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Katharina Peters

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Beschreibung

Der geheimnisvolle Tote von Sellin.

Romy Beccare wird an das Ufer des Selliner Sees gerufen, weil man eine männliche Leiche entdeckt hat. Der Tierarzt Michael Bautner wurde dort erstochen. Schnell hat man auch einen Verdächtigen: einen abgeschottet lebenden Mann, dessen Hund Bautner angeblich falsch behandelte und der deshalb starb. Doch Romy kommen Zweifel, die Ermittlungen laufen ihr viel zu glatt. Dann wird bei Bauarbeiten in Sellin das Skelett eines seit fast drei Jahrzehnten vermissten Mannes gefunden, der offenbar kurz vor seinem Verschwinden mit Bautner zu tun hatte ... 

Der neue Rügen-Bestseller von einer der erfolgreichsten Krimi-Autorinnen.

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Seitenzahl: 431

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Über das Buch

Als der Tierarzt Michael Bautner am Selliner See erstochen aufgefunden wird, hat man schnell einen Verdächtigen gefunden, der sich noch dazu am Tatort aufgehalten hat. Doch Romy Beccare weigert sich, den Fall allzu schnell zu schließen. Erst recht, als in Sellin das Skelett eines Mannes gefunden wird, der bald als Konrad Stokowsky identifiziert wird. Bautner war mit Stokowsky befreundet. Es kann also kein Zufall sein, dass er auch in Sellin getötet wurde, oder hängt Romy da einem falschen Verdacht nach?

Ein Fall, der in die deutsch-deutsche Vergangenheit führt

Über Katharina Peters

Katharina Peters, Jahrgang 1960, schloss ein Studium in Germanistik und Kunstgeschichte ab. Sie ist passionierte Marathonläuferin, begeistert sich für japanische Kampfkunst und lebt am Rande von Berlin.Aus der Rügen-Serie mit Romy Beccare sind »Hafenmord«, »Dünenmord«, »Klippenmord«, »Bernsteinmord«, »Leuchtturmmord«, »Deichmord«, »Strandmord«, »Fischermord«, »Schiffsmord« und »Ankermord« lieferbar.

Aus der Ostsee-Serie sind »Todesstrand«, »Todeshaff«, »Todeswoge«, »Todesklippe«, »Todeswall« und »Todeswelle« lieferbar.

Zuletzt erschienen von ihr: »Bornholmer Schatten« und »Bornholmer Falle«.

Mehr zur Autorin unter www.katharinapeters.com

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Katharina Peters

Ufermord

Ein Rügen-Krimi

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

EPILOG

Impressum

Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...

Für Jonas

PROLOG

Konrad hatte sich mitreißen lassen. Der Urlaub in Ungarn, die Hitze und Aufregung dieses ganz besonderen Sommers mit seiner Kamera einfangen, miterleben, nachspüren. Das Unfassbare in Bildern festhalten. Tiefenschärfe. Hier geschah etwas Historisches. Das hatte er ablichten wollen – für sich und alle, die sich womöglich bald oder auch in Jahren fragen würden, was die Menschen damals bewegt hatte. Ihre Gesichter – die Hast und Zielstrebigkeit, das ungläubige Lachen, die beinahe hysterische Aufregung, Grenzen überschreiten zu können. Wut und überschäumende Freude neben Erleichterung, Glück neben Erschöpfung, Verwirrtheit und schalem Erwachen – all das hatte er abbilden wollen, um dann zurückzukehren. In einen Alltag, der sich schon seit Jahren falsch angefühlt hatte, zu Freunden, die sich fragten, ob und wie es weitergehen sollte. Und vielleicht würde es dann auf diese und viele andere Fragen eine Antwort geben.

Aus Tagen waren Wochen und Monate geworden. Der Rausch hatte sich in einen kraftvollen Strom verwandelt, den niemand mehr aufhalten konnte, und Konrad war ein Teil davon geworden. Er war gereist und hatte fotografiert, während das Alte zerfiel und das Neue nur vorübergehende Konturen gewonnen hatte – davon zumindest war er überzeugt.

Zweimal hatte er zwischenzeitlich versucht, seine Mutter zu erreichen. Ihr Verhältnis war nie besonders innig gewesen. Eine stramme Sozialistin, die in der Stralsunder Stadtverwaltung arbeitete, ihren Sohn allein großgezogen hatte und ihr Leben lang davon überzeugt war, dass die DDR die Antwort auf alle wichtigen Fragen kannte, und zwar bevor sie überhaupt gestellt worden waren. Konrad hatte sich in den letzten zehn Jahren immer mehr zurückgezogen – ein Kurzbesuch zum Geburtstag und zu Weihnachten, hin und wieder ein Anruf. Das hatte reichen müssen, und sie hatte ihn nicht vermisst, davon war er überzeugt, schon gar nicht, als er sich um den Dienst an der Waffe gedrückt hatte. Als die Zeiten immer unruhiger geworden waren, hatte er sich kaum noch gemeldet. Er hatte keine Lust auf Diskussionen gehabt, auf alte wutschnaubende Parolen und engstirnige festgemauerte Ansichten, die keine neuen Erkenntnisse zuließen und die Härte in ihrem Gesicht zum Leuchten brachte.

An einem milden Wintertag war er für ein paar Stunden zurückgekehrt. Er war durch Stralsund gefahren und hatte vor ihrem Haus in der Nordstadt einen langen Moment gezögert, bevor er schließlich den Weg in Richtung Insel eingeschlagen hatte. Vor knapp drei Jahren war er nach Sellin gezogen – in eine notdürftig eingerichtete Datscha am See. Was als vorübergehende Unterkunft geplant war, hatte sich zu einem beschaulichen Rückzugsort entwickelt. Konrad hatte dort seine eigenen Fotos entwickelt und neue Motive entdeckt, die ihn vergessen ließen, womit er seinen Lebensunterhalt als Fotograf verdienen musste – DDR-Alltag bei schönem Wetter, Hochzeiten, Parteitage, Umzüge, Grundsteinlegungen, große und kleine Sportereignisse, Ordensverleihungen und Jugendweihen. Aber das war ja nun vorbei. Im August hatte er sich ohne ein Wort aus dem Staub gemacht, sein Erspartes zusammengekratzt, die Datscha verriegelt und eine neue Welt entdeckt. Und nun stand er Monate später vor dem windschiefen Häuschen und blickte mit leisem Staunen in den winterverhangenen stillen Garten.

Er schob das Tor auf, ein rostiges Quietschen brach die Stille auf, eine Krähe erhob sich mit empörtem Aufschrei in die Lüfte. Der Schlüssel lag unter einem Stein hinter der Regentonne – wie immer. Konrad schloss die Tür auf; abgestandene Luft schwoll ihm entgegen. Der Lichtschalter klackte leise, doch es blieb dunkel. Er betrat die Diele, tastete nach dem Sicherungskasten und drehte den Schalter der Hauptsicherung fest. Das Licht flammte auf. Der kleine dunkle Raum mit der Kochnische, der hohen Schrankwand und dem alten Sofa schälte sich allmählich aus der Dunkelheit.

Konrad stellte seinen Rucksack ab und sah sich verwundert um. Er begriff erst im Näherkommen, dass alles wie immer war – und doch völlig anders. Der Schrank stand sperrangelweit offen und sein Inhalt war auf Tisch und Boden zerstreut – Geschirr und Bücher, einige Ordner, Mappen mit Fotos, Alltagskram. Konrad blickte wie erstarrt auf das Durcheinander. Dann wandte er sich plötzlich um und ging über den hinteren Ausgang in seine Dunkelkammer. Hier sah es ähnlich aus. Einen Moment verschlug es ihm die Sprache. Sein kleines Labor, für das er Monate gearbeitet und das Zubehör aufwendig organisiert hatte, existierte nicht mehr. Jemand hatte sich Zutritt verschafft und alles zerstört, was Konrad wichtig gewesen war.

Er ging langsam zurück und schob die Schiebetür zur Schlafkammer auf. Sein Bett war übersät mit Klamotten und einigen Taschenbüchern, die immer auf dem kleinen Brett über der Kopfseite gelegen hatten. Er ging zurück in den Wohnraum; nach kurzem Zögern schob er ein paar Sachen beiseite und ließ sich in den breiten Ohrensessel fallen. Sein Herz schlug schmerzhaft gegen die Rippen, seine Hände zitterten. Eine seltsame Rückkehr, dachte er. Zerstörung und Durcheinander inmitten der Idylle. Seiner ganz persönlichen Idylle – eine eher schäbige Datscha, in der er sich heimisch gefühlt hatte.

