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Nils Zurawski

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Beschreibung

Die Digitalisierung unserer Lebenswelten ist allgegenwärtig und ermöglicht die Überwachung unseres Alltages in bisher ungekannten Formen. Warum aber gibt es dagegen so wenig Widerstand, obwohl Datenschützer immerzu warnen und Whistleblower wie Edward Snowden das ganze Ausmaß der Massenüberwachung öffentlich machen? Nils Zurawski konstatiert, dass solche Fragen am Phänomen selbst vorbeigehen, wenn sie nicht die Bedeutung des Konsums als elementares gesellschaftliches Element ernst nehmen. Er zeigt, welche symbolische Kraft Technologien haben und wieso Digitalisierung zu einer Re-Feudalisierung von Lebenswelten führt. In dieser Perspektive wird Überwachung zu einem Teil des Konsums und wirkt identitätsstiftend. Das Buch stellt Alternativen für andere Wege bereit, mit Digitalisierung umzugehen, und neue Möglichkeiten, Überwachung zu diskutieren.

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Nils Zurawski (Dr. habil.), Sozialanthropologe und Kriminologe, lehrt und forscht u.a. an der Uni Hamburg und bloggt unter surveillance-studies.org. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen Überwachung, Konsum, Polizei, Gewalt, Friedensbildung, Konflikt und Doping.

Nils Zurawski

Überwachen und konsumieren

Kontrolle, Normen und soziale Beziehungen in der digitalen Gesellschaft

Diese Publikation wurde im Rahmen des Fördervorhabens 16TOA002 mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Open Access bereitgestellt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 Lizenz (BY-SA). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, sofern der neu entstandene Text unter derselben Lizenz wie das Original verbreitet wird. (Lizenz-Text:https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de)

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Erschienen 2021 im transcript Verlag, Bielefeld © Nils Zurawski

Covergestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Korrektorat: Claudia Carvalho Da Silva, Bielefeld

Print-ISBN 978-3-8376-5606-0

PDF-ISBN 978-3-8394-5606-4

EPUB-ISBN 978-3-7328-5606-0

https://doi.org/10.14361/9783839456064

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

Das Problem: Überwachung in der digitalen Welt

Das Modell: Chaux und Kontrolle als Alltag

Kritik: Überwachung – neue, alte Sichtweisen

Konzept: Überwachung als soziale Praktik und Beziehung

Erklärungen: Distinktion, Domestiken, Konsum und Überwachung

Konsum und Distinktion

Domestiken und elektronische Dienstboten

Autonomes Fahren: Wünsche und Konsequenzen

Bilder I: Die Optionsmaschinen, das Management der Normen und die Einschränkung der Auswahl

Bilder II: Nadeln im Heuhaufen – KI, Algorithmen und die Produktion der Wirklichkeit

Ein neues Modell: Konsum der Überwachung

Welchen Ausweg gibt es?

Nachwort: Corona

Literatur

Das Problem: Überwachung in der digitalen Welt

Google’s tools are not the objects of a value exchange. They do not establish constructive producer-consumer reciprocities. Instead they are the »hooks« that lure users into extractive operations and turn ordinary life into the daily renewal of a 21st-century Faustian pact. This social dependency is at the heart of the surveillance project.(Zuboff 2015)

People are very uncomfortable with surveillance, but they don’t know what to do.(Turow 2018)

Google, Facebook, Amazon, Apple – diese Unternehmen mit ihren Serviceangeboten, Produkten und Welten beherrschen die gegenwärtige digitale Welt. Nicht sie allein, aber speziell diese sind zum Synonym für die Veränderungen geworden, die unter der Rubrik »digitales Zeitalter« versammelt werden. Sie nehmen Einfluss auf immer mehr Bereiche und Aspekte des individuellen und gesellschaftlichen Lebens. Dabei kommt den Möglichkeiten der Überwachung durch die Unternehmen selbst, aber auch durch ihre Angebote und deren Vermittlung eine zentrale Bedeutung zu. Vordergründig scheint es dabei vor allem um eine Überwachung von Aktivitäten und Gewohnheiten zu gehen, die über den Konsum ihrer Produkte und Serviceangebote möglich wird. Die massenhafte Auswertung der Daten, die als Spuren auf ganz unterschiedliche Weise im Internet hinterlassen werden, ist der Schlüssel zum Wissen der Unternehmen über uns, zur Anpassung ihrer Angebote und letztlich auch, so wird befürchtet, zur Steuerung der Menschen selbst. Andere Arten der Überwachung, z.B. durch den Staat oder durch Betriebe am Arbeitsplatz, scheinen davon ausgenommen zu sein. Und so richtig eine solche Unterscheidung für die Betrachtung einzelner Überwachungspraxen ist, so wenig hilft sie weiter zu erklären, worin das Besondere von Überwachung im digitalen Zeitalter liegt. Nicht zuletzt sollte das Beispiel des chinesischen Modellversuches eines Social-Credit-Systems seit 2014 die Aufmerksamkeit dafür geschärft haben, dass eine strikte Trennung verschiedener Bereiche weder notwendig noch analytisch immer sinnvoll ist, um bestimmte Fragen hinsichtlich von Überwachung zu beantworten. Konsum, Repression, soziale Kontrolle, Arbeit, Lebensqualität und Verbrechensbekämpfung können auch mit gleichen Mitteln und Technologien von denselben Institutionen überwacht und entsprechend geregelt werden.

