Lotte, »dem ist bestimmt etwas passiert.«
»Nein, der ist ausgerutscht und wird gleich wieder aufstehen«, sagte Ute. »Er ist schließlich durchtrainiert. Seit Jahren sehen wir ihn doch hier laufen!«
Elfriede und Heike stimmten sofort zu, aber Lotte hatte nicht auf das geachtet, was Ute gesagt hatte. Sie hatte ihr Handy in der Hand und wählte die Eins-Eins-Zwei. Als sich am anderen Ende der Leitung ein Mann meldete, beschrieb Lotte ihm aufgeregt, was sie gerade beobachtet hatte. Er versprach, sofort einen Krankenwagen zu alarmieren.
»Weißt du, was es kostet, wenn du den Notarzt unnötigerweise alarmierst?«, fragte Ute. »Dann musst du den ganzen Einsatz bezahlen. Das kann bis zu tausend Euro kosten.«
Die Streitigkeiten zwischen Ute und ihrer Schwiegertochter waren jetzt kein Thema mehr. Bis sie in Osterode aus dem Zug stiegen, diskutierten sie über den Jogger. Ute war der festen Überzeugung, dass der Mann nur ausgerutscht und inzwischen munter an seinem Ziel angekommen sei. Elfriede und Heike hatten ihr zugestimmt. Den Notruf anzurufen sei ein Fehler gewesen, wiederholte Ute gebetsmühlenartig.
Aber Lotte hatte noch etwas gesehen, was sie ihren Freundinnen verschwieg, sie hätten ihr sowieso nicht geglaubt. Vielleicht zehn Meter von dem Frühsportler entfernt, hatte sie einen Radfahrer bemerkt, der etwas auf ihn gerichtet hatte. War es eine Kamera oder gar etwas anderes gewesen, das sie sich nur schwer vorstellen konnte: Eine Waffe? Eine Pistole? Nein, soweit wollte sie nicht gehen. Es war eine Kamera. Der Mann hatte einen Herzanfall erlitten, redete sie sich ein, und sie war froh, den Notruf angerufen zu haben. Sie hoffte, dass der Krankenwagen noch rechtzeitig kommen würde und dem Mann geholfen werden konnte. Vielleicht hatte auch der Radfahrer Erste Hilfe leisten können. Allmählich ging ihr Ute auf den Geist.
»Was ist los?«, fragte Florian müde. Erst vor fünfzehn Minuten war er von seinem letzten Einsatz zurückgekehrt. In einer halben Stunde würde seine Schicht zu Ende gehen.
»Du musst noch mal rausfahren, es eilt«, sagte sein Schichtleiter Heinz Schäfer. »Ein Jogger ist im Wald umgekippt. Auf dem Parallelweg zu den Bahnschienen, nicht weit von der Sachsenburg entfernt soll er liegen. Fahrt dorthin!«
Florian nickte, informierte seinen Kollegen, dann stürmten die beiden zu ihrem Einsatzwagen.
Fünf Minuten später sahen sie den Mann. In einigen Meter Entfernung von ihm stellten sie das Auto ab. Florian nahm seinen Koffer, der alle Geräte und Utensilien für den Notfall enthielt. »Hoffentlich sind wir noch rechtzeitig gekommen!«
Der Mann lag auf dem Rücken. Florian beugte sich zu ihm hinab und begann ihn zu untersuchen. Dann hielt er inne und schaute seinen Kollegen an, der neben ihm stand. »Der hat keinen Herzanfall. Und retten können wir den auch nicht mehr. Er ist ermordet worden. Wir machen hier jetzt nichts mehr, um keine Spuren zu verwischen. Wir müssen die Polizei verständigen!«
Sein Kollege nickte und griff zum Handy.
Pierre stand am Fenster seiner Küche und winkte Sandra zu. Sie stand an ihrem Auto und grüßte zurück. Dann stieg sie ein und verließ den Parkplatz des Mehrfamilienhauses. Heute würde sie an der Uni Göttingen ihre letzte Klausur schreiben, um dann ab August ihr Examen in Psychologie abzulegen. Bis vor drei Jahren hatte sie neben ihrer Tätigkeit in der Mordkommission drogenabhängige Mädchen und Frauen in einer Einrichtung in Herzberg betreut. Nachdem diese nach Magdeburg verlegt worden war, war Sandra wieder voll bei der Mordkommission eingestiegen. Das umfangreiche Gebiet der Psychologie, mit dem sie sowohl als Polizistin als auch als Betreuerin immer wieder zu tun hatte, ließ sie nicht los. Deshalb hatte sie beschlossen, ein Studium anzufangen. Die ersten beiden Jahre im Fernstudium. Vor einem Jahr hatte sie sich an der Uni Göttingen eingeschrieben. Sie nahm regelmäßig an den Lehrveranstaltungen teil. Wenn sie mit ihrem Studium fertig war, würde sie als Profilerin in die Mordkommission zurückkehren und sich damit einen lang gehegten Wunsch erfüllen. Natürlich unterstützte Pierre sie, wo es ging, aber er musste sie während dieser Zeit auch als gute Ermittlerin entbehren.
Rexilius steckte sich eine Pfeife an, nahm den Harzkurier zur Hand und begann im überregionalen Teil zu lesen. Er war voll mit Analysen und Interviews der sogenannten Experten über das Spiel der deutschen Fußballnationalmannschaft vom gestrigen Sonntag. In ihren Augen stand der neue Europameister schon fest: Deutschland. Pierre fand das etwas verfrüht, es gab ja noch mindestens drei Spiele bis zum Finale. Eckert hätte ihm beigepflichtet.
Was machte der wohl jetzt? Lag er noch in seinem Bett und schlief tief und fest? Pierre schaute auf die Uhr, es war halb sieben. Sein langjähriger Kollege hielt sich in einem Hotel in Surgut auf, einer Großstadt in Westsibirien. Dort war es allerdings schon drei Stunden später als in Bad Sachsa. Nein, inzwischen war er bestimmt aufgestanden und saß mit Natascha gemütlich am Frühstückstisch ihres Hotels.
Pierre hatte einen seiner besten Mitarbeiter verloren, daran gab es keinen Zweifel mehr. Vor zwanzig Jahren hatten sie zum ersten Mal in der Mordkommission zusammengearbeitet. Immer war Eckert ein loyaler und kompetenter Kollege gewesen. Auch seine Alkoholkrankheit, die er vor einigen Jahren überwinden konnte, hatte daran nie etwas geändert.
Jürgen Eckert hatte, wie so viele Menschen, von einem Millionengewinn im Lotto geträumt. In diesem Fall, hatte er stets gesagt, würde er den Polizeidienst quittieren und seinen Lebensabend in der Karibik verbringen. Dort würde er sich ein Haus kaufen und die Tage ‚chillend‘ am Strand verbringen. Obwohl er zwanzig Jahre regelmäßig gespielt und jede Woche über fünfzig Euro eingesetzt hatte, war sein Traum nie in Erfüllung gegangen. Nun aber war er sogar Multimillionär geworden, besser gesagt, seine Frau Natascha. Aber das war für Jürgen dasselbe. ‚Schließlich bleibt das Vermögen ja in der Familie‘, so hatte er sich am Telefon geäußert. Vor drei Wochen war ein Onkel von Natascha, der in Russland lebte, verstorben. Sie war die einzig noch lebende Verwandte und damit Alleinerbin. Das Vermögen ihres Onkels wurde auf vierzig Millionen Euro geschätzt. Er besaß mehrere Fabriken, die Anlagen für die Erdgas- und Erdölförderung herstellte. Das Hotel, in dem die beiden zurzeit wohnten, gehörte auch zur Erbmasse. Natascha hatte sich dazu entschlossen, alles zu verkaufen. Von dem Metier verstand sie nichts und jährliche Millionengewinne brauchte man nicht, wenn man so viel Geld besaß. Wenn alles geregelt war, würden sie zu einer einjährigen Weltreise starten. Während dieser Zeit würden ihre beiden Kinder in einem Internat in Bad Sachsa bleiben. Nach der Reise würden sie eine Villa auf der Karibikinsel Jamaika kaufen. Ihre Kinder würden dann Unterricht von Privatlehrern bekommen. Das konnte man sich jetzt ja locker leisten. Ein Teil des Geldes wollten sie in soziale Projekte stecken.