Konrad blieb sitzen, bis er spürte, wie die Kälte durch seinen Körper kroch. Dann stand er auf, machte Feuer im Ofen, kochte Kaffee und begann aufzuräumen. Alles, was zu seinem Fotomaterial gehörte, breitete er auf dem Tisch aus, Alltagsgegenstände ordnete er in den Schrank zurück, der Rest wanderte in den Müllsack. Bereits nach einer Stunde begann sich das Chaos deutlich zu lichten, nach zwei Stunden war ihm klar, dass nichts fehlte, was einen Einbrecher eigentlich interessieren müsste: Die Taschenuhr des Großvaters lag noch an seinem Platz, auch von dem Bargeld, das er in einem Milchkännchen zurückgelassen hatte, fehlte nichts, und zwei alte Fotoapparate mit Sammlerwert ruhten auf dem Schrank. Dafür waren mehrere Fotosammlungen einschließlich der Negative verschwunden. Bilderserien, die in privatem Kreis oder auch bei offiziellen Anlässen entstanden waren, die er jedoch zu seinen persönlichen Motiven zählte. Hier hat jemand etwas gesucht, dachte er verblüfft. Verrückte Zeiten. Ein Land im Aufbruch, Altes und Neues lag so dicht nebeneinander. Alte Feindschaften und neue Bündnisse. Zeit zu verzeihen und zu vergelten oder auch: Zeit aufzuräumen.

Es war dunkel, als er sich auf den Weg nach Bergen machte. In der Tierarztpraxis brannte noch Licht. Michael würde jetzt Laborwerte durchgehen, die Termine für den nächsten Tag planen und sich um frisch operierte Tiere kümmern. Konrad kannte den Tierarzt seit vielen Jahren. Sie hatten sich kennengelernt, als er bei einem Ausflug auf der Insel eine verletzte Katze gefunden und schnelle Hilfe gesucht hatte – damals war Micha noch Student gewesen und hatte ein Praktikum in der Praxis auf der Insel absolviert, die er einige Jahre später übernahm.

Konrad klopfte an die Hintertür. Eine Minute später stand Micha vor ihm – in sauberem Kittel und mit einem völlig überraschten Gesichtsausdruck, in den sich Verwirrung und schließlich, ja, seltsamerweise Ablehnung mischte. »Lange nicht gesehen«, sagte er leise, und das klang alles andere als erfreut.

»Das stimmt.« Konrad wartete, dass Micha ihn hereinbitten würde, aber das geschah nicht.

Micha überlegte lange. »Du hast dich einfach vom Acker gemacht«, sagte er dann.

Konrad öffnete den Mund und schloss ihn wieder. »Ich war …« Er ließ den Satz unvollendet und schüttelte den Kopf. »Es ist viel passiert. Ich habe diese Gelegenheit genutzt und war eine Weile unterwegs.«

Micha nickte nachdenklich und hob den Kopf. »Ohne ein Wort darüber zu verlieren oder dich mal zu melden.« Eine seltsame Härte umschloss seinen Mund, und die Worte passten nicht zum Ausdruck in seinen Augen.

»Ja. Es war anders geplant, aber nun bin ich hier. Nimmst du mir das wirklich übel?«

Stille. Micha räusperte sich. »Du musst selbst wissen, was du tust. Es haben sich einige aus dem Staub gemacht, ohne Rücksicht auf alle anderen, die den Laden in Gang halten mussten. Ich könnte viele Geschichten erzählen, aber die interessieren dich garantiert nicht.«

Konrad blinzelte. Der Vorwurf passte so gar nicht zu Micha, der sich über seine eigenen Worte zu wundern schien, ohne es zugeben zu können. »Ich habe mich nicht aus dem Staub gemacht. Ich war einfach nur neugierig und wollte dabei sein – mitten in diesem Umbruch und dann …«

»Hat es sich gelohnt?«

»Ja.«

Micha nickte. »Und nun bist du wieder zurück. Aber es hat sich einiges verändert.«

»Das habe ich schnell begriffen.«

»Gut zu wissen.«

»Jemand war in meiner Datscha«, sagte Konrad.

»Wie meinst du das?«

»Es wurde eingebrochen.« Konrad hob das Kinn. »Jemand hat Fotos gestohlen.«

Micha runzelte die Stirn. »Fotos? Was für Fotos?«

»Etliche Serien aus meiner Privatsammlung.«

»Und was habe ich damit zu tun?«

Konrad schüttelte verblüfft den Kopf. »Das habe ich doch gar nicht behauptet.« Plötzlich fixierte er Micha. »Warum genau bist du eigentlich so wütend auf mich?«

Micha hielt kurz die Luft an. »Das weiß ich selbst nicht so genau. Vielleicht …« Er winkte ab und seufzte schließlich leise. »Es ist eine irre Zeit. Und niemand weiß, wo das alles noch hinführt.« Plötzlich legte er die Hand auf die Klinke. »Hör zu, Konrad, nimm es mir nicht übel, aber ich muss das erst mal …«

»Wer könnte Interesse an meinen Fotos haben – ausgerechnet jetzt?«, fiel Konrad ihm ins Wort. »So viel Interesse, dass er bei mir einbricht und sich einfach bedient?«

»Woher soll ich das denn wissen, wenn du es nicht selbst weißt? Wenn es um Fotos geht, kann das wohl alles Mögliche bedeuten.«

Konrad schüttelte verblüfft den Kopf. »Hat vielleicht mal jemand nach mir gefragt?«

Micha beugte sich vor. Ihre Blicke trafen sich für einen Moment. »Der eine oder andere hat nach dir gefragt – ja. Du warst ja einfach verschwunden. Aber wie schon erwähnt – es haben sich einige Leute sang- und klanglos vom Acker gemacht. Wir haben uns daran gewöhnt. Nun bist du wieder da, einfach so. Wir werden sehen, wie es weitergeht – für uns alle.«

Einen Augenblick später zog Micha die Tür wieder heran und ließ Konrad in der Dunkelheit stehen – ohne versöhnlichen Abschiedsgruß. Konrad war nicht einmal die Zeit geblieben, sich nach Veronika zu erkundigen. Er nahm sich vor, es am nächsten Tag noch einmal zu versuchen – mit den Fotos von der Reise oder zumindest einem Teil davon. So viele Eindrücke und Ausblicke. Sommer und Herbst 1989.

Als er nach Sellin zurückkam, hatte sich tiefe Ernüchterung in ihm breitgemacht. Er aß ohne großen Appetit zu Abend und ging schlafen. Als er am nächsten Morgen aufwachte, hatte er das Bild einer jungen Frau vor Augen. Shaila Pires. Sie stammte aus Mosambik und war eine von vielen, die damals ihre Heimat verlassen hatte, um in der DDR zu arbeiten. Dringend benötigte Arbeitskräfte aus dem befreundeten kommunistischen Ausland – ausgebeutet und ausgegrenzt. Sie hatte in einer LPG gearbeitet – wie Dutzende ihrer Landsleute. Kontakt zu DDR-Bürgern war unerwünscht. Konrad erinnerte sich, dass er bei einer Feier fotografiert hatte, und nicht lange danach war sie eines Tages verschwunden gewesen. Das hatte er zufällig mitbekommen, als er eine Serie seiner Bilder von der Feier in der LPG abgegeben hatte. Niemand hatte sich darum geschert – nur er.

Er runzelte die Stirn. Plötzlich stieg eine böse Ahnung in ihm auf.

1

Romy hatte sich direkt nach dem Jahreswechsel eine heftige Erkältung eingefangen und war entschlossen, sie gründlich auszukurieren, bevor sie sich wieder mit dienstlichen Belangen befasste. Darüber hinaus war es ein guter Zeitpunkt, sich zu erholen – das Bergener Team hatte gerade wenig zu tun, und den üblichen Polizeialltag konnten die Kolleginnen und Kollegen auch ohne Romys Unterstützung meistern.