Aber was bedeutet es zunächst einmal in einem digitalen Zeitalter, in einer digitalen Welt zu leben? Grundsätzlich geht es zunächst darum, wie die Welt wahrgenommen wird. So sind vor allem ihre Vermittlung, die Formen wie wir sie erfahren und uns darin mit anderen Menschen austauschen, digitalisiert. Die beiden obigen Zitate beziehen sich auf die Qualitäten solch einer digitalen Welt und den darin bestehenden Möglichkeiten, mit denen sich Menschen gegenwärtig auseinandersetzen müssen. Auch wenn selbstverständlich immer noch analoge Wege und Formen der Vermittlung und Wahrnehmung existieren, so sind viele Aspekte des alltäglichen Lebens digital vermittelt, gesteuert oder haben in der einen oder anderen Weise damit zu tun. Das gilt insbesondere für die Kommunikation und damit die sozialen Beziehungen, aber auch die Bereiche Arbeit, Verkehr oder Organisation von Gesellschaft als solche. Letztere wird zunehmend digitalisiert und folgt damit anderen Regeln und Logiken, als dass es ohne diese Technologien der Fall wäre. Auch wenn eine Digitalisierung nicht notwendigerweise die Ausweitung von Überwachung und Kontrolle bedeutet und letztere bereits auch davor zentrale Aspekte von Politik und Gesellschaft waren, treten sie nun aber in neuen Formen auf und betreffen vor allem wesentlich mehr Bereiche des alltäglichen Lebens und menschlicher Lebenswelten ganz allgemein.

Chinas System der totalen Erfassung gesellschaftlichen Lebens – wenn auch zunächst »nur« als Modellversuch – mit dem Ziel von dessen Verbesserung, hat die Debatte über die Folgen der digitalen Technisierung von Welt, Alltag und Gesellschaft ein weiteres Mal angeheizt. Im Zentrum des chinesischen Systems steht ein sogenannter social score (vgl. Lian u.a. 2018; Kobie 2019; Welchering 2019), mit dem alle Handlungen eines Individuums bewertet und in einer Kennzahl zusammengefasst werden. Die Regierung sowie die großen Techkonzerne dort sind die Treiber hinter dem System der Überwachung, welches vor allem in den liberalen Demokratien des Westens erhebliche Bedenken und Ängste auslöst. Dass sich die grundlegende Logik dahinter nicht nur auf China beschränkt, zeigt auch das obige Zitat von Shoshana Zuboff, wenn sie von den sozialen Abhängigkeiten spricht, in die sie die Konsument:innen im Verhältnis zu den Techkonzernen abgleiten sieht. Joseph Turow verdeutlicht das Dilemma, in dem viele Menschen stecken, wenn sie sich den digitalen Welten gegenübersehen, welche sie nutzen, deren Überwachungspotenzial sie möglicherweise kennen, sich darin aber weder wohlfühlen noch sich zu helfen wissen, wie sie diese umgehen können. Die grundlegenden Probleme einer datenhungrigen Welt, deren Logik und Anforderungen sich nahezu niemand wirklich vollständig entziehen kann, sind folgende:

Allgegenwärtigkeit von Datensammlungen: Daten, insbesondere als maschinell verarbeitete Informationen über die eigene Person, kommt eine zentrale Rolle im gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben eines Menschen zu.

Es existiert bei den meisten Menschen eine scheinbar unreflektierte Bereitschaft diese Informationen bereitzustellen, zu teilen oder anzugeben – oder wissen sich nicht zu helfen, wie Turow feststellt.