Pierre musste für Eckert einen geeigneten Ersatz finden. Er hatte schon einen Nachfolger im Visier. Frank Imse, den er einige Male von der Sitte ausgeliehen hatte, war ein kompetenter Polizist und Computerexperte. Aber das hatte noch ein bisschen Zeit, schließlich gab es im Moment keinen Mordfall.
Pierre wandte sich wieder der Zeitung zu. Im Bad Sachsaer Lokalteil stand ein großer Bericht über das Ravensbergprojekt. Es schien in seine entscheidende Phase zu gehen. Wurde im vergangenen Jahr noch ein geschlossener Hotelkomplex auf dem Hausberg der Südharzstadt geplant, so schien man jetzt eine Anlage mit Ferienhäusern zu favorisieren, wie sie schon im Salztal und in Torfhaus Realität geworden waren. Wie der Zeitung zu entnehmen war, hatte sich der Geschäftsführer der Bad Sachsaer Tourismus GmbH, Frank Ludwig, besonders stark für das Projekt gemacht. Er hatte einen Investor gefunden, der die Kosten für die Erschließung übernehmen würde. Damit war die letzte Hürde genommen. In Bad Sachsa hatte das Projekt allerdings eine heftige Diskussion ausgelöst. Ludwig, der die Erschließung des Ravensbergs als Meilenstein der Bad Sachsaer Fremdenverkehrsentwicklung sah, und die Gruppe der Gegner, die die Notwendigkeit des Vorhabens als überflüssig betrachtete, standen sich unversöhnlich gegenüber. Außerdem, so begründeten die Gegner, sei der Eingriff in den Naturhaushalt so massiv, dass irreversible Schäden zu erwarten seien. Sie kündigten Protestaktionen an. Mit aller Macht, so hatte sich ihr Sprecher ausgedrückt, werde man den Bau einer Ferienanlage verhindern. Pierre war gespannt, wie es weiterging.
Das Klingeln seines Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Ein Kollege aus der Zentrale der Inspektion meldete sich. »Pierre, wir haben die Meldung von einem Mord hereinbekommen. Bei der Sachsensteinburg in Bad Sachsa ist eine männliche Leiche gefunden worden. Das ist doch ganz in deiner Nähe?«
»Ja, nur ein paar Kilometer von meiner Wohnung entfernt«, sagte Pierre.
»Dann wirst du sicherlich gleich mit deinem Fahrrad dorthin radeln. Die Spurensicherung müsste schon vor Ort sein.«
Pierre beendete das Gespräch und packte seinen Rucksack. Nun, Imse musste noch heute angefordert werden. Dann schnappte er sein Fahrrad und verließ das Haus.
Zehn Minuten später traf Pierre am Tatort ein. Die Beamten der Spurensicherung hatten schon Absperrbänder gezogen. Davor standen die Fahrzeuge der Kriminaltechnik. Eine Streifenbesatzung der Bad Sachsaer Kollegen schirmte den Tatort ab, wo sich schon einige Schaulustige eingefunden hatten. Sie plapperten unaufhörlich und bombardierten die Polizisten mit Fragen. Als Rexilius dazukam, erstarb das Geplapper. Einer der beiden Beamten gab dem Chef der Mordkommission einen kurzen Bericht.
»Zwei Sanitäter waren als Erste am Tatort. Sie sind von der Zentrale hierher geschickt worden, weil ein Jogger einen Herzanfall erlitten haben sollte. Die beiden Rettungskräfte sind noch in der Nähe der Leiche.«
Pierre bedankte sich, ignorierte die wieder einsetzenden Fragen der Schaulustigen und ging unter dem Absperrband durch. Ein winziger Ausschnitt der Sonne war über den Bäumen zu sehen, die von ihr ausgehenden Strahlen erreichten den Boden der Lichtung noch nicht. Ein schwacher kühler Wind wehte Rexilius entgegen. Wenig später stand er neben den Sanitätern. Einer der beiden stellte sich als Florian Schulze vor.
»Wir sind um sechs Uhr sieben von der Leitstelle hierher geschickt worden. Der Kollege hat davon gesprochen, dass ein Frühsportler möglicherweise einen Kreislaufkollaps erlitten hat. Da der Oberkörper aber stark blutverschmiert und kein Puls mehr zu spüren war, war mir klar, dass der Mann Opfer eines Gewaltverbrechens geworden sein musste. Wir haben dann nichts mehr angerührt.«
»Das war gut. Wissen Sie, wer den Notruf alarmiert hat?«, fragte Pierre.
»Eine Frau, die im Zug saß.«
Rexilius nickte. Er würde später in der Leitstelle anrufen und nach der Frau fragen. Vielleicht hatte sie weitere wichtige Beobachtungen gemacht.
»Ich kenne das Opfer«, sagte Schulze. »Er heißt Frank Ludwig.«
»Der Geschäftsführer der Bad Sachsaer Tourismus GmbH?«, fragte Pierre.
Der Sanitäter nickte. »Kennen Sie ihn?«
»Nur aus der Zeitung, nicht persönlich«, sagte der Polizist und dachte an den Zeitungsbericht über das Ravensbergprojekt, den er vorhin gelesen hatte. »Haben Sie noch irgendetwas Auffälliges gesehen, als sie hier ankamen?«
»Zuerst habe ich mich um den Mann gekümmert. Als ich das viele Blut sah, habe ich mich reflexartig umgesehen. Vielleicht hat der Mörder auch uns ins Visier genommen, dachte ich. Aber ich habe niemanden bemerkt.« Schulze blickte wieder zum Sachsenstein, so als drohe von dort aus noch Gefahr.
»Und Sie«, fragte Pierre den Kollegen von Schulze, der neben ihm stand. Der zuckte mit den Schultern und sagte: »Nein.«
»Dann können Sie jetzt zurück in Ihre Station fahren«, sagte Rexilius. »Wenn noch irgendetwas sein sollte, werde ich mich mit Ihnen in Verbindung setzen.«
Die beiden nickten und gingen zu ihrem Rettungswagen. Pierre wandte sich Wagner, dem Chef der Kriminaltechnik, zu, der die Leiche untersuchte. »Schon etwas Hilfreiches gefunden?«, fragte er.
»Der Schuss ist von vorn gekommen!«, sagte Wagner. »Ich vermute, dass der Täter mit einem Gewehr oder einer großkalibrigen Handfeuerwaffe geschossen hat. Die Kugel ist hinten wieder ausgetreten. Leider haben wir kein Projektil. Das Opfer heißt übrigens Ludwig, hat uns der Sanitäter berichtet.«
Rexilius nickte. »Ich weiß. Heute steht ein großer Bericht über das Ravensbergprojekt im Harzkurier. Ludwig hat es zur Chefsache erklärt. Er wollte auf dem Berg Ferienhäuser bauen lassen. Das Projekt ist bei der Bevölkerung aber umstritten … Es ist gut möglich, dass der Mörder von der Sachsenburg aus geschossen hat. Ich werde da jetzt mal hingehen, vielleicht finde ich was.«
»Aalt sich Jürgen Eckert schon in der Sonne? Man, hat der einen Dusel. Ich möchte auch mal so nebenbei Multimillionär werden.«
»Er ist noch in Westsibirien, will aber bald auf Weltreise gehen und sich danach auf Jamaika niederlassen«, sagte Pierre.
