Um jeden Preis - Maximilian Ferreira Cress - E-Book

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Maximilian Ferreira Cress

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Beschreibung

Hochaktuell und hochspannend: Ein Politthriller, der unserer Gesellschaft den Spiegel vorhält Es ist ein erschreckender Verdacht, mit dem sich ein Kollege an die junge Journalistin Michelle wendet: Seine Recherchen zu einem Todesfall deuten darauf hin, dass es in der Hamburger Polizei ein rechtsextremes Netzwerk gibt. Er bittet Michelle um Mithilfe, doch sie ist skeptisch und hat zudem anderes im Kopf: Sie ist frisch verlobt und soll ein Buch über die einflussreichsten Frauen Deutschlands schreiben – ein Traumprojekt. Dann wird Hamza niedergeschossen, und Michelle ist erschüttert. Was, wenn er recht hatte? Sie beginnt zu recherchieren und stößt schon bald auf Hinweise, die alles hinterfragen, worauf sie ihr makelloses Leben aufgebaut hat ...

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Seitenzahl: 390

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Maximilian Ferreira Cress / Bernd Blaschke

Um jeden Preis

Politthriller

Dieser Roman ist Fiktion. Die Handlung und die Figuren sind erfunden, auch wenn einige Aspekte von der Wirklichkeit inspiriert wurden.

 

Copyright © 2024 Maximilian Ferreira Cress & Bernd Blaschke

Originalausgabe

© Atrium Verlag AG, Zürich, 2024

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Finken & Bumiller, mit Dirk Wagner

Covermotiv: Manuel Liniger/unsplash

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03792-242-2

 

www.atrium-verlag.com

www.facebook.com/atriumverlag

www.instagram.com/atriumverlag

Prolog

Dodong versucht, sich tief in sich selbst zu verkriechen, um der Panik zu entfliehen. Er zählt seine Herzschläge. Jedes Mal, wenn eine Welle aufs Schiff prallt, klingt es, als falle ein Güterzug vom Himmel. Bei fünfzehn kommt der nächste Knall. Jeder Muskel in Dodongs Körper krampft.

Er versucht sich zu sammeln; wieder bei eins anfangen, sich aufs Zählen konzentrieren.

Er hat sich mit einem Karabiner an einer Spannschraube eingehakt, damit er nicht von Bord gefegt wird. Es war die letzte Schraube, die er überprüfen konnte. Die war bombenfest. Der Container wird ihn also nicht zerquetschen. Auch wenn er jedes Mal, wenn eine Welle auf das Deck schlägt, Angst davor hat.

Er weiß, dass es nur eine Sache gibt, die ihn richtig in Schwierigkeiten bringen könnte: wenn der Kapitän den Kurs ändern muss. Er steht dem Heck zugewandt an eine Containerwand gelehnt und blickt Richtung Brücke. Der Kapitän hält direkt auf die Wellen zu. Gerade steht Dodong im Schutz der Container. Wenn sich das ändert, wird es richtig unangenehm.

In den letzten Tagen war sein Heimweh sehr groß gewesen. Vor neun Monaten war er das letzte Mal zu Hause in Manila bei seiner Frau und den beiden Kindern. Beim Überprüfen der Spannschrauben hatte er sich angewöhnt, Freddie Aguilars Greatest Hits zu hören. Leider hat der MP3-Player jetzt keinen Strom mehr. Musik würde helfen.

Wenn er bis fünfundvierzig zählen kann zwischen den Einschlägen, will Dodong hier weg. Das sollte reichen. Aushaken, losrennen. Bei fünfundvierzig kann er es schaffen. Wieder ein Einschlag. Einundzwanzig. Nicht so krampfen. Es kann nichts passieren. Die Container stehen stabil. Er hat seinen Job gut gemacht. Einfach die Augen schließen und abwarten.

