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Nur von einem Tag im Leben des Dubliner Anzeigenmaklers Leopold Bloom, dem 16. Juni 1904, erzählt James Joyce in den 18 Kapiteln seines 1922 in Paris erschienenen „Ulysses“. Als moderne „Alltags-Odyssee“ ging der Jahrhundertroman in die Weltliteratur ein. Die von Joyce nach direkter Zusammenarbeit mit dem Übersetzer Georg Goyert autorisierte deutsche Übersetzung veröffentlichte der Rhein-Verlag 1927 in Basel.
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Seitenzahl: 1300
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Gravitätisch kam der dicke Buck Mulligan vom Austritt am obern Ende der Treppe: er trug ein Rasierbecken, auf dem kreuzweise ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen. Im milden Morgenwind bauschte sich leicht hinter ihm ein gelber, ungegürtelter Schlafrock. Er hob das Becken in die Höhe und stimmte an:
»Introibo ad altare Dei.«
Dann machte er halt, sah die dunkle Wendeltreppe hinab und rief rauh:
»Kinch, komm rauf! Komm rauf, du gräßlicher Jesuit!«
Feierlich ging er dann weiter und kletterte auf das runde Geschützlager. Er blickte um sich und segnete ernst dreimal den Turm, das umliegende Land und die erwachenden Berge. Dann sah er Stephan Dädalus, verneigte sich vor ihm und schlug viele Male schnell das Zeichen des Kreuzes, wobei er glucksende Töne ausstieß und den Kopf bewegte. Stephan Dädalus war schlechter Laune und schläfrig; er lehnte seine Arme auf die oberste Treppenstufe und blickte gleichgültig in das ihn segnende, sich bewegende, glucksende Gesicht, pferdehaft in seiner Länge, und auf das helle, nicht gleichmäßig eichengelbe Haar ohne Tonsur.
Buck Mulligan sah einen Augenblick unter den Spiegel, legte ihn dann schnell wieder auf das Becken.
»Rin in die Kiste«, sagte er streng. Im Predigerton fügte er hinzu:
»Denn dies, geliebte Gemeinde, ist das wahre Eucharistilin: Leib und Seele, Kotzdonner. Langsam spielen, bitte. Schließen Sie die Augen, meine Herren. Einen Augenblick! Von selbst geht’s nicht mit diesen weißen Körperchen. Ruhe, alle!
Er schielte in die Höhe und pfiff dumpf und lange, wartete dann wie verzückt kurze Zeit. In seinem regelmäßigen Gebiß schimmerten hier und da Goldplomben. Chrysostomos. Durch die Stille antworteten zwei laute, schrille Pfiffe.
»Danke, alter Junge«, rief er lebhaft. »Das genügt. Dreh die Luft ab!«
Er sprang vom Geschützlager und blickte ernst auf seinen Beobachter, wobei er die losen Falten seines Schlafrockes um die Beine raffte. Das dicke, helldunkle Gesicht mit dem ovalen, mürrischen Kiefer erinnerte an einen Prälaten, den Förderer der Künste im Mittelalter. Friedliches Lächeln floß ruhig über seine Lippen.
»Ist doch zum Lachen«, sagte er froh. »Dein seltsamer Name, ein alter Grieche.«
In freundschaftlichem Scherz drohte er ihm mit dem Finger, ging hinüber an die Brustwehr und lachte vor sich hin. Stephan Dädalus kam näher, folgte ihm milde halbwegs, setzte sich auf den Rand des Geschützlagers und beobachtete ihn wieder, als er jetzt seinen Spiegel auf die Brustwehr stellte, den Pinsel ins Becken tauchte und Backen und Hals einseifte.
Lustig schwatzte Buck Mulligan weiter:
»Hab auch so ’n seltsamen Namen: Malachi Mulligan, zwei Daktylen. Klingt auch ganz griechisch, was? Hüpfend und lustig wie ein echter Bock. Wir müssen nach Athen. Kommst du mit, wenn ich der Tante zwanzig Pfund entsteiße?«
Er legte den Pinsel weg, lachte froh und sagte:
»Kommt er mit, der nüchterne Jesuit?«
Er sprach nicht weiter, begann sich sorgfältig zu rasieren.
»Hör mal, Mulligan«, sagte Stephan ruhig.
»Ja, mein Lieber, was gibt’s?«
»Wie lange bleibt Haines noch in diesem Turm?«
Buck Mulligan zeigte über seiner rechten Schulter eine rasierte Backe.
»Der ist ein verdammt gräßlicher Kerl«, sagte er frei heraus. »Ein plumper Engländer. Meint, du wärst kein Gentleman. Lieber Gott, diese verdammten Engländer. Platzen vor Geld, diese vollgefressenen Säcke. Weil er von Oxford kommt. Weißt du, Dädalus, hast die echte Oxford-Art. Er wird nicht klug aus dir. Ja, ja, der Name, den ich dir gegeben habe, ist immer noch der beste: Kinch, die Messerklinge.«
Er rasierte vorsichtig das Kinn.
»Die ganze Nacht faselte er von einem schwarzen Panther«, sagte Stephan. »Wo ist sein Gewehrkasten?«
»Der arme Teufel ist mondsüchtig«, sagte Mulligan. »Hast du Angst gehabt?«
»Und ob«, antwortete Stephan mit Nachdruck; und wieder packte ihn die Angst. »Hier draußen im Dunkeln mit jemandem, den ich nicht kenne, der phantasiert und sich von einem schwarzen Panther was vorstöhnt, den er schießen will. Du hast Menschen vom Ertrinken errettet. Ich aber bin kein Held. Wenn der hier bleibt, haue ich ab.«
Buck Mulligan sah grimmig auf den Seifenschaum an der Klinge seines Rasiermessers. Er rutschte von seinem hohen Sitz und suchte hastig in seinen Hosentaschen.
»Verdammte Scheiße«, knurrte er.
Er ging hinüber an das Geschützlager, warf eine Hand in Stephans obere Tasche und sagte:
»Gestatte mal deine Rotzfahne, will mein Rasiermesser abputzen.« Stephan ließ ihn ruhig ein schmutziges, zerknülltes Taschentuch aus der Tasche ziehen, das er jetzt an einem Zipfel in die Höhe hielt. Buck Mulligan säuberte sorgfältig die Klinge. Dann betrachtete er das Taschentuch und sagte:
»Des Barden Rotzfahne. Eine neue Nuance für unsere irischen Dichter: rotzgrün. Schmeckt das ordentlich, was?«
Wieder ging er an die Brustwehr und sah hinüber über die Bai von Dublin; sein helles, eichenfarbenes Haar wurde vom Winde leicht in die Höhe geweht.
»Lieber Gott«, sagt er ruhig. »Das Meer ist wirklich was Algy sagt: eine große, liebe Mutter. Das rotzgrüne Meer. Das scrotumzusammenziehende Meer. Epi oinopa ponton. Ach, Dädalus, die Griechen. Die mußt du kennen lernen, durch mich. Im Original mußt du sie lesen. Thalatta! Thalatta! Es ist unsere große, liebe Mutter. Komm und sieh!«
Stephan stand auf und ging hinüber an die Brustwehr. Er lehnte sich dagegen, schaute hinunter auf das Wasser und das Postschiff, das langsam den Hafeneingang von Kingstown verließ.
»Unsere mächtige Mutter«, sagte Buck Mulligan. Plötzlich wandte er seine großen, suchenden Augen weg vom Meer in Stephans Gesicht.
»Die Tante glaubt, daß du deine Mutter umbrachtest«, sagte er. »Deshalb will sie nicht, daß ich mit dir verkehre.«
»Irgendjemand brachte sie um«, sagte Stephan düster.
