Überleben. - Anne Elisabeth Dobbs - E-Book

Überleben. E-Book

Anne Elisabeth Dobbs

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Beschreibung

Im Alter von sechs Jahren gerät Anne in die Hände des pädophilen Vaters ihrer Freundin. Aus Angst vor dem Täter und aus der Befürchtung heraus, von der eigenen Familie verstoßen zu werden, erduldet sie ein jahrelanges Martyrium. Als sie ihrem Peiniger endlich entkommen kann, geschieht das Unvorstellbare: Ein Verwandter entdeckt das Mädchen für sich und die Hölle fängt von vorn an. Erst mit 14 Jahren vertraut Anne sich jemandem an. Über das Internet lernt sie Freunde kennen, mit deren Hilfe sie es endlich schafft, die beiden Männer anzuzeigen. Doch selbst dann muss sie weiter Angst vor Übergriffen haben: Der zweite Täter geht bei ihrer Familie weiterhin ein und aus. Die 23-jährige Anne erzählt in ihrem Buch "überleben." von ihrem erschütternden Schicksal. Es ist ein Überlebenskampf, an dem sie täglich zu zerbrechen drohte. Trotzdem gelang es ihr irgendwie, die Hoffnung nicht aufzugeben. Anhand ihrer eigenen Geschichte prangert sie auch an, wie die Gesellschaft mit Missbrauchsopfern umgeht. "überleben." ist die berührende Geschichte einer jungen Frau, die sich nach Jahren des Schweigens entschlossen hat, ihre Geschichte aufzuschreiben. Ihr Buch ist ein mutiger Befreiungsschlag und gleichzeitig der Versuch, die Gesellschaft für das Thema Kindesmissbrauch zu sensibilisieren.

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Seitenzahl: 400

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Anne Elisabeth Dobbs

überleben.

missbraucht. gefallen. wieder aufgestanden.meine geschichte.

Schwarzkopf & Schwarzkopf

INHALT

»Spend all your time waiting

For that second chance,

For a break that would make it okay.

There’s always some reason

To feel not good enough

And it’s hard at the end of the day.

I need some distraction

Oh, beautiful release.

Memory seeps from my veins.

Let me be empty

And weightless and maybe

I’ll find some peace tonight«

Sarah McLachlan, »Angel«

Zu meiner Geschichte.

Missbraucht. Gedemütigt. Gefallen. Zerbrochen. Wieder aufgestanden. Gekämpft. Und am Ende gewonnen? Vielleicht.

Dies ist keine Autobiografie. Zumindest nicht im klassischen Sinne. Dies ist die Geschichte eines Lebens – meines Lebens –, die ich bewusst nicht »Lebensgeschichte« nenne. Vielleicht wäre das mit vierundzwanzig Jahren zu früh. Und doch gibt es einiges, das es zu sagen gibt, das anzuklagen ist und das erzählt werden muss.

Über acht Jahre hinweg wurde ich sexuell missbraucht, vergewaltigt sowie körperlich und seelisch misshandelt. Erst von einem Mann. Dann von einem zweiten. Acht Jahre. Eine Zeit, die sich im Nachhinein noch viel unendlicher und unerträglicher anfühlt. Denn solange es während dieser Zeit ein »Leben neben dem Missbrauch« gegeben hatte, war ich bereit gewesen, dafür zu kämpfen. Wirklich schwierig weiterzumachen wurde es für mich erst, als mein Martyrium bekannt wurde und ich das Ausmaß dessen verstand. Von da an begann mich die Last, die ich zu tragen hatte, förmlich zu erdrücken. Und damit begann mein langwieriger Kampf. Die Frage ist also nicht, wo die Geschichte beginnt. Sondern wo sie enden wird. Auch ich werde mich davon überraschen lassen.

Um es vorwegzunehmen: Eine detaillierte Beschreibung dessen, was ich in meiner Kindheit erlebt habe, wird es hier nicht geben. Sicherlich, ganz ohne Erklärungen wird es auch nicht funktionieren. Viel wichtiger aber soll der Kampf sein, den ich – selbstverständlich – gegen die Täter, aber auch – und dies ist weniger selbstverständlich – gegen staatliche Bürokratie und unterlassene Hilfeleistung (so zumindest würde ich es nennen), gegen Ignoranz und übertriebenes Mitleid und nicht zuletzt gegen mich selbst gekämpft habe.

Die Frage ist nicht, ob man Opfer geworden ist. Sondern ob man es bleiben will. Und ich will es nicht. Nicht mehr.

Aus diesem Grund habe ich mich entschlossen, all das aufzuschreiben, was ich erlebt habe. Was ich erfahren habe, als ich gestürzt wurde. Und welche unfassbaren Dinge ich gelernt habe, als ich wieder aufgestanden bin und Gerechtigkeit gesucht habe.

Mein Ziel ist es nicht, bemitleidet zu werden. Dies geschah oft – allerdings zumeist an der falschen Stelle. Einzig und allein meine Vorstellungen von Gerechtigkeit treiben mich dazu an, zu schreiben. Und der Wunsch, dass dadurch andere Menschen, die das Glück hatten, keine solchen Erfahrungen zu machen, sensibler und offener für Schicksale werden, die von anderen durchlebt werden.

Besonders wichtig erscheint es mir auch zu verdeutlichen, dass oftmals nicht das Geschehene selbst die »Opfer« (zer)bricht, sondern dass es manchmal die Reaktionen einer »hilfsbereiten« Gesellschaft sind, die durch Nichtverstehen oder Ignoranz alles nur noch schlimmer machen.

Da ich mich Menschen lange Zeit nicht anvertrauen konnte, war es die Musik, die mir von Anfang an dabei half, mein Martyrium zu überleben. Aus diesem Grund sind jedem Kapitel dieses Buches Liedzitate beigegeben.

Teil I

Ein Ende und ein Anfang.

»Where has the starlight gone?Dark is the day.How can I find my way home?Home is an empty dream.Lost to the night«

Lebo M, »Endless Night«, aus dem Musical »The Lion King«

1. begonnen.

»Sometimes I wish I were an angel«The Kelly Family, »An Angel«

Im Alter von sechs Jahren endete meine Kindheit und mein Martyrium begann.

Worte für das, was ich erlebt habe, gibt es nicht. Oder ich finde sie nur nicht. Den sexuellen Missbrauch mit all seinen Abgründen, Variationen und Konsequenzen beim Namen zu nennen, scheint mir so noch der einfachste Weg. Wenn es auch gleichzeitig die ungenaueste Variante ist, die, die am meisten verharmlost.

Dieser Missbrauch fand manchmal wöchentlich, manchmal täglich statt. Jedoch nur in den Monaten zwischen Ostern und dem Tag der Deutschen Einheit. Das lässt sich mit dem Beruf des Täters und dem seiner Frau erklären: Da beide eine saisonabhängige Tätigkeit ausübten, lebte die Familie immer nur während der Sommermonate in der Nähe meines Wohnortes. Somit befand er sich (also der Täter, den ich nicht genauer benennen will und werde) nur zu diesen Zeiten in meiner Reichweite.

Meine Eltern, die immer sehr viel Wert auf Selbstständigkeit legten, hatten mir bereits früh viele Freiheiten eingeräumt. Denn abgesehen davon, dass ich mich immer zu einer fest verabredeten Zeit bei ihnen blicken lassen musste, durfte ich den ganzen Tag mit anderen Kindern draußen spielen. Da wir in einer ländlich geprägten Gegend lebten, war dies auch unbedenklich gewesen: Jeder kannte jeden und jeder gab auf die Kinder des anderen acht. So hatten weder hochsommerliche Hitze noch nasskalte Herbsttage meinen Freiheitsdrang bremsen können. Ich hatte jede einzelne Stunde genossen, die ich mit meinen Freunden draußen verbringen durfte. Jedenfalls so lange, bis ich das Mädchen kennenlernte, dessen Vater mir mit einem Schlag meine geliebte Freiheit nehmen sollte.