»Dann kann er uns ja mal zu einem Urlaub ins tropische Inselparadies einladen.«
»Das wird er bestimmt tun. So wie ich Jürgen kenne, wird er die ganze Moko und die Kriminaltechnik einladen«, sagte Rexilius und marschierte los.
Fünf Minuten später stand Pierre auf dem Hügel und schaute auf den Tatort. Die Sonne war inzwischen über den Horizont gestiegen und die Tautropfen begannen zu verdunsten. Kleine Nebelschwaden hatten sich gebildet, schränkten die Sicht zum Tatort aber nicht ein. Die Leiche lag etwa zweihundert Meter von Rexilius entfernt. Der Mann musste in Richtung Sachsenburg gelaufen sein, als er von der Kugel getroffen wurde. Es war gut möglich, dass der Täter von hier aus geschossen hatte. Der Polizist begann die Umgebung abzusuchen. Wagner würde später noch einmal mit seiner Truppe den Hügel genauer unter die Lupe zunehmen. Das Problem aber war natürlich, dass die Sachsenburgruine viele Besucher hatte, denen sich obendrein ein schöner Rundblick auf Bad Sachsa und die Züge bot, die man vom Hügel aus fast zum Greifen nahe beobachten konnte. Wie sollte er da Fußabdrücke einem möglichen Mörder zuordnen können? Nein, das war ausgeschlossen.
Es bestand natürlich die Möglichkeit, dass der Täter beobachtet worden war. Aber das um kurz nach sechs? Nahezu ausgeschlossen, wenn man nicht davon ausging, dass zufällig ein Förster oder Jäger oder ein weiterer Jogger sich in der Nähe aufgehalten hatte. Vielleicht hatte auch der Zugführer des Morgenzuges, wenn er zufällig auf den Hügel geschaut hatte, jemanden sehen können. Er musste ihn befragen. Trotzdem würde Pierre, wenn es notwendig wurde, einen Aufruf in den Medien starten. Manchmal gab es ja Zufälle.
Der Hauptkommissar schaute durch das Zielfernrohr eines Gewehres, das er sich bei einem Mitarbeiter der Kriminaltechnik ausgeliehen hatte. Er nahm einen Kollegen, der neben der Leiche stand, ins Fadenkreuz. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Mörder von diesem Punkte aus geschossen haben könnte, war sehr groß. Der Schütze hatte genug Zeit gehabt, die ideale Schusslinie zu finden. Und die Distanz von etwa zweihundert Metern stellte kein großes Problem dar. Wenn er im Liegen gefeuert hatte, dann konnte er vom vorbeifahrenden Zug aus nicht gesehen werden. Es reichte aus, ein mittelmäßiger Schütze zu sein, um aus dieser Entfernung mit einem Zielfernrohr einen gezielten Herzschuss anzubringen. Die Anzahl der infrage kommenden Personen war also enorm hoch. Rexilius ging zum Tatort zurück.
»Gibt es etwas Neues?«, fragte Pierre, als er wieder neben Wagner stand.
»In der näheren Umgebung des Tatortes bisher nicht«, sagte der Kriminaltechniker und zog die Schultern hoch. »In der Kleidung des Toten habe ich den Autoschlüssel eines BMW gefunden. Ich nehme mal an, dass sein Wagen sich auf dem Priorteichparkplatz befindet. Ich werde zwei Leute hinschicken.«
»Könnt ihr nachher Ludwigs Adresse checken und die Wohnung durchsuchen?«
»Natürlich«, sagte Wagner.
»Ich werde jetzt in die Zentrale der Tourismus GmbH fahren und die Mitarbeiter informieren und befragen.«
Er verabschiedete sich von seinen Kollegen und ging zu seinem Fahrrad, das außerhalb der Absperrung an einem Baum lehnte. Inzwischen standen dort mehrere Reporter mit Fotoapparaten bewaffnet. Einer schoss mehrere Fotos von Pierre, ein anderer fragte: »Wer ist der Tote, Herr Hauptkommissar? Was ist passiert?«
»Das werdet ihr alles in der nächsten Pressekonferenz erfahren. Im Moment kann ich nichts dazu sagen.« Er setzte sich auf sein Rad und fuhr los. Weitere, ihm hinterherhallende Fragen ignorierte er.
Zehn Minuten später betrat Pierre die Tourismuszentrale und ging zur Rezeption, hinter der eine junge Frau stand. »Mein Name ist Rexilius, ich bin von der Mordkommission Osterode. Herr Ludwig, Ihr Chef, ist heute Morgen ermordet worden.«
»Oh«, war die Reaktion der Frau. »Wie ist das denn passiert?« Sie wirkte nicht sonderlich geschockt.
»Die Ermittlungen haben erst begonnen. Könnten Sie mich bitte in das Büro von Herrn Ludwig führen?«
»Ich führe Sie zu Frau Gießner«, sagte die Frau, die sich mit Hellbach vorstellte, »sie ist Ludwigs Chefsekretärin. Alles, was mit Herrn Ludwig zu tun hat, geht über sie.« Ein gehässiger Unterton lag in ihrer Stimme. Als sie das Vorzimmer von Ludwigs Büro erreichten, sagte Frau Hellbach schnippisch zu ihrer Kollegin: »Der Herr hier ist von der Polizei, dein Chef kommt heute nicht mehr. Er ist ermordet worden.« Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum.
»Ist das wahr?«, fragte Frau Gießner zweifelnd.
»Ja, das stimmt«, sagte Pierre und musterte die Frau.
Sie hatte die Augen aufgerissen, Tränen kullerten an ihren Wangen herunter. Ihr Make-up begann zu verlaufen. Sie holte sich ein Taschentuch aus ihrer Handtasche, die auf dem Schreibtisch stand, und wischte sich die Tränen ab. Schließlich sagte sie: »Was wollen sie jetzt von mir?«
»Ich muss mir das Büro von Herrn Ludwig etwas näher ansehen«, sagte Rexilius, »außerdem werde ich Sie zu ihm später noch befragen.«
Sie nickte und führte Pierre ins Chefbüro. Er sah sich um. Im linken Teil war eine ausladende Sitzecke mit vier Sesseln und einem Sofa. Die Möbel waren mit Leder überzogen und schienen teuer zu sein. Die Sekretärin, die Pierres Gedanken zu erraten schien, sagte: »Herr Ludwig hat das Mobiliar, als er hier Chef wurde, vollständig erneuert. Er hat immer gesagt, wenn Geschäftspartner hierherkommen, dann müssen sie einen guten Eindruck von der Zentrale gewinnen. Billige Möbel hätten hier nichts zu suchen.« Pierre blickte auf den Schreibtisch im rechten Teil des Zimmers. Er war groß. »Der Schreibtisch ist ein Einzelstück. Hat ein Möbeldesigner extra für Frank, äh, für Herrn Ludwig entworfen«, sagte sie.
