Über Militarismus und Pazifismus - Ludwig Quidde - E-Book

Über Militarismus und Pazifismus E-Book

Ludwig Quidde

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Beschreibung

Der linksliberale Erzdemokrat Ludwig Quidde (1858-1941) war ab dem Ersten Weltkrieg 15 Jahre lang Vorsitzender der Deutschen Friedensgesellschaft und erhielt 1927 den Friedensnobelpreis. Er schrieb schon 1893 die heute leider wieder hochaktuelle Warnung: "Jede Stärkung des Militarismus kommt schließlich reaktionären Bestrebungen zugute, und will man einer freieren Auffassung im Staatswesen die Bahn öffnen, so muss man entschlossen den Militarismus angreifen; denn in ihm steckt der Kern und der Halt des im Grunde doch noch immer halbdespotischen Systems. ... Mit dem brutalen Übermute des Siegers wird der Militarismus unserem Kulturleben, der bürgerlichen Gesellschaft und der Freiheit den Fuß auf den Nacken setzen und wird unser wirtschaftliches Leben für seine Zwecke ausnützen." Die Schulen in Deutschland waren in einem erbärmlichen Zustand. Überall im zivilen Bereich wurde gespart. Doch wenn es um Ausgaben für die Massenmordtechnologien des Militärs ging, konnte das Geld von den Regierenden stets ohne Begrenzung umgeleitet werden. Die hier vorgelegte Sammlung enthält vier Schriften Quiddes über Kriegsideologie und Pazifismus: "Der Militarismus im heutigen Deutschen Reich" (1893); "Caligula" (Skandal-Satire, 1894); "Geschichte des Pazifismus" (Überblick, 1922); "Im Kampf gegen Cäsarismus und Byzantinismus im Kaiserlichen Deutschland" (Erinnerungen, 1926). Ein Band der edition pace, herausgegeben von Peter Bürger

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Inhalt

Vorbemerkungen zu dieser Edition

I. D

ER

M

ILITARISMUS IM HEUTIGEN

D

EUTSCHEN

R

EICH

Eine Anklageschrift | 1893

Vorwort

Einleitung

1. Der Militarismus in der Armee

2. Der Militarismus in seiner Einwirkung auf die bürgerliche Gesellschaft und den Volksgeist

3. Der Militarismus im Staate, in der Regierung, Verwaltung und Gesetzgebung

4. Der Militarismus im Kampfe um die Militärvorlage

II.C

ALIGULA

Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn | 1894 (Mit dem Vorwort zur 31. Neuauflage 1926)

III.D

IE

G

ESCHICHTE DES

P

AZIFISMUS

Aus dem Handbuch „Die Friedensbewegung“ | 1922

VI.E

RINNERUNGEN

Im Kampf gegen Cäsarismus und Byzantinismus im Kaiserlichen Deutschland | 1926

Wie der Caligula entstand

Der sensationelle Erfolg

Meine persönlichen Schicksale nach dem Caligula

Der Staatsanwalt mir auf den Fersen

Wilhelm II.

A

NHANG

Ludwig Quidde: Historiker, Pazifist und Friedensnobelpreisträger (Neue deutsche Biographie | 2003)

Von Karl Holl

Bibliographie

1. Schriften von Ludwig Quidde (chronologisch)

2. Literatur über Ludwig Quidde und die Deutsche Friedensgesellschaft

3. Gesamtdarstellungen zur Geschichte von Pazifismus und Friedensbewegung

Vorbemerkungen zu dieser Edition

„Jede Stärkung des Militarismus kommt schließlich reaktionären Bestrebungen zugute, und will man einer freieren Auffassung im Staatswesen die Bahn öffnen, so muss man entschlossen den Militarismus angreifen; denn in ihm steckt der Kern und der Halt des im Grunde doch noch immer halbdespotischen Systems. … Mit dem brutalen Übermute des Siegers wird der Militarismus unserem Kulturleben, der bürgerlichen Gesellschaft und der Freiheit den Fuß auf den Nacken setzen und wird unser wirtschaftliches Leben für seine Zwecke ausnützen.“ (LUDWIG QUIDDE: Der Militarismus im heutigen Deutschen Reich, 1893)

Unter „linksliberal“ wird heute gemeinhin ein politisches Spektrum bezeichnet, in dem es eine große Zahl von Anhängern der militärischen Heilslehre gibt und aus dem erschreckende Beiträge zur rasanten Militarisierung des öffentlichen Lebens kommen. Umso dringender ist es, an einen friedensbewegten bürgerlichen Erzdemokraten wie den aus einer wohlhabenden Bremer Kaufmannsfamilie stammenden Ludwig Quidde (1858-1941) zu erinnern. Er ist mit gleicher Leidenschaft als „1848er“ und Friedensarbeiter hervorgetreten. Sein Motiv war für beide ‚Betätigungsfelder‘ nur eines, denn nichts bedroht jede freiheitliche Entwicklung der Menschenwelt so sehr wie der „Schwertglaube“, der in unseren Tagen nun wieder auf allen Kanälen gepredigt wird. – Liberale wie diese beeindruckende politische Persönlichkeit braucht jede Gesellschaft, während jene, die unter gleichem ‚Label‘ die Demokratisierung des Wirtschaftslebens verhindern, die Interessen der Rüstungsindustrien durchsetzen und unentwegt der Kriegsertüchtigung das Wort reden, uns in autoritäre Verhältnisse hineintreiben – in Wirklichkeit also Antiliberale heißen müssen.