 

Wie lange war er weg? Er kann es beim besten Willen nicht sagen. Es ist immer noch dunkel. Der Mond scheint. Dem Einschlag nach hat sich der Kurs nicht geändert. Zählen! Das hatte er vergessen. Also auf den nächsten Einschlag warten. Sich konzentrieren. Es ist einfach. Aushaken, losrennen. Den schweren Hebel der Außentür nach oben stemmen. Tür öffnen. Rein. Tür schließen.

Der nächste Einschlag lässt auf sich warten. Ist die Frequenz niedriger geworden? War der letzte Einschlag leiser? Oder hat er sich jetzt daran gewöhnt? Egal. Zählen. Sechzig. Das geht. Der Bug des Schiffes hebt sich wieder. Jetzt. Dodong hakt den Karabiner aus und rennt los.

Ganz so stabil, wie er sich das vorgestellt hat, ist er nicht auf den Beinen. Die Stunden am Container fordern ihren Tribut. Er muss jetzt die Zähne zusammenbeißen und schneller werden. Sonst hat er keine Chance.

Am zweiten Containerturm rutscht er aus und schlägt hart gegen eine gelbe Wand. Das Aufstehen ist noch schwieriger als das Laufen. Er will weiter, doch sein Körper verweigert ihm den Dienst. Zu lange war er in derselben Position gefangen, um jetzt sofort wieder funktionieren zu können. Er streckt sich, konzentriert sich. Mit aller Kraft setzt er einen Fuß vor den anderen. Da senkt sich der Bug hinter ihm, und Dodong wird klar, dass er laufen muss. Um sein Leben laufen.

Nach ein paar Metern spürt er, wie der Frachter ins Wellental stürzt. Das Adrenalin treibt ihn das steil stehende Oberdeck hinauf. Es ist nicht mehr weit.

Der Riegel der Tür bewegt sich. Man hat auf ihn gewartet, ihn gesehen. Die Tür öffnet sich einen Spalt. Zwei Hände winken ihm zu, er soll sich beeilen. Er rennt, auch wenn er den Schlag hört.

Eine Kreuzwelle hat das Schiff getroffen, raubt ihm das Gleichgewicht und fegt ihn quer über das Deck. Irgendwo festhalten, schießt es ihm noch durch den Kopf, dann ist da nur noch Wasser.

Teil 1Das Erbe

Der Vorhang fällt, und das Licht erlischt. Michelle hat das Gefühl, die Erregung des Publikums regelrecht greifen zu können. Ein kollektiver Atemzug läuft durchs Publikum, dann setzt ein frenetischer Jubel ein. Ein Spot geht an und wirft ein scharfes Licht auf den Dirigenten, der sich verbeugt.

Von ihrem Logenplatz im vierten Rang kann Michelle beobachten, wie die Menschen nacheinander aufstehen und lautstark applaudieren. Sie wäre jetzt gerne da unten im Parkett, um die Begeisterung direkt zu fühlen, doch auch der Blick von hier oben ist überragend. Das Saallicht geht an und beleuchtet nun das sich verbeugende Orchester und das Publikum.

Michelle mustert Fips, wie er steif und vornehm neben ihr steht und sachte applaudiert. Sie muss grinsen, denn sie weiß, dass er sich noch so bemühen kann und doch zu größerer emotionaler Regung nicht fähig ist.

»Fantastisch, oder? Danke, Fips. Eine wundervolle Premiere.«

»Es war großartig.«

»Ja, wirklich! Komm mit.«

Michelle nimmt Fips an der Hand und zieht ihn aus der Loge, deren restliche Plätze nicht besetzt waren. Sie rennt den Gang entlang, während Fips sich umsieht, als ob er nicht erwischt werden will. Als wäre die Oper eine Schule und das Rennen verboten.

Michelle strahlt übers ganze Gesicht. Sie weicht den Menschen aus, die aus den Logen kommen, und tänzelt behände wie eine Ballerina auf ihren High Heels die Treppen hinab. Ihre gelockten schulterlangen Haare wogen hin und her, und ihre dunklen Augen funkeln Fips frech an, der Mühe hat, ihr auf den Fersen zu bleiben.