Das Verhältnis zwischen Ludwig und Frau Gießner schien eng zu sein, dachte Pierre. In einer Nische des Zimmers stand ein Tresor. Rexilius setzte sich auf den Schreibtischsessel. Er versank regelrecht darin. Er wollte die Schubladen aufziehen, aber sie waren alle verschlossen. »Wo sind die Schlüssel?«, fragte er.
»Herr Ludwig schloss sie immer im Tresor ein, wenn er abends das Büro verließ«, sagte die Frau.
»Dann öffnen Sie bitte den Tresor!«, befahl der Kommissar.
»Das darf ich nur in Ausnahmefällen und auch nur mit einer zweiten Person«, antwortete die Frau.
»Nun, der Ausnahmefall liegt ja vor«, sagte Pierre. »Wer ist die zweite Person?«
»Herr Klöpper. Er verkörpert hier fast alles. Hausmeister, Sicherheitsmann... und er organisiert alles Mögliche für die Tourismus GmbH. Er ist sozusagen Herr Ludwigs Assistent.«
»Dann holen Sie ihn bitte«, sagte Rexilius. Sie nickte. Wenige Minuten später kam sie mit dem Mann zurück. Pierre stellte sich vor.
»Ist Frank wirklich tot?«, fragte Ludwigs Assistent und zog die Stirn kraus.
»Ja, er ist heute Morgen ermordet worden.«
»Das ist ja furchtbar.« Sein Gesicht war bleich geworden. »Haben Sie schon eine Spur vom Mörder?«
»Wir stehen erst am Anfang unserer Ermittlungen.«
»Würden Sie jetzt mit Frau Gießner den Tresor öffnen?«
»Dürfen Sie das überhaupt? Im Tresor sind doch bestimmt wichtige Vertragspapiere, die vertraulich sind und nichts mit dem Mord zu tun haben dürften?«
Pierre fixierte den Sicherheitsmann, der nach kurzer Zeit seinem Blick auswich. »Einzuschätzen, ob die Unterlagen etwas mit seinem Tod zu tun haben, das sollten Sie besser mir überlassen. Natürlich darf ich den Tresor öffnen. Wenn Sie sich weigern, werde ich meine Leute aus der KTU holen. Die werden dann den Tresor aufbrechen. Die Kosten, die dabei entstehen, werde ich Ihnen in Rechnung stellen.«
»Is ja schon gut«, sagte Klöpper und schaute die Sekretärin an. Sie gingen beide zum Safe. Er warf einen flüchtigen Blick in die gegenüberliegende Ecke und wandte sich dann dem Tresor zu. Eine halbe Minute später zog er die Safetür auf. »Bitte, der Tresor gehört Ihnen.«
»OK«, sagte Pierre. »Jetzt fahren Sie bitte den Computer hoch. Wahrscheinlich braucht man dafür ein Kennwort.«
Die Sekretärin und Ludwigs Assistent sahen sich unschlüssig an.
»Sie wissen doch bestimmt über sein Kennwort Bescheid«, sagte Pierre und starrte die beiden an. »Also!«
Schließlich stellte sich Frau Gießner an den Computer, fuhr ihn hoch und gab das Kennwort ein. Es lautete: Nachtwanderung. Sowohl die Sekretärin als auch Klöpper machten keine Anstalten, das Büro zu verlassen.
»Sie können gehen«, sagte Pierre, »wenn ich Sie wieder brauche, dann werde ich Sie informieren.«
»Aber«, sagte Klöpper, »ich muss …«
Der Polizist schnitt ihm das Wort ab. »Es handelt sich um Ermittlungsarbeiten. Also, verlassen Sie den Raum!«
Zögerlich gingen die beiden aus dem Büro. Pierre warf einen kurzen Blick in die Ecke, in die Klöpper geblickt hatte. Dort hing eine Wandlampe, im unteren Teil war ein gewölbtes Glas zu sehen, das vielleicht einen Durchmesser von zwei Zentimetern hatte. Er war sich sicher, dass es sich um eine Kamera handelte! Wahrscheinlich hatte Ludwig Gießner und Klöpper bei der Öffnung des Safes damit überwacht. Möglicherweise hatte der Geschäftsführer auch Gespräche mit seinen Geschäftspartnern aufgezeichnet und sie dann studiert. Klöppers Blick hatte aber verraten, dass er von der Kamera wusste. Wahrscheinlich begab er sich jetzt hinter irgendeinen Bildschirm und beobachtete Pierre. Das sollte er ruhig tun.
Zuerst öffnete Rexilius Outlook Express und ging Ludwigs E-Mail-Verkehr durch. Er fand zahlreiche Mails von Geschäftspartnern. Er ging mehrere Tage zurück. Dann stieß er auf etwas Eigenartiges. Vor drei Tagen, am Freitagvormittag, hatte Ludwig eine Mail von Moses erhalten. Die Nachricht bestand aus einem einzigen Wort: Brudermord. Handelte es sich um eine Nachricht seines Mörders?
Über die Telefonanlage rief er Frau Gießner zu sich. Als sie im Chefzimmer war, fragte Pierre: »War Ihr Chef religiös?«
Sie grinste. »Frank und religiös? Nein, mit der Religion hatte er nun gar nichts am Hut.«
»Hat er sich vor drei Tagen anders als sonst verhalten?«, fragte der Ermittler und musterte die Frau. Sie hatte sich inzwischen wieder neu geschminkt.
»Woher wissen Sie das?«, fragte die Sekretärin.
»Antworten Sie auf meine Frage!«
»Ja«, sagte sie, »am Freitagvormittag. So kannte ich Frank bis dahin überhaupt nicht. Er war, nachdem er seine E-Mails gecheckt hatte, fahrig und nervös. Ich sollte alle Geschäftstermine absagen. Dann verließ er die Zentrale und kam erst am Mittag wieder, ohne zu sagen, wo er sich aufgehalten hatte.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo er am Vormittag gewesen sein könnte?«, fragte Pierre.
Sie zog die Schultern hoch, schien nachzudenken. »Nein, hat das was mit seinem Tod zu tun?«, fragte sie.
»Das weiß ich noch nicht«, sagte Rexilius. »Danke, Sie können wieder gehen!«
Als sie das Büro verlassen hatte, holte er die Schreibtischschlüssel aus dem Tresor und öffnete nach und nach alle Schubladen. Dort befanden sich Dienstpläne, Angebote von Hotels und Ferienhäusern, an die Ludwig scheinbar Betten vermittelte. Interessantes, was mit dem Mord zu tun haben könnte, fand Pierre auf den ersten Blick nicht. Er würde Wagner beauftragen, alles mitzunehmen und in Osterode noch einmal näher untersuchen lassen.
Der Polizist ging zum Tresor. Er bestand aus drei Fächern. Im oberen lagen Vertragspapiere mit verschiedenen Geschäftspartnern. Er würde sie kopieren und die Unterlagen ebenfalls mit in die Inspektion nehmen. Im mittleren Fach fand er ein Bündel mit fünftausend Euro und im unteren zahlreiche Mappen. Er brachte sie nach und nach zum Schreibtisch. Insgesamt waren es fünfundachtzig. Pierre setzte sich an den Schreibtisch.
Die Tür des Büros öffnete sich. Frau Gießner schaute durch den Türspalt. »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Einen Kaffee oder Kekse?«, fragte sie.
»Nein danke«, sagte Rexilius. Zaudernd schloss sie die Tür. Er wandte sich wieder den Mappen zu. Es handelte sich um Personalakten der GmbH-Mitarbeiter. Aus dem mittleren Stapel zog er willkürlich eine Mappe heraus, auf deren Etikett der Name Saskia Hellbach stand. Pierre begann zu lesen. Aus den Einträgen ging hervor, dass die Frau offensichtlich auf Ludwigs schwarzer Liste stand. Peinlich genau hatte er alle ihre Verfehlungen aufgeschrieben.