Als Hans-Ulrich Wehler 1977 die vier auch in unserer kleinen Edition enthaltenen Texte in einem Auswahlband mit dem Titel „Caligula“ darbot, schrieb er einleitend über den Verfasser: „Ludwig Quidde, seit Jahrzehnten in Vergessenheit geraten, ‚war ein geradezu klassischer Außenseiter: Demokrat und Republikaner schon im Kaiserreich‘, in seiner Fachwissenschaft, der Geschichte, ‚nach glänzendem Start und einer kurzen Periode intensiver und erfolgreicher Wirksamkeit nur noch wenig und auch dann nur am Rande tätig‘. Dafür wurde er aber in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ‚die bekannteste Persönlichkeit in der deutschen Friedensbewegung‘, zwar ‚nie‘ in Deutschland geehrt, jedoch 1927, ein Jahr nach Stresemann, der zweite deutsche Friedensnobelpreisträger von hohem internationalem Ansehen. Die neuere deutsche Geschichte ist nicht reich an eigenständigen Charakteren wie Quidde: Ein unabhängiges politisches Urteil verband sich bei ihm mit rastloser Aktivität, fachwissenschaftlicher Scharfsinn und Erfolg mit publizistischen Fähigkeiten, Organisationstalent mit rhetorischer Begabung. Vor allem aber behielt Quidde als ein ‚außerordentlich integrer Mann‘ den Kopf über dem Nebel verhüllender Phrasen, wenn er die Schwächen wilhelminischer Innenpolitik furchtlos kritisierte oder eine rechtlich verankerte internationale Friedensordnung mit Leidenschaft forderte. Es wirft daher ein scharfes Schlaglicht auf die politischen Möglichkeiten in der Bundesrepublik, dass zwar Kriegsschiffe auf den Namen von Offizieren, die Hitler bereitwillig bis zum Ende gedient haben, getauft werden konnten, jedoch ein Repräsentant des besseren Deutschland wie Quidde bis heute nicht durch einen Preis oder eine Stiftung wenigstens postum geehrt und den Schatten der Vergangenheit entrissen worden ist. Auch 1972, als mit Brandt ein dritter deutscher Politiker den Friedensnobelpreis erhielt, ist diese Chance vertan worden.“1

Schon 1881 war Quidde als junger Historiker mit einer weitsichtigen Broschüre „Die Antisemitenagitation und die Deutsche Studentenschaft“ an die Öffentlichkeit treten. Der erste – schon von Wehler ausgewählte – Text im vorliegenden Band ist die Anklageschrift „Der Militarismus im heutigen Deutschen Reich“ aus dem Jahr 1893, zunächst ohne Verfassernamen veröffentlicht (→I). Zentral ist der bereits in den oben vorangestellten Zitaten deutlich werdende Gegensatz von Freiheit und Soldatenreligion: „Die Liberalen, die dem Militarismus vorsichtig ausweichen und ihn ängstlich hätscheln, in der Hoffnung, die Träger dieses Militarismus dadurch zugänglicher zu machen für die doch so bescheidenen und einleuchtenden liberalen Forderungen, sind noch immer die Gefoppten gewesen.“ Quidde beklagt unter anderem die elende Lage des Schulwesens und zeigt unter Heranziehung einer zeitgenössischen Publikation auf, „wie Interesse und Geld nur für militärische Zwecke vorhanden sind und wie erschreckend gering das Maß von Anforderungen geworden ist, das die zivilen Interessen noch zu machen wagen. … ‚Das ist in Wahrheit der Druck der Militärlast, dass die militärischen Interessen bei uns angefangen haben alle Kulturinteressen zu absorbieren‘.“ Der Verfasser ist Zeitzeuge eines Phänomens, das sich in wandelnder Gestalt zu allen Zeiten wiederholen kann – so heute.

Unter dem Titel „Caligula“ folgt ein Meisterwerk der Satire (→II), das Quidde wider Anraten der Freunde 1894 unter seinem wahren Namen und im Inland zur Drucklegung brachte. Im Tarngewand einer wissenschaftlichen ‚Altertumsstudie‘ wird hier der oberste Hohenzollernherrscher einer speziellen Betrachtung unterzogen, was nicht lange unbemerkt blieb. Besser konnte später auch ein Bertolt Brecht nicht vormachen, wie man erprobt, ‚die Wahrheit zu sagen‘. Es handelt sich beim „Caligula“ um eine herausragende Skandalschrift des deutschen Kaiserreichs, die in kurzer Zeit – nicht zuletzt dank der Ränkespiele reaktionärer Presseerzeugnisse – dreißig Auflagen erreichte. Das freie Wort beendete jedoch die wissenschaftliche „Karriere“ des Verfassers und führte zu großer Feindseligkeit auf der rechten Seite. In seinen 1926 vorgelegten Erinnerungen „Im Kampf gegen Cäsarismus und Byzantinismus im Kaiserlichen Deutschland“ erhellt Quidde die Entstehung und Wirkungsgeschichte des ‚Caligula‘ sowie die gegen ihn – stellvertretend für die gesamte demokratische Sache – gerichteten Repressionen (→IV).

Immer noch lesenswert ist der als vierter Text nachfolgend dargebotene Überblick „Geschichte des Pazifismus“ (→III), erstmals veröffentlicht 1922 im Handbuch „Die Friedensbewegung“.

Wichtige Seiten der Biographie und des Schaffens von Ludwig Quidde werden in der vorliegenden Publikation nicht beleuchtet. Quidde war ab dem Ersten Weltkrieg fünfzehn Jahre lang Vorsitzender der Deutschen Friedensgesellschaft, zu deren ‚bürgerlich-gemäßigtem Flügel‘ er zählte. Er beteiligte sich an der öffentlichen Aufklärung zur geheimen – alsbald Hitler dienlichen – Aufrüstung in der Weimarer ‚Republik ohne Republikaner‘ und musste direkt ab Anfang 1933 – wie so viele pazifistische Persönlichkeiten nach der Machtübertragung an die Faschisten – dauerhaft im Ausland leben. Im Schweizer Exil entstand 1934-1940 die Studie „Der deutsche Pazifismus während des Weltkrieges 1914–1918“, die Karl Holl und Helmut Donat dann vor über vier Jahrzehnten aus dem Nachlass herausgegeben haben.2 Wichtige andere Texte der Exilzeit sind 2008 als Sammlung ediert worden.3

Zeitlebens war Quidde dankbar für das Privileg, „in besonders menschenwürdigen Verhältnissen“ (→S. 52) aufgewachsen zu sein, in welchen das Eigene, die Achtung des Anderen und der freie Sinn gedeihen konnten – nicht aber Obrigkeitsgehorsam.4 Leidenschaft für wirkliche Demokratie, die niemals mit militäraffinen Weltbildern einhergehen kann, braucht Vorbilder. An den Friedensaktivisten Ludwig Quidde zu erinnern, das birgt eine Er-Mutigung sondergleichen – wider die traurige Stimmungslage der Gegenwart.