Im Erdgeschoss angekommen wendet sich Michelle in Richtung Bühne. Während sie sich um die ihr entgegenkommenden Menschen herumwindet, stößt Fips immer wieder mit ihnen zusammen, entschuldigt sich förmlich und versucht zu Michelle aufzuschließen.

Michelle drückt eine versteckte Tür auf, und sie schlüpfen hindurch. Hinter der Bühne ist es dunkel und leise. Während der geordnete, festliche Saal darauf ausgelegt ist, den Blick der Menschen auf die Bühne zu lenken, und die Bühne darauf, eine Illusion zu schaffen, bei der alles wie von Geisterhand geschieht, laufen hier hinten die Fäden zusammen. Kulissen, die man mit einer Kurbel wenden kann, große Seilzüge, um Gegenstände von der Decke auf der Bühne zu platzieren – all dies wird hier sichtbar, auch wenn Michelle und Fips im Moment keinen Blick dafür haben und nur darauf achten, nicht über irgendetwas zu stolpern.

 

In der Kantine hat Michelle schon alles vorbereitet. Tische sind zu einer großen Tafel zusammengeschoben worden, und es wird Grauburgunder gereicht. Michelle umarmt Dimitri Solganov, den Dirigenten.

»Das Publikum liebt dich, Dimi.«

»Danke, mein Schatz.«

An Dimis Seite steht Achim, der Dimi stolz und verliebt ansieht. Die vier setzen sich zum Orchester an den Tisch und stoßen an. Es wird gelacht und getrunken.

Gerade als Dimi strahlend aufsteht, um sich bei seinen Musikern zu bedanken, tritt Innensenator Krähe zu ihm. Er schüttelt Dimi die Hand und setzt sich ungefragt zu ihnen, wobei er seine dicken Finger auf den dicken Bauch fallen lässt.

»Wundervoll, nicht wahr? Was dieser Mann aus der Musik herausholen kann, ist sagenhaft.«

Krähe grinst breit, und einer seiner Mitarbeiter macht fleißig Bilder mit einem Smartphone. Michelle taxiert Krähe und fragt sich, warum sich niemand über diese Dreistigkeit beschwert, mit der sich dieser unangenehme Mann in ihren Abend drängt.

»Man muss ja sagen, dass die Künste unterschätzt werden. Aus meiner Sicht sind sie wichtig, ja, gerade existenziell für die Erziehung der Menschen. Also wir als Politiker haben es da ja schwer. Überall fehlt Geld, und dann kommt die Frage, warum wir der Kultur so viel Geld geben. Das muss man schon erklären.«

Michelles Gäste beginnen sich fragende Blicke zuzuwerfen und unruhig auf ihren Plätzen umherzurutschen.

»Manche Dinge sind schwer zu vermitteln, das muss ich zugeben. Also neulich war ich bei dieser Ausstellung einer jungen Frau. Die haben wir mit viel Geld gefördert. Die hat mit … mit ihrem … also mit ihrem Blut gemalt. Ein bisschen geschmacklos, wie ich finde. Da frage ich mich schon, wieso wir so was fördern.«

Michelle entfährt ein spöttisches Lachen.

»Sie sind doch der beste Beweis, warum die Kunst von John Anna wertvoll ist. Sie können ja nicht mal das Wort Menstruationsblut aussprechen.«

»Das ist doch keine Kunst.«

»Sie wollen also entscheiden, was Kunst ist?«

»Man muss ja nicht alles fördern und jedem, der behauptet, er sei Künstler, Raum bieten.«

Michelle zögert einen Moment, doch dann platzt es aus ihr heraus.