Sie hielt sich zu lange auf der Toilette auf, außerdem rauchte sie. Im gesamten Gebäude der Zentrale herrschte striktes Rauchverbot. Wenn Frau Hellbach nach draußen zum Rauchen ging, dann berechnete Ludwig dafür eine reguläre Pause von dreißig Minuten. Hellbach rauchte während ihrer Dienstzeit zwei Zigaretten, deshalb musste sie immer eine unbezahlte Stunde länger arbeiten. Für ihre Überwachung war offensichtlich Klöpper zuständig, der alle Einträge Ludwigs als Zeuge unterschrieben hatte. Was Pierre allerdings mehr interessierte, war eine andere Eintragung, die auf einem Zettel stand und nicht abgeheftet worden war. Aus ihr ging hervor, dass Hellbachs Freund der ‚Anführer’ der Umweltbewegung war, die gegen die touristische Erschließung des Ravensbergs kämpfte. Hellbach könnte für ihren Freund spionieren und vertrauliche Informationen weitergeben. Deshalb forderte der Schreiber, sie aus dem Haupthaus zu verbannen und in ein Nebengebäude der GmbH zu stecken. Wahrscheinlich war Klöpper der Urheber des Schreibens, dachte Pierre. In der letzten Aktennotiz wurde Hellbach abgemahnt, weil sie einen Kaffeeautomaten nicht ausgeschaltet hatte, was einen Kabelbrand an der Maschine ausgelöst hatte. Klöpper, der bei einem abendlichen Kontrollgang den Brandgeruch bemerkt hatte, habe durch sein umsichtiges Eingreifen einen möglichen Großbrand verhindert, so stand es in der Abmahnung. Das stank nicht nach Brand, das stank gewaltig nach einem falschen Spiel von Ludwig und Klöpper. Nach dem Vorfall wurde sie in ein Nebengebäude der GmbH versetzt.
Rexilius schaute sich weitere fünf Personalakten an. Es gab keinen Mitarbeiter, bei dem keine negative Bemerkung stand. Drei waren mehrfach abgemahnt worden. Bei der nächsten Verfehlung wären sie entlassen worden. Ludwig hatte, dachte Pierre, ein wahres Schreckensregime aufgebaut. Er würde alle Personalakten mit in die Inspektion nehmen und mit seinen Kollegen durcharbeiten müssen. Wahrscheinlich gab es noch mehr Fälle mit Abmahnungen und weitere potenzielle Verdächtige. Er ging in den Vorraum, wo die Sekretärin an ihrem Schreibtisch saß und am Computer arbeitete. »Ich brauche Herrn Klöpper«, sagte der Polizist, »können Sie ihn noch einmal holen?«
Sie nickte und verließ den Raum. Wenig später kehrte sie mit ihm zurück. »Was wollen Sie von mir?«, fragte der Mann ungehalten und starrte Rexilius an. Der fixierte Klöpper, was diesen offenbar nervös machte. Er konnte dem Blick nicht standhalten und schaute auf den Boden.
»Beschreiben Sie mir bitte einmal ihre Funktion hier in der Tourismus GmbH! Ach Frau Gießner, ich brauche Sie nicht mehr.« Die Sekretärin verließ zögerlich das Büro.
»Warum wollen Sie das wissen?«, fragte Klöpper, ohne Pierre anzuschauen.
Pierre ging auf die Frage nicht ein. »Beschreiben Sie einfach Ihre Funktion!«
Ungehalten begann Klöpper: »Ich bin der Mann für alles.«
»Das heißt?«
»Vom Hausmeister bis zum Sicherheitsmann alles«, sagte er.
»Braucht die Tourismus GmbH einen Sicherheitsmann?«, fragte Rexilius.
»In die Zentrale ist vor zwei Jahren eingebrochen worden«, sagte Klöpper. »Damit so was nicht noch mal vorkommt, hat Herr Ludwig meinen Aufgabenbereich erweitert.«
»Wurde etwas gestohlen?«, fragte Pierre.
»Nein«, erwiderte der Sicherheitsmann. Wieder vermied er es, den Polizisten anzusehen.
»Das heißt, dass Sie jetzt mehr arbeiten müssen als vorher«, sagte der Kommissar. »Ist das ein Vorteil?«
»Herr Ludwig hat inzwischen jemanden eingestellt, der die Hausmeisteraufgaben übernommen hat. Ich kann mich also ganz auf meine Tätigkeiten als Sicherheitsmann konzentrieren.«
»Gehört es auch zu Ihren Aufgaben, Überwachungskameras zu installieren?«, fragte Pierre und fixierte den Mann.
»Was für Überwachungskameras?«, fragte er scheinbar überrascht, blinzelte mit den Augen und wippte mit den Füßen.
»Zum Beispiel die Kamera in der Lampe«, sagte Pierre und zeigte darauf.
»Äh … von einer Überwachungskamera weiß ich nichts«, sagte er.
»Erzählen Sie mir nicht, dass Sie von der Kamera hier in diesem Raum nichts wissen!«, unterbrach der Kommissar ihn schroff. »Ihr Blick auf die Wandlampe hat Sie vorhin verraten!«
Der Sicherheitsmann sah auf den Boden. »Ja, gut, ich weiß von der Kamera. Herr Ludwig hat mich angewiesen, sie hier einzubauen.«
»Wo kann man die Aufnahmen sehen?«, fragte Pierre.
»Keine Ahnung«, sagte der Sicherheitsmann, »vielleicht auf Herrn Ludwigs Computer.«
»Dann zeigen Sie mir das entsprechende Programm!«
Klöpper setzte sich zögerlich in Bewegung, nahm an Ludwigs Schreibtisch Platz und sah die verschiedenen Dateien durch. Pierre beobachtete ihn genau. Der Sicherheitsmann zwinkerte mehrmals mit den Augen. »Hier ist nichts«, sagte er schließlich. Er lügt, dachte Rexilius.
»Dann haben Sie mit Sicherheit hier im Gebäude ein Terminal, von dem aus Sie den Raum überwachen können«, sagte Rexilius scharf. »Ich bin mir sicher, dass Sie mich vorhin von dort aus beobachtet haben. Wenn Sie mich nicht sofort dorthin führen, werde ich Sie wegen Behinderung der Ermittlungsarbeiten verhaften. Vielleicht sind Sie ja der Mörder von Herrn Ludwig, dann werden Sie aus der Haft nicht mehr entlassen, bis Ihnen der Prozess gemacht wird.«
Klöpper sah nervös auf den Boden. Er kratzte sich am linken Unterarm und wippte wieder mit den Füßen.
»Also?«, sagte Pierre.
»Nein, es gibt keinen Überwachungsraum. Die Aufnahmen der Kameras werden über Funk an Ludwigs und meinen …«
» … und Ihren Computer gesendet!«
»J … jja«, stammelte Klöpper.
»Und da das Programm passwortgeschützt ist, hat auch keiner etwas von der Überwachung mitbekommen. Außerdem haben Sie von Kameras gesprochen. Wie viele gibt es?«
»Ja … äh, neunzehn«, sagte der Sicherheitsmann kleinlaut.
»Neunzehn? Habe ich richtig gehört?«
»Ja… äh … ja.«
»Das ist ja kaum zu glauben. Wie heißt das Kennwort?« , fragte der Polizist.