Das hier vorgelegte Bändchen ist Teil eines ‚Regals zur Geschichte des Pazifismus‘, herausgegeben in Kooperation mit dem Alois Stoff Bildungswerk der DFG-VK NRW. Als Erstauflage erscheint die im Internet kostenfrei abrufbare Digitalfassung; es folgt jedoch wie bei allen Teilen auch eine nichtkommerziell kalkulierte Taschenbuchausgabe der edition pace.

Düsseldorf, im März 2024

Peter Bürger

1 Ludwig QUIDDE: Caligula. Schriften Über Militarismus und Pazifismus. Mit einer Einleitung herausgegeben von Hans-Ulrich Wehler. Frankfurt a. M.: Syndikat 1977, S. 7 (hier unter Fortlassung der Fußnoten).

2 Ludwig QUIDDE: Der deutsche Pazifismus während des Weltkrieges 1914-1918. Aus dem Nachlaß Ludwigs Quiddes, herausgegeben von Karl Holl unter Mitwirkung von Helmut Donat. Boppard am Rhein: Boldt 1979. – Es wäre sehr zu begrüßen, wenn die seit 2001 bestehende Ludwig Quidde-Stiftung (ab 2010 bei der Deutschen Stiftung Friedensforschung) dieses Werk und weitere Texte heute auf ihrem Internetportal kostenfrei als Digitalisat für alle Geschichtsinteressierten und Forschenden zur Verfügung stellen könnte.

3 Ludwig QUIDDE: Deutschlands Rückfall in Barbarei. Texte des Exils 1933–1941. Herausgegeben von Karl Holl. Bremen: Donat Verlag 2008.

4 Unwillkürlich denkt man an Gustav Heinemann (1899-1976), dem auch in sehr jungen Jahren die Freude am ‚Hecker-Lied‘ vermittelt worden ist.

I. Der Militarismus im heutigen Deutschen Reich

Eine Anklageschrift5(1893)

Ludwig Quidde

Vorwort

Man darf in dieser Schrift, obgleich sich ihr Verfasser als Historiker bezeichnet, keine historische Würdigung des Militarismus erwarten, vielmehr ist sie ein Versuch, gegenwärtige Zustände zu schildern, nicht um sie aus der Vergangenheit zu erklären, sondern um auf ihre Bedeutung für die Zukunft, d. h. für die weitere Entwicklung unseres Volkes hinzuweisen.

Wohl weiß ich, daß auch die bloße Schilderung des gegenwärtigen Militarismus sehr unvollständig ist; denn wichtige Lebensgebiete sind nur flüchtig, andere, z. B. Literatur und Kunst gar nicht berührt, und überall würden sich die Einzelheiten sorgfältiger gestalten, besonders auch wirksam erläuternde Beispiele heranziehen lassen. Aber die bedeutsamsten Erscheinungsformen werden doch beachtet sein, und da es mir nicht auf eine akademische Betrachtung, sondern auf praktische Wirksamkeit ankam, so durfte die Erkenntnis der Unvollständigkeit mich nicht zurückhalten. Als eine Anklageschrift habe ich meine Erörterungen bezeichnet und damit schon angedeutet, daß die gegenwärtigen Erscheinungen nicht ganz mit der beschaulichen Ruhe betrachtet sind, die dem Historiker seinem Stoffe gegenüber ziemen würde. Zwar habe ich mich bemüht, kein Wort zu sagen, das ich nicht auch als Historiker verantworten könnte, aber meine Aufmerksamkeit war allerdings nicht darauf gerichtet, ein liebevoll ausgeführtes Gemälde des Militarismus mit sorgsamer Verteilung von Licht und Schatten zu entwerfen, sondern die verderblichen Grundzüge seines Charakters, so wie ich sie erkannt zu haben glaube, kräftig ans Licht zu stellen.

Wenn ich mich trotzdem auf dem Titel der Schrift als Historiker einführe, so geschieht das, weil ich als ein Vertreter derjenigen Kreise betrachtet werden möchte, denen die Pflege der Bildungsinteressen besonders nahe liegt und die vor allem auch von diesem Standpunkt aus sich gegen den Militarismus verteidigen müssen.

Freilich werden die meisten auch in diesen Kreisen gegen den einen oder gegen den andern Punkt erhebliche Einwendungen zu machen haben oder auch die Farben im ganzen zu stark aufgetragen finden; aber dessen glaube ich trotzdem sicher zu sein, daß ich, alles in allem genommen, einer großen Zahl von ihnen aus der Seele schreibe und daß sie ihre stille Freude daran haben werden, hier vieles gesagt zu finden – vielleicht ungeschickt und für ihren Geschmack zu scharf oder auch zu einseitig – was uns fast alle längst bewegt; denn darüber möge man sich nicht täuschen: die Empfindung der Gegnerschaft gegen den Militarismus ist gerade unter den berufsmäßigen Vertretern der höheren Bildung viel, viel weiter verbreitet, als eine offen hervortretende politische Opposition diese Richtung erkennen läßt.