»Verdammt noch mal, Kinch, hättest auch niederknien können, als deine sterbende Mutter dich darum bat«, sagte Buck Mulligan. »Ich bin so hundeschnäuzig wie du. Aber der Gedanke, daß deine sterbende Mutter dich mit ihrem letzten Atem bittet, niederzuknien und für sie zu beten. Und daß du das nicht tatest. In dir lebt irgendein Unheilvolles …«
Er sprach nicht weiter, seifte wieder leicht seine andere Backe ein. Ein nachsichtiges Lächeln kräuselte seine Lippen.
»Aber ein lieber Komödiant«, brummte er vor sich hin. »Kinch, der allerliebste Komödiant.«
Sorgfältig rasierte er mit gleichen Strichen weiter, schweigsam, ernst.
Stephan stützte einen Ellbogen auf den schartigen Granit, legte die Hand an die Stirn und sah auf den abgeschabten Rand seines glänzenden, schwarzen Rockärmels. Und Kummer, es war noch kein Liebeskummer, zerfraß ihm das Herz. Still, im Traume, war sie nach ihrem Tode zu ihm gekommen; die braunen Grabkleider umgaben lose ihren verbrauchten Leib, dem Duft von Wachs und Rosenholz entströmte; ihr Atem, der sich stumm, vorwurfsvoll über ihn geneigt hatte, roch leicht nach feuchter Asche. Durch den fadenscheinigen Ärmelrand sah er das Meer, das die wohlgenährte Stimme neben ihm als große, liebe Mutter begrüßte. Der Ring aus Bai und Himmelslinie umschloß eine blaßgrüne Flüssigkeit. Eine Schale ans weißem Porzellan hatte neben ihrem Totenbett gestanden, und in ihr schwamm die grüne, träge Galle, die sie unter lautem, ächzendem Stöhnen ihrer verfaulenden Leber entriß.
Buck Mulligan putzte wieder seine Rasierklinge.
»Ach, du armer Hundskadaver«, sagte er freundlich. »Muß dir mal ein Hemd und ein paar Rotzfahnen schenken. Bist du mit der Buxe aus zweiter Hand zufrieden?«
»Paßt einigermaßen«, antwortete Stephan.
Buck Mulligan griff jetzt die Höhlung unter der Unterlippe an. Zufrieden sagte er:
»Ist doch zum Lachen, sollte sie eigentlich von zweitem Bein nennen. Mag der Himmel wissen, was für’n verseuchtes Schwein die abgelegt hat. Ich hab eine feine, mit einem haarfeinen Streifen drin, grau. Stände dir ganz famos. Spaß beiseite, Kinch. Siehst verdammt gut aus, wenn du angezogen bist.«
»Danke«, sagte Stephan, »wenn sie grau ist, kann ich sie nicht tragen.«
»Kann sie nicht tragen«, sagte Buck Mulligan zu seinem Gesicht im Spiegel. »Etikette bleibt Etikette. Seine Mutter bringt er um, aber eine graue Hose kann er nicht tragen.«
Sorgfältig klappte er das Rasiermesser zu, betastete mit streichenden, fühlenden Fingerspitzen prüfend die glatte Haut.
Stephan wandte den Blick vom Meer auf das dicke Gesicht mit den rauchblauen, beweglichen Augen.
»Der Kerl, mit dem ich gestern abend im Ship war«, sagte Buck Mulligan, »meint, du hättest die A. P. V. Er ist mit Conolly Norman im Trallkasten. Allgemeine Paralyse der Verrückten.«
Er schwang den Spiegel im Halbkreis in der Luft, als wolle er das eben Gesagte hinausspiegeln in das Sonnenlicht, das jetzt über dem Meere leuchtete. Seine sich kräuselnden, rasierten Lippen lachten und auch die Schneiden seiner weißen, schimmernden Zähne. Lachen schüttelte seinen ganzen, gut gebauten, starken Körper.
»Besieh dich mal, du gräßlicher Barde«, sagte er.
Stephan beugte sich vor, sah in den Spiegel, den er ihm hinhielt, ein krummer Riß ging hindurch, Haar zu Berge. Wie er und andere mich sehen. Wer wählte dieses Gesicht für mich? Dieser läusezerfressene Hundskadaver. Er fragt es mich auch.
»Hab ihn im Zimmer der scheelen Spritze geklaut«, sagte Buck Mulligan. »Für die ist er lange gut genug. Die Tante hält Malachis wegen immer häßliche Mädchen. Führe ihn nicht in Versuchung. Und sie heißt Ursula.«
Er lachte wieder, entfernte den Spiegel aus Stephans forschenden Augen.
»Die Wut Calibans, als er sein Gesicht im Spiegel nicht sah«, sagte er. »Wenn Wilde noch lebte und dich sehen könnte.«
Stephan trat zurück, zeigte auf den Spiegel und sagte bitter:
»Er ist ein Symbol der irischen Kunst. Der geborstene Spiegel eines Dienstmädchens.«
Plötzlich schob Buck Mulligan seinen Arm unter den Stephans, ging mit ihm über den Turm; Rasiermesser und Spiegel klapperten in der Tasche, in die er sie gesteckt hatte.
»Es ist nicht nett, dich so anzuöden, Kinch, was?« sagte er freundlich. »Der Himmel weiß, daß du mehr Grips hast als sie alle zusammen.«
Wieder pariert. Er fürchtet die Lanzette meiner Kunst, wie ich die der seinen. Die kalte Stahlfeder. »Geborstener Spiegel eines Dienstmädchens. Sag das dem saudummen Kerl unten und jag ihm eine Guinea ab. Der stinkt vor Geld und glaubt, du seist kein Gentleman. Sein Alter verkaufte den Zulus Jalapenwurzel oder irgendein anderes Dreckzeug und wurde stinkreich dabei. Lieber Gott, wenn wir beide, Kinch, nur zusammen arbeiten könnten, wir könnten schon was für die Insel tun. Sie hellenisieren.«
Cranlys Arm. Sein Arm.
»Wenn ich daran denke, daß du diese Schweine um was bitten sollst. Ich bin der einzige, der wirklich weiß, was du bist. Warum vertraust du mir nicht mehr? Weswegen hast du ’n Piek auf mich? Wegen Haines? Wenn der nicht ganz still ist, hole ich Seymour, und er bezieht schlimmere Keile als neulich Clive Kempthorpe.«
Reiche, junge Stimmen in Clive Kempthorpes Zimmern. Bleichgesichter: halten sich den Bauch vor Lachen, packen einander. O, ich sterbe! Bring ihr die Nachricht schonend bei, Aubrey! Ich sterbe! Die Fetzen seines zerrissenen Hemdes fegen in der Luft, er hüpft und humpelt um den Tisch, die Hose hängt ihm auf den Fersen, und Ades vom Magdalen ist mit der großen Schneiderschere hinter ihm her. Ein furchtsames, mit Marmelade vergoldetes Kalbsgesicht. Ich will mich nicht enthosen lassen! Ich krieg ja noch den Drehwurm!
Rufe aus offenem Fenster erschrecken Abend in viereckigem Hof. Ein tauber Gärtner mit Schürze, hat ein Gesicht wie Matthew Arnold, stößt seine Mähmaschine über den dunklen Rasen, beobachtet sorgfältig die tanzenden Fetzen der Grashalme.
Für uns … Neo-Paganismus … Omphalos.
»Laß ihn doch«, sagte Stephan. »Ist schon alles in Ordnung mit ihm, nur nachts nicht.«
»Was ist es denn?« fragte Buck Mulligan ungeduldig. »Hust es raus. Ich sag dir doch auch alles. Was hast du gegen mich?« Sie blieben stehen, sahen hinüber nach der stumpfen Kuppe des Bray Head, die wie die Schnauze eines schlafenden Wals auf dem Wasser lag. Ruhig löste Stephan seinen Arm.