»Denn das ist ja entartet, was die Künstlerin John Anna macht.«

Krähe lässt sich nicht dazu herab, auf Michelles Provokation zu antworten. Er lächelt sie nur väterlich an, bevor er sich Dimi zuwendet und ihm erneut zu seinem Erfolg gratuliert.

Michelle schließt die Wohnungstür auf, stolpert leicht beim Eintreten und lässt die Schlüssel in eine kleine Schale neben der Tür fallen.

Sie wohnen erst seit wenigen Wochen hier, und Michelles Herz schlägt immer noch höher, wenn sie nach Hause kommt. Das Fischgrätparkett und die hohen Stuckdecken sind traumhaft schön.

Die Küche hat eine Kochinsel mit Bar, an der Michelle jetzt Platz nimmt, während Fips die Stereoanlage einschaltet. Er holt eine angebrochene Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und schenkt ihnen zwei Gläser ein.

Dieses Ritual haben sie schon ganz am Anfang ihrer Beziehung eingeführt. Jeden Abend, bevor sie zu Bett gehen, sitzen sie hier und besprechen den Tag.

Fips fummelt an seinem Telefon herum, macht 50 Cents P.I. M. P. an und rappt die ersten Zeilen mit. Dabei gleicht seine Haltung eher der eines steifen Jura-Professors als der eines Rappers. Er grinst Michelle schief an.

»Achim war nicht so happy, als du Krähe angegangen bist.«

Achim und Fips sind beste Freunde, seit sie im Internat waren und danach zusammen Jura studiert haben.

»Wieso?«

»Er ist Staatsanwalt. Da ist Krähe ja in gewissem Sinn sein Chef.«

»Krähe ist einfach ein Arschloch, und vor allem ist er in einer Nazi-Partei …«

»… einer wahrscheinlichen Nazi-Partei. Zumindest nicht offiziell bestätigt.«

»Da sind Nazis drin, die Nazi-Sprüche bringen, und niemand schmeißt die raus. Ergo: Nazi-Partei.«

»Okay. Nazi-Partei. Aber eben demokratisch gewählt.«

»Und das macht es besser?«

»Nein, stimmt. Vielleicht habe ich einfach zu viel mit solchen Typen zu tun.«

»Wo hast du es denn mit Nazis zu tun?«

»Nicht mit Nazis, mit Arschlöchern! Ich habe es die ganze Zeit mit Arschlöchern zu tun. In den großen Wirtschaftsunternehmen, die wir vertreten, arbeiten die größten Egos, die du dir vorstellen kannst. Die wollen nicht, dass man eine Meinung hat, sondern dass wir ihre Meinung juristisch fundieren.«

Michelle packt Fips am Schopf und küsst ihn.

»Das würde ich ja nicht für alles Geld der Welt tun.«

Frida muss all ihre Kraft zusammennehmen, um nicht ihrem Reflex zu folgen und zu fliehen. Sie weiß, dass es kein Zurück mehr gibt. Trotzdem fühlt es sich nicht richtig an. Thorsten ist mehr als nur ein Kollege. Thorsten ist ein Freund. Er und die anderen waren für sie da. Ganz anders als ihre Familie und diejenigen, die sich als ihre Freunde bezeichnet haben und die ihr im entscheidenden Moment den Rücken zugewandt haben.

Vom U-Bahn-Ausgang bis zum Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg am Sievekingplatz sind es nur ein paar Meter. Leider. Frida wäre jetzt gerne weit gelaufen. Endlos. Um bloß nicht anzukommen.

Sie steigt die Treppe hoch, und kaum ist sie an der Oberfläche angekommen, ist ihre Kleidung vom Regen durchweicht und eine unangenehme, feuchte Kälte steigt in ihr hoch.

Immerhin sieht man nicht, wie durchweicht sie ist. Ein Vorteil ihrer Alltagskleidung, die sie auch heute, am Tag der Urteilsverkündung, trägt. Schwarze Sneaker, schwarze Jeans, schwarze Bomberjacke, Pferdeschwanz.