Die Frage, wie ich in die Fänge des Kinderschänders geriet, lässt sich also relativ leicht beantworten: Ich freundete mich mit seiner Tochter, die etwa zwei Jahre jünger war als ich, an, ohne zu erahnen, wo mich diese Bekanntschaft hinführen würde. Deutlich schwieriger ist es zu erklären, warum sich die Übergriffe häufen konnten. Also wie der Täter es schaffte – nachdem ich einmal seine Absichten kennengelernt hatte –, mich immer wieder zu sich zu locken. Das gelang ihm, indem er meine Unwissenheit ausnutzte: Im Alter von sechs Jahren verstand ich nicht, was er mit mir tat.

Das Einzige, was ich wusste, war, dass es wehtat. Sehr weh. Und es war beschämend. Genau das machte er sich zunutze: Er zwang mich, immer wieder zu ihm zu kommen. Er schärfte mir ein, dass er – sollte ich mich weigern – alles das, was er mit mir tat, anderen erzählen würde. Dass ich mich damit bei meiner Familie und meinen Freunden lächerlich machen, dass mich niemand mehr mögen würde. Und weil ich meine Familie über alles liebte, hatte ich unbeschreibliche Angst davor, dass sie mich abweisen oder fortschicken könnte.Außerdem war ich dazu erzogen worden, Erwachsenen zu gehorchen. Die Situation überforderte mich. Das, was er mit mir tat, wollte ich nicht. Keineswegs. Es tat weh! Doch der Gedanke daran, von meiner Familie verstoßen zu werden, war noch viel schmerzhafter und einschüchternder. Also ging ich zu ihm. Wieder und wieder.

Während seine ersten Annäherungsversuche »nur« aus unsittlichen Berührungen bestanden, steigerten sich seine abartigen Ambitionen mit der Zeit immer beständiger. Zunächst, als ich etwa sechs Jahre alt war, schien ihn bereits meine bloße Anwesenheit während diverser Handlungen zu befriedigen. Doch mit jeder Woche, die ich älter wurde, wuchsen auch seine perversen Anforderungen an mich. Mein Dabeisein reichte ihm bald nicht mehr. Er verlangte, dass ich seine Spiele mitspielte. Und natürlich: Irgendwann wollte er auch mich.

Anfangs wehrte ich mich, versuchte dem Alleinsein mit ihm zu entgehen oder stellte »Bedingungen«. Nachdem ich jedoch gemerkt hatte, dass Flucht- oder Gegenwehrversuche alles nur noch schlimmer machten, begann ich zu resignieren und ertrug es schweigend. Ganz nach dem Motto »Augen zu und durch«. Mund halten. Stillhalten. Möglichst nichts denken oder fühlen.

Als ich ein letztes Mal die Flucht wagte und mich mit wahnwitzigen Ausreden an meine Freundin klammerte, ließ er mich tatsächlich gehen. Vorerst. Ich habe nur wenig später schmerzhaft dafür bezahlt. Ich lernte meine Lektion. Ich lief fortan nie wieder weg.

Die kontinuierliche Steigerung dessen, was er mir antat oder was er von mir verlangte, kann ich heute nur noch schwer beschreiben. Es wurde einfach immer schlimmer. Mich daran erinnern, was wann geschah oder in welcher Reihenfolge sich seine Taten abspielten, kann ich nicht mehr. Zeit und Raum verschwammen. Und zurück bleibt nur die Gesamtheit meiner Peinigungen, die ich nicht mehr im Einzelnen ausmachen kann, dafür geschahen sie zu häufig, zu regelmäßig.

Ich selbst kann allenfalls mutmaßen, wie oft er sich während der Sommerhalbjahre an mir vergriff. Manchmal »nur« einmal die Woche, manchmal mehrmals, manchmal täglich oder sogar mehrmals an einem einzigen Tag. Eben immer dann, wenn sich ihm die Gelegenheit dazu bot. Im Laufe von fünf Halbjahren muss er sich vermutlich mehrere Hundert Male in verschiedener Form und Heftigkeit an mir vergangen haben.

Eine Zahl war und ist für mich jedoch belanglos. Für mich spielte nur noch die Art seiner Handlungen eine Rolle. Ich erlebte alles, was die Fantasie des Täters hergab, vieles davon übersteigt die normale Vorstellungskraft: »einfache« Berührungen, körperliche Misshandlungen, sexuelle Nötigungen und, ja, auch Vergewaltigungen. Jedes Mal, wenn er wieder eine neue Grenze der Perversion überschritt, traumatisierte er mich ein weiteres Stück. Die Bilder jeder einzelnen Grenzüberschreitung sehe ich noch heute vor mir.

Eine solche »Grenzüberschreitung«, an die ich mich mit dem Anflug einer Panikattacke erinnere, stellte der erste von ihm erzwungene Oralverkehr dar. Denn dieser läutete eine neue Ära hinsichtlich der Abscheulichkeit seiner Taten ein. Ich hatte bis dahin alles irgendwie ertragen können. Nur das nicht. Das sprengte die Grenze des Aushaltbaren für mich. Deshalb versuchte ich, Bedingungen zu stellen: Wenn er mir das ersparte, würde ich ihm versprechen, noch am selben Tag wiederzukommen … Doch es war vergeblich. Von dem Zeitpunkt an, als ihm bewusst wurde, wie grauenvoll diese Form der Vergewaltigung für mich war, drohte er sie mir bei jeglicher Gegenwehr immer wieder an. Auch wenn ich mich dann seinem Willen fügte, blieb es zumeist dennoch nicht bei der bloßen Drohung.

So wurden seine Taten im Laufe der Zeit immer krankhafter. Und umso qualvoller für mich. Ich versuchte mich schließlich von meinem schmerzenden Körper zu trennen und in eine andere Welt zu retten. Für mich war es ein Versuch, wenigstens einen Teil von mir vor ihm zu bewahren. Fernab von ihm und seinen perversen Machenschaften erschuf ich mir mein eigenes Reich, um mich – wenn dies schon körperlich nicht möglich war – zumindest geistig zu distanzieren. Mein Körper und meine Seele lösten sich voneinander. Wohin ich »ging«, kann ich nicht mehr sagen. Mit einer romantischen Feenwelt hatte es jedoch wenig zu tun.

Die Dinge, die er mit mir tat, betrachtete ich dann quasi aus einer gewissen Entfernung. Wie in einem klischeebehafteten Albtraum wurde ich so zur Beobachterin meiner eigenen Misshandlungen. Sie liefen vor mir ab wie ein Film. Und ich hatte keine Möglichkeit, ihn anzuhalten. Doch der physische Schmerz verlor dadurch seine Heftigkeit. Ich nahm ihn zwar wahr, aber ohne dabei wirklich etwas zu empfinden. Und das machte es zumindest ein bisschen leichter, die nicht enden wollenden Übergriffe zu ertragen. Denn so hatte ich das Gefühl, meine Seele von den Misshandlungen abschirmen und vor der Gewalt schützen zu können. Damit blieb mir wenigstens etwas, das ich ihm nicht preisgeben musste. Sometimes I wish I were an angel.