»Willst es also wissen?« fragte er.
»Ja, was ist es?« antwortete Buck Mulligan. »Ich weiß von nichts.«
Bei diesen Worten sah er Stephan an. Sanfter Wind fuhr ihm über das Gesicht, fächelte leicht sein helles, ungekämmtes Haar, weckte in seinen Augen silbrig flackernde Angst.
Stephan, den seine eigene Stimme erschreckte, sagte:
»Erinnerst du dich des Tages, als ich dich nach dem Tode meiner Mutter zum ersten Male wieder besuchte?«
Buck Mulligan runzelte schnell die Brauen und sagte:
»Was? Wo? Ich erinnere mich an nichts. Ich erinnere mich nur an Ideen und Sensationen. Was? Was, um Himmels willen, passierte denn?«
»Du machtest gerade Tee«, sagte Stephan, »und ich ging über den Podest, um mehr heißes Wasser zu holen. Deine Mutter kam mit irgendwelchem Besuch aus dem Wohnzimmer. Sie fragte dich, wer in deinem Zimmer wäre.«
»Ja?« sagte Buck Mulligan. »Und was sagte ich? Ich weiß es nicht mehr.«
»Du sagtest«, antwortete Stephan. »Oh, es ist nur Dädalus, dessen Mutter biestig verreckt ist.«
Röte schoß in Buck Mulligans Wangen; er sah auf einmal jünger und angenehmer aus.
»Hab ich das gesagt?« fragte er. »Na, was ist denn dabei?«
Er schüttelte nervös alle Verlegenheit von sich.
»Und was ist denn der Tod?« fragte er. »Der deiner Mutter oder deiner oder meiner? Du sahst nur deine Mutter sterben. Ich sehe sie jeden Tag im Mater und Richmond abkratzen und wie man im Seziersaal im Gedärm rumschneidet. Es ist eine Biesterei, weiter nichts. Einfach nicht der Rede wert. Als deine Mutter dich darum bat, wolltest du an ihrem Sterbebett nicht niederknien und für sie beten. Warum? Weil du innerlich ein verdammter Jesuit bist, nur wirkt sich das nicht richtig bei dir aus. Für mich ist alles entweder Spott oder Biesterei. Ihre Gehirnlappen funktionieren nicht. Sie nennt den Doktor Sir Peter Teazle und pflückt Butterblumen auf der Bettdecke. Tu ihr doch jeden Willen, bis alles überstanden ist. Ihren letzten Wunsch im Sterben hast du nicht erfüllt und doch bist du mir böse, weil ich nicht flenne wie ein x-beliebiger Leichenbitter von Lalouette. Toll! Schon möglich, daß ich das gesagt habe. Aber ich wollte damit das Andenken deiner Mutter nicht beleidigen.«
Er hatte sich ganz mutig geredet. Stephan, der die klaffenden Wunden schützte, die die Worte seinem Herzen schlugen, sagte ganz kühl:
»Ich meine auch nicht die Beleidigung meiner Mutter.«
»Was denn?« fragte Buck Mulligan.
»Die Beleidigung, die du mir zufügtest«, antwortete Stephan. Buck Mulligan drehte sich auf dem Absatz um.
»Ein ganz unmöglicher Mensch!« rief er.
Er ging schnell an der Brustwehr entlang. Stephan rührte sich nicht vom Fleck, sah über das ruhige Meer hinüber nach dem Vorgebirge. Meer und Vorgebirge wurden jetzt undeutlich. Blut klopfte ihm in den Augen, verschleierte ihren Blick, und er fühlte das Fieber seiner Wangen.
Im Turm rief eine laute Stimme: »Mulligan, bist du oben?«
»Ich komme«, antwortete Buck Mulligan.
Er wandte sich Stephan zu und sagte:
»Sieh aufs Meer. Was kümmert es sich um Beleidigungen. Setz Loyola an Land, Kinch, und komm mit runter. Der Engländer will seinen Morgenspeck fressen.«
Als sein Kopf mit dem Turmdach in gleicher Höhe war, blieb er wieder einen Augenblick auf der Treppe stehen und sagte:
»Grüble nicht den ganzen Tag darüber. Ich bin inkonsequent. Laß das mürrische Brüten.«
Sein Kopf verschwand, aber das Dröhnen seiner herabsteigenden Stimme klang aus dem Treppenhaus nach oben:
Nun wende dich nicht länger ab und brüte
Nicht länger über Liebe bitteres Geheimnis,
Denn Fergus lenkt die ehernen Wagen.
Waldschatten fluteten still vorbei durch den Morgenfrieden vom Treppenkopf seewärts, wohin er blickte. Dicht am Strande und weiter draußen weißte sich der Wasserspiegel, gespornt von leichtgeschuhten, eilenden Füßen. Weiße Brust der trüben See. Aneinander emporrankende Klänge. Eine Hand, die die Harfensaiten zupft, die ihre rankenden Akkorde ineinander verschlingen. Engverbundene wogenweiße Worte, die auf der düstern Flut schimmern.
Langsam zog eine Wolke vor die Sonne, dunkler wurde das Grün der Bai. Sie lag hinter ihm, eine Schale mit bitterm Wasser. Fergus’ Gesang: Ich sang ihn oben im Hause, hielt die langen, dunklen Akkorde. Ihre Tür stand offen: sie wollte meine Musik hören. Stumm vor Angst und Mitleid trat ich an ihr Bett. Sie jammerte auf ihrem elenden Lager. Wegen dieser Worte, Stephan: der Liebe bitteres Geheimnis.
Wohin jetzt?
Ihre Geheimnisse: alte Federfächer, quastengeschmückte Tanzkarten, die nach Moschus duften, ein Schmuck aus Bernsteinperlen in ihrer verschlossenen Schublade. Im sonnigen Fenster ihres Hauses hing ein Vogelkäfig, als sie noch Mädchen war. Sie hörte den alten Royce in der Pantomime: Turko der Schreckliche, singen und lachte wie die andern, wenn er sang:
Ich bin der Mann,
Der sich
Unsichtbar machen kann.
Geisterhafte Freude, weggelegt: moschusduftend.
Nun wende dich nicht länger ab und brüte.
Weggelegt in das Gedächtnis der Natur mit ihrem Tand. Erinnerungen bedrängen sein brütendes Hirn. Ihr Glas Wasser aus dem Küchenkran, wenn sie sich dem Tisch des Herrn genähert hatte. Ein ausgehöhlter, mit braunem Zucker gefüllter Apfel, der an einem dunklen Herbstabend für sie auf dem Kamin schmorte. Ihre schöngeformten Fingernägel, die vom Blut zerquetschter Läuse aus den Hemden der Kinder gerötet waren.
Im Traum war sie still zu ihm gekommen, ihr verbrauchter Leib im losen Grabgewand roch nach Wachs und Rosenholz, ihr Atem neigte sich über ihn mit stummen, geheimnisvollen Worten, roch leicht nach feuchter Asche.
Ihre glasigen Augen starrten aus der Tiefe des Todes, meine Seele zu erschüttern und zu beugen. Auf mich allein. Die Geisterkerze, die ihrem Todeskampf leuchtete. Geisterhaftes Licht auf dem gequälten Gesicht. Ihr heiserer, lauter Atem, der so schauerlich rasselte, während alle auf den Knien lagen und beteten. Ihre auf mich gerichteten Augen wollten mich niederzwingen. Liliata rutilantium te confessorum turma circumdet: iubilantium te virginum chorus excipiat.
Ghül! Leichenfresser!
Nein, Mutter. Laß mich in Ruh und laß mich leben.