Der Widerstand gegen diese Politik der Daten- und Informationssammlung ist gering, wenn auch in besonderen akademischen Zirkeln laut und ausgeprägt – in der Breite der Bevölkerung zeigt sich jedoch eher ein anderes Bild. Dass heißt nicht, dass die Problematik nicht bewusst wahrgenommen wird, aber eine breite Gegenwehr ist trotz der oft skizzierten, gefährlichen Folgen so nicht feststellbar.

Ja, mehr noch – viele Angebote werden geradezu bereitwillig angenommen, nachgefragt und werden so ein mit dem Leben und Alltag der Menschen fest verbundener Teil.

Nahezu gleichgültig ob es sich dabei um die erwähnten Datensammlungen handelt oder um algorithmische Verfahren, mit denen diese ausgewertet werden – ob konkrete Anwendungsbereiche wie die polizeiliche Fahndung mit dem so genannten predictive policing, Konsum, autonomes Fahren oder Künstliche Intelligenz – die Frage, mit der in populären Medien, Politik und zum Teil auch in der Wissenschaft an diese Phänomene herangegangen wird, lautet: Was macht das mit einer Gesellschaft und den Menschen?

Diese Frage ist allerdings zum einen unzureichend, um das Verhältnis von Technologie und Gesellschaft zu erklären. Zum anderen lässt sich über diese Frage fast nichts zum Aspekt der Überwachung sagen. Die auch bei Zuboff eher einseitige Betrachtung der Entwicklung von Seiten der Unternehmen her (vgl. Morozov 2019), der sie einer neuen Variante des Kapitalismus zuschreibt, ist wichtig, aber eben nicht ausreichend. Nicht ausreichend in dem Sinne, weil das Verhältnis von Gesellschaft und Technologie eben nicht bloß das eines Werkzeuges ist, sondern dieses Verhältnis auch eine andere Dynamik entfaltet und somit andere Perspektiven einfordert. Schließlich kann mit dieser eher deterministischen Sichtweise wenig über die Art und Weise von Überwachung und Kontrolle sowie den Bedingungen des Digitalen gesagt werden, ganz gleich ob es sich um staatliche, eher repressive oder um die Überwachung der Unternehmen handelt, die eine wirtschaftliche Abhängigkeit etablieren wollen. Den beiden, so behaupte ich, geht es um eine Kontrolle der Zukunft, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Zuboff (2019) spricht davon, dass nicht nur die Informationsflüsse über uns automatisiert werden sollen, sondern auch wir selbst. Das ist eine sehr dystopische Sicht auf den von ihr skizzierten und kritisierten Überwachungskapitalismus, insbesondere wenn sie darin vor allem das Ziel erkennt, dass alle Möglichkeiten der Selbstbestimmung eliminiert werden sollen.

Es kann dennoch nicht vornehmlich um die Frage gehen, was bestimmte Technologien oder technologische Entwicklungen in einer Gesellschaft machen und wie sich darin anschließend Gesellschaft entwickelt – auch wenn die Beobachtung von Zuboff auf ein elementares Problem hinweist, welches für dieses Essay wichtig ist. Eine Analyse solcher Effekte ist wichtig, ohne Frage, aber begrenzt in ihrer Aussagekraft; denn dabei werden die interaktiven Dynamiken zwischen Technologien, Gesellschaft und individuellen Bedürfnissen nicht ausreichend gewürdigt. Technologie erscheint als totalisierender Zweck, nicht als Objekt von Diskursen und als gesellschaftlicher Bedeutungsträger, über welche soziale Beziehungen und gesellschaftliche Narrative vermittelt werden. Es bedarf daher neuer oder modifizierter Modelle von Gesellschaft, in denen Überwachung im Zuge digitaler Technologien ein zentrales Element darstellt. Es muss auch darum gehen, welche gesellschaftlichen Bedürfnisse die Technologie möglicherweise befriedigt, wie »Gelegenheiten der Kommunikation« (Baecker 2019) angenommen und weiterverarbeitet werden und inwiefern Technologie und Alltag miteinander verwoben sind. Nur dann könnte auch beantwortet werden, wie es möglich wäre, das Verhalten von Menschen zu automatisieren, so Zuboff. In seinem Buch »Muster« (2019), in dem der Soziologe Armin Nassehi die Ursprünge des Digitalen erkundet, fragt er zurecht, für welche Probleme das Digitale die Lösung gewesen sei, damit es entsprechend entstehen und sich dann noch auch zu dem entwickeln konnte, wie es heute wahrnehmbar ist. Auch diese Frage ist wichtig, vor allem da Muster in jeder Form für Kontrolle und Überwachung zentral sind. Ich möchte aber zunächst einen anderen Aspekt in den Mittelpunkt stellen, der grundlegend für meine Analyse sein soll und die Dynamik von Technik und Gesellschaft betrifft.