Seine Tochter bekam von all dem, was passierte, während sie trotz der Besuche ihrer Freundin allein spielen musste, nichts mit. Anfangs hatte sie noch wissen wollen, warum ich keine Zeit für sie hätte, doch schon bald hörte sie auf, »unangenehme« Fragen zu stellen. Welche Rolle ihr Vater dabei gespielt hat, wage ich nur zu erahnen. Jedenfalls nahm sie es irgendwann kommentarlos hin, dass er mich immer bald zu sich rief, wenn ich zu ihr kam.

Wahrscheinlich ahnte seine Frau auch etwas. Allerdings hat sie mich nie gefragt, warum ich so oft mit ihrem Mann allein war, wenn sie überraschend nach Hause kam. Auch über abgeschlossene Türen sah sie mehr oder weniger einfach hinweg. Ob sie wusste, wozu ihr Mann fähig war, ob sie es nicht wissen wollte oder ob sie nur schlau genug war, keine Fragen zu stellen, weiß ich nicht. Mir gegenüber äußerte sie sich diesbezüglich nie. Bis heute nicht. In Anbetracht der späteren Ereignisse wäre dies vielleicht mehr als nur notwendig gewesen.

Obwohl ich immer ein freiheitsliebendes »Sommerkind« gewesen war, fing ich schließlich an, den Winter herbeizusehnen. Und das sicher nicht, weil ich mich wie andere Sieben- oder Achtjährige auf Weihnachten freute. Tatsächlich hatte ich die eisigsten Monate meines bisherigen Lebens im Sommer erlebt. So wartete ich jedes Jahr aufs Neue auf den Herbst und die eigentlich so verhasste Kälte, weil dann – endlich – die Zwangsbesuche bei meinem Peiniger aufhörten, wenigstens vorübergehend.

Die einzige Hoffnung, die ich noch im ersten Herbst gehegt hatte, war, dass ich ihm möglicherweise nach dem Winter entkommen würde. Doch diese Seifenblase zerplatzte jäh und schmerzvoll: Er wusste, wo er mich finden konnte, um mich an seine Drohungen zu erinnern. Und natürlich fand er mich. Warum sollte das Leben auch gerecht sein?

Im Gegensatz zu mir freute er sich in jedem Frühjahr immer sehr, mich nach so langer Zeit wiederzusehen. Und das ließ er mich spüren: Am Tag unserer ersten Begegnung in der jeweils neuen Saison lud er all seine über den Winter angestauten Bedürfnisse mit einem Male bei mir ab. Ich erinnere mich, dass mir jeweils noch Tage danach besonders übel war.

So wurde in den folgenden Wintern das Wissen darum, was mir nach seiner langen Abstinenz bevorstehen würde, fast schlimmer als das, was es dann zu ertragen galt. Denn davor hatte ich Angst. Als es so weit war, konnte ich mich immerhin auf meinen Überlebensinstinkt verlassen, der mich von meinem Körper abspaltete und mich nicht mehr ich selbst sein ließ. Ja, sometimes.

So ging ich insgesamt fünf Sommermonate durch meine ganz persönliche Hölle. Hin- und hergerissen zwischen Schamgefühlen und der Angst, entdeckt zu werden, gefangen durch physische Schmerzen und psychische Verzweiflung. Etwa im Alter von zehn Jahren entdeckte ich jedoch endlich den Fehler in seinem Plan: Dank eines ersten schulischen Aufklärungsunterrichts erkannte ich, dass er ein Entdecken fürchten musste, nicht ich.

Doch wieder war ich in einem innerlichen Zwiespalt: Wie – und vor allem wem – nun das sagen, was schon über Jahre hinweg geschehen war? Wie würden Familie, Freunde, Lehrer oder sonst wer reagieren? Würden sie mir überhaupt glauben?

Wie oft das Glauben in meinem weiteren Leben noch eine Rolle spielen würde, wusste ich damals natürlich noch nicht. Zum Glück. Möglicherweise hätte ich sonst schon zu jener Zeit meinen Glauben verloren. Der schmale Grat zwischen Glauben und Nichtglauben sollte mir jedenfalls noch einen gewaltigen Kinnhaken verpassen. Und auch seine Drohungen, dass ich mich lächerlich machen würde und andere mich nicht mehr »mögen« würden, sollten sie jemals davon erfahren, sollten sich später als wahr herausstellen. Leider.

Jedenfalls entschied ich mich für das Schweigen. Wobei es eigentlich keine »Entscheidung« in diesem Sinne gab. Für mich war es eine ausweglose Situation, die mir meinen freien Willen nahm. Denn nun, wo ich wusste, was er mit mir tat, wurden meine eigenen Scham- und Schuldgefühle immer mächtiger.

Meine Eltern, Lehrer, Bekannten und Verwandten merkten von all dem, was ich in diesen fünf Jahren erlebte, nichts. Ich erlitt hin und wieder kleinere Verletzungen wie Hämatome oder Schürfwunden. Allerdings schenkte mein Umfeld den Verletzungen nie größere Beachtung: Ich galt als naturverbundenes und aufgewecktes Kind, das – vermeintlich – ständig draußen war und gern auf Bäume kletterte oder im Heu herumtollte. Und das Beispiel seiner Frau hatte mich bereits gelehrt, dass Erwachsene grundsätzlich immer nur das sahen, was sie sehen wollten. Und dass sie Dinge so interpretierten, wie es ihnen am natürlichsten oder bequemsten erschien.

Auf der anderen Seite bin ich mir aber auch nicht sicher, ob – abgesehen von seiner Frau – die Erwachsenen in meiner Umgebung etwas hätten merken können. Vielleicht. Aber ich versuchte immer, meine Verletzungen und auch meine Gefühle gut zu verstecken. Ich wollte nicht, dass jemand Fragen stellte. Ich hatte furchtbare Angst davor, dass irgendwer hinter dieses »Geheimnis« kommen könnte und mich dann – wie mir der Täter immer wieder eingeschärft hatte – auslachen und nicht mehr mögen würde. Denn ich war von meinem Peiniger und von der Gewalt, die er mir zufügte, so eingeschüchtert, dass ich mich selbst gewissermaßen als eine Art »Täter« betrachtete. Er hatte mich so zu einer Art Verbündeten gemacht. Und damit war ich an seinen Taten quasi mitschuldig.

In diesem Alter wusste und verstand ich natürlich nicht, dass dies das eigentliche Ziel des Täters gewesen war: dass ich nämlich meine eigenen Schuldgefühle verinnerlichte und letztendlich auch akzeptierte. Und am Ende zweifelte ich auch nicht mehr daran, dass mich andere aufgrund meiner Erlebnisse wegstoßen könnten. Denn auch unterbewusst fühlte ich mich beschmutzt, fremd und irgendwie anders.

Er war auch immer sehr vorsichtig. Er wusste, dass Verletzungen irgendwann, selbst wenn ich schwieg, aufmerksamen Mitmenschen auffallen könnten. Selbstverständlich gab er mir, sollte es zu physischen Verwundungen gekommen sein, immer eine Ausrede mit auf den Heimweg: Die Druckstelle am Handgelenk, die er mir beim Festhalten zugefügt hatte, würde beispielsweise daher stammen, dass ich mir den Arm in einer Schublade voller Spielsachen eingeklemmt hätte. Dass dies einmal sogar gewissermaßen der Wahrheit entsprach, machte diese Lüge nur noch makaberer: Denn alle dachten natürlich an eine Schublade voller Kinderspielzeug. Er allerdings hatte Spielzeuge für Erwachsene gemeint.

Manchmal schickte er Frau und Kind auch einfach weg, etwa dann, wenn er besonders krankhafte Pläne mit mir hatte. Er schickte sie auf irgendwelche alltäglichen Wege: einkaufen, Besorgungen für ihn erledigen oder einfach Eis essen. Und sie gingen.