»Kinch, ahoi!«
Aus dem Innern des Turmes sang Buck Mulligans Stimme. Sie kam die Treppe hinauf, rief wieder. Stephan, noch zitternd vom Aufschrei seiner Seele, hörte warm rieselndes Sonnenlicht und freundliche Worte in der Luft hinter sich.
»Dädalus, sei lieb und komm runter. Das Frühstück ist fertig. Haines entschuldigt sich, daß er uns vergangene Nacht weckte. Ist alles in bester Ordnung.«
»Ich komme«, sagte Stephan und wandte sich um.
»Um Jesus Christi willen, tu das«, antwortete Buck Mulligan. »Tu es um meinet- und unser aller willen. »Sein Kopf verschwand und erschien wieder. »Ich hab ihm dein Symbol der irischen Kunst erzählt. Er sagt, es wäre sehr gut. Jag ihm ein Pfund ab. Ich meine eine Guinea.«
Ich krieg heute morgen Geld«, sagte Stephan.
»Den Zaster für die Penne?« sagte Buck Mulligan. »Wieviel? Vier Pfund? Leih mir eins.«
»Wenn du es brauchst«, sagte Stephan.
»Vier leuchtende Sovereigns«, rief Buck Mulligan in hellster Freude. »Wir wollen uns einen herrlichen saufen, daß die alten Druiden vor Staunen nicht wissen sollen, wohin. Vier allmächtige Sovereigns.«
Er warf die Hände hoch, stampfte die Steintreppe hinunter, sang falsch, wobei er die Worte dialektisch färbte.
Jetzt wird’s lustig, jetzt wird’s fein,
Trinken Whisky, trinken Wein,
Am Krönungstage,
Krönungstage!
Lustig, fröhlich woll’n wir sein
Am Krönungstage.
Warmer Sonnenschein heiterte über dem Meere. Auf der Brustwehr funkelte vergessen die Nickelrasierschale. Warum sollte ich sie mit nach unten nehmen? Oder sie hier den ganzen Tag stehen lassen, vergessene Freundschaft?
Er ging hin nach ihr, hielt sie kurze Zeit in den Händen, fühlte ihre Kühle, roch den pappigen Seifenschaum, in dem der Rasierpinsel steckte. So trug ich damals den Weihrauchkessel in Clongowes. Jetzt bin ich ein anderer und doch derselbe. Auch wieder Diener. Eines Dienenden Diener.
In dem dunklen, gewölbten Wohnzimmer des Turmes ging Buck Mulligans in den Schlafrock gehüllte Gestalt vor dem Ofen rasch hin und her, verdeckte so dessen gelben Schein, gab ihn wieder frei. Durch die hohen Schießscharten sausten zwei Pfeile sanften Tageslichts auf den befliesten Boden, und wo die Strahlen sich trafen, flutete wirbelnd eine Wolke aus Kohlenrauch und dem Qualm schmorenden Fettes.
»Wir ersticken hier noch«, sagte Buck Mulligan. »Haines mach mal die Tür auf!«
Stephan stellte das Rasierbecken auf den Schrank. Eine große Gestalt erhob sich aus der Hängematte, in der sie gesessen hatte, ging nach der Schwelle und stieß die innere Tür auf.
»Hast du den Schlüssel?« fragte eine Stimme.
»Dädalus hat ihn«, sagte Buck Mulligan. »Bei der Heiligen Jungfrau, ich krieg keine Luft mehr.«
Ohne vom Feuer aufzusehen, brüllte er: »Kinch!«
»Er steckt im Schloß«, sagte Stephan, der jetzt näher kam.
Zweimal drehte sich knarrend der Schlüssel, und als die schwere Tür geöffnet war, strömten willkommenes Licht und helle Luft herein. Haines stand im Türeingang, sah hinaus. Stephan schob seinen auf die Schmalseite gestellten Koffer an den Tisch, setzte sich und wartete. Buck Mulligan kratzte das in der Pfanne Gebratene in die Schüssel, die neben ihm stand. Dann trug er die Schüssel und einen großen Teetopf hinüber an den Tisch, setzte beides schwer nieder und seufzte wie erlöst.
»Ich schmelze«, sagte er, »wie die Kerze ganz richtig bemerkte, als … Aber still. Hierüber kein Wort mehr. Kinch, schlaf nicht! Brot, Butter, Honig. Haines, komm rein. Der Fraß ist fertig. Segne uns, o Herr, und diese, deine Gaben. Wo ist der Zucker? Verflucht, ist keine Milch da.«
Stephan holte aus dem Schrank das Brot, den Topf mit Honig und die Butterdose. Buck Mulligan setzte sich; er war plötzlich gräßlicher Laune. »Ist das hier ein Saupuff. Ich sagte ihr doch, sie sollte gleich nach acht kommen.«
»Können ihn auch schwarz trinken«, meinte Stephan. »Im Schrank liegt noch eine Zitrone.«
»Der Teufel hol dich und deine Pariser Mätzchen«, sagte Buck Mulligan. »Ich will Sandycover-Milch.«
Haines kam vom Türeingang und sagte ruhig: »Da kommt die Frau mit der Milch.«
»Gottes Segen komme über dich«, schrie Buck Mulligan. Er schnellte von seinem Stuhl hoch.
»Setzt euch. Gieß Tee ein. Der Zucker ist in der Tüte. Ich krieg die verdammten Eier nicht auseinander. »Er stocherte in der Schüssel mit den gebratenen Eiern herum, schwappte sie dann auf drei Teller und sagte dabei:
»In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti.«
Haines setzte sich und goß Tee ein.
»Jeder bekommt zwei Stück«, sagte er. »Aber hör mal, Mulligan, dein Tee ist reichlich stark.«
Buck Mulligan schnitt gerade dicke Rammeln vom Brot herunter und antwortete mit der schmeichelnden Stimme eines alten Weibes:
»Wenn ich Tee mache, dann mache ich Tee, wie die alte Mutter Grogan sagte. Und wenn ich Wasser mache, dann mache ich Wasser.«
»Beim Zeus, es ist Tee«, sagte Haines.
Buck Mulligan säbelte weiter, sagte wieder mit derselben Stimme:
»Ja, das tue ich, Frau Cahill, sagte sie. Aber liebe Frau, sagt Frau Cahill, Gott verhüte, daß Ihr beides in denselben Topf macht.«
Er spießte eine Scheibe Brot nach der andern auf das Messer und reichte jedem seiner Tischgenossen eine.
»Folk«, sagte er sehr ernst, »für dein Buch, Haines. Fünf Zeilen Text und zehn Seiten Anmerkungen über die Ureinwohner und Fischgötter von Dundrum. Gedruckt von den Schicksalschwestern im Jahre des großen Sturmes.«
Er wandte sich an Stephan und fragte mit dünner, neugieriger Stimme, wobei er die Augenbrauen hochzog:
»Erinnerst du dich nicht, Bruder, ob Mutter Grogans Tee- und Nachttopf in den Mabinogien oder den Upanischaden vorkommt?«
»Das bezweifle ich«, sagte Stephan ernst.
»Wirklich?« fragte Buck Mulligan in demselben Ton. »Und deine Gründe, bitte?«
»Ich glaube«, sagte Stephan, während er aß, »er existierte weder inner- noch außerhalb der Mabinogien. Mutter Grogan war, wie man glaubt, eine Verwandte der Mary Ann.«
Buck Mulligans Gesicht lächelte vor Freude. »Ganz reizend«, sagte er mit gezierter, süßlicher Stimme, wobei er seine weißen Zähne zeigte und lustig mit den Augen blinzelte. »Glaubst du das wirklich? Ganz reizend.«
Plötzlich überzogen dunkle Wolken sein Gesicht, und während er wieder am Brot herumsäbelte, grölte er mit heiserer, rauher Stimme:
Denn die alte Mary Ann,
Die kümmert sich ’nen Furz darum.