In der vorliegenden Schrift fehlt es freilich auch nicht an einer politischen Opposition, mit der ich nicht behaupten darf, ebenfalls annähernd die Gesinnung vieler Bildungs- und Berufsgenossen zu vertreten. Es wird von mir der Militarismus nicht nur vom Standpunkt der Bildungsinteressen aus bekämpft, sondern es geschieht das gelegentlich auch unter der Fahne der Demokratie, eine Auffassungsweise, die unter den deutschen Historikern heute nicht sehr verbreitet ist, die aber für die Behandlung der Hauptfrage auch nur in einzelnen Punkten ins Gewicht fällt. Was die Form meiner Bemerkungen anlangt, so sind es zum Teil (das will ich nicht leugnen), so sehr ich mich auch bemüht habe, den Ausdruck abzuschwächen, noch immer leidenschaftlich bewegte Worte, mit denen ich meine Sache führe; aber ich hoffe, es wird gleichwohl nicht von ihnen gelten, daß sie „unter gebildeten Männern ungern gehört werden“; denn sie entspringen einer uns gemeinsamen heiligen Empfindung für große Kulturideale und vertreten gerade die Sache der Bildung gegen ihren zur Zeit gefährlichsten Gegner.

5 Textquelle | Ludwig QUIDDE (ohne Namensnennung): Der Militarismus im heutigen Deutschen Reich. Eine Anklageschrift. Von einem deutschen Historiker. Stuttgart: Robert Lutz 1893. [61 Seiten] [Online-Ausgabe: https://gdz.sub.unigoettingen.de/id/PPN543763803] [projekt-gutenberg.org].

EINLEITUNG

In den letzten Reichstagsdebatten hat der Reichskanzler Graf v. Caprivi den Militarismus für ein Schlagwort erklärt, dem nach seiner Meinung keine Wirklichkeit entspricht; er hat über den alten lahmen Gaul gespottet, der wieder aus dem Stall hervorgeholt und neu aufgezäumt werde, und sich darüber gewundert, daß man diesen Militarismus, bei dem er sich nichts denken und den er nirgends finden kann, gar für kulturfeindlich erkläre.

Schon ein Vorgang, der unmittelbar auf die Auflösung des Reichstages folgte, hat ihm zeigen können, wie sehr dieser für ihn unauffindbare Militarismus unser öffentliches Leben beherrscht. Von höchster Stelle ist eine Kritik an dem Beschlusse des Reichstages geübt worden, und diese Kritik hat sich an einen Kreis von Generalen und Offizieren gewandt, als ob diese das geeignetste Publikum für solche Mitteilungen über die Haltung des deutschen Reichstages wären. Nun sind aber gerade die Angehörigen des aktiven Heeres von der Beteiligung am politischen Leben und von der Wahl zu unseren Volksvertretungen gesetzlich ausgeschlossen. Bei ihnen allein von allen Reichsangehörigen ruht das aktive Wahlrecht. Es gibt also eigentlich kein Publikum, das weniger berufen wäre, an den Beschlüssen des Reichstages Kritik zu üben und weniger berufen, als Resonanzboden einer solchen Kritik zu dienen.

Wenn sich trotzdem der Kaiser mit der ersten öffentlichen Äußerung seiner Ansichten über die Haltung des Reichstages nicht an die Nation, nicht an die Spitzen der Beamten, wie etwa den Reichskanzler, nicht an Vertreter der verbündeten Regierungen oder auch, bei zufällig sich bietender Gelegenheit, an einen Kreis von Privatpersonen, sondern an seine Offiziere wendet, ist das nicht ein Zeichen des bei uns herrschenden Militarismus?

Das Charakteristische ist, daß augenscheinlich diese Form der Äußerung als etwas ganz Natürliches betrachtet wird, während sie unter Verhältnissen, die nicht so sehr vom Geiste des Militarismus erfüllt wären, nur als eine bewußte scharfe Herausforderung der Volksvertretung und des Geistes unserer Gesetzgebung aufgefaßt werden könnte. Wie der Kaiser gewiß an eine solche Herausforderung nicht im mindesten gedacht hat, wie es ihm nach seiner Gewöhnung an militärische Anschauungen ganz natürlich erscheint, sich mit seiner Kritik der Volksvertretung an die militärischen Kreise zu wenden, die nach den Bestimmungen der Gesetze auf die Wahlen zu dieser Volksvertretung gar nicht einzuwirken haben, so nimmt man offenbar auch in weiten Kreisen des Publikums diese Dinge wie etwas in unserem nun einmal durch und durch militärischen Staatswesen Selbstverständliches hin!

Um dem Reichskanzler zu zeigen, wie der militärische Geist sich in unserem öffentlichen Leben geltend macht, hätte es freilich dieses Epiloges zur Reichstagsauflösung nicht bedurft.

Er brauchte sich eigentlich nur auf sich selbst zu besinnen und daran zu denken, daß er, ein General, der sich niemals vorher mit den Aufgaben der Zivilverwaltung beschäftigt hat, der auch eingestandenermaßen, obschon er einmal Marineminister war, sich dem politischen Leben möglichst fern gehalten hat, zur Leitung unserer gesamten inneren und auswärtigen Politik berufen worden ist.

Er brauchte auch nur der feierlichen Ereignisse aus der Geschichte eben des Reichstages, zu dem er sprach, zu gedenken: etwa der Grundsteinlegung des neuen Gebäudes vor dem Brandenburger Tor, bei der der Präsident des Reichstages, Herr von Levetzow, in der Uniform eines Landwehrmajors fungieren mußte. In dieser kleinen Äußerlichkeit triumphierte damals der Militarismus, der unsere Regierungskreise beherrscht, aber in weiten Schichten des Volkes bis zu den „gutgesinnten“ Kreisen hin ist der Vorgang als eine Herabsetzung des Reichstages und als eine beleidigende Herausforderung des ganzen Bürgertums empfunden worden.

Es sind dies nur zwei Symptome dafür, wie die militärische Auffassung in Verhältnisse des öffentlichen Lebens eindringt, die ihr entrückt sein sollten: Äußerlichkeiten, wenn man will, die aber eine beredte Sprache führen. Wir sehen in ihnen Zeugnisse für die Macht des Militarismus, aber freilich ist damit noch nichts über seinen Inhalt ausgesagt.