Ihre Hoffnung, dass der Regen die Demonstranten abschrecken würde, hat sich nicht erfüllt. Vor dem Gerichtsgebäude steht eine beachtliche Menschenmenge und skandiert Parolen. Rhythmisches Klatschen.

Frida hat Demonstrationen schon immer gehasst. Im besten Falle steht man sich in voller Montur die Beine in den Bauch. Doch das gibt es schon lange nicht mehr. Egal für oder gegen was demonstriert wird, immer findet gleichzeitig eine Gegendemonstration statt. Und Frida und ihre Kollegen stehen dazwischen, sollen separieren. Was am Ende meistens darauf hinausläuft, dass beide Seiten auf sie einprügeln. Wenn es eskaliert, muss man schnell sein, einmal als Einheit hart durchgreifen. Dann ist in der Regel die Demonstration vorbei. Wenn man es laufen lässt, sich zurückhält, wird es richtig schlimm.

So wie vor einem Jahr. Immer wenn Frida an die Demonstration zurückdenken muss, wird ihr schlecht. Sie hat sich das Video immer wieder angesehen. Das Video, in dem sie auf einem Demonstranten sitzt, ihr Knie in seinem Nacken, um ihm Handschellen anzulegen. Dass der Typ vorher mit Steinen auf sie geworfen und sich mit Schlägen und Tritten gegen sie gewehrt hat, als sie näher kam, sieht man in dem Video nicht. Nur wie sie ihn fixiert.

Das Internet vergisst nicht. Vor allem nicht, wenn es um Polizeigewalt geht. Rassismus. George Floyd. Dabei hat sie nur versucht, den zappelnden, fetten Typen irgendwie ruhig zu stellen. Die Hautfarbe ist ihr scheißegal gewesen. Alle ihre Freunde haben es gesehen. Ihre Familie hat es gesehen. Alle haben ihr versichert, dass sie ihr glauben. Doch in Wirklichkeit haben all diese Menschen, denen sie vertraut hat, die ihr wichtig gewesen sind, ihr nicht zugehört. Sie sahen in Frida nur die rohe Gewalt des Staates.

Natürlich wurde der Vorfall damals ganz offiziell untersucht, und es gab noch nicht mal disziplinarische Maßnahmen. Frida hatte gehofft, dass sich ihre Freunde und ihre Familie bei ihr entschuldigen, aber das Gegenteil ist passiert. Für sie war es nur der Beweis, dass die Polizei zusammenhält. Dass einer Polizistin nichts passieren kann. Nur ihre Kolleginnen und Kollegen haben sie verstanden, sie aufgebaut. Vor allem Thorsten. Wenn es um Kollegen geht, hält man zusammen. Eigentlich.

 

Mit gesenktem Kopf kämpft sich Frida durch den Wind und Regen auf den Eingang des Landgerichts zu, der von Kollegen bewacht wird. Niemand auf dem großen Vorplatz nimmt Notiz von ihr. Kurz vor der Tür dreht sie sich den Demonstranten zu. »Gerechtigkeit für Moosa Rachid« steht auf einem Transparent.

Gerechtigkeit für einen Toten? Frida schnaubt verächtlich. Was die Demonstranten treiben, scheint ihr purer Egoismus zu sein. Die reine Suche nach Aufmerksamkeit. Frida ist sich sicher, dass der tote Typ denen scheißegal ist.

Bevor Frida das Oberlandesgericht betritt, blickt sie, wie jedes Mal, zum lateinischen Spruch im Fries des Giebels: »Jus est ars boni et aequi«. Sie hat es schon so oft gelesen, aber sich nie Gedanken darüber gemacht, was es bedeutet. Für sie ergibt es keinen Sinn, warum man in Deutschland 1912 auf die Idee gekommen ist, etwas in einer Sprache an die Fassade zu schreiben, die niemand versteht.