Sie hebt die Unterröcke hoch …
Er stopfte sich den Mund schnell voll und kaute mantschend. Den Türeingang verdunkelte eine eintretende Gestalt.
»Die Milch, Herr.«
»Kommen Sie rein, Frau«, sagte Mulligan. »Kinch, krieg mal den Krug.«
Eine alte Frau kam näher und blieb neben Stephan stehen.
»Es ist ein herrlicher Morgen«, sagte sie. »Ehre sei Gott!«
»Wem?« fragte Mulligan und sah sie an. »Ah, versteht sich.«
Stephan reichte hinter sich und nahm den Krug vom Schrank.
»Die Insulaner«, sagte Mulligan so nebenbei zu Haines, »führen bei jeder Gelegenheit den Vorhautsammler im Munde.«
»Wieviel, Herr?« fragte die alte Frau.
»Ein Viertel«, sagte Stephan.
Er beobachtete sie, wie sie fette, weiße Milch, nicht ihre, erst in das Maß und dann in den Krug goß. Alte verschrumpelte Peppen. Wieder goß sie ein Maß voll und gab noch ein wenig hinzu. Alt und geheimnisvoll war sie aus einer morgendlichen Welt hereingekommen, vielleicht eine Botin. Während sie die Milch eingoß, pries sie ihre Güte. Bei Tagesanbruch hockt sie nieder neben der geduldigen Kuh auf der saftigen Wiese, eine Hexe auf ihrem Giftpilz, ihre faltigen Finger ziehen schnell an den spritzenden Zitzen. Tauseidiges Vieh umstand sie, die es kannte, brüllend. Seide der Kühe und arme, alte Frau, Namen, die man ihr in vergangenen Zeiten gab. Ein wanderndes, altes Weib, demütige Gestalt einer Unsterblichen, die ihrem Herrn und lustigen Verführer dient, ihre gemeinsame Bettgenossin, eine Botin des geheimnisvollen Morgens. Um zu dienen oder anzuklagen, das konnte er nicht sagen: aber verschmähte, ihre Gunst zu erbitten.
»Ganz gewiß, Frau«, sagte Buck Mulligan und goß Milch in ihre Tassen.
»Probieren Sie sie mal, Herr«, sagte sie. Da sie darum bat, trank er.
»Hätten wir nur immer so gute Nahrung«, sagte er ziemlich laut zu ihr, »dann hätten wir im Lande nicht so viel faule Zähne und Därme. Leben in einem Morast, fressen billiges Zeug, die Straßen sind mit Staub gepflastert, mit Pferdemist und dem Auswurf Schwindsüchtiger.«
»Sind Sie Mediziner, Herr?« fragte die alte Frau.
»Ganz recht, Frau«, antwortete Buck Mulligan.
Stephan hörte in verächtlichem Schweigen zu. Sie neigt ihren alten Kopf vor einer Stimme, die laut zu ihr spricht, ihr Knochenleimer, ihr Medizinmann: mich schneidet sie. Vor der Stimme, die ihr die Beichte abnimmt und für das Grab alles an ihr salbt bis auf ihre unreinen Weiberlenden; sie wurde geschaffen aus dem Fleische des Mannes und nicht nach dem Ebenbild Gottes, sie, der Schlange Beute. Und mit verwunderten, flackrigen Augen vor der lauten Stimme, die ihr jetzt Schweigen gebietet.
»Verstehen Sie, was er sagt?« fragte Stephan sie.
»Sprechen Sie Französisch, Herr?« fragte die alte Frau Haines.
Wieder sprach Haines längere Zeit ganz zutraulich zu ihr.
»Irisch«, sagte Buck Mulligan. »Können Sie Gälisch?«
»Nach dem Klange«, sagte sie, »glaubte ich, es wäre Irisch. Sind Sie aus dem Westen, Herr?«
»Ich bin Engländer«, antwortete Haines.
»Er ist Engländer«, sagte Buck Mulligan, »und der Ansicht, wir sollten in Irland Irisch sprechen.«
»Sollten wir auch«, meinte die alte Frau, »und ich schäme mich, daß ich selbst die Sprache nicht spreche. Leute, die sie kennen, haben mir gesagt, es wäre eine herrliche Sprache.«
»Herrlich ist nicht der richtige Ausdruck«, sagte Buck Mulligan. »Einfach wundervoll. Kinch, gieß mal Tee ein. Wollen Sie eine Tasse, Frau?«
»Nein, danke, Herr«, sagte die Alte, steckte den Unterarm durch den Henkel der Milchkanne und wollte hinausgehen.
Haines sagte zu ihr:
»Haben Sie die Rechnung da? Wär wohl besser, Mulligan, wir bezahlten, was?«
Stephan füllte wieder die drei Tassen.
»Rechnung, Herr?« sagte sie und blieb stehen. »Nun, sieben Morgen eine Pinte zu zwei Pence macht sieben zwei ist ein Shilling und zwei Pence und dazu die letzten drei Morgen ein Viertel zu vier Pence macht drei Viertel ist ein Shilling und ein und zwei macht zwei und zwei, Herr.«
Buck Mulligan seufzte; er hatte grade eine auf beiden Seiten dick mit Butter bestrichene Kruste in den Mund gestopft. Jetzt streckte er die Beine aus und begann in den Hosentaschen zu suchen.
»Zahl bar und mach ein freundlich Gesicht«, sagte Haines lächelnd zu ihm.
Stephan füllte zum drittenmal die Tassen, ein Löffelvoll Tee färbte die dicke, fette Milch nur schwach. Buck Mulligan brachte ein Zweishillingstück zum Vorschein, drehte es in den Fingern und rief:
»Ein Wunder!«
Er rollte es über den Tisch der alten Frau zu und sagte:
»Mehr, mein Lieb, von mir nicht verlange. Ich geb Ihnen wirklich so viel ich nur kann.«
Stephan legte die Münze in ihre ungierige Hand. »Zwei Pence bleiben wir schuldig«, sagte er.
»Eilt nicht, Herr«, sagte sie und nahm das Geldstück. »Eilt gar nicht. Guten Morgen, Herr.«
Sie machte einen Knix und ging hinaus, während Buck Mulligan zärtlich hinter ihr hersang:
Herz meines Herzens, wäre es mehr,
Mehr legte ich gern dir zu Füßen.
Er wandte sich an Stephan und sagte:
»Ernst gesprochen, Dädalus, ich bin abgebrannt. Nun mal schnell in die Penne und Geld geholt. Heute müssen die Barden saufen und sich einen machen. Irland erwartet, daß heute jeder seine Pflicht tut.«
Haines stand auf und sagte:
»Da fällt mir ein, daß ich heute noch in eure Nationalbibliothek muß.«
»Erst mal baden«, sagte Mulligan. Er wandte sich dann an Stephan und fragte ironisch:
»Ist heute der Tag deiner Monatswäsche, Kinch?« Dann sagte er zu Haines:
»Der schmierige Barde macht es sich zur Pflicht, sich einmal im Monat zu waschen.«
»Der Golfstrom wäscht ganz Irland«, sagte Stephan, während er Honig auf eine Brotschnitte tropfen ließ.
Haines sagte aus der Ecke, in der er leicht einen Schlips durch den weichen Kragen seines Tennishemdes zog:
»Wenn Sie erlauben, sammle ich Ihre Aussprüche.« Spricht zu mir. Sie waschen und baden und scheuern sich. Stachel des Gewissens. Gewissen. Hier bleibt ein Flecken.