Sie wurde wach, weil Jan aufstand und unter die Dusche ging, und war kurz davor, wieder einzunicken, als sein Handy zu klingeln begann. Sie drehte sich um und zog die Bettdecke über den Kopf, kurz darauf klingelte ihr Smartphone. Romy warf die Decke beiseite und griff danach. »Ja?«

»Hallo, Romy, ich hoffe, ich störe nicht«, erklärte Simon, Jans langjähriger Assistent im Stralsunder Kommissariat.

»Nun, wenn ich ehrlich bin …«

»Ich weiß, dass du noch krank bist, aber wir erreichen Jan nicht«, fügte er rasch hinzu.

»Er steht unter der Dusche – wie meist um diese Zeit«, erklärte Romy. »Ist es wichtig?«

»Na ja, es gibt eine Leiche, und da du nicht im Dienst bist …«

Romy blinzelte und richtete sich langsam auf. »Wo?«

»Bei euch auf der Insel, am Selliner See. Hafenarbeiter haben den Toten entdeckt, die Kollegen vor Ort haben uns gerade informiert, und ich dachte, Jan könnte vielleicht …«

»Schon verstanden«, warf Romy rasch ein. »Ich kümmere mich sofort darum.« Sie unterbrach die Verbindung und stand auf. Sie fühlte sich ein wenig wackelig auf den Beinen, aber das würde schon bald vergehen – hoffte sie.

Als Jan aus dem Bad kam, stand sie in der Küche und kochte Tee und Kaffee. Er rubbelte sich die Haare trocken und sah sie verblüfft an. »Geht es dir besser?«

Romy lächelte schief. »Wir haben einen Fall. Simon hat gerade versucht, dich zu erreichen.«

Jan ließ das Handtuch sinken.

»Sellin«, fügte sie hinzu. »Ich denke, ich könnte …«

»Du bist noch ganz schön blass um die Nase«, warf Jan ein. »Ich übernehme das natürlich selbst, und du bleibst schön zu Hause und ruhst dich aus.«

»Es geht mir deutlich besser«, betonte Romy. »Und du hast heute eine wichtige Besprechung mit dem LKA in Schwerin, wenn ich mich recht erinnere.«

Jan seufzte. »Ja, ich freue mich schon die ganze Woche darauf. Und verschieben lässt sich das nicht.«

»Ich weiß. Also verschaffe ich mir einen groben Überblick in Sellin, leite alles Nötige in die Wege und mache mich anschließend sofort wieder auf den Heimweg, um mich in mein warmes Bett zu kuscheln. Wie klingt das?«

Jan streckte die Hand aus und legte sie auf ihre Stirn. »Kein Fieber mehr?«

Romy lächelte. »Schon gestern nicht mehr. Ich kriege das hin.« Das klang munterer, als sie sich fühlte.

Jan verzog das Gesicht. »Ein neuer Fall weckt sofort deine Lebensgeister. Das lässt ja tief blicken.«

»Könnte man so sagen.«

»Na schön. Machen wir es so, aber wenn du …«

»Es ist eine ebenso fiese wie hundsnormale Erkältung, Jan!«, fiel sie ihm ins Wort. »Nervig, aber nichts, was mich wirklich umhauen könnte.«

Eine Viertelstunde später befand sich Romy auf dem Weg nach Sellin. Sie hatte bereits mit Fine und Max telefoniert. Der junge Kollege hatte seine Erleichterung über Romys Rückkehr in den Dienst kaum unterdrücken können. Max war aus dem Innendienst nicht wegzudenken, kaum ein Fall kam ohne seine tiefschürfende Recherchearbeit aus, und häufig entdeckte er die entscheidenden Querverbindungen. Doch die Aussicht, sein Büro verlassen oder Verdächtige befragen, geschweige denn Kriminelle jagen zu müssen, setzte ihn gewaltig unter Stress.

Romy parkte am Museum Seefahrerhaus und ging hinunter zum Ufer, wo mehrere Behörden- und Polizeifahrzeuge den Zugang zum See versperrten. Den Wagen der Kriminaltechnik konnte sie nicht entdecken, doch Marco Buhl und sein Team würden sicherlich in Kürze eintreffen. Es war kalt und trübe, ein scharfer Wind wehte von der Ostsee herein, Romy zog den Kragen ihrer Jacke hoch. Ein Kollege von der Schutzpolizei nickte ihr zu und hob das Absperrband, damit sie hindurchschlüpfen konnte. Eine Assistentin der Rechtsmedizin hockte vor dem Leichnam auf dem Bootssteg – einem kräftigen Mann in mittleren Jahren, soweit Romy es von Weitem beurteilen konnte. Die Ärztin tippte in ihr Tablet, kontrollierte ein Messgerät, tippte erneut und blickte dann hoch; sie stutzte kurz und winkte Romy dann mit einer energischen Handbewegung heran. »Kommissarin Beccare?«

»Genau die.«

»Man sagte mir, Sie seien krank.«

»War ich auch. Halb so wild. Ich hatte diesen miesen Infekt, der die Hälfte aller Rüganer ein paar Tage umgehauen hat.« Romy fixierte das Namensschild auf dem Overall der Ärztin. Mit Doktor Leonie Brand hatte sie bislang noch nicht zu tun gehabt.

»Nun, auf jeden Fall dürfte es Ihnen deutlich besser gehen als dem Mann hier«, erklärte die Rechtsmedizinerin in lapidarem Ton.

»Das beruhigt mich sehr.«

Die Ärztin wies auf eine Wunde am Hals. »Er ist an einer Stichverletzung gestorben, verblutet, wie es bisher aussieht – wahrscheinlich irgendwann gestern am späten Abend. Angesichts der frostigen Temperaturen kann ich das im Moment noch nicht genauer bestimmen. Die Tatwaffe habe ich nicht entdeckt. Und ob es hier einen Kampf gegeben hat, werden die Kriminaltechniker wohl noch untersuchen, sobald ich hier fertig bin«, fuhr sie nach kurzem Blick in die Runde fort. »Zu Abwehrverletzungen lässt sich auch erst nach eingehender Untersuchung etwas sagen.«

»Haben Sie vielleicht etwas entdeckt, was uns bei der Frage nach der Identität des Opfers weiterhilft?«

»Aber ja.« Die Ärztin griff nach einem Beutel neben der Leiche. »Ausweispapiere, Schlüssel und Handy – befand sich in der Jackentasche.«

Romy nahm ihn an sich. »Danke, Doktor Brand.«

Die Ärztin nickte. »Keine Ursache. Ich melde mich.«

»Grüßen Sie Doktor Moll.«

»Mach ich. Der Chef liegt übrigens mit einer fiesen Erkältung im Bett. Er klang heute Morgen gar nicht gut.«

Romy seufzte. »Richten Sie ihm bitte meine Grüße aus, falls Sie ihn sprechen.«

»Das mache ich gerne.«

Während die Ärztin wieder ihr Tablet bearbeitete, musterte Romy einen Moment das Gesicht des Toten. Es wirkte friedlich. Sie blickte auf den Ausweis. Michael Bautner war Anfang sechzig und lebte weit oben im Norden der Insel, in Wiek. Romy gab die Daten weiter und besprach sich kurz darauf mit Marco Buhl, der gerade mit seinen Leuten eingetroffen war. Wenig später stand fest, dass das Opfer eine Tierarztpraxis in Bergen leitete, verheiratet und Vater von drei erwachsenen Kindern war.

Romy lief auf dem Seeweg zurück zu ihrem Wagen und ließ ihre Blicke schweifen. Einfamilienhäuser, Ferienunterkünfte und Pensionen säumten den Uferbereich – hier dürfte zu dieser Jahreszeit und angesichts der trüben Witterung wenig los sein. Dennoch sollten die Anwohner natürlich so schnell wie möglich befragt werden. Vielleicht hatte ein später Spaziergänger etwas beobachtet, was ihnen weiterhalf. Sie schickte Jan eine Nachricht und machte sich nach kurzem Überlegen schließlich auf den Weg nach Wiek.

Jan rief an, als sie hinter Binz am Prora-Komplex entlang in Richtung Norden fuhr. »Bist du auf dem Nachhauseweg?«

»Na ja …«

»Romy?«

»Nicht direkt«, erwiderte sie schließlich. »Jemand muss sofort mit der Witwe sprechen, und auf die Schnelle kann das niemand übernehmen. Ich halte auch nichts davon, die Todesnachricht per Telefon zu überbringen.«

»Darin stimme ich dir sofort zu. Trotzdem … Wir haben doch heute früh besprochen …«

»Ich weiß, Jan. Aber wir können Max nicht losschicken und auch nicht auf Ruth warten. Davon abgesehen – es geht mir ganz gut. Kein Fieber …« Sie fasste kurz nach ihrer Stirn. Erhöhte Temperatur – höchstens.