Abgesehen davon, dass er mir dann regelmäßig diverse Hardcore-Sexfilme vorführte, drehte er solche auch selbst. Die Kamera ließ er nach einiger Zeit immer häufiger mitlaufen. Die daraus resultierende Demütigung brauche ich vermutlich nicht zu beschreiben. Was mit den unzähligen Videos, die er drehte, während er seine Perversionen an mir auslebte, geschah, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht ist das auch besser so.

Um den Schein zu wahren und um mich – wie er sagte – zu »belohnen«, legte er danach meistens eine Videokassette mit Zeichentrickfilmen ein. Er befahl mich vor den Fernseher und spulte den Film so weit vor, dass seine Frau oder seine Tochter keinen Verdacht schöpften, wenn sie zurückkehrten. Kam ich seiner Aufforderung nicht sofort nach, weil ich oftmals vor Schmerzen kaum gehen konnte oder noch nicht wieder richtig »anwesend« war, lachte er nur über meine Schwäche.

Seine Vorsicht ging so weit, dass er mich später, im Alter von mittlerweile elf Jahren, regelmäßig fragte, ob ich meine Periode bekommen hätte. Ja. Sein Verstand reichte überraschenderweise so weit, dass er sich darüber im Klaren war, dass eine schwangere Elfjährige selbst den abgestumpftesten Leuten auffallen könnte.

Obwohl ich mit den Jahren die Hoffnung auf ein Ende der Zwangsbesuche bei ihm längst verloren hatte, kam es doch dazu, dass der Kontakt wegen gewisser – für mich glücklicher – Umstände beendet wurde.

Mein darauffolgender Zusammenbruch war seit Langem der erste, der nicht auf purer Verzweiflung beruhte. Ich konnte kaum glauben, dass mein Martyrium nun endlich ein Ende finden würde. Dass jedes Ende aber auch einen Anfang beinhaltet, ahnte ich damals nicht. Doch so blieben mir immerhin einige wenige Wochen, in denen ich mich in Sicherheit wiegen durfte.

Ich traf ihn, abgesehen von den späteren Begegnungen vor Gericht, etwa ein Jahr später noch einmal. Ein letztes Mal versuchte er mich zu einem Stelldichein zu zwingen. Eine einzige glückliche Fügung hat mich dem entkommen lassen. Dem Himmel sei Dank. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass sowohl er als auch ich wussten, dass ich mit zunehmendem Alter noch »wertvoller« für ihn geworden war. Ich möchte mir nicht vorstellen, was passiert wäre.

Das war das einzige Mal in fünf Jahren, dass ich wirklich Glück hatte. Denn ich weiß, dass ich wieder nicht die Kraft und den Mut gehabt hätte davonzulaufen.

2. getäuscht.

»Life is not what it seems« Falco, »Jeanny«

Alle, die vermuten, dass es von nun an nur noch besser werden konnte, muss ich leider enttäuschen.

Mit elf Jahren, als der Missbrauch durch den Vater meiner Freundin sein Ende fand, konnte ich die Konsequenzen und das Ausmaß meiner Misshandlungen noch nicht überblicken. Aber ich hoffte doch, dass es nun, wo es vorbei war, zumindest erträglicher werden würde: keine Ängste, Schmerzen oder perverse Racheakte mehr. Frieden. Ruhe. Den Sommer wieder genießen. Freiheit.

Doch abgesehen davon, dass ich älter geworden war, war ich nicht mehr dieselbe. Ohne es wirklich benennen zu können, spürte ich doch, dass der über fünf Jahre hinweg erlebte Missbrauch seine Spuren hinterlassen hatte und dass es Nachwirkungen geben würde, die sich noch nicht abschätzen ließen.

Nun musste ich zwar meinen Peiniger selbst nicht mehr fürchten, aber allein die Tatsache, dass mich die an mir begangenen Taten verändert hatten, verunsicherte mich. Ich wusste nicht, was mit mir geschehen war. Und genauso wenig konnte ich voraussehen, was mir nun bevorstand. Beispielsweise liebte ich meine wiedergewonnene, eigentlich schon verloren geglaubte Freiheit. Und gleichzeitig ängstigte ich mich vor ihr, weil ich nicht wusste, was mich erwartete. Ich traute niemandem mehr und fürchtete mich vor allem, was ich nicht einschätzen oder kontrollieren konnte. Die ständige Angst und Anspannung hatten mich zudem wachsamer werden lassen. So wachsam, dass meine Seele einfach nicht mehr zur Ruhe kam.

Und auch mein Körper war müde und antriebslos: Die Heilung der vielen Verletzungen hatte ihm ganz offensichtlich zugesetzt. Allmählich wusste ich nicht mehr, woher ich meine Energie beziehen sollte.

Nach draußen wollte ich ebenfalls kaum noch gehen: Die Freunde, mit denen ich immer gespielt hatte, bevor meine Demütigungen begannen, hatten sich sowieso längst von mir abgewandt. Denn mein Peiniger hatte mich dazu gezwungen, jede Minute meiner Freizeit mit ihm zu verbringen. Meine damaligen Freunde dachten natürlich, dass sie mir, nachdem ich eine neue Freundin gefunden hatte, nicht mehr gut genug waren. Davon, dass ich mich immer dann, wenn mich der Vater ebendieser Freundin vergewaltigte, zu ihnen auf den Spielplatz sehnte, hatten sie natürlich keine Ahnung. Ich konnte auch kaum von ihnen verlangen, dass sie mich jetzt – nach über fünf Jahren – wieder mit offenen Armen empfangen würden.

Und neue Freunde wollte ich auf gar keinen Fall kennenlernen. Ich hatte viel zu große Angst davor, dass ich dadurch wieder an die falschen Väter geraten könnte. Überhaupt war ich mir auch gar nicht sicher, ob ich so etwas wie Freunde wollte: Auf der einen Seite sehnte ich mich zwar danach, mit Freunden spielen und reden zu können. Auf der anderen Seite aber vertraute ich niemandem mehr außer mir selbst und war deshalb einigermaßen zufrieden, wenn ich allein war. Denn nur dann konnte ich mir sicher sein, dass mir nichts passieren und mir niemand zu nahe kommen konnte. Das dachte ich zumindest. Also zog ich mich zurück und war dankbar dafür, dass ich mir wenigstens um zu viel körperliche Nähe keine Gedanken mehr machen musste. Doch so sehr ich diese Einsamkeit auch genoss, so sehr quälte sie mich auch, denn eigentlich wollte ich nicht allein sein.

Wenn ich gehofft hatte, die Erinnerungen an die unzähligen Übergriffe hinter mir lassen zu können, so hatte ich mich getäuscht, es funktionierte nicht. Der Vater meiner Freundin verfolgte mich nachts in meinen Träumen und quälte mich psychisch, wenn ich allein war und im Dunkeln undefinierbare Geräusche hörte. Auch wenn ich es damals nicht hätte benennen können, so wusste ich doch, dass sich meine Befürchtungen bewahrheiten sollten und mein Peiniger mich irreversibel geprägt hatte. Und dass er, auch wenn ich mich nun nicht mehr in seiner Reichweite befand, mich niemals wirklich verlassen würde.

Immer und immer wieder erwachten die Bilder meiner Misshandlungen vor meinem geistigen Auge zum Leben. Es gab kein Entkommen. Die Erinnerungen wurden genauso unaufhaltsam, wie es zuvor mein Peiniger gewesen war. Und sie waren mindestens ebenso schmerzhaft. Auch wenn ich es vorher nie für möglich gehalten hätte, so hatte ich nun das Gefühl, an den bloßen Erinnerungen zerbrechen zu müssen. Und jedes Mal, wenn ich einen kurzen Moment lang dachte, dass sie doch in den Hintergrund getreten wären, holten sie mich nachts in meinen Träumen mit voller Wucht wieder ein. Ich war unendlich zerrissen. Müde. Verängstigt. Aber irgendwie dennoch davon überzeugt, dass es mit jedem Tag, der mich von meinem Peiniger trennte, besser werden musste.