Frida schiebt die schwere Tür des Oberlandesgerichts auf. Hier hat sie so viele Aussagen gemacht, und doch fällt ihr heute zum ersten Mal auf, wie klein man wird, wenn man das Gebäude betritt. Besonders wenn man sich ein bisschen schuldig fühlt. Das große Fenster über der Eingangstür erhellt nicht nur das protzige Foyer mit seinen zwei riesigen Treppenaufgängen links und rechts. Es wirft auch einen langen Schatten von Frida auf den Boden vor ihr.

Ein lauter, dumpfer Knall durchbricht die heilige Ruhe. Frida blickt auf. Eine junge Frau sammelt Aktenordner vom Boden ein, die ihr heruntergefallen sind. Frida ist beruhigt, es ist alles gut. Oder fast, denn jetzt sieht sie Joseph Reiter.

Oben auf dem Treppenabsatz steht er, ganz entspannt mit den Händen in den Hosentaschen seines eleganten dunkelblauen Anzugs. Frida fragt sich, wie er es geschafft hat, komplett trocken in das Gebäude zu gelangen. Dieser immer nett lächelnde Mann macht sie aggressiv. Kein Mensch kann immer freundlich sein. Das ist einfach nicht normal.

Reiter nickt ihr zu und geht in Richtung Verhandlungssaal. Fridas Mund ist trocken, und sie muss schlucken. Dieser Mann hat ihr die letzte Zuflucht genommen. Er hat sie gezwungen, gegen Thorsten auszusagen, und jetzt muss sie mit ihm im gleichen Raum sitzen. Und während sie auf ein mildes Urteil für Thorsten hofft, weiß sie, dass Joseph Reiter sich über ein hartes Urteil freuen würde.

Noch schlimmer war dieser vorlaute Journalist der Hamburger Zeitung. Dieser Hamza. Der hat so laut getrommelt und geschimpft, über angebliche Schluderei und Vertuschung, bis sie tatsächlich den Leiter der Internen Ermittlungen entlassen und dafür Joseph Reiter geholt haben.

Durch die Fenster auf der rechten Seite des Verhandlungssaals fällt fahles Licht, doch es erhellt den Saal kaum. Das Licht des Kronleuchters hoch oben erreicht zumindest den Richter und die erste Reihe, in der auch Thorsten mit seinem Anwalt sitzt. Frida setzt sich in die Dunkelheit der letzten Reihe. Sie würde am liebsten die Beine anziehen und mit den Armen ihre Knie umschließen. Aber sie widersteht dem Impuls und setzt sich stattdessen stocksteif hin.

Frida spürt, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildet, und sie spannt alle Muskeln in ihrem Körper an, um an sich zu halten. Niemand soll sehen, wie es in ihr aussieht. Niemand soll sehen, was das alles mit ihr gemacht hat. Moosa Rachid ist tot. Das hätte nicht passieren dürfen.

Auf einmal wird es unruhig im Saal, und Frida bemerkt, dass der Richter bereits das Urteil verkündet. Thorsten Bär wird einer schweren Dienstverletzung schuldig gesprochen. Er wird also vom Dienst entlassen. Seine Karriere ist vorbei. Fridas Herz zerspringt zwischen der Wut auf Joseph Reiter und der Trauer darüber, dass Thorsten nicht mehr an ihrer Seite sein wird. Auch wenn sie weiß, dass es das Richtige war, gegen Thorsten auszusagen, überkommt sie die Scham. Ihre Kollegen werden sie ausgrenzen.

Sie hat sich gegen das Rudel gestellt.

Der Blick durch die große Glasfront des Konferenzsaals der Reederei Doorben auf das Hafengelände ist gigantisch. Auf die geschmackvolle Renovierung des alten Backsteingebäudes ist Ursula Doorben sehr stolz, was sie gern erzählt. Dass die alten Holzdielen auf die jahrhundertealte Tradition der Reederei Doorben verweisen, während die neuen, großen Glasfronten ihre Weitsicht und einen klaren Blick in die Zukunft repräsentieren. Abgerundet wird alles durch die Einrichtung, die den Besuchern den Erfolg des Unternehmens deutlich macht. Teuer, aber mit der Hamburger Zurückhaltung, die die Familie Doorben und ihre Reederei seit 1840 mit geprägt hat.