Um den Geist des Militarismus kennenzulernen, wenden wir uns zunächst seiner Betätigung im Heere selbst zu. Nachher werden wir zu der Frage zurückkehren, in welcher Weise und in welcher Ausdehnung er das bürgerliche Leben außerhalb des Heeres beeinflußt und wie er auf das öffentliche Leben im Staate einwirkt.

1. DER MILITARISMUS IN DER ARMEE

Für den Geist des Militarismus in der Armee sind zwei Züge charakteristisch, 1. die unbedingte blinde Unterwerfung jedes Einzelnen unter den Willen des Vorgesetzten, auf Kosten alles dessen, was sonst für menschliche Entwicklung Wert besitzt und 2. eine sich auf dieser Grundlage entwickelnde Mißachtung humanen Empfindens, die sich unter Umständen ungestraft bis zu Brutalitäten steigern darf.

Mit allen Empfindungen nicht nur von Menschlichkeit, sondern auch von Recht und Gerechtigkeit kommt die militärische Auffassung in Konflikt, wenn sie ihre Anschauungen von „Disziplin“ betätigt.

Man erinnert sich wohl noch des Vorfalles, der vor einigen Jahren soviel Aufsehen erregte: Einige Landwehrmänner hatten sich geweigert, einen Viehwagen zu besteigen, und zwar, wenn ich nicht irre, als sie aus der Übung in die Heimat zurückbefördert werden sollten, sie hatten auch Kameraden zum Widerstande gegen diese Behandlung aufzureizen gesucht und hatten sich deshalb beschwerdeführend telegraphisch direkt an den Kaiser gewendet.

Nach bürgerlicher Auffassung würde man die Landwehrleute, deren naive Gutgläubigkeit ja durch das Telegramm an den Kaiser so drastisch bewiesen war, gefragt haben, ob sie nicht recht bei Sinnen gewesen seien und würde sie dann mit einem scharfen Verweis haben laufen lassen. Sollte aber schon eine Bestrafung stattfinden, so würde ein Zivilist das Maß der verwirkten Buße auf vielleicht 8 oder 14 Tage Arrest schätzen.

So die bürgerliche Auffassung, die Auffassung jedes Menschen, der menschliche Dinge mit menschlichen Augen ansieht.

Anders die militärische Anschauung. – Zu 7 Jahren Zuchthaus hat man diese unbesonnenen Landwehrleute verurteilt und dieses Urteil auf 7 Jahre Zuchthaus ist nicht etwa kassiert worden, man hat nicht etwa, was doch das mindeste gewesen wäre, die Leute nach einigen Wochen begnadigt, sondern man hat sie jahrelang ihre Strafe absitzen lassen, bis endlich der Rest erlassen wurde.

Man bedenke: Zuchthaus, die entehrende Strafe für schwere Verbrecher, verhängt wegen eines Vergehens, das ja freilich die militärische Disziplin verletzt, das im übrigen aber niemand diesen Landwehrleuten zur Unehre anrechnen wird, wegen eines Vergehens, das vielmehr, so unsinnig es auch ist, doch bis zu einem gewissen Grade die Sympathie aller derjenigen erwecken wird, die sich an Selbständigkeit und an natürlichen Regungen erfreuen. Lange Jahre entzieht man diese Leute ihren Familien und steckt sie ins Zuchthaus unter gemeine Verbrecher!

Als unbegreifliche Ungerechtigkeit und Grausamkeit wird das jedem erscheinen, der nicht unter dem Bann des Militarismus steht, auch wenn er Strenge und Disziplin vollauf zu schätzen weiß und wenn er persönlich nicht im mindesten weichherzig gesinnt ist, sondern nur so weit menschlich empfindet, wie es auch, wie wir gern glauben wollen, die militärischen Richter taten. Das aber eben ist der Fluch einer solchen auf unbedingte Unterordnung angelegten Institution, daß sie den natürlichen besseren Instinkten jedes Einzelnen keinen Raum mehr gestattet.

Und nachdem ihm ähnliche Dinge erst kürzlich vorgeführt waren, hat der General-Reichskanzler die Unbefangenheit, die Existenz des Militarismus zu leugnen und darüber verwundert zu sein, daß man denselben als den Feind unseres Kulturlebens betrachtet!

Es ist dies nicht etwa ein vereinzelter, sondern nur ein besonders bezeichnender Fall, und leicht wären die Beispiele für solche Beurteilung von Vergehen gegen die Disziplin zu vermehren.

Aber es bedarf gar nicht einzelner Beispiele aus der Praxis; dieselben sind zwar weit eindrucksvoller als die Theorie der Gesetzesparagraphen, schließlich aber doch nur Illustrationen dazu, von denen man glauben könnte, sie seien zu sensationell ausgewählt. Das Militärstrafgesetzbuch bringt schon für sich allein den Geist des Militarismus deutlich genug zum Ausdruck.

Der sechste Abschnitt, der die „strafbaren Handlungen gegen die Pflichten der militärischen Unterordnung“ behandelt, beginnt mit einem § 89, der uns so recht in den Geist des Systems versetzt: Wer im Dienst die dem Vorgesetzten schuldige Achtung verletzt, insbesondere laut Beschwerde oder gegen einen Verweis Widerrede führt, wird mit Arrest bestraft. Wird die Achtungsverletzung unter dem Gewehr oder vor versammelter Mannschaft begangen, so ist auf strengen Arrest nicht unter 14 Tagen oder auf Gefängnis oder Festungshaft bis zu 3 Jahren zu erkennen.

Dem harmlosen Laien kann die Bedeutung dieser Bestimmungen nicht ohne weiteres klar sein, da er trotz des klaren Sinnes der Worte gar nicht darauf kommen wird, daß bloße Widerrede etwas ist, was man mit schweren Strafen belegt und da er außerdem nicht ahnen wird, was strenger Arrest bedeutet.