Vielleicht hätte ich mit diesem unerschütterlichen Glauben die Nachwirkungen des Missbrauchs irgendwie verkraften können. Vielleicht. Wäre nicht so kurz nachdem ich meine Freiheit wiedergewonnen hatte, erneut ein Mann auf mich losgegangen.

Alles begann von Neuem, ohne dass ich es aufhalten oder dem entgehen konnte. Dieses Mal war es ein entfernter Verwandter, ein angeheirateter Familienangehöriger, zu dem meine Familie und vor allem die mit uns im Haus lebenden Großeltern ein einigermaßen enges Verhältnis und einen regen Kontakt pflegten. Wir Kinder nannten ihn »Onkel« – auch wenn er das nicht war.

Warum dieser erneute Missbrauch genau zu diesem Zeitpunkt begann, kann ich nur mutmaßen. Vielleicht lag es daran, dass ich mit elf Jahren in ein Alter gekommen war, das meinen »Onkel« besonders anturnte. Eventuell hielt er mich nun für reif genug. Möglicherweise lag es auch schlicht und ergreifend an der Tatsache, dass ich jetzt, wo ich den Vater meiner Freundin losgeworden war, einfach wesentlich öfter zu Hause war. Ich weiß es nicht.

Als mich mein Onkel das erste Mal »unsittlich« berührte, sagte ich mir noch, dass dies ein Versehen gewesen sein musste. Gleichzeitig war ich mir sicher, dass ich mich damit selbst belog. Dennoch redete ich mir weiterhin ein, dass ich wahrscheinlich – aufgrund der Erlebnisse mit dem Vater meiner Freundin – hypersensibel wäre und lediglich überreagiert hätte. Dass da doch eigentlich gar nichts gewesen war. Dass er im Grunde nichts Unrechtes getan hatte. Dass ich sein Verhalten nur falsch interpretierte.

Denn es konnte einfach nicht wahr sein. Nicht schon wieder. Und doch. So unbegreiflich es klingen mag – genau so war es. Mit diesen »harmlosen« unsittlichen Berührungen durch meinen Onkel begann für mich eine neue, zweite Ära des sexuellen Missbrauchs und der körperlichen Misshandlungen.

Mein imaginäres Kartenhaus brach damit schlagartig in sich zusammen. Mein Zimmer – der einzige Ort, an dem ich mich zuvor noch wirklich sicher gefühlt hatte – wurde nun zum Haupttatort. Das letzte bisschen Sicherheit, das es noch in meinem Leben gegeben hatte, wurde mir genommen. Ganz zu schweigen von meinem Glauben an das Gute und der Hoffnung darauf, dass es nun besser werden würde. Mein Vertrauen in die Zukunft war zerstört. Mein Onkel nahm mir alles. Es blieb nichts mehr.

Tatsächlich waren die Vorfälle aber im Vergleich zu dem, was ich vorher erlebt hatte, zunächst weniger unberechenbar und mein Onkel zeigte – zumindest anfangs – weniger Rachegelüste, wenn ich mich nicht nach seinen Vorstellungen fügte. Dass sich dies allerdings schnell ändern würde, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Auch nicht, dass mein Onkel einen starken Hang zum Sadismus hatte und nach einiger Zeit erst dann zufrieden war, wenn (mein) Blut floss.

Schon sehr bald merkte ich, dass es ihm nicht unmittelbar um Spaß oder Befriedigung ging, sondern um Macht. Er wollte mir beweisen, dass er alles mit mir machen konnte, was er wollte. Er hätte sich nicht die Mühe machen müssen. Aufgrund meiner Erfahrungen wusste ich das auch so.

Was meinen Onkel noch gefährlicher machte, war die Tatsache, dass er körperlich wesentlich stärker und brutaler war als der Vater meiner Freundin. Ich wusste, dass mein Onkel dazu fähig war, mir die Knochen zu brechen und es wie einen Unfall aussehen zu lassen. Er war abgebrühter. Er war in einer anderen Hinsicht unkalkulierbar. Der Moment war für ihn wichtiger als der mir leider so bekannte Reiz des Quälens und langen Leidens. Er genoss es, sich an mir zu vergehen, wenn meine Tante im Raum nebenan saß. Er liebte das Spiel mit der Gefahr. Und genau das wurde mir später zum Verhängnis: Kaum jemand wollte mir glauben, dass mein Onkel so etwas hatte tun können, weil ja theoretisch immer jemand in der Nähe gewesen war. In der Nähe schon. Aber eben nicht dabei. Das war der entscheidende Unterschied.

Die Übergriffe durch meinen Onkel wurden sehr bald heftiger. So wurde aus einer beiläufigen Berührung rasend schnell mehr. Und je brutaler und intensiver die Misshandlungen wurden, desto mehr schüchterten sie mich ein. Anfangs versuchte ich noch, meinem Onkel möglichst unauffällig zu entkommen. Für Besuche bei ihm und seiner Frau konnte ich manchmal Ausreden finden: Hausaufgaben, eine Verabredung mit Freunden oder Unwohlsein. Doch immer gelang das nicht. Vor allem deshalb nicht, weil meinen Eltern und Großeltern die Familienzusammengehörigkeit immer sehr wichtig war und sie mich deshalb – mit Sicherheit ohne irgendeine böse Absicht – dazu ermutigten, dorthin zu gehen. Und so kam es, dass ich auch bei meinem Onkel übernachtete.

Wesentlich schlimmer waren für mich allerdings die Übergriffe, die ich nicht vorhersehen konnte. Denn mein Onkel brauchte mir gegenüber niemals Drohungen auszusprechen, damit ich wiederkommen würde. Für ihn war ich sowieso quasi immer verfügbar. Er wusste, dass ich zu ihm geschickt werden würde und dass er jederzeit zu mir nach Hause kommen konnte. Und da Tante und Onkel bei meinen Großeltern häufig zu Gast waren, war dies unproblematisch und nicht weiter auffällig: Er und seine Frau galten als immer willkommen. Zumindest bei den anderen Familienmitgliedern. Und so hatten sie sogar einen Schlüssel für die Haustür meiner Großeltern, die einen eigenen Eingang besaßen.

Einem Aufeinandertreffen in meinem Zuhause zu entgehen wurde für mich nahezu unmöglich. Denn ich wusste nie, wann er zu Besuch kam. Und wenn sich mein Onkel erst einmal in unserem Haus befand, musste er nur noch in mein Zimmer kommen. Ich konnte so nie vorhersehen, wann plötzlich die Zimmertür aufgehen und er mit einem breiten erwartungsvollen Lächeln – das ich wohl nie mehr vergessen werde – vor mir stehen würde.

Mein eigenes Bett war plötzlich nicht mehr sicher. Einen Schlüssel für die Zimmertür hatte ich nicht. Und was hätte der mir auch genützt? Meine Familie hätte erwartet, dass ich meinen Onkel »empfange« und ihm aufschließe. Aber wenn die Tür verschlossen gewesen wäre, hätte ich zumindest ein paar Sekunden gewinnen können, um mich psychisch auf das vorzubereiten, was dann geschah. Doch er liebte das Überraschungsmoment. Den Augenblick, den ich brauchte, um zu »verschwinden«. Ich vermutete, dass diese Momente meiner geistigen Anwesenheit und meiner noch funktionierenden Reflexe ihm den meisten Spaß bereitet haben.