Jan schwieg einen Moment. »Wir reden später – ich fahre jetzt nach Schwerin. Falls du Unterstützung brauchst, setz dich mit Simon in Verbindung.«

»Mach ich.« Romy legte das Smartphone beiseite und griff nach einem Taschentuch. Sie musste heftig niesen. Eine halbe Stunde später passierte sie Altenkirchen. Im Sommer gab es hier – grob geschätzt – drei- bis viermal so viele Touristen wie Einheimische, und im Supermarkt war ab acht Uhr kein Einkaufswagen mehr frei. Anfang des Jahres wirkte der Ort zauberhaft still, der Geruch des Boddens lag über dem Dorf; kein Gedränge an der Kreidebrücke, nahezu leere Straßen, und die meisten der schwimmenden Ferienhäuser am Hafen standen leer.

Der Tierarzt lebte am südlichen Rand von Wiek in einem sanierten Fischerhaus, in dem bis vor kurzem auch die älteste Tochter, ebenfalls Tierärztin, gewohnt hatte, wie Max sie bereits vorab informiert hatte. Die beiden Söhne, zwanzig und vierundzwanzig Jahre alt, lebten in Stralsund. Romy stellte den Wagen ab und hob den Blick. Mehrere Zimmer waren hell erleuchtet. Der erste Kontakt mit Hinterbliebenen war nie einfach. Sie atmete tief durch und stieg aus. Sie hatte die Haustür noch nicht erreicht, als sie geöffnet wurde. Ein freundliches Lächeln lag auf dem Gesicht von Veronika Bautner. Sie war sechs Jahre jünger als ihr Mann und wirkte auf den ersten Blick mädchenhaft zart, auf den zweiten erkannte Romy dezente Fältchen um Mund und Augen.

»Guten Morgen«, begrüßte Frau Bautner sie. »Mein Mann ist schon – oder besser gesagt noch – in der Praxis. Sie müssten direkt nach Bergen fahren.«

Romy runzelte die Stirn.

Bautner runzelte auch die Stirn. »Sie sind gar nicht wegen eines kranken Tieres hier?«

Romy schüttelte den Kopf und zückte ihren Ausweis. »Mein Name ist Romana Beccare, ich bin die leitende Kommissarin aus Bergen.«

»Polizei? Aber …«

»Darf ich kurz hereinkommen, Frau Bautner?«

»Ja, natürlich.« Sie trat einen Schritt zurück und zog die Tür auf. »Worum geht es denn?« Plötzlich stockte sie und starrte Romy entsetzt an. »Ist etwas mit meinen Kindern?«

»Nein. Es geht nicht um Ihre Kinder.«

»Das ist gut.« Bautner atmete tief aus. »Kommen Sie herein.«

Romy betrat die Diele und folgte ihr ins Wohnzimmer – ein großer weiß gekalkter Raum mit freiliegenden Deckenbalken und gemütlicher Sofaecke. Auf dem Tisch lagen Bücher und Zeitschriften. An der Durchreiche zur Küche stand ein wuchtiger Esstisch. In einer Tasse dampfte Tee, ein Laptop war aufgeklappt. Romy erkannte die Website einer regionalen Zeitung.

Veronika Bautner wies auf einen Stuhl und griff nach ihrer Tasse. Sie hatte knochige Hände, die ihr Alter verrieten. »Was ist los, Frau Kommissarin?«

Romy suchte ihren Blick. »Ihr Mann wurde heute früh tot aufgefunden«, sagte sie leise. »Es tut mir sehr leid.«

Bautner stellte die Tasse wieder ab und legte die Hände zusammen. Sie hielt einen Moment die Luft an. »Ich verstehe nicht … Das kann doch gar nicht sein«, stieß sie schließlich hervor. »Was ist passiert?« Sie stand abrupt auf, ging ein paar Schritte und blieb an der Terrassentür stehen. Schließlich drehte sie sich um und sah Romy an. »Was ist passiert?«, wiederholte sie in heiserem Ton. »Gab es einen Unfall?«

Romy schüttelte den Kopf. »Nein. Wir gehen davon aus, dass Ihr Mann Opfer einer Gewalttat geworden ist. Das ist zumindest der erste Eindruck.«

Bautners Augen weiteten sich. »Wie bitte?« Sie kehrte langsam an den Tisch zurück und setzte sich wieder. »Was heißt das?«

»Ihr Mann wurde überfallen. Die Untersuchungen der Rechtsmedizin werden hoffentlich bald ein genaueres Bild ergeben«, erklärte Romy in ruhigem Ton. »Frau Bautner, wann haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal gesehen oder gesprochen?«

»Überfallen?«

»Wir können noch nicht genau einschätzen, was geschehen ist«, erklärte Romy ruhig.

»Er ist in der Praxis überfallen worden?«

Romy zögerte. »Wie kommen Sie darauf?«

»Nun, mein Mann war in der Praxis und hat dort übernachtet – das macht er manchmal, wenn er frisch operierte Tiere betreut.«

»Er wurde am Selliner See gefunden, und wie es aussieht, war er dort am späten Abend unterwegs«, führte Romy aus. »Können Sie sich vorstellen, was er um die Zeit am See vorhatte?«

Veronika Bautner sah kurz zur Seite, dann nickte sie. »Er mochte den See und ging dort häufig spazieren. Wahrscheinlich hat er seine abendliche Entspannungsrunde gedreht«, sagte sie leise. »Wir haben mittags noch kurz telefoniert.«

»Ist Ihnen irgendetwas an ihm aufgefallen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Wirkte er angespannt? Gab es Ärger?«

»Nein, ganz und gar nicht. Er hat mir Bescheid gesagt, dass er über Nacht dort bleibt. Es war alles wie immer.« Sie blickte plötzlich ins Leere. »Das ist doch völlig …« Sie starrte Romy an. »Ich kann es gar nicht glauben.«

Romy nickte. »Es tut mir aufrichtig leid, Frau Bautner. Kann ich jemanden für Sie anrufen? Ihre Kinder …«

»Das mache ich gleich selbst. Meine Tochter ist in der Praxis, die Söhne …« Sie blickte auf die Uhr.

»Sie sollten jetzt nicht alleine bleiben.«

Sie hob das Kinn. »Meine Kinder werden sich um mich kümmern«, erklärte sie ruhig. »Ich würde jetzt gerne für mich sein und keine Fragen mehr beantworten.« Sie stand plötzlich auf.

»Ja, natürlich.« Romy sparte sich den Hinweis auf die notwendige Identifizierung der Leiche und weitere Gespräche, die dringend nötig waren, um die Ermittlungen in die Wege zu leiten. Zwei Minuten später hatte sie das Haus verlassen, saß wieder im Wagen und blickte auf das schmucke Häuschen. Eine halbe Stunde zuvor war hier alles noch in bester Ordnung gewesen. Veronika Bautner hatte ihren Morgentee getrunken und dabei im Netz die Nachrichten überflogen, während ihre älteste Tochter vielleicht schon auf dem Weg in die Praxis gewesen war und die Söhne in der Hansestadt ihren Tag begonnen hatten. Ein ganz normaler Mittwochmorgen Anfang Januar. Mit einem Schlag war nichts mehr wie zuvor. Ein zweiundsechzigjähriger Tierarzt war bei seinem abendlichen Spaziergang am Selliner See getötet worden.

Romy machte sich auf den Weg nach Bergen, wo Fine sie mit skeptisch strenger Miene empfing. »Was machst du eigentlich hier?«

»Meinen Job, und mir geht es einigermaßen gut«, warf Romy ein. »Seit wann lassen wir Rüganer uns von einer hundsgemeinen Erkältung ausknocken?«

Fine musterte sie noch einen Moment, dann zuckte sie mit den Achseln. »Auch wieder wahr. Bleibt dir auch kaum etwas anderes übrig, Ruth ist nämlich auch krank. Sie liegt mit einer Bronchitis flach und kann uns frühestens in der nächsten Woche unterstützen, falls überhaupt. Ich habe ihre Stimme kaum erkannt.«

»Ach, du liebe Güte.«

»Ja, gerade erfahren.« Fine eilte nach nebenan, wo zwei Telefone gleichzeitig klingelten.