Versuchen wir den Paragraphen in lebendige Vorstellung umzusetzen. Wird ein Soldat in Reih und Glied vom Unteroffizier angefahren, weil er seine Knöpfe nicht ordentlich geputzt hat, und nimmt er das nicht ruhig hin, sondern versucht geltend zu machen, daß er daran aus irgendeinem Grunde unschuldig sei, so riskiert er, falls Meldung erfolgt (was allerdings, wie anzuerkennen, meist nicht geschieht), auf mindestens 14 Tage in Arrest gesteckt zu werden, und zwar in eine dunkle Zelle, in der er auf harter Lagerstätte bei Wasser und Brot drei Tage auszuharren hat; dann erblickt er auf 24 Stunden das Tageslicht wieder und erhält warme Nahrung, um dann aufs neue 72 Stunden lebendig begraben zu sein, wieder 1 Tag ans Licht zu kommen und weiterhin je 2 Tage, unterbrochen durch einen dritten Tag gelinden Arrestes, in seiner Dunkelhaft zuzubringen.

Damit bedroht man bloße Widerrede gegen einen Verweis vor versammelter Mannschaft, für eine Handlung, die an sich nicht nur kein Vergehen, sondern sehr oft die selbstverständliche und unter Umständen für den gerechten Vorgesetzten doch nur erwünschte Verteidigung gegen eine ungerechtfertigte Beschuldigung ist, die als solche also überhaupt straflos bleiben müßte!

Und nun die Strafe!! Was sie bedeutet, können wir, da wir sie nicht durchgemacht haben, uns gewiß auch noch nicht entfernt ausmalen, aber eine Ahnung davon wenigstens vermag uns zu kommen. Man verwende nur einige ruhige Minuten, um seine Phantasie damit zu beschäftigen, man versuche sich recht anschaulich zu machen, was es heißt, 24 Stunden eingekerkert in absoluter Dunkelheit auf hartem Lager bei Wasser und Brot zubringen, und man stelle sich dann vor: 10 Tage so verbracht, unterbrochen durch drei leichtere Arresttage am 4., 8., 11. Tag, denen zum Schluß noch ein solcher Erholungstag folgt, sind die Mindeststrafe für Widerrede gegen einen Verweis „unterm Gewehr“.

Nach dem übereinstimmenden Zeugnis aller, die mir aus eigener Anschauung berichtet haben, macht ein Soldat, der längeren schweren Arrest durchgemacht hat, den Eindruck eines an Körper und Geist gebrochenen Menschen.

Unterdrückt wird beim Militär jede Äußerung individueller Freiheit. Wer nicht entweder in angeborenem zufriedenen Stumpfsinn oder in einer gewissen moralischen Überlegenheit jede Unbilligkeit geduldig hinnimmt, und wer, auch durch den Dienst und drohende Strafe nicht mürbe gemacht, noch „Widerrede“ wagt, den bricht man durch derartige Behandlung im Namen und Rahmen des Gesetzes!

Man faßt nicht, wie es möglich gewesen ist, daß der deutsche Reichstag im Jahre 1872 dieses Gesetz angenommen hat, und wie diese 20 Jahre hindurch eine solche Barbarei hat aufrecht erhalten bleiben können. Man faßt es nicht, solange man nicht die Macht des Militarismus in unserem Staatswesen vollkommen erkannt hat.

Darauf nun werden wir später zu sprechen kommen. Hier handelt es sich einstweilen darum, daß sich der Militarismus innerhalb des Heeres selbst durch sein barbarisches Strafrecht als eine durch und durch kulturfeindliche Institution erweist.

Es ist recht nützlich, sich einmal darüber klar zu werden, auf welcher Stufe von Güte und Milde, Eigenschaften, die wir in seltsamer Verblendung „Menschlichkeit“ nennen, die Menschheit heute noch steht, 19 Jahrhunderte nachdem man den Prediger der Güte ans Kreuz geschlagen. Und zugleich wagt man auch noch in unbewußter oder bewußter Blasphemie, diesen Apostel der Humanität zu verehren. Der Soldat pflegt auch dabei ja mit dem Priester Hand in Hand zu gehen.

Nicht nur in seiner unerhörten Grausamkeit zeigt sich die Eigenart des militärischen Strafrechts. Daneben tritt noch ein zweiter für den Militarismus sehr charakteristischer Zug hervor: die Unterscheidung der Strafen nach der militärischen Rangordnung.

In unserm ganzen sonstigen Strafrecht gilt der Grundsatz, daß die Strafe nur nach dem Vergehen, nicht nach der Person des Täters bemessen wird; nur in der Art der Beschäftigung wird Rücksicht auf den Beruf des Gefangenen genommen. Das Militärstrafgesetzbuch steht auch hier im Widerspruch zur übrigen Gesetzgebung.

Ich bin nun geneigt, von vornherein ein sehr wenig demokratisch klingendes Zugeständnis zu machen: dieselbe Strafe ist für Personen verschiedener Lebensstellung und verschiedener Lebensgewöhnung nicht dieselbe, sondern um sie mit gleichem Maß zu treffen, muß man die Strafen in gewissen Dingen verschieden gestalten. Die formale Gleichheit kann zur großen Ungleichheit und Ungerechtigkeit werden.

Betrachten wir aber nach diesem prinzipiellen Zugeständnis das militärische Strafgesetzbuch. Der strenge Arrest, den wir kennengelernt haben, ist nur für Gemeine zulässig, der mittlere Arrest (in heller Zelle, aber mit hartem Lager und Wasser und Brot, unterbrochen durch leichteren Arrest am 4., 8., 12. und weiter jedem dritten Tage) nur für Gemeine und Unteroffiziere ohne Portepee, der gelinde Arrest für Unteroffiziere und Gemeine; die Offiziere endlich erhalten in ihrer Wohnung Stubenarrest, der eventuell durch Richterspruch geschärft werden kann zur Vollstreckung in einem besonderen Offizierarrestzimmer.

Wo bleibt die Gleichheit vor dem Gesetz, die doch längst Grundsatz der preußischen Verfassung war, als diese Abmessung der Strafen zwischen Offizier und Gemeinem im neuen deutschen Reich genehmigt wurde? Für dasselbe Vergehen wird dem Offizier verboten, seine Wohnung zu verlassen und Besuche zu empfangen, dem „Gemeinen“ auf Tage das Sonnenlicht, weiches Lager und wärmende Speise entzogen! Das ist keine Abstufung, sondern ein empörender Gegensatz!