Michelle friert und schwitzt zugleich, während sie die Journalisten beobachtet, die sich nach und nach im Raum versammeln, denn auch wenn Ursula Doorben dort vorne am Rednerpult steht, ist es Michelles Arbeit, die sie vorstellen wird.

 

Vor knapp einem Jahr hatte Michelle einen außergewöhnlichen Anruf erhalten. Ursula Doorben hatte sie von ihrem Assistenten anrufen lassen, und das allein hatte Michelle zum Schmunzeln gebracht. In jedem öffentlichen Auftritt betonte die Reederin, dass sie keine Feministin sei. Sie benahm sich auch tatsächlich wie die weibliche Variante des alten weißen Mannes. Konsequenterweise hatte sie ihre Sekretariatsstelle dementsprechend mit einem jungen, gut aussehenden Mann besetzt. Michelle musste sich auf die Zunge beißen bei der Vorstellung, wie die Matriarchin ihrem Sekretär eine Kleidungsvorschrift erteilte.

Der Assistent hatte ihr dann drei Terminvorschläge gemacht, wollte sich jedoch nicht zu dem Grund des Treffens äußern.

Als Michelle an der genannten Adresse ankam, war sie beeindruckt. Es war die Adresse der Privatvilla von Ursula Doorben und keine Geschäftsadresse. Von der Straße aus war die Villa nicht zu sehen. Hinter dem mehrere Meter hohen Zaun aus spitzen Stahllanzen lag ein weitläufiger Park. An dem imposanten Tor gab es eine unscheinbare Klingel. Kein Namensschild.

Auf Michelles Klingeln ging das große Tor langsam auf. Michelle ging vorbei an dem Häuschen des Sicherheitsdienstes, den weiß gekiesten Weg entlang, hoch zur mächtigen weißen Villa. Das Gefühl von Minderwertigkeit stieg in Michelle auf. Dieser Weg war für große Limousinen gemacht und nicht für kleine linke Journalistinnen, die nicht einmal ein Auto besaßen.

Obwohl es abzusehen war, irritierte es Michelle, dass ihr ein Mann in Anzug die Tür öffnete und nicht Ursula Doorben selbst. Mit dem Klassiker »Sie werden schon erwartet« führte sie der Butler durch das große, leere und laut hallende Foyer und einen Gang entlang.

Michelle hatte ein wenig im Internet recherchiert. Das Gebäude war 1870 von der Familie Doorben gebaut worden. So leben also Dynastien. Überraschenderweise gefiel die Einrichtung Michelle. Keine Kronleuchter, sondern ein zurückhaltendes, modernes Design.

Sie gelangten in einen großen, hellen Raum mit schwarzen Thonet-Sesseln und einem Marmortisch. Es war ein Empfangszimmer, ohne persönliche Gegenstände. Ursula Doorben, Ende fünfzig, schlank, in einem dunkelgrauen Hosenanzug und mit perfekt geföhnten, schulterlangen blonden Haaren, kam auf Michelle zu und begrüßte sie mit einem präzisen Händedruck. Sie verzichtete auf den obligatorischen Small Talk und bat Michelle, Platz zu nehmen. Sie bot ihr Kaffee an und schob ihr als Erstes eine Verschwiegenheitserklärung zu.

Michelle ärgerte sich, etwas unterschreiben zu sollen, ohne dass man ihr sagte, worum es ging, und sie äußerte auch ihren Unmut, doch Ursula Doorben reagierte nicht darauf. Sie wartete einfach, bis Michelle unterschrieben hatte, lehnte sich dann zurück und begann ihre Ausführungen sachlich lächelnd.