Max wartete im Besprechungsraum auf Romy. Sie holte sich einen Kaffee und ein Brötchen und ließ sich auf den neuesten Stand bringen.

Michael Bautner war seit über dreißig Jahren als Tierarzt in Bergen tätig. Auffälligkeiten in seiner Biographie waren beim ersten schnellen Check nicht zu erkennen. Die Praxis lief gut, der jüngere Sohn studierte in Stralsund, der ältere war als Ingenieur auf der Werft beschäftigt, und die älteste Tochter dürfte als Nachfolgerin für die Praxis in Frage kommen. Veronika Bautner war als Kunstpädagogin in der Erwachsenenbildung tätig und leitete auch überregional Zeichen- und Malkurse an der Volkshochschule.

»Ein Motiv für eine Gewalttat erschließt sich zumindest auf die Schnelle nicht«, meinte Max abschließend. »Aber das heißt ja erst mal nicht viel.«

»Nein.« Romy trank einen Schluck Kaffee und biss mit mäßigem Appetit von ihrem Brötchen ab. Sie hatte das Gefühl, auf Pappe herumzukauen. »Gibt es schon Zeugenhinweise?«

Max schüttelte den Kopf. »Die Kollegen sind am See unterwegs. Ein Aufruf in den Medien wird in Kürze geschaltet. Um die Verkehrsüberwachung kümmere ich mich, sobald der Antrag durch ist. Die ganz großen Erkenntnisse werden wir aber nicht erwarten dürfen. Die nächste Kamera ist weit entfernt.«

»Wir werden sehen. Ich fahre jetzt erst mal in die Praxis.« Romy trank ihren Kaffee aus und stand auf. In der Tür drehte sie sich noch einmal zu Max um. »Wirfst du schon mal einen Blick auf die Mitarbeiter und guckst dir das Handy an?«

»Na klar.« Max atmete tief aus. Für einen Moment schien er befürchtet zu haben, dass Romy ihn auffordern würde, seinen Schreibtisch zu verlassen und sie zu begleiten. Seine Erleichterung war mit Händen greifbar.

Gegen Mittag stand fest, dass es zum Tathintergrund bislang nicht den geringsten Hinweis gab. Bautners Tochter Mirjam hatte einem Zusammenbruch nahegestanden, als Romy in der Praxis eingetroffen war. Sie war kaum in der Lage gewesen, Romys Fragen zu beantworten, und hatte sich schließlich auf den Weg nach Wiek gemacht, um sich um ihre Mutter zu kümmern. Die Mitarbeiter – drei tiermedizinische Fachangestellte sowie ein Praktikant – wirkten völlig entsetzt. Niemand konnte sich den Hintergrund für eine Gewalttat erklären, und nichts hatte an den Tagen zuvor auf eine besondere Situation hingewiesen.

Romy verschob die Einzelbefragungen kurz entschlossen auf einen späteren Zeitpunkt und kehrte ins Kommissariat zurück, um mit Stralsund zu telefonieren. Simon hatte bereits Kontakt zu den Söhnen Gregor und Oskar aufgenommen. Beide waren unterwegs auf die Insel.

»Die sind ziemlich durch den Wind«, fügte Simon hinzu. »Verständlicherweise.«

»Was ist da passiert? Eine Zufallsbegegnung, die eskalierte? Bei einem abendlichen Spaziergang am See in Sellin?« Romy runzelte die Stirn. »Aber der Täter hatte eine Waffe dabei, vielleicht ein Messer – die Rechtsmedizinerin spricht jedenfalls nach ihrem ersten Eindruck von einer Stichverletzung.«

»Also müssen wir von einer geplanten Tat ausgehen?«

»Tja, das ist wohl die entscheidende Frage. Wurde Bautner verfolgt?« Romy fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und seufzte. »Um ehrlich zu sein, wir wissen noch gar nichts.« Ihr Kopf fühlte sich etwas dumpf und heiß an. Sie sollte eine Pause einlegen.

»Es könnte nicht schaden, zu überprüfen, wer bei uns in letzter Zeit seine Haftstrafe abgesessen hat und für eine solche Tat in Frage käme«, schlug Simon vor. »Ich könnte das übernehmen, wenn es dir recht ist.«

»Guter Vorschlag. Ansonsten müssen wir so schnell wie möglich die Angehörigen und Freunde befragen.«

Romy legte wenig später das Telefon beiseite und ging hinüber in ihr kleines Büro, um sich auf dem kleinen Sofa auszustrecken. Einen Moment lauschte sie den Hintergrundgeräuschen, Fines Stimme dröhnte durchs Kommissariat, Telefone klingelten. Keine zwei Minuten später war sie eingeschlafen.

2

Es war bereits später Nachmittag, als Romy bei eisigen Temperaturen ein zweites Mal nach Wiek hochfuhr – in Begleitung eines jungen Kollegen aus Stralsund, den Jan kurzerhand zu ihrer Unterstützung auf die Insel beordert hatte. Finn Maurer stammte aus Kiel, hatte gerade seine Ausbildung beendet und mehrere Praktika in verschiedenen Bundesländern durchlaufen. Seit Anfang des Jahres gehörte er zu Jans Team. Maurer war ein auffallend kleiner und zierlicher Typ, kaum größer als Romy, sein dichtes Haar leuchtete kupferrot, die Nase war übersät von Sommersprossen, und er wirkte wie siebzehn – höchstens. Auf den ersten Blick würde man ihn für einen Schüler oder Auszubildenden halten.

Romy hatte ein Seufzen unterdrückt, als Finn Maurer sie mit breitem Lächeln begrüßte und sichtlich aufgeregt war, die Ermittlungen in einem Mordfall unterstützen zu dürfen. Jan hatte ihn als »begabten jungen Kommissar mit einer breiten Ausbildungspalette« angepriesen, der das Zeug zu einem scharfsinnigen Ermittler hatte. Doch Romy wurde das Gefühl nicht los, dass sein Loblied etwas übertrieben war. Auffallend waren an dem jungen Mann bislang lediglich seine Jugend und Nervosität.

Ich zähle die Tage, bis Ruth wieder einsatzfähig ist, dachte Romy, aber sie hatte nichts dagegen, dass Finn sich ans Steuer setzte, während sie einen von Fine zusammengebrauten Tee in winzigen Schlucken trank; angeblich beseitigte er unerbittlich alles, was sich noch an Erkältungsviren in ihrem Körper tummelte. Fine schwor auf das alte Familienrezept, und Romy hatte lieber nicht nach den Zutaten gefragt. Dem bitteren Geschmack nach zu urteilen, dürfte das Gebräu nicht nur Erkältungsviren, sondern so ziemlich alles wegfegen, was sich ihm in den Weg stellte. Romy leerte mit Mühe einen halben Becher, verzog das Gesicht und verschloss die Kanne wieder. Sie durfte keinesfalls vergessen, den Rest wegzuschütten, bevor sie nach Bergen zurückfuhren.

Bautners Familie war versammelt, als sie in Wiek eintrafen. Der zwanzigjährige Oskar hatte ihnen die Tür geöffnet und ging sofort zurück in die Küche, um Tee zu kochen. Mirjam Bautner saß auf dem Sofa neben ihrer Mutter, Gregor, der ältere der beiden Brüder, stand am Fenster und drehte sich um, als die Kommissare den Raum betraten. Er musterte sie mit forschendem Blick.

Romy stellte sich und Finn kurz vor. »Es tut mir leid, dass wir Sie stören müssen«, fuhr sie dann fort. »Wir haben noch keinerlei Hinweise auf das Geschehen und sind auf Ihre Aussagen angewiesen …«

»Was für Aussagen?«, warf Gregor Bautner ein. Der Vierundzwanzigjährige war ein großgewachsener, kraftvoll wirkender Mann mit energischem Kinn. »Mein Vater ist bei einem Spaziergang überfallen und getötet worden. Unsere Aussagen? Ich verstehe nicht, was …«

»Gregor!«, warf seine Mutter in beschwörendem Tonfall ein. »Die Polizei macht doch nur ihre Arbeit.«

»Wirklich?«

»Ja«, entgegnete Romy ruhig und setzte sich kurzerhand in einen der Sessel, während Finn in der Tür stehenblieb und mit wichtiger Miene sein Tablet aufklappte. »Wir haben bislang keinerlei Spuren entdeckt. Die Auswertungen laufen natürlich bereits auf Hochtouren, und es ist bei der Suche nach dem Täter von entscheidender Bedeutung, dass wir so viele Anhaltspunkte wie möglich zusammentragen.«

»Das heißt?«, fragte Gregor und verschränkte die Arme vor der Brust.