»Magenbitter.« Klöpper klickte das Programm an und gab das Passwort ein. Pierre stand hinter ihm und sah, wie in schneller Folge neunzehn Bildausschnitte den Monitor ausfüllten.
»Stehen Sie auf, ich werde mich jetzt an den Computer setzen«, sagte Pierre. Klöpper befolgte sofort die Anweisung des Polizisten. Der Kommissar klickte den Bildausschnitt an, der die Rezeption erfasste. Er stellte den Ton an und konnte hören, worüber sich die Damen unterhielten. Er drehte den Ton wieder ab. »Wenn ich das richtig überblicke, dann befindet sich fast in jedem Raum des Gebäudes eine Überwachungskamera! Und die Toiletteneingänge werden auch überwacht!« Pierre starrte Klöpper an.
»Damit habe ich nichts zu tun«, sagte dieser schnell und schaute an dem Beamten vorbei. »Das hat alles Herr Ludwig angeordnet!«
»Sie wissen, dass Sie diese Anordnung niemals hätten durchführen dürfen«, sagte der Kommissar. »Herr Ludwig hätte Sie deshalb auch nicht entlassen können!«
Klöpper zog es vor zu schweigen.
»Sie haben alle Ihre Mitarbeiter überwacht und auch noch abgehört!«, sagte Pierre. »Dafür werde ich Sie erst einmal aus dem Verkehr ziehen.«
»Ich, äh, ich hab doch nur das gemacht, was Herr Ludwig von mir wollte. Ehrlich!«, sagte der Sicherheitsmann schnell. »Er hätte mich, äh, doch sonst, äh, rausgeschmissen. Ich war froh, dass ich so einen guten Job hatte.«
»Nun, den sind Sie jetzt sowieso los«, sagte Pierre, »aber da ist das Geringste, was Sie erwartet.«
Der Sicherheitsmann setzte sich auf einen Stuhl und brach in Tränen aus. »Es, äh, war doch nicht meine Idee«, seufzte er, »äh, Herr Ludwig war der Chef, ich nur der, der alles ausführen musste. Und jetzt habe ich, äh, keine Arbeit mehr und komme, äh, in den Knast.«
»Das hätten Sie sich vorher überlegen müssen. Was Sie gemacht haben, ist eine schwere Straftat«, sagte Rexilius. »Haben Sie die Aufnahmen gespeichert?«
»Ja, alle«, sagte Klöpper schnell. »Ich werde alle Ihre Ermittlungen unterstützen, ehrlich!«
»Wie lange speichern Sie die Daten?«, fragte Pierre.
»Seit Herr Ludwig Geschäftsführer in der Tourismus GmbH ist, äh, war.«
»Wo sind die Dateien?«, fragte der Polizist ungehalten.
»Äh, die hat Herr Ludwig wahrscheinlich auf irgendeinem seiner Computer, aber …«
»Aber was?«, fuhr Pierre dazwischen.
»Äh, äh, ich habe auch Kopien für mich gemacht! Sie sind auf einer externen Festplatte.«
»Wo ist die?«, fragte der Kommissar.
»In meinem Büro … im Schreibtisch eingeschlossen.«
»Dann werden Sie mir die nachher aushändigen«, sagte Rexilius. »Wer wusste noch davon?«
»Nur Herr Ludwig und ich. Nur wir beide.«
»Hat sich Ihr Chef in der letzten Zeit anders verhalten als üblich?«, fragte der Hauptkommissar.
»Ja«, antwortete der Sicherheitsmann, ohne zu zögern. »Am Freitagmorgen letzte Woche. Er war unruhig, nicht so souverän wie sonst. Er hat die Zentrale verlassen und ist erst gegen Mittag zurückgekommen.«
»Wie hat er sich verhalten, als er wieder in der Zentrale war?«, fragte Rexilius.
»Er war der Alte. Ich hab ihn gefragt, ob es was Unangenehmes gibt, aber er hat gesagt, es sei alles in Ordnung.«
»Haben Sie eine Vorstellung, wo er sich aufgehalten hat?, fragte Pierre.
Er schüttelte den Kopf. Seine Füße blieben still.
»Ich habe mir einige Personalakten angeschaut. In der von Frau Hellbach habe ich eine Notiz gefunden, aus der hervorgeht, dass sie ihrem Freund, der der Kopf der Gruppe ist, die gegen das Ravensbergprojekt kämpft, vertrauliche Informationen weitergeben könnte. Um das zu verhindern, wurde sie in ein anderes Haus der Gesellschaft verbannt.«
Schlagartig riss Klöpper den Kopf hoch, machte große Augen. »Äh, ja, und?«
»Der eigentliche Grund für ihre ‚Verbannung’ ist ziemlich dubios. Oder?«
Der Sicherheitsmann sah auf den Boden, zog es wieder vor zu schweigen.
»Nun, dann werde ich Ihnen sagen, was ich für wahrscheinlich halte. Sie haben die Mitteilung geschrieben. Sie haben auch diese Sache mit dem Kaffeeautomaten inszeniert, um sie aus der Zentrale rauszubekommen. Mich wundert es, dass Frau Hellbach nicht gleich rausgeschmissen worden ist«, sagte Pierre scharf.
Klöpper sah immer noch auf den Boden, dann schaute er Pierre kurz an und senkte wieder den Blick. »Eine Kündigung hätte Ludwig nicht durchgebracht … Er hat mich beauftragt, diese Sache durchzuziehen.«
»Und wenn Ludwig gesagt hätte: ‚Spring ins Wasser’, dann hätten Sie das getan. Für wie blöd halten Sie mich eigentlich? Eine derart abscheuliche Tat hätten Sie nie durchführen dürfen«, sagte Pierre und schüttelte angewidert den Kopf. »Was steckt hinter der Aktion?«
»Ich hatte Frau Hellbach beobachtet, wie Sie eine vertrauliche Datei aufgerufen und sich Notizen gemacht hatte. Ich bin in ihr Büro gerannt, aber sie hatte den Zettel schon verschwinden lassen. Als ich mir später die Kameraaufzeichnung angeschaut habe, konnte man sehen, wie sie das Papier unter ihrem Rock in ihren Slip gesteckt hatte. Natürlich konnte ich die Aufnahmen nicht als Beweismaterial heranziehen, deshalb hat Ludwig die ganze Geschichte ausgeheckt. Er hat sie in ein Nebengebäude gesteckt, dort arbeitet sie jetzt an einem Computer, der nicht an das Netzwerk angeschlossen ist. Zu den vertraulichen Daten haben nur noch Ludwig und ich über Kennwörter Zugang.«
Pierre holte tief Luft. »Was sind das denn für vertrauliche Daten?«
»Ehrlich gesagt, das hat mich nie interessiert. Ich hab sie mir nicht angeschaut.« Klöppers Beine blieben still, auch sein Gesicht zeigte keine außerordentlichen Reaktionen. Es schien, als sagte er die Wahrheit.
„Dann gehen wir jetzt in Ihr Büro und Sie geben mir dort die Festplatte. Ihr Computer wird zur Auswertung mit nach Osterode genommen. Danach warten Sie im Foyer, bis Sie die Bad Sachsaer Kollegen nach Osterode zum Verhör bringen.«
Pierre hatte sich gerade wieder an den Schreibtisch des Geschäftsführers gesetzt, als die Tür aufgerissen wurde und ein etwa fünfzigjähriger Mann mit der Sekretärin hereinstürmte und sich vor den Schreibtisch aufbaute. »Was machen Sie hier? Haben Sie einen Durchsuchungsbeschluss?«, fragte dieser erregt.