Später stellte sich heraus, dass ich mit dieser Annahme recht behalten sollte. Jedes Anzeichen einer Gegenwehr, die ich ja dank meines Überlebensinstinktes kaum mehr leistete, machte ihn noch schärfer. So hatte er schließlich die Möglichkeit, mich daran zu erinnern, dass ich sein Spielzeug und ihm in jeder Hinsicht unterlegen war. Gut, dass ich früh gelernt hatte, einfach aufzugeben.

Er begrapschte mich auch hin und wieder einfach im Vorbeigehen, wenn niemand hinsah, oder unter einer Decke, beim Fernsehen auf der Couch. Er liebte es, mir seine Macht zu demonstrieren. Denn er wusste, dass ich mich nicht wehren konnte. Dass ich meinen Schmerz herunterschlucken und nicht schreien würde, auch wenn jemand in Hörweite war. Immerhin wusste er nicht warum.

Besonders abscheulich und schmerzhaft wurde seine Wut, als er feststellte, dass ich keine »Jungfrau« mehr war. Zumindest nicht im medizinischen Sinne. Er wusste natürlich nicht, dass er nicht der erste Mann war, der sich gegen meinen Willen an mir verging. Deshalb zog mein Onkel den Rückschluss, dass ich bereits mit elf Jahren Sex gehabt haben musste – was selbstverständlich nicht (zumindest nicht freiwillig) der Fall gewesen war. Er wurde rasend vor Zorn. Anscheinend hatte er sich schon lange darauf gefreut, mir höchstpersönlich auch diese Demütigung noch zufügen zu dürfen. Er beschimpfte mich wild. Eine der nettesten Bezeichnungen war dabei noch »kleine, dreckige Schlampe«. Zumindest in dieser Hinsicht waren wir uns einig: Denn genau so fühlte ich mich.

Während ich im ersten Moment fast froh war, dass mir die Demütigung der »Entjungferung« durch meinen Onkel erspart blieb, änderte sich meine Meinung schnell: Seine Rache für meine »Verbrauchtheit« war bestialisch. Und mit nichts zu vergleichen, was ich bis dato erlebt hatte.

Mein Onkel wusste also nicht, dass er schon der zweite Mann war, der sich an mir, einem elfjährigen Mädchen, verging. Er hatte keine Ahnung, dass er mir damit meinen sowieso schon raren Glauben an das Gute vollends genommen hatte. Und ihm war nicht klar, dass es nicht sein alleiniges »Verdienst« war, mich so mürbe gemacht und mich gänzlich in Knie gezwungen zu haben. Und gerade weil er das nicht wusste, schien er auch sehr mit sich selbst zufrieden zu sein, als er mich das erste Mal nach seinen Misshandlungen regungslos am Boden liegen sah, während mir vor Schmerz und Demütigung die Tränen in die Augen stiegen.

3. verzweifelt.

»That’s where you’ll find meSomewhere over the rainbow«Israel Kamakawiwo’ole, »Somewhere Over The Rainbow«

Man könnte vermuten, dass die Tatsache, dass ich nun älter geworden war, alles einfacher gemacht hätte. Dem war aber nicht so. Im Gegenteil. Anders als bei den ersten Übergriffen durch den Vater meiner Freundin wusste ich nun, was geschah. Mir war klar, dass mein Onkel etwas Verbotenes mit mir tat. Und dieses Gefühl der Falschheit nagte so stark an mir, dass ich mich völlig machtlos fühlte. Ich konnte mich wieder nicht wehren. Es war, als wären mir die Hände gebunden. Als gäbe es gar keine andere Möglichkeit, als einfach stillzuhalten. Ich hatte nie gelernt, mich zu widersetzen, davonzulaufen. Tatsächlich war es – so unglaublich es klingen mag – nahezu normal für mich, es zu ertragen. Und wieder zu verstummen.

Als sich der Vater meiner Freundin an mir verging, hatte ich wie schon erwähnt nicht verstanden, was er mit mir tat, und befürchtet, dass man mich auslachen würde. Aber nachdem ich es begriffen hatte und mir bewusst geworden war, wie schrecklich das alles war und was ich damit anrichten würde, brachte ich es erst recht nicht über mich, meiner Familie, die ich über alles liebte, so etwas zu erzählen. Und nachdem ich mich sowieso nicht mehr in der Reichweite meines ersten Peinigers befunden hatte, versuchte ich das Erlebte einfach zu vergessen. Ich hatte mir eingeredet, dass ich meine Familie nicht mehr damit belasten müsste. Denn nun war es ja vergangen. Als mein Onkel dann das erste Mal auf mich losging, war mir klar, dass ich dieses Mal erst recht nicht mit meiner Familie über die abscheulichen Taten sprechen konnte. Denn jetzt wusste ich ja, wie falsch und abscheulich sein Verhalten war. Und einen Familienangehörigen bei meinen Eltern anzuschwärzen schien mir unmöglich.

Meine Familie war immer intakt gewesen und ich wollte das nicht aufs Spiel setzen. Ich hatte – wie ich später erfahren musste, zu Recht – Angst, dass mein Ort der Zuflucht, meine Familie, in sich zusammenbrechen könnte. Auch wenn ich mich selbst anders fühlte, so fand ich doch in meiner Familie die Normalität, nach der ich mich so sehr sehnte. Sie vermittelte mir den Eindruck von Beständigkeit, während meine Gefühlswelt immer stärker ins Taumeln geriet.

Es war keineswegs so, dass ich meinen Eltern, Geschwistern oder Großeltern nicht vertraut hätte. Ich bin in einer gutbürgerlichen Familie aufgewachsen. Da meine beiden Geschwister wesentlich älter sind als ich und schon früh zu Hause ausgezogen waren, lebte ich bereits zu diesem Zeitpunkt mit meinen Eltern und Großeltern allein in unserem großen Haus. Meine Eltern waren beide berufstätig und mein Vater war oft dienstlich unterwegs. Deshalb hatte ich viel Zeit bei meinen Großeltern verbracht, die alles für mich getan hatten und immer für mich da gewesen waren.

Das Verhältnis zu meinen Eltern und Geschwistern und auch zu meinen Großeltern war immer sehr vertraut und innig gewesen. Auch wenn meine Eltern wenig Zeit hatten, so hatten sie doch jederzeit versucht, für das Wohl ihrer Kinder zu sorgen und den Familienzusammenhalt zu stärken. Und gerade deshalb konnte ich ihnen nicht von meinen Misshandlungen erzählen. Ich wollte ihnen die Wahrheit nicht zumuten. Denn mir war klar, wie sehr sie diese Nachricht treffen würde. Ich wollte niemandem wehtun. Auch nicht meiner Tante, der Partnerin meines Onkels, mit der ich bis dahin immer viel Zeit verbracht hatte. Also ertrug ich die Misshandlungen weiterhin schweigend.

Die Übergriffe durch den Vater meiner Freundin hatten mich eingeschüchtert, verschreckt und zermürbt. Doch die Taten meines Onkels raubten mir das letzte Quäntchen Hoffnung darauf, dass es irgendwann besser werden würde. Er kam und ging, wie es ihm beliebte. Und ich hatte keine Möglichkeit, ihm zu entgehen. Der Verdacht, dass sich mein Onkel hauptsächlich an meinen Qualen erfreute, bestätigte sich. Alle paar Tage stand er nun in meiner Zimmertür und zitterte in Vorfreude darauf, mich in den nächsten Minuten fertigmachen zu können. Immer wenn ich dachte, dass das Maximum an Brutalität erreicht war, ließ er sich wieder etwas Neues einfallen, wie er mich quälen, foltern, missbrauchen und demütigen konnte.