Romy suchte seinen Blick. Der ältere Sohn war ihrer Einschätzung nach zutiefst verstört, und sie nahm ihm seine Reaktion nicht übel. Angehörige von Mordopfern reagierten höchst unterschiedlich. Manche verstummten und waren wie gelähmt, andere weigerten sich, das Geschehen zu akzeptieren, und wieder andere reagierten abweisend oder sogar aggressiv.

»Die wenigsten Gewalttaten geschehen aus dem Nichts heraus, auch wenn es auf den ersten Blick oftmals so scheint. Wir müssen in Erfahrung bringen, ob Ihr Vater in letzter Zeit anders war. Ob es Streit, Auseinandersetzungen oder Konflikte gab oder …«

»Nein«, ergriff Veronika Bautner nun wieder das Wort. »Das sagte ich schon heute Morgen. Es war alles wie immer, das kann ich nur wiederholen – auch aus dem Abstand einiger Stunden. Mein Mann wollte über Nacht in der Praxis bleiben, um ein frisch operiertes Tier zu betreuen. Das hat er häufig gemacht.«

Tochter Mirjam nickte zu den Worten ihrer Mutter. Die Aussagen der anderen Praxismitarbeiter hatten diese Vorgehensweise ebenfalls unabhängig voneinander bestätigt; Ungewöhnliches hatte niemand bemerkt.

»Und der Spaziergang am See gehörte ebenfalls zur Routine?«, fuhr Romy fort.

»Ja«, sagte die Witwe. »Er mochte den See.«

Oskar Bautner trat mit einem Tablett ein und reichte seiner Mutter eine Tasse Tee. Dann sah er Romy an. »Möchten Sie vielleicht auch etwas trinken?«, fragte er höflich.

»Nein, vielen Dank.«

Oskar nahm in dem anderen Sessel Platz und legte die Hände in den Schoß. Er wirkte ruhig, gefasst. Der Jüngste der Geschwister war so schmal gebaut wie seine Mutter und ihr auch sonst wie aus dem Gesicht geschnitten, während die beiden anderen dem Vater ähnelten. Michael Bautner war ein kraftvoller, zupackender Typ gewesen, dachte Romy. Er hatte mit Anfang sechzig noch mitten im Leben gestanden, als Familienvater und Tierarzt in einer alteingesessenen und gut laufenden Praxis, offensichtlich beliebt und geschätzt. Und dann war an einem kalten Winterabend jemand aus der Dunkelheit aufgetaucht und hatte ihn mit einem Stich getötet – so sah es zumindest im Moment aus. Es gab keine Abwehrverletzungen, wie die Rechtsmedizinerin inzwischen bestätigt hatte – das könnte bedeuten, dass er überrascht worden war oder den Angreifer gekannt hatte.

»Wann hatten Sie zum letzten Mal Kontakt zu Ihrem Vater?«, fragte Romy und sah Oskar an.

Er warf ihr einen erstaunten Blick zu und überlegte kurz. »Ich weiß es nicht genau. Weihnachten, glaube ich. Ich habe gerade viel mit der Uni zu tun – Zwischenprüfungen.«

»Was studieren Sie?«

»Informatik, Schwerpunkt IT‑Sicherheit.« Er lächelte verlegen.

»Oskar hat schon immer meistens vor dem PC gesessen«, warf sein Bruder ein, und das klang nicht gerade nach einem Kompliment, bestenfalls nach brüderlicher Neckerei. Oskar reagierte nicht auf die Bemerkung.

»Und Sie? Wann haben Sie zuletzt mit Ihrem Vater gesprochen?«, wandte Romy sich an Gregor.

»Wir haben vor ein paar Tagen kurz telefoniert. Er hat gefragt, wann ich mal wieder auf die Insel komme. Das war es.« Gregor hob kurz die Hände.

Einen Moment blieb es still. Romy seufzte innerlich, dann gab sie sich einen Ruck und sah Veronika Bautner an. »Zwei Dinge muss ich noch ansprechen, dann sind Sie uns erst einmal los. Zum einen benötigen wir den Laptop Ihres Mannes sowie den Zugang zum PC in der Praxis oder zumindest eine Kopie der Festplatte.«

Gregor Bautner runzelte die Stirn und wollte etwas einwenden, wie Romy mit einem schnellen Seitenblick feststellte, doch seine Mutter kam ihm zuvor. »Natürlich.«

»Vielleicht finden sich dort Hinweise, die uns weiterhelfen könnten«, erklärte Romy.

Veronika Bautner nickte und sah ihre Tochter an. »Kümmerst du dich darum?«

»Selbstverständlich. Ich erledige das gleich morgen früh.«

»Und das zweite?«

»Jemand aus der Familie muss den Leichnam in der Rechtsmedizin identifizieren. Je eher, desto besser.«

Die Witwe schloss kurz die Augen. »Muss das wirklich sein? Sie haben doch seinen Ausweis bei ihm gefunden, und es gibt gar keinen Zweifel …«

»Ich übernehme das«, warf Gregor ein. Er sah seine Schwester an. »Oder wir beide fahren gemeinsam.«

Mirjam zögerte einen winzigen Moment, dann nickte sie. »So könnten wir es machen.«

Romy sah, dass ihre Hände zitterten. »Ich danke Ihnen und will Sie nun auch nicht länger stören«, sagte sie und erhob sich. Sie stand schon in der Tür, als sie sich noch einmal umdrehte. »Frau Bautner, hatte Ihr Mann hier Zuhause ein Arbeitszimmer oder einen eigenen Raum?«

»Ja. Wir haben im letzten Jahr den Keller ausgebaut und …« Sie stand auf. »Kommen Sie.«

»Und wofür soll das jetzt gut sein?«, fragte Gregor. In seinen Augen spiegelte sich Ablehnung.

Romy blieb gelassen. »Ich möchte so schnell wie möglich verstehen, was passiert ist, um den Mord an Ihrem Vater aufzuklären. Als Außenstehende und noch dazu ermittelnde Kommissarin achte ich auf andere Aspekte als Sie, mir fallen Details auf, die für Angehörige unbedeutend scheinen, und manchmal gewinne ich dabei wertvolle Hinweise oder stelle die richtigen Fragen.«

Gregor wirkte nicht überzeugt, aber immerhin schwieg er, während Romy sich umwandte und Veronika Bautner folgte. Finn wartete im Flur.

»Nehmen Sie es ihm bitte nicht übel«, sagte Bautner leise, als sie gemeinsam die Treppe hinuntergingen. »Gregor war schon immer so – erst einmal alles in Frage stellen und herumpoltern. Ich glaube, er hat noch gar nicht verstanden, was passiert ist … Ich auch nicht. Es ist alles so irrational.« Sie blieb stehen und atmete tief durch.

»Schon gut. Das ist eine schwierige Situation«, erwiderte Romy. »Und jeder Angehörige geht anders damit um.«

Veronika Bautner öffnete am Ende des Ganges die Tür zu einem holzvertäfelten Raum. Romy ließ den Blick schweifen. Ledercouch, Fernseher, dunkle Farben, auf einem langen Tisch war Angelzubehör ausgebreitet, in einem Regal stapelten sich Bücher zum Segelsport und zu tiermedizinischen Themen, ein großformatiges gerahmtes Foto zeigte Michael Bautner auf einem schnittigen Segler. Ein breites Lachen bestimmte das braungebrannte Gesicht, der Wind hatte sich in seinem dichten Haarschopf verfangen, der Himmel strahlte in tiefstem Blau, und die See war aufgewühlt. Auf einem anderen Bild saß Bautner mit ausgeworfener Angelrute auf einem Schemel und blickte übers Wasser. Ein attraktiver Mann. Romy hörte, dass Veronika kurz die Luft anhielt.