»Der von dem geborstenen Spiegel eines Dienstmädchens, der ein Symbol der irischen Kunst ist, ist verdammt gut.«
Buck Mulligan trat Stephan unter dem Tisch auf den Fuß und sagte mit warmer Stimme:
»Warte, Haines, bis du hörst, was er über Hamlet sagt.«
»Gut, das will ich«, wandte sich Haines wieder an Stephan. »Ich dachte gerade daran, als die arme Alte reinkam.«
»Kann ich Geld damit verdienen?« fragte Stephan.
Haines lachte und sagte, während er seinen weichen grauen Hut vom Haken der Hängematte nahm:
»Das weiß ich wirklich nicht.«
Er schlenderte bis an den Türeingang. Buck Mulligan beugte sich zu Stephan hinüber und sagte mit rauher Nachdrücklichkeit:
»Das war verdammt dumm von dir. Weshalb sagtest du das?«
»Ja, und?« sagte Stephan. »Es handelt sich doch darum, Geld zu bekommen. Von wem? Von der Milchfrau oder von ihm. Ich denke, eins ist so gut wie das andere.«
»Ich singe ihm dein Lob«, sagte Buck Mulligan, »und dann kommst du auf einmal mit deinem lausigen Seitenblick und deiner düsteren Jesuitenfratze.«
»Und doch«, sagte Stephan, »erhoffe ich wenig von ihm oder ihr.«
Buck Mulligan seufzte tragisch und legte seine Hand auf Stephans Arm.
»Von mir, Kinch«, sagte er.
In plötzlich verändertem Tone fügte er hinzu:
»Um dir die reinste Wahrheit zu sagen, ich glaube, du hast recht. Verflucht, dazu sind die grade noch gut genug. Warum treibst du mit ihnen nicht dein Spiel, wie ich es tue? Der Teufel soll sie alle holen. Komm raus aus dem Puff.«
Er stand auf, entgürtelte seinen Schlafrock, zog ihn aus und sagte resigniert:
»Mulligan ist ausgepellt.«
Er leerte seine Taschen auf den Tisch. »Hier ist deine Rotzfahne«, sagte er.
Und während er nun den steifen Kragen und den rebellischen Schlips umtat, sprach er mit ihnen, schalt sie, und mit der baumelnden Uhrkette. Die Hände tauchten in den Koffer, durchwühlten ihn, während er nach einem reinen Taschentuch schrie. Stachel des Gewissens. Gott, man muß nur markieren. Ich brauche flohbraune Handschuhe und grüne Schuhe. Widerspruch. Widerspreche ich mir? Gut, ich widerspreche mir. Mercurialischer Malachi. Ein schlaffes, schwarzes Wurfgeschoß flog aus seinen sprechenden Händen.
»Und hier ist dein Quartier-Latin-Hut«, sagte er.
Stephan hob ihn auf und setzte ihn auf. Vom Türeingang her rief Haines ihnen zu:
»Kommt ihr bald?«
»Ich bin so weit«, antwortete Buck Mulligan und ging auf die Tür zu. »Nun komm, Kinch. Vermutlich hast du alles, was wir übrig ließen, aufgegessen. »Resigniert ging er hinaus, ernst in Haltung und Worten, sagte:
»Und als er weiterging, traf er Bütterlich.«
Stephan nahm seinen Eschenstock aus der Ruheecke, ging hinter ihnen her und zog, während sie die Leiter hinuntergingen, die langsame Eisentür zu, verschloß sie. Den großen Schlüssel steckte er in die innere Tasche.
Unten an der Leiter fragte Buck Mulligan:
»Hast du den Schlüssel?«
»Ja«, sagte Stephan und ging vor ihnen her.
Er ging weiter. Hinter sich hörte er Buck Mulligan mit seinem schweren Badetuch die Spitzen der jungen Farne oder Gräser abschlagen.
»Nieder, Herr. Wie können Sie es wagen, Herr?«
Haines fragte:
»Bezahlt ihr Miete für diesen Turm?«
»Zwölf Gelbe«, sagte Mulligan.
»An das Staatliche Sekretariat des Kriegsministeriums«, fügte Stephan über die Schulter hinzu.
Sie blieben stehen, während Haines den Turm betrachtete und dann sagte:
»Im Winter vermutlich ziemlich kalt. Und ihr nennt ihn Martello?«
»Billy Pitt ließ sie bauen«, sagte Buck Mulligan, »als die Franzosen auf dem Meere waren. Aber unserer ist der omphalos.«
»Was denken Sie denn über Hamlet?« fragte Haines Stephan.
»Nein, nein«, rief Buck Mulligan gequält. »Ich bin Thomas von Aquino und den fünfundfünfzig Gründen, mit denen er seine Ausführun-gen stützt, nicht gewachsen. Warte, bis ich erst ein paar Schoppen intus habe.«
Er wandte sich an Stephan und sagte, während er die Spitzen seiner gelbgrünen Weste sorgsam herunterzog:
»Erst nach drei Schoppen bist du so weit, was, Kinch?«
»Es hat so lange gedauert«, sagte Stephan gleichgültig, »so kann es auch noch länger dauern.«
»Sie reizen meine Neugierde«, sagte Haines liebenswürdig. »Ist es irgendein Paradox?«
»Quatsch!« sagte Buck Mulligan. »Wilde und Paradoxe liegen hinter uns. Es ist ganz einfach. Er beweist mit Hilfe der Algebra, daß Hamlets Enkel Shakespeares Großvater und er selbst der Geist seines eigenen Vaters ist.«
»Was?« sagte Haines und stierte Stephan an. »Er selbst?«
Buck Mulligan schlang sein Badetuch um den Hals wie eine Stola, krümmte sich vor losem Lachen und sagte dann leise zu Stephan:
»O, Schatten von Kinch dem Älteren! Japhet auf der Suche nach einem Vater!«
»Morgens sind wir immer milde«, sagte Stephan zu Haines. »Und was ich zu sagen habe, ist ziemlich lang.«
Buck Mulligan, der wieder an der Spitze ging, hob die Hände.
»Nur der Heilige Schoppen kann Dädalus’ Zunge lösen«, sagte er.
»Ich möchte wohl sagen«, erklärte Haines Stephan, während sie folgten, »daß dieser Turm und diese Klippen mich irgendwie an Elsinor erinnern. That beetles o’er his base into the sea. Hab ich nicht recht?«
Buck Mulligan wandte sich plötzlich für einen Augenblick nach Stephan um, sagte aber kein Wort. In dem hellen, stillen Augenblick sah Stephan sein eigenes Bild in billiger, staubiger Trauerkleidung zwischen ihren lustigen Anzügen.
»Es ist eine wundervolle Geschichte«, sagte Haines, der sie wieder zum Halten brachte.
Augen blaß wie das winderfrischte Meer, blasser, fest und klug. Beherrscher der Meere, blickte er nach Süden über die leere Bai, über die nur die Rauchfahne des Postdampfers zog; verschwommen an der hellen Himmelslinie, und ein Segelschiff lavierte in der Nähe der Muglins.
»Irgendwo habe ich eine theologische Interpretation gelesen«, sagte er nachdenklich. »Die Vater-und-Sohn-Idee. Der Sohn, der eins werden will mit dem Vater.«
Plötzlich setzte Buck Mulligan ein heiteres, breit lächelndes Gesicht auf. Er sah sie an, glücklich öffnete er den wohlgeformten Mund, seine Augen, aus denen plötzlich alle kalte Intelligenz verschwunden war, blitzten in närrischer Freude. Wie eine Puppe wackelte er mit dem Kopf, die Krempe seines Panamas flatterte, und mit ruhiger, närrisch-glücklicher Stimme fing er an zu singen:
Ein seltsamster Bursche muß ich schon sein,
Ein Vogel war der Vater mein,
’ne Jüdin fein mein Mütterlein.