Ich werde an dieser Stelle nicht beschreiben, wie erbarmungslos und grausam seine Übergriffe wurden und was er sich alles für mich ausgedacht hat, um seinen sadistischen Hunger zu stillen. Es gibt nichts, mit dem ich den Schmerz, den ich immer wieder empfand, vergleichen könnte. Keine Worte, mit denen ich wahrheitsgemäß ausdrücken könnte, wie schlimm es war. Seine Taten überstiegen das normalmenschliche Vorstellungsvermögen.

Und noch heute, während ich diese Zeilen niederschreibe, spüre ich die Hilflosigkeit von damals. Lange verurteilte ich mich selbst dafür, dass ich es nicht schaffte, mich einem der Täter langfristig zu widersetzen oder vor ihm davonzulaufen. Mir fällt es schwer zu akzeptieren, dass ich als Kind oder Jugendliche – selbst wenn ich es versucht hätte – vermutlich keine Chance gegen solche Triebtäter gehabt hätte.

Oft fragte ich mich damals und frage ich mich auch heute noch, ob ich nicht selbst eine gewisse Schuld an den Taten trug, vor allem weil sie sich so oft wiederholten und erbarmungslos steigerten. Habe ich mich damals unangebracht verhalten? Habe ich etwas Falsches gesagt? War es mein Fehler, dass ich zu ihrem Lustobjekt wurde? War ich es, die erwachsene Männer anturnte? Gab es irgendetwas, das sie einlud? Eine Art Freibrief, mit mir zu tun, was sie wollten? Ich weiß es nicht. Noch heute komme ich oft an den Punkt, an dem ich an mir selbst zweifle und mir nicht sicher bin, wie ich diese und andere Fragen beantworten soll. Das Einzige, dessen ich mir heute einigermaßen gewiss bin, ist die Tatsache, dass ich wahrscheinlich unbewusst doch das Richtige tat. Nachdem ich einmal die Konsequenzen eines Fluchtversuches kennengelernt hatte, sagte mir mein Überlebensinstinkt, dass es einfach besser war, alles hinzunehmen und schweigend zu ertragen. Wer weiß, was passiert wäre, wenn ich mehr Widerstand geleistet hätte? Hätten die Täter mich einfach laufen lassen, wenn sie sich nicht sicher gewesen wären, dass ich auch wirklich schwieg? Oder hätten sie mich dann mit anderen Mitteln zum Schweigen gebracht? Würde ich dann heute überhaupt noch atmen?

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Aber vielleicht ist das besser so.

4. infrage gestellt.

»Lying in my bed I hear the clock tick«Cyndi Lauper, »Time After Time«

Jedenfalls hatte ich im Alter von zwölf Jahren noch immer keine Ahnung, wohin mich die erlebten Misshandlungen führen würden. Die Folgen des Missbrauchs – die Ängste und Albträume – zeichneten sich nun ab, waren mir aber in ihrer gesamten Tragweite noch nicht bewusst. Ich sah quasi die Spitze des Eisberges, ich sah, wie stark mich meine Erlebnisse verändert hatten, doch ich hatte keine Ahnung, dass sie so gravierend gewesen waren (und auch noch werden sollten), dass sie lebensbestimmend sein würden. Damals konnte ich nicht voraussehen, dass der Missbrauch zwar in einigen Jahren vorbeigehen, das Echo aber niemals aufhören würde nachzuhallen.

Je stärker mich Albträume und Ängste quälten, desto mehr begann ich daran zu zweifeln, dass ich jemals wieder »frei« sein würde. Nachdem mich der Vater meiner Freundin endlich in Ruhe gelassen hatte, hatte ich noch Hoffnung gehabt. Aber nun begann ich mich zu fragen, ob es nicht mein »Schicksal« oder was auch immer wäre, ständig misshandelt und sexuell missbraucht zu werden. Und damit begann ich, mein Leben infrage zu stellen. Ich wusste nicht mehr, ob es sich überhaupt lohnte, an irgendetwas zu glauben. Denn meine Erfahrungen hatten mich gelehrt, dass man immer dann, wenn man einen Hoffnungsschimmer sah, erbarmungslos enttäuscht und in die Realität zurückgezerrt wurde. Ich glaubte nicht mehr daran, dass ich ein gewaltfreies Leben verdient hätte. Das Universum schien mich – für was auch immer – zu bestrafen. Und diese Strafe schien einfach kein Ende nehmen zu wollen.

Meine Erfahrungen im »Abtauchen« hatten mir immer wieder gezeigt, dass die Realität manchmal leichter zu ertragen ist, wenn man nicht hinsieht und sich in eine andere Welt flüchtet. So versuchte ich meinen Schmerz zu verdrängen und mich an das bisschen Normalität zu klammern, das es in meinem Leben gab. Denn ich wollte nicht mit meinen Demütigungen konfrontiert werden. Tatsächlich konnte ich dieser (erneuten) Auseinandersetzung auch lange Zeit entgehen: zumindest während der Zeiten, in denen sich mein Onkel gerade nicht an mir verging.

Ich kann mir heute nicht mehr erklären, wie ich es schaffte, den Schein nach außen hin zu wahren. Ich funktionierte. Manchmal wunderte ich mich selbst darüber. Während und auch nach der Zeit des Missbrauchs tat ich alles, was als wohlerzogene Tochter, als zuvorkommende Enkelin oder als vorbildliche Schülerin von mir verlangt wurde. Jeden Morgen stand ich auf und ging zur Schule. Nie bin ich zu spät gekommen oder habe auch nur eine einzige Unterrichtsstunde geschwänzt. Ich schrieb – wie durch ein Wunder – zumeist gute bis sehr gute Noten. Außerdem trieb ich seit Grundschulzeiten Leistungssport und nahm an Meisterschaften und Wettkämpfen einigermaßen erfolgreich teil.

Jeden Mittag, wenn ich nach Hause kam, stand bereits das Mittagessen, welches meine Oma für ihren Mann, meine Mutter und mich zubereitet hatte, auf dem Tisch. Mein Vater war unter der Woche meist nicht dabei, weil er häufig dienstlich unterwegs war. Nach dem Essen ging meine Mutter wieder zur Arbeit und ich auf mein Zimmer, wo ich den Nachmittag – abgesehen vom gemeinsamen Kaffeetrinken mit den Großeltern – zumeist allein verbrachte. Wenn mein Onkel dann nicht gerade zu Besuch kam, genoss ich meine Einsamkeit. Ich machte Hausaufgaben, las, schaute fern oder hörte Musik, bis meine Mutter wieder nach Hause kam. Während des gemeinsamen Abendessens plauderten wir über unsere Erlebnisse des Tages und die Aufgaben des folgenden oder was es im Ort Neues gab. Grundsätzlich redeten wir in unserer Familie über (fast) alles. Es ging oft fröhlich und unbeschwert zu. Und gerade dieses unbekümmerte Familiendasein wollte ich nicht zerstören. Deshalb schluckte ich in Gegenwart meiner Familie meine wahren Gefühle runter, verdrängte meine Ängste und schlüpfte in die Rolle des sorglosen Kindes. So konnte ich mir ein halbwegs »normales« Leben bewahren, denn nur ich wusste, dass ich hinter meiner Fassade nicht die war, die andere dort vermuteten. Und solange ich mich selbst belog, fand ich in meiner Familie die Normalität, nach der ich mich sehnte. Und das gab mir Kraft.