»Mein Mann war begeisterter Segler und hat gerne geangelt, wie Sie unschwer erkennen können«, sagte die Witwe leise. »Das Angeln kam erst in den letzten Jahren. Er hat selten etwas gefangen, das war nicht wichtig. Er mochte aber dieses stille Sitzen am Wasser … Hier ist er am Selliner See.«

Romy erkannte im Hintergrund die Umrisse einiger Ferienhäuser. Die Stimmung war friedlich. »Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen, Frau Bautner?«

»Ja, natürlich.«

»Wie würden Sie Ihre Ehe bezeichnen?«

Die Witwe sah sie einen Augenblick verblüfft an. »Ich nehme an, dass Sie auch solche Fragen stellen müssen.«

»Bei einem Mord muss ich viele Fragen stellen, und einige von ihnen dürften auch indiskret wirken oder sind sehr schmerzhaft. Es tut mir leid.«

»Verstehe.« Sie sah einen Moment auf ihre Hände. »Nun, mein Mann und ich sind … wir waren über dreißig Jahre ein Paar. Das ist eine lange Zeit. Ich würde sagen, dass wir immer ein gutes Team waren und manche Krise bewältigt haben, auch wenn es nicht durchweg einfach war. Welches Leben verläuft schon durchweg einfach? Welche Ehe kann nur auf wunderbare Zeiten zurückblicken? Es gibt immer Probleme, Brüche, Verletzungen. Aber wir hatten eine gute Gemeinschaft, und wir haben drei wundervolle Kinder großgezogen, und das ist es, was zählt.« Sie zögerte und blickte kurz in die Ferne. »Ich kann mir nicht erklären, was passiert ist«, fügte sie leise hinzu. »Vielleicht will ich es auch gar nicht.«

Wir hatten eine gute Gemeinschaft, wiederholte Romy den Satz im Stillen. Wie klang das? Nach einer Partnerschaft, die durch dick und dünn gegangen war? Nach großer Liebe, die sich nach vielen Jahren verändert oder auch nur abgenutzt hatte, was nicht gegen sie sprach, sondern dafür, dass sie sich bewährt hatte? Ein gutes Team, das die Herausforderungen des Lebens gemeistert hatte? Vielleicht von allem etwas, überlegte sie weiter. Wie werde ich in zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren Jan und mich als Paar beschreiben? Schwer zu sagen.

»Waren Sie gestern Abend zu Hause?«, fragte Romy einen Augenblick später weiter.

Veronika Bautner stutzte nur kurz. »Sie fragen nach meinem Alibi, nehme ich an?

»Ja – und auch das ist reine Routine.«

»Nun – ja, ich war zu Hause und habe einen Zeichenkurs vorbereitet, der Ende der Woche in Greifswald stattfindet. Außerdem habe ich ein paar Mails geschrieben und am Abend eine Weile mit einer Freundin telefoniert.«

»Und mittags mit Ihrem Mann.«

»Richtig. Das erwähnte ich schon heute früh.«

»Ich danke Ihnen.« Romy verließ den Raum nach einem letzten Rundumblick hinter Veronika Bautner, die mit eiligen Schritten voranging. Als sie die Treppe hinaufkam, wartete Finn in der Diele auf sie. Er hatte sein Tablet gerade zugeklappt und legte die Hand auf die Türklinke.

»Wir müssen noch die Alibis der Geschwister abfragen«, sagte Romy leise.

»Habe ich schon erledigt«, erwiderte der junge Kommissar lächelnd und tippte auf sein Tablet. »Alles notiert, was dazugehört, natürlich auch die Kontaktdaten.«

Romy nickte. »Okay.«

Zwei Minuten später schloss Veronika Bautner die Haustür hinter ihnen. Romy hob den Blick. Trübe Winterdämmerung senkte sich herab, es roch nach Schnee und Wintersturm, nach eisiger Ostsee. Romy nahm wieder auf dem Beifahrersitz Platz und sah zum Fenster hinaus. Zwischen Breege-Juliusruh und Glowe wurde es ungemütlich glatt. Finn fuhr ausgesprochen vorsichtig.

»Wie ist Ihr Eindruck?«, durchbrach Romy plötzlich die Stille.

Finn warf ihr einen erstaunten Seitenblick zu. »Na ja, also – auf den ersten Blick sitzt der Schock wohl bei allen sehr tief. Der ältere Sohn versteckt sich ein bisschen hinter seiner Angriffslust.«

»Gut beobachtet.«

Finn errötete dezent. »Der Jüngere wirkt etwas … verloren«, fuhr er fort. »Sein Bruder nimmt ihn nicht für voll, aber das ist nicht ungewöhnlich.«

»Nein?«

»Kenne ich von meinem Bruder auch.«

»Er nimmt Sie nicht für voll?«

Leises Räuspern. »Es ist umgekehrt. Er macht gerade Abi, aber für mich wird er immer der Fünfjährige bleiben, der Angst vor Gespenstern hat und von der Oma verhätschelt wird – und von den Eltern sowieso.«

Romy lächelte. »Ich verstehe. Und die Schwester …« Ihr Smartphone klingelte. »Augenblick, das ist die Rechtsmedizin.« Sie stellte die Verbindung her. »Frau Doktor Brand?«

»Ich dachte, ich rufe Sie gleich mal persönlich an. Der Chef meinte, dass Sie immer besonders dringend auf die Ergebnisse warten würden.«

»Wahrscheinlich hat er Sie vor meiner Ungeduld gewarnt«, meinte Romy.

»Tja, so ähnlich. Wie dem auch sei – mein erster vorläufiger Bericht ist bereits unterwegs«, erklärte die Ärztin. Sie sprach schnell und klang etwas in Eile. »Ich bleibe dabei: Die Stichverletzung war todesursächlich …«

»Messer?«

»Das ist anzunehmen …«

»Sie zögern?«

»Die Wunde war nicht besonders tief, hat aber die Arterie verletzt. Bei der Waffe tippe ich auf ein eher kleines Messer, ein Taschenmesser zum Beispiel.«

Ein Alltagsgegenstand, dachte Romy.

»Was den genauen Todeszeitpunkt betrifft, müssen Sie sich noch gedulden. Später Abend ist sehr wahrscheinlich. Abwehr- und Kampfverletzungen würde ich nach wie vor ausschließen, obwohl ich nichts ausschließen sollte, was noch keine hundertprozentig gesicherte Erkenntnis darstellt. Es gibt eine Prellung an der Schulter und eine Schürfwunde an der Hand, doch die führe ich auf den Sturz nach dem Angriff zurück. Andere Analysen laufen noch.«

»Danke, Doktor Brand.«

Romy steckte das Handy ein. Ein Taschenmesser. Das sprach nicht unbedingt für eine geplante Tat. Andererseits war es deutlich zu früh für Spekulationen.

Finn sah sie kurz von der Seite an. »Die Schwester?«, griff er den Gesprächsfaden wieder auf.

Romy blinzelte. »Ach ja. Was halten Sie von ihr?«

»Sie ist die typische große Schwester, vielleicht war sie der Liebling des Vaters«, meinte Finn in leicht dozierendem Ton.

»Weil sie auch Tierärztin geworden ist? Das muss nichts heißen. Haben Sie auch eine ältere Schwester?«

Finn lächelte. »Leider nein.«

»Was ist mit den Alibis?«, fragte Romy weiter.

»Oskar hat Nachhilfe gegeben. Das lässt sich wohl leicht überprüfen. Gregor war zu Hause und hatte Besuch. Und die Schwester – sie ist gerade erst umgezogen – hat in ihrer neuen Wohnung zu tun gehabt. Eine Freundin hat ihr geholfen.«

Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Romy spürte, dass ihre Lebensgeister wieder erwachten. Das war selbstverständlich auf die Teemischung zurückzuführen, wie Fine wenig später mit stolz geschwellter Brust bemerkte. Romy ließ ihre Einschätzung so stehen und machte sich nach einer kurzen Teambesprechung auf den Heimweg. Sie fuhr die L 196 bis Sellin und bog dann ab in Richtung Baabe und Mönchgut. Schneefall setzte ein und hüllte frosterstarrte Bäume in ein weißes Gewand. Über den Salzwiesen hingen dunkle Wolken.

Romy heizte den Kamin ein. Das auflodernde fauchende Feuer im Rücken, blickte sie in die karge Winterlandschaft.