Und Joseph, der Tischler, war nie mein Papa,
Es leben die Jünger und Golgatha.
Warnend hob er den Zeigefinger.
Wer zweifelt an meinem göttlichen Sein,
Der soll nicht frei saufen, wenn ich zaubre den Wein.
Nur Wasser bekommt er,
Sein Trank soll es sein,
Wenn in Wasser ich wieder
Verwandle den Wein.
Schnell zerrte er zum Abschied an Stephans Eschenstock, und als er jetzt bis an den Rand der Klippe lief, flatterte er mit den seitlich gehaltenen Händen, als wären es Flossen oder Schwingen jemandes, der sich in die Luft erheben will; und dabei sang er:
Und nun lebet wohl!
Was ich sagt’, schreibt fein nieder,
Verkündet auch allen,
Daß zum Himmel ich wieder
Jetzt fliege durch Kraft, die ich finde
In mir. Des Ölbergs Winde
Sind kalt. Lebet wohl!
Er sprang vor ihnen her an den vierzig Fuß tiefen Abgrund, flatterte immer noch mit den flügelgleichen Händen, sprang frisch und munter; der Merkurhut flatterte im frischen Winde, der seine kurzen Vogelschreie hintrug zu ihnen.
Haines, der verlegen gelacht hatte, ging neben Stephan her und sagte:
»Wir sollten eigentlich nicht lachen. Er lästert Gott. Ich selbst glaube ja nicht, das muß ich schon sagen. Seine Lustigkeit nimmt dem Ganzen ja irgendwie seine Schärfe. Wie nannte er es doch noch? Joseph der Tischler?«
»Die Ballade vom Lustigen Jesus«, antwortete Stephan.
»O«, sagte Haines, »Sie haben das Lied wohl schon vorher gehört?«
»Dreimal jeden Tag, nach jeder Mahlzeit«, sagte Stephan trocken.
»Sie glauben auch wohl nicht?« fragte Haines. »Ich meine, Sie sind auch kein Gläubiger im engen Sinne des Wortes. Schöpfung aus dem Nichts, Wunder und persönlicher Gott.«
»Mir scheint, das Wort hat nur einen Sinn«, sagte Stephan.
Haines blieb stehen, holte eine glatte Silberdose hervor, in der ein grüner Stein funkelte. Mit dem Daumen drückte er darauf, die Dose schnappte auf, er hielt sie ihm hin.
»Danke«, sagte Stephan und nahm eine Zigarette.
Haines nahm auch eine und klappte die Dose wieder zu. Er steckte sie wieder in die Seitentasche, nahm dann aus der Westentasche ein Feuerzeug aus Nickel, ließ es auch aufschnappen; als er seine Zigarette angezündet hatte, hielt er die hohle Hand über den brennenden Zündschwamm und reichte es Stephan.
»Ja, natürlich«, sagte er, als sie weitergingen. »Entweder man glaubt oder man glaubt nicht, nicht wahr? Ich persönlich kann die Idee vom persönlichen Gott nicht verdauen. Ich glaube, Sie halten das auch nicht aufrecht.«
»Sie sehen in mir«, sagte Stephan mit grimmigem Ärger, »das grausige Exemplar eines Freidenkers.«
Er ging weiter, wartete darauf, angeredet zu werden, ließ seinen Eschenstock neben sich über den Boden schleifen. Quietschend schleppte leicht die Zwinge hinter ihm her über den Pfad. Mein treuer Diener hinter mir, ruft Steeeeeeeeeeeephan. Eine wackelnde Linie über den Pfad. Heute nacht, wenn sie im Dunkeln hierher kommen, werden sie darauf treten. Er will diesen Schlüssel. Er gehört mir, ich bezahlte die Miete. Jetzt esse ich sein salziges Brot. Ihm auch den Schlüssel geben. Alles. Er wird ihn haben wollen. Das lag in seinen Augen.
»Schließlich«, begann Haines …
Stephan wandte sich um und sah, daß der kalte Blick, der ihn gemessen hatte, durchaus nicht unfreundlich war. »Schließlich, meine ich, können Sie sich frei machen. Sie sind Ihr eigener Herr, wie mir scheint.«
»Ich bin der Diener zweier Herren«, sagte Stephan, »eines Engländers und einer Italienerin.«
»Italienerin?« sagte Haines.
Eine verrückte Königin, alt und eifersüchtig. Knie nieder vor mir.
»Und ein dritter«, sagte Stephan, »ist auch noch da, der gebraucht mich für Nebenarbeiten.«
»Italienerin?« sagte Haines wieder. »Was meinen Sie?«
»Den Kaiserlich Britischen Staat«, antwortete Stephan, dessen Gesicht Röte überzog, »und die Heilige Römisch-Katholische und Apostolische Kirche.«
Bevor Haines antwortete, entfernte er von seiner Unterlippe einige Tabakfäden.
»Das kann ich ganz gut verstehen«, sagte er ruhig. »Ich kann wohl sagen, daß ein Ire gar nicht anders denken kann. Wir fühlen in England wohl, daß wir euch ziemlich unfair behandelt haben. Mir scheint, daß hierfür die Geschichte verantwortlich ist.«
Die stolzen, mächtigen Anrufungen ließen über Stephans Erinnerung den Triumph ihrer ehernen Glocken erklingen: et unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam: das langsame Wachsen und der Wandel des Ritus und Dogmas wie seine eigenen seltenen Gedanken, Sternalchemie. Symbol der Apostel in der Messe für Papst Marcellus, die ineinander klingenden Stimmen, allein laut ihren Glauben singend: und hinter ihrem Gesang entwaffnete und bedrohte der wachsame Engel der ecclesia militans ihre Häresiarchen. Eine Horde von Ketzereien, die mit schief sitzenden Mitren entflieht: Photius und die Brut der Spötter, zu denen auch Mulligan gehörte, und Arius, der zeit seines Lebens gegen die Consubstantialität des Sohnes mit dem Vater Krieg führte, und Valentin, der den irdischen Leib Christi verwarf, und der feinsinnige afrikanische Häresiarch Sabellius, der behauptete, der Vater Selbst sei Sein eigener Sohn. Worte, die Mulligan vor einem Augenblick spöttisch zu dem Fremden gesagt hatte. Eitler Spott. Leere erwartet sicher alle die, die den Wind weben: Drohen, Entwaffnen und Besiegen durch die zum Kampfe aufgestellten Engel der Kirche, Michaels Heerscharen, die sie in den Stunden der Not mit ihren Lanzen und Schilden immer verteidigen.
Bravo! Bravo! Langer Applaus. Zut! Nom de Dieu!
»Natürlich bin ich Engländer«, sagte Haines’ Stimme, »und als solcher empfinde ich auch. Auch ich wünsche nicht, daß mein Vaterland deutschen Juden in die Hände fällt. Ich fürchte, daß das gerade augenblicklich unser nationales Problem ist.«
Zwei Männer standen am Rande der Klippe, beobachteten: Kaufmann, Bootsmann.
»Fahrt nach Bullock Harbour.«
Mit halb verächtlicher Kopfbewegung zeigte der Bootsmann nach dem Norden der Bai.
»Da draußen ist fünf Faden Tiefe«, sagte er.
»Wird schon hierher kommen, wenn so gegen eins die Flut da ist. Ist heute neun Tage her.«
Der Mann, der ertrank. Ein Segelschiff, das in der weißen Bai laviert und darauf wartet, daß ein aufgedunsenes Bündel auftaucht, sich umdreht, der Sonne ein gedunsenes, salzweißes Gesicht zeigt. Hier bin ich.