Es gelang mir sogar teilweise, mich in den Zeiträumen zwischen zwei Misshandlungen altersgerecht zu verhalten. Hin und wieder spielte ich dann mit anderen Kindern und träumte von Einhörnern. Doch die Phasen, in denen ich den Kontakt zu anderen hasste, überwogen. Das Alleinsein war für mich die einzige Möglichkeit, mich vor anderen Menschen zu schützen. Denn körperliche Nähe ertrug ich einfach nicht (mehr). Meine Grenzen waren viel zu oft überschritten worden. Und generell hatte ich vor allem Angst. Ich fürchtete mich vor all den Dingen, die ich nicht kannte. Die ich nicht ein- oder abschätzen konnte. Und vor allem, was neu war.

Also bevorzugte ich es, allein zu Hause zu spielen oder meine Aufgaben zu erledigen. War ich einmal bei Freundinnen eingeladen, versuchte ich immer, vor Einbruch der Dunkelheit, die mir auch große Angst machte, nach Hause zu gehen. Vor allem aber weigerte ich mich strikt, bei Freundinnen zu übernachten. Sowieso traf ich mich mit ihnen lieber bei mir zu Hause. Wohl wissend, dass mein Onkel diese Grenze nicht überschreiten würde. Denn wer konnte ihm schon garantieren, dass auch die anderen Mädchen den Mund halten würden?

Ich hatte nie eine »beste Freundin«, mit der ich durch dick und dünn gegangen wäre. Zum einen deshalb nicht, weil ich von meinem ersten Peiniger immer von anderen Kindern ferngehalten worden war und daher nicht mit meinen Freunden hatte spielen können. Zum anderen, weil ich niemanden mehr – auch keine gleichaltrigen Freunde – an mich heranlassen wollte. So hatte ich zwar oberflächliche Freundschaften für die Erledigung von Hausaufgaben oder Schulprojekten, achtete aber gleichzeitig immer darauf, mich nicht zu sehr an andere zu binden. Nicht nur weil ich wusste, dass man sich (meistens) in den Menschen täuschte, sondern auch, weil ich Angst hatte, dass jemand mein Gefühlschaos bemerken und nachfragen könnte.

Doch auch in meiner Scheinwelt gab es genügend Situationen, die mich mit aller Heftigkeit daran erinnerten, dass mein Dasein weder »normal« noch »perfekt« war. So etwa der Aufklärungsunterricht in der sechsten Klasse. Während andere Kinder über sämtliche neuen Informationen ungehalten kicherten, widerte mich der Unterricht an. Bereits mit zwölf Jahren wollte ich nichts mehr von Sex wissen. Das, was ich im Alter von sechs bis elf Jahren auf unzähligen Pornostreifen gesehen hatte, reichte aus, um alle erdenklichen Praktiken – auch die, die im Unterricht nicht behandelt wurden – in den Schatten zu stellen.

Dadurch, dass meine Klassenkameraden noch relativ wenig über Sex wussten – wie es natürlich auch sein sollte –, fühlte ich mich völlig fremd. Ich saß im Unterricht, schaute gelangweilt und wartete, bis es vorüber war. Das ständige Gekichere und Gelache ging mir auf die Nerven. Ich spürte, dass ich abgesehen von der Lehrerin die Einzige im Raum war, die dem Thema Sex überhaupt nichts Witziges abgewinnen konnte. Im Gegenteil: Für mich stand Sex und alles, was damit zu tun hatte, immer in Verbindung mit Schmerzen. Und ich wollte mir von niemandem sagen lassen, dass es etwas mit Liebe zu tun hätte. Denn so, wie mich mein Onkel behandelte, konnte er mich nicht lieben. Er hasste mich. Abgrundtief.

Also stellte ich im Unterricht auf Durchzug. Fragte mich die Lehrerin etwas, konnte ich ihr natürlich antworten. Aber sie reagierte nicht darauf, dass ich Dinge wusste, die ich in dem Alter eigentlich nicht hätte wissen dürfen. Sie ging kommentarlos darüber hinweg.

Nur ein einziges Mal wurde ich an diesem Tag hellhörig: als die Lehrerin kurz über Verhütung sprach. Denn mein Körper entwickelte sich im Gegensatz zu denen meiner Altergenossinnen schnell. Mit zwölf Jahren hatte ich schon lange meine Periode. Und mir war – auch schon vor diesem Unterricht – durchaus bewusst, dass mein Onkel dadurch noch gefährlicher für mich geworden war. Und deshalb war das Einzige, was mich an diesem Tag wirklich interessierte, die Pille.

Das Gefühl des Andersseins, welches zuvor schon hin und wieder aufgeflackert war, ließ mich spätestens von diesem Tag an nicht mehr los. Ich fühlte mich fremd. Ausgeschlossen. Ausgestoßen. Das Alleinsein nagte an mir. Meine eigene Umwelt wurde immer surrealer. Mein Onkel missbrauchte mich, folterte mich. Ich war ihm schutzlos ausgeliefert und musste mir dann auch noch anhören, wie schön Sex sein konnte. Es war so makaber, dass mir davon regelrecht schlecht wurde. Womit hatte ich das verdient? Warum schien sich meine Umwelt auch noch – indem sie mir immer wieder vor Augen führte, wie drastisch meine Erfahrungen waren – über mich lustig machen zu wollen? Wieso nahm es einfach kein Ende? Gab es irgendjemanden »da oben«, der sich – wie mein Onkel – daran erfreute, mich so leiden zu sehen?

Ich wusste langsam nicht mehr, wohin mit mir und meiner Verzweiflung. Je älter ich wurde, desto auswegloser erschien mir meine Situation. Die unbeantworteten Fragen, die ich mir stellte, wurden immer zahlreicher und einnehmender. Ich konnte kaum beschreiben, was in mir vorging. Nicht sagen, wie sehr ich unter meinem Martyrium litt. Ich wünschte mir so sehr, mich jemandem anvertrauen zu können. Aber die Angst, durch die Wahrheit ausgegrenzt zu werden, war zu einschüchternd. Der Gedanke daran, mich durch ein Gespräch mit anderen nochmals dem zu stellen, was mir widerfahren war, schreckte mich ab. Die Zeit heilt alle Wunden? Das dachte ich. Aber ich irrte: Es wurde jeden verdammten Tag schlimmer. Meine Misshandlungen wurden immer unerträglicher und ich litt immer mehr unter meiner eigenen Zerrissenheit.

Tatsächlich war es so, als würde ich den eigentlichen Kampf mit mir selbst ausfechten. Da ich nicht über meine Erlebnisse reden konnte, blieb ich mit meinen Gedanken und Gefühlen allein. Doch ich wollte diese Bürde nicht mehr allein tragen. Mir war klar, dass ich dem stärker werdenden Druck meiner Erinnerungen und den immer heftiger werdenden Misshandlungen durch meinen Onkel nicht ewig würde standhalten können. Der Zwiespalt zwischen meiner Verzweiflung und der Angst vor der Wucht der Wahrheit wurde immer größer. Meine Maske der Unbeschwertheit würde ich nicht mehr lange tragen können. Die Übergriffe wurden zu einnehmend, als dass ich sie weiterhin verdrängen konnte. Und meine Angst wurde so übermächtig, dass sie sich nicht mehr in den Hintergrund schieben ließ.

Doch wo sollte ich hin? Was sollte ich tun? Meine Schutzmauer aufgeben? In die reale Welt zurückkehren? Das Schweigen brechen? Und dadurch Gefahr laufen, auch noch das letzte bisschen Normalität in meinem Leben aufs Spiel zu setzen? Was ich mit dreizehn noch resolut verneinte – endlich darüber zu reden –, wurde allmählich immer unausweichlicher.