»Ist das hier nicht üblich, an die Tür zu klopfen, wenn man einen Raum betreten will? Wer sind Sie überhaupt?«, fragte der Polizist und starrte den Mann an.
»Peter Windisch, ich bin der Aufsichtsratvorsitzende der Tourismus GmbH«, antwortete er. »Ich bin Anwalt. Also, haben Sie einen Durchsuchungsbeschluss?«
»Herr Ludwig ist ermordet worden«, sagte Pierre, »haben Sie kein Interesse daran, dass der Mord aufgeklärt wird?«
»Natürlich. Aber der Mord ist ja nicht hier im Gebäude der GmbH passiert, wie die Sekretärin berichtet hat. Im Büro von Herrn Ludwig befinden sich vertrauliche Vertragspapiere, die nichts mit dem Mordfall zu tun haben dürften. Also, wo ist der Durchsuchungsbeschluss?«
Pierre ging nicht darauf ein. »Wussten Sie, Herr Windisch, dass Herr Ludwig und sein Sicherheitsmann Klöpper seit Jahren alle Mitarbeiterräume und selbst die Toiletteneingänge mit Kameras und Mikrofonen überwacht haben?«
»Wie bitte?«, fragte Windisch und schüttelte den Kopf. »Was erzählen Sie denn da für einen Blödsinn?«
»In einer halben Stunde wird die Spurensicherung mit einem Durchsuchungsbeschluss kommen und dann werden alle Räume des Gebäudes gründlich durchsucht«, sagte Pierre und holte sein Handy aus der Tasche. Er rief erst die Staatsanwaltschaft und dann Wagner, den Chef der Spurensicherung, an. »Kommen Sie um den Schreibtisch herum. Ich werde Ihnen etwas Interessantes zeigen.«
Als Windisch neben Rexilius stand, klickte dieser einen der Bildausschnitte an. Die Empfangsdamen waren zu sehen. Sie unterhielten sich über Ludwig. Pierre schaltete den Ton wieder ab. »Ihnen als Anwalt muss ich wohl nicht erzählen, was Ludwig und Klöpper für eine Straftat begangen haben. Oder?«
»Nein«, antwortete Windisch entsetzt, blickte auf die zahlreichen Bildausschnitte und schüttelte den Kopf. Er machte große Augen. »Davon hatte ich keine Ahnung. Das ist ja skandalös! Ludwig war ja ein Verbrecher! Aber …« Inzwischen hatte er ich wieder etwas gefasst und sah Pierre bittend an. »Wir hatten uns gerade erholt, und seit zwei Jahren ist der Tourismus in Bad Sachsa in einem sagenhaften Aufschwung. Wenn das an die Öffentlichkeit gelangt, dann können wir hier dichtmachen.«
»Dann hätten Sie Ludwig vorher kontrollieren müssen. Wir werden die Computer von ihm und seiner Sekretärin abbauen und mit nach Osterode nehmen. Wenn sie gründlich untersucht worden sind, können Sie die Geräte zurückholen.«
Eine dreiviertel Stunde später traf Wagner mit seiner Truppe ein. Er hatte vier seiner Leute mitgebracht. Pierre zeigte ihm alle Räumlichkeiten und gab ihm die Schlüssel für Ludwigs Büro. »Sucht alle Mikrofone und Kameras, entfernt sie und stellt sie als Beweismittel sicher. Ich werde jetzt mit einer Mitarbeiterin sprechen, die in einem anderen Gebäude der GmbH arbeitet«, sagte Rexilius. »Danach komme ich zurück!«
»Okay, drei meiner Kollegen werten noch den Tatort aus. Sie kommen später nach. Wir haben Ludwigs Fahrzeug gefunden. Es stand auf dem Priorteichparkplatz. Er muss bei der Tourismus GmbH viel Geld verdient haben. Der BMW dürfte so viel wie ein Einfamilienhaus kosten. Verwertbares haben wir allerdings in dem Auto nicht gefunden.«
Das Gebäude, in dem Frau Hellbach arbeitete, war nur hundert Meter von der Zentrale der Tourismus GmbH entfernt. Die Mitarbeiter waren alle im Erdgeschoss in einem großen Büroraum untergebracht. Pierre ging an den ersten Schreibtisch und stellte sich vor.
»Ich heiße Marie Mittermann«, sagte die Angestellte, »haben Sie schon eine Spur von Ludwigs Mörder?«
»Nein«, sagte Pierre, »Sie sind aber gut informiert.«
»Nun, solche Nachrichten sprechen sich sehr schnell herum. Ich bin von der Kollegin am Empfang der Zentrale informiert worden«, sagte sie schnell.
»Wir stehen erst am Anfang unserer Ermittlungen. Ich würde gern Frau Hellbach sprechen!«
»Das bin ich«, sagte eine Frau, die in der linken Ecke des Zimmers saß. Pierre ging zu ihrem Schreibtisch und gab ihr die Hand.
»Ich muss Sie zu Herrn Ludwig befragen«, sagte er und sah sich im Raum um. Die Blicke der anderen Frauen richteten sich auf Frau Hellbach. »Können wir in ein anderes Zimmer gehen, wo wir ungestört reden können?«, fragte der Polizist. In diesem Moment wandten sich die Blicke der anderen Frauen von Pierre und Frau Hellbach schlagartig ab. Sie nickte und stand auf.
»Kommen Sie«, sagte sie, »ich führe Sie in unseren Aufenthaltsraum!« Das Zimmer bestand aus zwei Sitzecken mit jeweils vier Sesseln. »Setzen Sie sich bitte!«, sagte Frau Hellbach, als sie die vordere Sitzgruppe erreicht hatten. Sie hatte ein hübsches zartes Gesicht und schwarze, kleingelockte Haare. »Was soll ich Ihnen denn zu Herrn Ludwig sagen können?«, fragte sie schüchtern, nachdem sie Platz genommen hatten.
»Ich habe mir die Personalakten einiger Mitarbeiter angeschaut. Darunter war auch Ihre«, antwortete Pierre.
»Und?«, fragte sie, sah Rexilius aber nicht an und presste ihre Hände zwischen die Oberschenkel.
»Aus der Akte geht hervor, dass Sie in diese Abteilung versetzt worden sind, weil Sie vergessen haben, den Kaffeeautomaten auszuschalten, und so fast einen Brand ausgelöst hätten.«
Frau Hellbach rieb heftig die Handflächen aneinander. »Ich habe nicht vergessen, den Automaten abzustellen. Ich trinke nur vormittags Kaffee. Um die Mittagszeit schalte ich ihn immer aus. Ich hab das noch nie vergessen. Das Gerät ist relativ neu, es hat auch eine Sicherung, die es nach ein paar Stunden automatisch abschaltet. Aber hier in diesem Haus glaubt einem das niemand«, sagte sie leise.
»Ich weiß, dass Sie die Wahrheit sagen«, sagte Pierre. »Klöpper hat vorhin zugegeben, dass er im Auftrag von Ludwig alles getürkt hat, weil dieser Sie aus dem Zentralgebäude heraushaben wollte.«
Sie kreuzte erst die Arme vor der Brust, dann fuhr sie sich mit den Händen über die Ellenbogen, schließlich sah sie Pierre unsicher an. »Sie sind der Erste, der mir glaubt.« Ein kurzes Lächeln erhellte ihr Gesicht.
»Weshalb hat Ludwig Sie aus dem zentralen Gebäude entfernt?«
Sie fuhr mit der rechten Hand über die Stirn. Ihr Gesicht verkrampfte sich. »Muss ich darauf eine Antwort geben?«
»Wenn Sie nicht in Verdacht geraten wollen, Herrn Ludwig ermordet zu haben, sollten Sie das tun«, sagte der Hauptkommissar.