Ein wichtiges Kennzeichen eines wie auch immer ausgestalteten digitalen Zeitalters ist der Umstand, dass die Technologie den Menschen neue Möglichkeiten gibt, sich selbst neu zu verorten, ihre Identität selbst zu erschaffen, soziale Beziehungen anders zu knüpfen und dabei neue Formen eines Distinktionsgewinns (vgl. Bourdieu 1987) zu kreieren als auch zu nutzen. Das etwas düstere Bild eines Überwachungsstaates à la Orwell scheint da weder ausreichend noch zeitgemäß, um gegenwärtige gesellschaftliche Dynamiken zu beschreiben. Hier soll keine Technoapologie und kein blinder Technikutopismus propagiert, sondern zunächst die Möglichkeiten für andere Perspektiven auf das Thema eröffnet werden.

Will man also verstehen, warum die Digitalisierung im Alltag einen solchen Erfolg hat, dann muss man sich eines ihrer Versprechen genauer ansehen; nämlich das der Lebenserleichterung, des Imperativs des Praktischen und Automatischen. Oder anders ausgedrückt: Die Digitalisierung erlaubt eine Delegation von Aufgaben an Technologie, die erscheint, als würde man Domestiken und Dienerschaften befehligen – Institutionen, die einer längst vergangenen Zeit anzugehören scheinen. Jeder kann sich nun (digitale) Diener:innen leisten, die von der Ferne all die Aufgaben übernehmen, die man sonst selbst übernehmen müsste. Die Art der digitalen Refeudalisierung von Gesellschaft ist enorm attraktiv, insbesondere unter den Bedingungen eines Konsumkapitalismus (vgl. Bauman 2009), in dem das eigene Ich zu einer Marke sowie die Identität über den Konsum von Gütern, Dienstleistungen, Lebenseinstellungen, Haltungen usw. gebildet und dargestellt wird. Das ist nicht kulturpessimistisch zu verstehen, sondern der Versuch einer Beschreibung, welche Rolle diese Art kapitalistischer Wertschöpfung in der Gesellschaft spielt; nämlich die der Identitätsstiftung. Zuboff (2015) spricht an anderer Stelle davon, dass Angebote von Google gewissermaßen die Verlockungen sind, mit denen die Menschen geködert werden, um sie im Anschluss sozial abhängig zu machen. Was jedoch die Attraktivität der Verlockungen ausmacht, darüber erfährt man allerdings weniger. Überwachung, so meine These für das folgende Essay, ist Teil einer solch konsumistischen Identitätsfindung, weshalb ich auch vom Konsum der Überwachung sprechen möchte, mit dem der Zusammenhang von Verlockung und der scheinbar unreflektierten Annahme vieler Angebote erklärt werden kann.

Was also Google mit dem chinesischen social score, die ideale Stadt mit den Algorithmen des Big Data, der Wunsch nach Domestiken mit dem Internet zu tun hat und wie darin die Zukunft von Gesellschaft aussehen kann, möchte ich hier erörtern und im Hinblick auf mögliche Alternativen, Widersprüche und Zielkonflikte diskutieren. Um die Bedeutung von digitaler Technologie im Alltag deutlich zu machen und gewissermaßen ein Ausgangsmodell für meine Argumentation zu haben, bedarf es zunächst eines kleinen historischen Ausflugs.

Das Modell: Chaux und Kontrolle als Alltag

Es war die Ausstellung »Das Feld hat Augen… Bilder des überwachenden Blickes« im Museum der Fotografie in Berlin, in der ich die als Idealstadt bezeichnete Arbeitersiedlung Chaux zum ersten Mal wahrnahm. Sie wurde als ein Beispiel für die Kontrolle durch den Blick im Absolutismus angeführt (vgl. Valaouris 2017). Die in der Veröffentlichung abgedruckten Stiche von der Stadt verdeutlichen die Argumentation von Valaouris, der von einer »Stadt mit Augen« spricht, welche die Arbeiter:innen überwachen. Es geht hierbei vor allem um die architektonische Gestaltung der Stadt Chaux im französischen Nordosten. Die Zeichnung zeigt die typische zentrale Ausrichtung einer Planstadt wie sie zu der Zeit in Europa häufig entstanden sind; mit geometrischer Ausrichtung und zentralen Sicht- und Bewegungsachsen. Der Grundriss erinnert nicht zufällig an den etwas später entstandenen, aber viel bekannteren Plan des Panoptikums von Jeremy Bentham (1787). Erbaut in den 1770er Jahren, also zur Zeit der Aufklärung und des Absolutismus, verkörperte die ideale Stadt – eigentlich eine Arbeitersiedlung neben einer königlichen Saline – sehr gut die Herrschaftsprinzipien absolutistischer Macht. Der Blick, das Sehen und die Sichtbarkeit sind Teil der Kontrolle, die die Stadt so konzipiert, dass der Herrscher den entsprechenden Überblick behält und die Arbeiter:innen sich diesem Blick nicht eben entziehen können (vgl. Kleinspehn 1989; Foucault 1994; Valaouris 2017).