3

Mirjam Bautner hatte ihr Versprechen gehalten und den Laptop ihres Vaters bereits am frühen Morgen im Kommissariat vorbeigebracht. Darauf waren auch die Kundendaten sowie Mails aus der Praxis gespeichert, wie Fine erläuterte, als Max eintraf.

»Einer der Söhne hat sich darum gekümmert – er versteht wohl was davon«, fügte Fine noch hinzu, bevor sie in der Küche verschwand, um Tee und Kaffee zu kochen und einen Frühstücksimbiss vorzubereiten.

Max fuhr keine Minute später den Laptop hoch und lächelte zufrieden.

Oskar Bautner hatte die Festplatte übersichtlich strukturiert und in einen privaten und einen geschäftlichen Bereich unterteilt. Max überflog zunächst den aktuellen Mailverkehr, ordnete Kontaktdaten und ließ schließlich gelöschte Nachrichten wiederherstellen. Er trank seinen zweiten Tee und biss in ein Käsebrötchen, als Fine den Kopf zur Tür hereinsteckte. »Romy kommt später. Sie ist nach Stralsund zur Besprechung mit dem Staatsanwalt gefahren und überprüft gleich noch die Alibis der Söhne – der Neue begleitet sie. Offensichtlich geht es ihr wesentlich besser. Ich kann nur sagen – mein Tee ist eine Geheimwaffe.«

Max nickte beiläufig und heftete den Blick wieder mit konzentrierter Miene auf den Monitor. Auch er war schon in den Genuss von Fines Kräutermischung gekommen, und er dachte nicht gerne daran zurück. Die Bezeichnung Waffe würde er allerdings durchaus so stehen lassen.

»Falls du in der Zwischenzeit was entdeckst …«

»Soll ich mich bei Romy melden, schon klar.«

»Exakt.« Fine zuckte mit den Achseln und verschwand wieder.

Der Suchvorgang war eine halbe Stunde später beendet. Max erweiterte seine Datenbank zum aktuellen Fall um wiederhergestellte Kontaktdaten und Mails und ließ Stichworte und Namen mittels eines Sortierprogramms zuordnen. Entsprechende Verknüpfungen konnten nun aufgrund exakter Suchabfragen hergestellt werden. Er aß den Rest seines Brötchens, öffnete einen Vorbericht aus der Kriminaltechnik und wandte sich dann wieder seiner Datenbank zu. Er stutzte. Ein Name tauchte immer wieder auf, genauer gesagt, knapp zwanzigmal im Laufe eines Jahres. Karl Sebald hatte zig Mails geschrieben – sowohl an die offizielle Mailadresse der Tierarztpraxis als auch an Michael Bautners Privataccount. Vor gut einem Jahr war sein Hund gestorben. Dem Inhalt der Nachrichten nach zu urteilen lag ein schwerer Behandlungsfehler vor. Der Ton klang vorwurfsvoll und aggressiv.

Max leitete den Inhalt einiger Mails an Romy weiter und stellte wenig später beim Abgleich mit den Mobilfunkdaten von Bautner fest, dass Sebald den Tierarzt mehrfach angerufen hatte, das letzte Mal vor gut zwei Wochen.

Romy blickte über den wolkenverhangenen Strelasund und hing ihren Gedanken nach, während Finn den Wagen langsam über die Rügenbrücke steuerte. Trotz des eisig ungemütlichen Wetters schaukelten einige Boote auf dem Wasser. Romy fröstelte allein beim Anblick. Immerhin ging es ihr inzwischen deutlich besser, heute früh hatte der Kaffee sogar wieder geschmeckt, ihr alter Schwung und der Appetit kehrten allmählich zurück. Dennoch hatte sie nichts dagegen, dass Finn Maurer wieder zur Stelle war. Der jugendliche Kommissar wirkte ausgesprochen tatendurstig.

Die Besprechung mit dem Staatsanwalt in der Stralsunder Dienststelle war kurz gewesen, noch gab es ja wenig zu veranlassen – abgesehen von Gesprächen und Nachforschungen im erweiterten Umkreis des Tierarztes – und entsprechend wenig zu entscheiden. Die Ausgangssituation war übersichtlich, nahezu dürftig. Ein Toter und keinerlei Hinweise auf das Geschehen oder ein Motiv. Auch die Tatwaffe war bislang nicht aufgetaucht, die Suche sowie Befragungen im Umkreis des Tatorts am Selliner See sollten heute fortgesetzt werden. Die Überprüfung der Alibis war ebenfalls schnell erledigt. Oskars Nachhilfeschüler hatte ohne Umschweife bestätigt, dass er am Abend bis zirka dreiundzwanzig Uhr mit Oskar Bautner für eine Klausur gebüffelt hatte. Bei Gregors angegebenem Besuch handelte es sich um zwei Kollegen – sie hatten einen Film geguckt und es sich gutgehen lassen, wie beide am Telefon erklärten. Auch Mirjams Angaben konnten bestätigt werden. Eine Freundin hatte ihr beim Streichen und Möbelaufbauen in der neuen Wohnung geholfen.

Fehlte nur noch die Bestätigung des Telefonats, das Veronika Bautner mit einer Freundin geführt hatte, überlegte Romy, während Finn die Hauptstrecke über die B 96 Richtung Bergen einschlug – eine Route, die in der Hochsaison tunlichst vermieden werden sollte, wenn man nicht Gefahr laufen wollte, sich von einem Stau in den nächsten zu quälen. Romy griff ihr Handy und rief die Witwe an. »Ich störe Sie nur ungern, Frau Bautner«, erklärte sie nach kurzer Begrüßung. »Ich überprüfe gerade einige Angaben und …«

»Sie brauchen noch den Namen und die Nummer meiner Freundin«, warf Veronika Bautner ein. Ihre Stimme klang müde und tonlos. »Das hatte ich gestern vergessen. Ich schicke Ihnen die Angaben sofort zu.«

»Vielen Dank.«

Wenige Augenblicke später telefonierte Romy mit Gaby Kleiber, deren Erschütterung deutlich spürbar war.

»Ich kann es einfach nicht glauben«, betonte sie ein ums andere Mal, nachdem Romy sich vorgestellt und den Grund ihres Anrufs erläutert hatte. »Wer tut so etwas? Micha war angesehen und beliebt, ein ausgeglichener Typ. Er hat sich liebevoll um seine Familie gekümmert und war ein toller Tierarzt – da können Sie fragen, wen Sie wollen. Ich kann mir keinen einzigen Grund vorstellen …« Die Frau atmete tief durch und brach ab.

Romy sparte sich den Hinweis, dass sie derartige Beschreibungen eines Mordopfers oder auch Tatverdächtigen nicht zum ersten Mal hörte, und im Laufe intensiver Ermittlungen zeigten sich dann manchmal ganz andere Züge – und Abgründe –, die so gar nicht der ursprünglichen Charakterisierung entsprachen.

»Das muss ein Irrer gewesen sein!«, ergänzte Gaby Kleiber schließlich vehement. »Vielleicht ein gestörter Gewalttäter, viel zu früh entlassen oder …«

»Zum Hintergrund lässt sich noch nicht das Geringste sagen, aber ich kann Ihnen versichern, dass wir umfassend ermitteln und alle denkbaren Aspekte berücksichtigen«, fiel Romy ihr beherzt ins Wort. Simons diesbezügliche Nachforschungen hatten keinen einzigen Treffer ergeben. »Im Moment stehen wir allerdings noch ganz am Beginn unserer Nachforschungen und überprüfen zunächst routinemäßig sämtliche Angaben. Sie haben vorgestern mit Frau Bautner telefoniert?«

»Ja, das ist richtig.«

Romy wartete einen Moment. »Wann ungefähr?«, schob sie schließlich hinterher.

»Am Abend, nach der Tagesschau. Wir haben eine ganze Weile geklönt, bestimmt eine Stunde. Ihr Mann war ja nicht zu Hause …« Sie schluckte. »Wozu brauchen Sie eigentlich diese Informationen? Sie glauben doch nicht im Ernst, dass …«

»Nein, Frau Kleiber. Es geht nicht darum, was ich glaube. Unsere Nachfragen stellen eine reine Routinemaßnahme dar. Sie sind ein erster Schritt. Ich muss mir ein Bild machen, und das so schnell wie möglich.«

»Aha.« Überzeugt klang das nicht.

»Wie lange kennen Sie sich, Frau Kleiber?«, fuhr Romy fort.