Sie schaute den Polzisten nicht an, rieb wieder die Handflächen aneinander. »Ich habe eine Datei geöffnet, die vertrauliche Informationen über das Ravensbergprojekt enthielt, und Notizen dazu gemacht. Plötzlich stürmte Klöpper in mein Büro. Ich konnte den Zettel gerade noch verbergen.« Ihre Stimme war immer leiser geworden. Flüsternd fuhr sie fort. »Ich hab einen Heidenschreck bekommen. Woher wusste er, dass ich die Datei geöffnet hatte?«
»Er hat sich in Ihren Computer geloggt. Nicht nur das. Das Gebäude wird mit zahlreichen Kameras überwacht. Die werden aber noch heute abgebaut.«
Sie nickte schwach.
»Weshalb haben Sie die Daten herausgeschrieben?“, fragte Rexilius.
»Ich wollte das nicht. Ich schwöre es. Aber mein Ex-Freund, Peter Stenzel, hat mich dazu gezwungen. Er ist radikaler Gegner der Ravensbergerschließung. Er hat mich regelmäßig geschlagen und mit verstärkter Prügel gedroht, wenn ich nicht für ihn spioniere«, sagte sie und begann zu weinen. »Seit er sich gegen das Projekt engagiert, ist er noch brutaler geworden«, fuhr sie schniefend fort. »Auch nach meiner Versetzung wollte er, dass ich weiter mache. Ich hab versucht, ihm zu erklären, dass ich an keine Daten mehr rankomme. Er hat das ignoriert und mir ein blaues Auge verpasst. Daraufhin habe ich mich von ihm getrennt. Ich wohne jetzt bei meiner Schwester.« Sie wischte die Tränen ab und putzte sich die Nase.
»Halten Sie Herrn Stenzel für fähig, Ludwig umgebracht zu haben?«
»Das traue ich ihm zu«, sagte sie bestimmt. »Leider kann er seine Brutalität gut verbergen, deshalb hat mir selbst meine Schwester erst nicht geglaubt, dass er mich schlägt.«
»Wo wohnt er?«
»Hier in Bad Sachsa«, antwortete sie und nannte die genaue Adresse.
»Danke«, sagte Pierre.
»Wenn Sie wollen, können Sie jetzt wieder zu Ihrem Arbeitsplatz zurückgehen.«
Nachdem Frau Hellbach den Aufenthaltsraum verlassen hatte, begab sich Pierre auf die Suche nach weiteren Kameras und Mikrofonen. Und er wurde fündig. Während die Überwachungskamera – zumindest für einen Profi – noch relativ leicht auszumachen war, hatte man für das lediglich centstückgroße Mikrofon eine Deckenlampe als Tarnung ausgewählt. Dann ging er ins Büro zurück und wandte sich an die Frauen.
»Der Aufenthaltsraum ist videoüberwacht und mit Mikrofonen ausgestattet worden. Herr Ludwig hat all Ihre Gespräche belauscht und per Kamera verfolgen können.«
Ein Raunen ging durch die Reihen. »So ein Arschloch«, sagte eine der Frauen. »Aber jetzt wird mir einiges klar.«
»Was wird Ihnen klar?«, fragte Pierre nach.
»Wenn wir mal fünf Minuten länger Pause gemacht haben, dann wusste Ludwig das. Ich hab immer gedacht, dass eine meiner Kolleginnen eine Zuträgerin ist, und hab einige verdächtigt.«
Der Polizist nickte. »Das brauchen Sie jetzt nicht mehr. In der Zentrale ist nahezu jedes Zimmer, ja sogar die Toiletteneingänge sind überwacht worden. Ludwig hat die Toilettenzeiten registriert, um den Mitarbeitern vorwerfen zu können, dass sie zu lange auf der Toilette waren. Sie können alle Pause machen. Ich werde alle Räume dieses Gebäudes nach Kameras absuchen. Nachher, ich schätze in einer guten Stunde, werden einige Kollegen von mir kommen und Sie zu Herrn Ludwig befragen.«
Die Frauen nickten, nahmen ihre Handtaschen und verließen den großen Büroraum. Nach zwanzig Minuten war Rexilius fertig. Fast alle Räume des Nebengebäudes der Tourismus GmbH wurden elektronisch überwacht. Etwas Derartiges hatte Pierre in seiner langen Dienstzeit noch nicht erlebt. Er ging in die Zentrale zurück. Wagner befand sich im Büro von Ludwig.
»Der Geschäftsführer hat auch ein Nebengebäude des Betriebes überwacht«, sagte Pierre zum Chef der Spurensicherung.
»Das weiß ich schon«, sagte Wagner, der am Computer saß. »Ich habe dich mit einer Frau in einer Art Aufenthaltsraum gesehen, Pierre! Wenn ich gewollt hätte, dann hätte ich euer Gespräch belauschen können.«
»Darum werden wir uns später kümmern. Wenn ihr hier fertig seid, dann geht bitte in das Nebengebäude und durchsucht es! Ich habe zwar schon mal angefangen und einige Kameras und Wanzen entdeckt, aber ihr seid da sicher gründlicher als ich«, sagte Pierre. »Und stell ein paar Leute ab, die die Mitarbeiter über Ludwig und Klöpper, den Sicherheitsmann der GmbH, befragen. Er hat alle Kameras installiert. Mit Frau Hellbach hab ich schon gesprochen, sie braucht ihr nicht mehr zu vernehmen. Habt ihr was in der Wohnung von Ludwig gefunden?«
»Er ist nicht in Bad Sachsa gemeldet«, sagte der Kollege von der Spurensicherung. »Vielleicht wohnt er mit jemandem zusammen, auf den die Wohnung angemeldet ist. Wir müssen das noch herausfinden. Vielleicht pendelt er auch nach Bad Sachsa.«
Pierre nickte. Wagner verließ das Büro.
Polizeidirektor Fischer war ein eingefleischter Fan von Modelleisenbahnen. Wie er Pierre einmal erzählt hatte, hatte er schon im Alter von zwölf Jahren begonnen, Loks, Waggons und andere Eisenbahnutensilien zu sammeln. Sein ganzes Leben hatte er sein Hobby nie aufgegeben, was dazu führte, dass er drei große Anlagen besaß. Eine befand sich im heimischen Keller, eine in seinem Wochenendhaus in den Alpen und eine schmückte inzwischen sein Dienstzimmer. Sie hatte eine Größe von gut drei mal drei Metern und nahm etwa ein Drittel seines Büros ein. Sie stellte eine Alpenlandschaft dar. Pierre war der Überzeugung, dass Fischer auch in Zeiten, in denen es Leerlauf gab, an seiner Anlage bastelte. Das Prunkstück seiner beachtlichen, lebenslang zusammengetragenen Sammlung war das Märklinmodell einer Schweizer Elektrolokomotive, von der es auf der Welt nur vierunddreißig Stück gab. Das machte sie in Modelleisenbahnerkreisen zu heiß begehrten Sammlerstücken. Es handelte sich um das sogenannte Krokodil. Fischer hatte es auf einer Auktion erworben. Einige Eisenbahnfans in der Inspektion gingen davon aus, dass es um die dreißigtausend Euro gekostet habe. Seit dem Erwerb des Modells hatte Fischer nur noch einen Spitznamen: das Krokodil. Vor vier Jahren war Fischer dem Verein der Eisenbahnfreunde Osterode beigetreten. Inzwischen war er dessen Vorsitzender.