Sie gingen über den gewundenen Pfad hinunter an die kleine Bucht. In Hemdsärmeln stand Buck Mulligan auf einem Stein, über seiner Schulter flatterte sein ungebundener Schlips. Ein junger Mann, der sich an einem Felsvorsprung in seiner Nähe festhielt, bewegte langsam, froschhaft seine grünen Beine in der tiefen Gallerte des Wassers.
»Ist dein Bruder wieder da, Malachi?«
»Ist in Westmeath. Bei den Bannons.«
»Immer noch? Ich bekam von Bannon eine Karte. Erzählt, daß er da unten ein reizendes Mädel kennen lernte. Er nennt sie Photomädel.«
»Momentaufnahme, was? Kurze Belichtung.«
Buck Mulligan setzte sich, die Schuhe aufzuschnüren. Ein ältlicher Mann zeigte plötzlich in der Nähe des Felsvorsprungs ein aufgedunsenes, rotes Gesicht. Er kletterte neben den Steinen hoch; Wasser glitzerte auf der Glatze und dem Kranz grauen Haares, Wasser rieselte ihm über Brust und Wanst, schwappte aus dem schwarzen, sackenden Lendentuch.
Buck Mulligan rückte zur Seite, daß er vorbei krabbeln könnte, sah hin zu Stephan und Haines, schlug fromm mit dem Daumennagel über Stirn und Brustbein das Kreuz.
»Seymour ist wieder in der Stadt«, sagte der junge Mann und faßte dabei wieder nach seinem Felsvorsprung. »Hat die Medizin an den Nagel gehängt, will jetzt ins Heer.«
»Ah, der Teufel soll ihn holen«, sagte Buck Mulligan. »Will nächste Woche anfangen zu oxen. Kennst du das rote Carlisle-Mädchen, Lily?«
»Ja.«
»Die neulich abends an der Mole mit ihm rumschäkerte. Der Vater stinkt vor Geld.«
»Ist sie soweit?«
»Mußt du Seymour fragen.«
»Seymour und Scheißoffizier!« sagte Buck Mulligan.
Er nickte vor sich hin, während er die Hose auszog; stand dann auf und sagte so nebenbei:
»Rothaarige Weiber sind verflucht geil.«
Ganz erschreckt hörte er auf, betastete seine Seite unter dem flappenden Hemd.
»Meine zwölfte Rippe ist weg«, rief er. »Ich bin der Übermensch. Der zahnlose Kinch und ich, die Übermenschen.«
Er arbeitete sich aus dem Hemd heraus und warf es hinter sich, dahin, wo seine Kleider lagen.
»Willst du hier rein, Malachi?«
»Ja. Rück an die Wand.«
Der junge Mann schob sich rückwärts durch das Wasser und erreichte in zwei langen, sauberen Stößen die Mitte der kleinen Bucht. Haines setzte sich auf einen Stein und rauchte.
»Kommst du nicht rein?« fragte Buck Mulligan.
»Später«, sagte Haines. »Nicht gleich nach dem Frühstück.«
Stephan wandte sich um.
»Ich gehe, Mulligan«, sagte er.
»Gib uns den Schlüssel, Kinch«, sagte Buck Mulligan, »soll mein Chemise festhalten.«
Stephan reichte ihm den Schlüssel. Buck Mulligan legte ihn quer über den Haufen seiner Kleider.
»Und zwei Pence für einen Schoppen«, sagte er. »Wirf sie dahin.«
Auf den weichen Haufen warf Stephan zwei Pennies. Anziehen, Ausziehen. Aufrecht, mit gefalteten Händen stand Mulligan vor ihm und sagte feierlich:
»Wer die Armen bestiehlt, leiht dem Herrn. Also sprach Zarathustra.«
Sein plumper Körper tauchte ins Wasser.
»Wir treffen Sie nachher«, sagte Haines, der sich umwandte und über den tollen Irenwitz lächelte, als Stephan den Pfad hinaufging.
Stierhorn, Pferdehuf, Sachsenlächeln.
»Im Ship«, rief Mulligan. »Halb eins.«
»Gut«, sagte Stephan.
Er ging über den sich aufwärts windenden Pfad.
Liliata rutilantium.
Turma circumdet.
Jubilantium te virginum.
Des Priesters grauer Heiligenschein in einer Nische, wo er sich diskret anzog. Ich will diese Nacht nicht hier schlafen. Nach Hause kann ich auch nicht gehen.
Eine Stimme, süßgetönt und weittragend, klang hinüber zu ihm vom Meere. Als er an die Wegbiegung kam, winkte er mit der Hand. Wieder rief sie. Ein glatter, brauner Kopf, eines Seehunds, weit draußen auf dem Wasser, rund.
Usurpator.
Welche Stadt wollte seine Hilfe, Cochrane?«
»Tarent, Herr.«
»Sehr gut, und weiter?«
»Eine Schlacht war entbrannt, Herr.«
»Sehr gut, und wo?«
Des Knaben leeres Gesicht sah hinüber nach dem leeren Fenster.
Zusammengefabelt von den Töchtern der Erinnerung. Und doch war sie irgendwie, wenn nicht so, wie Erinnerung sie zusammenfabelte. Ein Satz der Ungeduld dann, Rauschen von Blakes Exzeßschwingen. Ich höre den Zusammenbruch allen Raumes, zerschmettertes Glas und zusammenstürzendes Mauerwerk, und Zeit ist nur eine fahle, erlöschende Flamme. Was bleibt uns dann?
»Ich habe den Ort vergessen, Herr. 279 v. Chr.«
»Ausculum«, sagte Stephan und guckte nach dem Namen der Jahreszahl in dem blutigrot genarbten Buch.
»Ja, Herr. Und er sagte: Noch ein solcher Sieg, und wir sind verloren.«
Diesen Satz hatte die Welt nie vergessen. Dumme Bequemlichkeit des Geistes. Von einem Hügel über einer leichenbesäten Ebene spricht ein General zu seinen Offizieren und stützt sich dabei auf seinen Speer. Irgendein General zu irgendwelchen Offizieren. Sie leihen Ohr.
»Du, Armstrong«, sagte Stephan. »Welches war das Ende des Pyrrhus?«
»Ende des Pyrrhus, Herr?«
»Ich weiß es, Herr. Fragen Sie mich«, sagte Comyn.
»Warte. Du, Armstrong. Weißt du irgendwas über Pyrrhus?«
Ein Säckchen mit Feigenkuchen lag in Armstrongs Tornister versteckt. Er drehte sie dann und wann in den Händen und kaute sie ganz leise. Kleine Teilchen blieben an seinen Lippen haften. Süßer Knabenatem. Wohlhabende Leute, stolz, daß ihr ältester Sohn bei der Marine war. Vico Road, Dalkey.
»Pyrrhus, Herr? Pyrrhus, ein Pier.«
Alle lachten. Freudloses lautes spöttisches Gelächter. Armstrong sah seine Klassengenossen an, dumme Freude im Gesicht. Gleich werden sie lauter lachen, wenn sie merken, daß ich keine Disziplin halten kann, weil ihre Papas ja bezahlen.
»Und jetzt sag mir mal«, sagte Stephan, indem er mit dem Buch leicht auf des Knaben Schulter schlug, »was ein Pier ist.«
»Ein Pier, Herr«, sagte Armstrong. »So ’n Ding draußen im Wasser. Eine Art Brücke. Kingstown Pier, Herr.«
Wieder lachten einige: freudlos, aber mit deutlich erkennbarer Absicht. Zwei in der hinteren Bank flüsterten. Ja. Sie wußten: hatten niemals gelernt, weil sie niemals unschuldig waren. Alle. Mit Neid beobachtete er ihre Gesichter. Edith, Ethel, Gerty, Lily. Ihresgleichen: auch ihr Atem duftete süß nach Tee und Marmelade, ihre Armbänder klirrten leise, wenn sie sich balgten.
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