Die Unterscheidung erfolgt auch nicht nach der Lebensstellung des Bestraften, – den verwöhnten Sohn eines reichen Hauses trifft das hier so demokratische Gesetz (ob auch in der Praxis?) mit der gleichen grausamen Härte, wie den Proletarier, der an hartes Lager, Wasser und Brot und schreckliche Spelunken – dem Himmel sei es geklagt – gewöhnt ist; man unterscheidet nur nach den militärischen Chargen, die Unteroffizierscharge befreit vom strengen, das Portepee vom mittleren Arrest!

Die ‚Pickelhaube‘ (Preußen) – Symbol des deutschen Militarismus Aufnahme: G. Garton, 2013 | commons.wikimedia.org

Man kann wirklich das Wesen des Militarismus, seine Härte und Grausamkeit und die ihm eigentümliche mechanische Auffassung von Unterordnung und Disziplin nicht feiner charakterisieren, als es der Gesetzgeber in diesen Strafrechtsparagraphen getan hat, und man brauchte sie nur jedem deutschen Reichsbürger so recht zum Bewußtsein zu bringen, so würde hoffentlich der Militarismus mit allem was daran hängt – und das ist sehr viel in unserm so von ihm beherrschten Staatswesen – bald die längste Zeit existiert haben.

Zu den barbarischen Strafen, mit denen man den Bruch der Disziplin verfolgt, steht die Lässigkeit, mit der man vielfach gegen die Mißhandlungen Untergebener vorgeht, in einem schneidenden Kontrast.

In Bayern, wo diese Fälle dank der Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens mehr bekannt werden, hat sich die sonderbare Erscheinung wiederholt, daß bei Beurteilung empörender Mißhandlungen das militärische Gericht die „Absicht, Schmerz zu erregen“ verneinte und daraufhin leichte Strafen verhängt wurden.

Einige Wochen oder auch Monate Festung für „Soldatenschinder“, 7 Jahre Zuchthaus für die Landwehrleute, die nicht in den Viehwagen wollen und die Frechheit haben, an den Kaiser zu telegraphieren. Das ist die auf militärischer Disziplin beruhende Auffassung von Gerechtigkeit.

Fanatische Gegner des Militarismus würden vielleicht mit den militärischen Richtern und mit denen, die diese Art Rechtsprechung etwa zu vertreten wagen, ähnlich verfahren wollen, wie jene mit den unglücklichen Landwehrleuten. Aber man muß sich klar machen, daß die Schuld nicht an den einzelnen Menschen liegt, sondern daß der Charakter der Institution sich in ihren Handlungen geltend macht und geltend machen muß.

Aus Norddeutschland, wo die Militärgerichte geheim verhandeln, erfährt man wenig Zuverlässiges über das Kapitel der Soldatenmißhandlungen. Aber in aller Erinnerung ist der Erlaß des Prinzen Georg von Sachsen, der ein so entsetzliches und für viele Kreise überraschendes Licht auf diese Zustände warf.

Der Erlaß vom 8. Juni 1891 führt aus, daß durch eine lange Reihe gerichtlicher Untersuchungen Zustände zu Tage gefördert sind, die in hohem Grade bedenklich erscheinen müssen, zumal da die vorgekommenen Gewalttätigkeiten und körperlichen Mißhandlungen nicht etwa bloß die Folge augenblicklicher Erregung gewesen sind. „Ein großer Teil der zahlreichen körperlichen Mißhandlungen hat sich als etwas weit Schlimmeres qualifiziert: als raffinierte Quälerei, als Ausfluß einer Roheit und Verwilderung, die man bei dem Material, aus dem unser Unteroffizier- und Instruktionspersonal sich ergänzt, kaum für möglich, und bei der Aufsicht und Kontrolle, die in unsern Dienstverhältnissen ausgeübt werden soll, kaum für ausführbar halten sollte.“ Der Erlaß hebt hervor, daß eine „so unwürdige, ebenso jedem Gesetz und jeder Vorschrift wie jeder Menschlichkeit hohnsprechende Behandlungsweise“, und ein „derartiger die Uniform und das Standesbewußtsein beschimpfender Terrorismus“ unmöglich gute Früchte zeitigen könne, und schließt daran die besondere Nutzanwendung: „Anstatt, daß das Heer den zersetzenden Lehren der Sozialdemokratie entgegenarbeitet, wird ihr durch solche Behandlungsweise Vorschub geleistet.“ Der Prinz macht schließlich noch die charakteristische Bemerkung: „Es will zuweilen scheinen, als ob seitens der Vorgesetzten von Haus aus für den Angeklagten und gegen den, welcher mißhandelt worden zu sein angibt, Partei genommen werde.“

Der Eindruck, den das Bekanntwerden dieses Erlasses machte, ist wesentlich daraus zu erklären, daß man hier einmal ein klassisches Zeugnis für die Zustände erhielt, deren Schilderung von anderer Seite man immer zurückgewiesen hatte, da sie übertrieben oder unkontrollierbar aus Wahrem und Falschem gemischt sei. Darin, daß dieses Zeugnis von hoher militärischer Seite inhaltlich so unanfechtbar war, beruhte sein besonderer Wert. Daß es im übrigen demjenigen, der sich um diese Dinge überhaupt kümmerte, nichts Neues bot, daß es vielmehr hinter den Tatsachen noch zurückblieb, konnte man oft genug hören. Es wird natürlich in einzelnen Truppenverbänden sehr viel besser stehen als in denen, die durch des Prinzen Erlaß besonders kompromittiert wurden, im allgemeinen aber stimmen alle privaten Mitteilungen darin überein, daß die Scheußlichkeiten, welche der Prinz in seinem Erlaß zusammenstellte, sich fast überall in der deutschen Armee wiederholen.