Man kann argumentieren, dass Chaux nur ein weiteres Beispiel für Foucaults These der Disziplinargesellschaft sei. Herrschaft wird in Architektur, in den Raum eingeschrieben; der absolutistische Monarch übt seine Macht über seine Verwalter und Fabrikdirektoren auf diese Weise aus. Interessant ist Chaux darüber hinaus, weil es als Arbeitersiedlung eine Idee vorwegnimmt, die im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert vor allem bei Zechen- und Stahlunternehmen weit verbreitet war und die Idee der Kontrolle sowie der Fürsorge für die Arbeiter:innen und ihre Familien ausweitete. Beispiele dafür lassen sich in Europa einige finden, wobei vor allem die Motivationen für die Errichtung solcher Arbeitersiedlungen durch Unternehmen wie z.B. Krupp, und ihre Ausgestaltung interessant sind. Denn es beschränkte sich nicht nur auf den zentralen Blick, u.a. weil sich die Architekturen veränderten, vielmehr wandelten sich die Mittel der Kontrolle; der Blick wurde ergänzt und weniger absolutistisch. Jetzt griffen die Kontrollen in den Alltag der Arbeiter:innen und ihrer Familien ein. Ursprung vieler Siedlungen war die enorme Expansion der Industriebetriebe, die viele Menschen aus allen Regionen der Länder und Reiche Europas anzogen, die irgendwo unterkommen mussten. Man könnte von einer patriarchalen Fürsorge der Unternehmen sprechen, die vorrangig einer betrieblichen Notwendigkeit und weniger einer sozialen Großzügigkeit zugrunde lag (vgl. Gelhar 2016). Der Industrielle Alfred Krupp hat eine Vielzahl solcher Siedlungen an seinen Fabriken gebaut, wobei das Mietverhältnis an das Arbeitsverhältnis gekoppelt war, es mitunter Aufseher:innen in den Siedlungen gab und auch die Geschäfte sowie sonstige Einrichtungen von Krupp kontrolliert wurden. Dabei wurden die Arbeiter:innen zum Teil großzügig behandelt, was z.B. die medizinische Versorgung oder die Schule anging. Die Siedlung Margaretenhöhe in Essen ist ebenfalls aus diesem Geist heraus entstanden, auch wenn nicht als Arbeitersiedlung mit den ersten Zechensiedlungen vergleichbar. Generell kann man sagen, dass der »überwachende« Blick auf die Arbeiter:innen im Betrieb von einer relativ weit gefassten Kontrolle des Alltages abgelöst (oder ergänzt) worden ist, in der u.a. die soziale Kontrolle durch die Arbeiter:innen selbst zu einem weiteren, nicht zu unterschätzendem Faktor der Kontrolle wurde. Es sind aber vor allem die anderen Bereiche, über die die Unternehmen auf ihre Arbeiter:innen wirken konnten; insbesondere die Wohnungen, aber auch die Vereine, die Geschäfte, (möglicherweise) die Kirche und die Infrastruktur insgesamt, gepaart mit Annehmlichkeiten wie medizinische Versorgungseinrichtungen oder Hilfswerke. In ähnlicher Weise entstanden in Europa so, häufig in ländlicher Umgebung, neue Zentren der Industrie (vgl. Clark 2009; Krämer 2010). In den USA wuchs eine Vielzahl der so genannten Company Towns heran, deren generelle Struktur 1915 vom US-Congress als »Feudalsystem« (Berg 2014) gegeißelt wurde. Innerhalb dieser Company Towns herrschte ein strenges Regime bei gleichzeitig wohlwollenden und vorteilhaften Bedingungen für die Arbeiter:innen und ihre Familien – allerdings nur so lange, wie sich diese nicht organisiert gegen Probleme oder Arbeitsbedingungen wehrten (vgl. Berg 2014; auch Green 20101).