Es ist ja nun nicht zu bezweifeln, daß ebenso wie Prinz Georg auch sehr viele andere hohe militärische Stellen solche Brutalitäten aufs schärfste mißbilligen und bestrebt sind, ihnen zu steuern. Aber alle diese Bestrebungen sind doch sehr platonischer Art; sie finden eine Grenze an der Rücksicht auf vermeintliche Erfordernisse der Disziplin. Man will sich nicht entschließen, diejenigen Maßregeln zu ergreifen, die solchen Zuständen wirklich abhelfen könnten.

Man verweigert im Widerspruche zum ganzen Volke eine wirklich tiefgreifende Reform des Militärgerichtsverfahrens. Man verweigert vor allem die in Bayern schon seit Jahren bestehende Öffentlichkeit, dieses wirksamste Mittel gegen eine Entartung der Rechtsprechung. Man kann sich deshalb nicht wundern, wenn der preußische Militarismus, der hier im Widerspruche zu unserem ganzen Kulturleben steht, als kulturfeindliche Macht empfunden wird.

Man hält ferner die Bestimmung aufrecht, daß der Soldat, der wissentlich oder auch nur wiederholt leichtfertig unbegründete Beschwerde erhebt, bestraft wird, und zwar ohne gerichtliches Verfahren, eine Bestimmung, die natürlich geeignet ist, jegliches Beschwerderecht illusorisch zu machen, besonders da bekanntermaßen Zeugen für Mißhandlungen unter den Kameraden oft gar nicht zu beschaffen sind und da daneben auch jede Abweichung von dem vorgeschriebenen Dienstwege mit Arrest bestraft wird und endlich die Beschwerde in der Regel dieselbe Instanz passieren muß, gegen die sie gerichtet ist. Das ist in der Zivilverwaltung schon bedenklich, aber allenfalls erträglich. Was es jedoch unter militärischen Verhältnissen bedeutet, leuchtet ohne weiteres ein.

Man müßte, wenn das Beschwerderecht wirksam fungieren soll, vorschreiben, daß der Beschwerdeführer sich an den nächsten Vorgesetzten desjenigen wendet, über den er zu klagen hat.

Eine Bestrafung des Beschwerdeführers dürfte nur dann eintreten, wenn ihm das Bewußtsein eines Mißbrauches seines Beschwerderechtes nachgewiesen ist, und dieser Nachweis müßte im gerichtlichen Disziplinarverfahren geführt werden.

Der Beschwerdeführer und seine Zeugen müßten aber weiter auch wirksam gegen die Folgen einer berechtigten oder unberechtigten Beschwerde, jeder Zeuge gegen üble Folgen seiner Aussage geschützt werden, nötigenfalls durch Versetzung in ein anderes Regiment. Es ist ja bekannt, daß heute die Anzeige von vielen groben Ungehörigkeiten unterbleibt, weil der Soldat lieber die Mißhandlungen erträgt, als sich den unfaßbaren Schikanen aussetzt, von denen er im Falle erfolgreicher Beschwerde von seiten seiner Vorgesetzten bedroht ist, und daß oft die Kameraden aus Furcht vor solchen Schikanen und Mißhandlungen absolut zu keiner Aussage zu bringen sind, während sich nach Ablauf der Dienstzeit vor einem bürgerlichen Richter ihre Zungen lösen.

Den Forderungen der bürgerlichen Gesellschaft an die Militärstrafrechtspflege ist damit allerdings noch nicht genügt. Wir verlangen Einschränkung derselben auf die Beurteilung wirklicher Disziplinarvergehen und Einschränkung ihrer Strafmittel, annähernd auf das Maß desjenigen, was sonst im Disziplinarverfahren zur Verfügung steht.

Daß Militärgerichte über Vergehen urteilen, welche nichts mit Militärdisziplin zu tun haben, sondern dem allgemeinen Strafgesetzbuche unterliegen, ist eine ganz einzig dastehende Durchbrechung unserer bürgerlichen Rechtsordnung, in der sich der Militarismus wiederum als eine dem bürgerlichen Rechtsleben fremde und feindliche Macht zu erkennen gibt. Daß ein Soldat wegen Beleidigung eines Zivilisten, wegen eines Diebstahls, der außerhalb der Kaserne verübt ist, nicht vor das ordentliche Gericht, sondern vor den Militärrichter kommt, ist etwas, was einem großen Teil des Volkes anscheinend unbekannt ist, oder doch nicht recht in seiner Bedeutung erfaßt wird. Sonst könnte sich dieses ganz vereinzelt dastehende Privileg ja unmöglich gegen den allgemeinen Unwillen halten. Oder sind wir so militarisiert, daß wir eine solche Ausnahmestellung bewußt dulden?

Unsere Forderung geht freilich noch weiter: Es müssen auch alle schwereren Vergehen im Dienst und innerhalb der Kaserne, die zugleich gegen das allgemeine Strafrecht verstoßen, vor das ordentliche Strafgericht gezogen werden.

Doch das ist freilich ein Zukunftsprogramm. Die Hauptsache ist zunächst: solange die Militärrechtspflege sich nicht den Forderungen der Zeit anbequemt, solange sie sich weigert, öffentlich zu verhandeln, solange sie nicht die Beschwerdeführung grundsätzlich erleichtert und solange sie dem Beschwerdeführer nicht wirksamen Schutz verleiht, so lange wird man es dem Militarismus nicht glauben, daß es ihm wirklich voller Ernst ist mit der Bekämpfung roher Übergriffe. Und so lange liegt es für jeden auf der Hand, daß die militärischen Kreise wohl jene Brutalität beklagen, aber doch lieber sie dulden, als daß sie auf Kosten ihrer blind verehrten sogenannten Disziplin der bürgerlichen Auffassung die notwendigen Zugeständnisse machen.

Man könnte uns einwenden, Roheiten, Mißhandlungen und Ungerechtigkeiten ereigneten sich überall und seien nicht etwas, was dem Militarismus eigentümlich wäre.