»Unangenehme Dinge erledigt man als Erstes. Deshalb möchte ich auch gar nicht lange um den heißen Brei herumreden. Ich weiß nicht, wie firm Sie mit den sozialen Netzwerken sind … Meine Tochter jedenfalls nutzt sie recht exzessiv, und es scheint dann doch eine erhebliche Zahl an Menschen zu geben, die ihr dabei zusehen. Ich habe dem nie größere Bedeutung zugemessen, auch wenn wir als Familie eigentlich eher ein zurückgezogenes Leben führen. Nun aber hat Bella, Annabelle, mich dazu gezwungen, ihren Tätigkeiten mehr Aufmerksamkeit zu schenken …«

»Die Nazi-Geschichte.«

Schon während sie das sagte, wurde Michelle klar, dass man Ursula Doorben nicht unterbricht, selbst wenn es das Gespräch deutlich abgekürzt hätte. Sie machte also eine entschuldigende Handbewegung und ließ Ursula Doorben die gesamte Geschichte erzählen. Die Kurzfassung war, dass Annabelle Doorben behauptet hatte, dass ihr Urgroßvater kein Nazi gewesen sei, woraufhin es einen Aufschrei im Netz gab und es zu Diskussionen über die Vergangenheit der Doorbens kam.

Das alles wäre Ursula Doorben völlig egal gewesen, wenn nicht dadurch einige wenige, aber doch sehr wichtige Kunden angefangen hätten, anderen Reedereien ihre Aufträge zu geben. Ursula entging durch Bellas Schnitzer viel Geld, und das ärgerte sie maßlos. Deshalb war sie auf die Idee gekommen, das Thema offensiv anzugehen. Sie wollte eine Chronik der Reederei, die selbstverständlich auch eine Chronik der Familie bedeutete. Eine ehrliche und radikale Aufklärung der Vergangenheit der Reederei Doorben. Und diese sollte Michelle schreiben.

Das war dann doch eine überraschende Wendung für Michelle, so überraschend, dass sie laut lachen musste.

»Warum ich?«

»Weil Sie eine integre Journalistin sind.«

»Das ehrt mich sehr, auch wenn ich nicht weiß, wie Sie zu Ihrem Urteil kommen. Doch um ehrlich zu sein: Ich habe keine Ahnung von Reedereien. Ich habe keine Ahnung von Chroniken, und ich arbeite für Zeitungen, nicht für Unternehmen.«

»Das ist genau der Punkt. Sie machen so was nicht. Sie sind objektiv unabhängig. Nur so hat die Chronik einen Wert.«

Zum Ende ihres Gesprächs verabschiedete sich Michelle mit einem klaren Nein, doch Ursula Doorben reichte ihr nur die Hand und sagte, dass sie mit einer verbindlichen Aussage innerhalb einer Woche rechnete.

Tatsächlich musste Michelle mit jedem Tag, der verging, mehr an die feste Vergütung denken. Sie war eine gute Journalistin, doch es fiel ihr schwer, ihre Themen bei den Zeitungen unterzubringen. Eine linke, unternehmenskritische Journalistin mit Haltung wollten wenige Zeitungen, und sie wollte auch nicht einfach nur für Gleichgesinnte schreiben, sondern Menschen überzeugen. Ein Arbeitsethos, das viel Kraft kostet. Zudem hatte sie sich viel mit ihren engsten Kollegen beraten, und alle waren der Meinung, dass man die Chance nutzen musste, so nah an eine derart verschwiegene Milliardärsfamilie zu kommen. Zu guter Letzt nahm sie den Auftrag an.

 

Michelle musste sich nun mit Schiffsrouten, Schiffsladungen und Zahlungsbedingungen rumschlagen. Natürlich hatten die Doorbens am Zweiten Weltkrieg profitiert. So wie fast alle großen deutschen Unternehmen. Es gab Bilder der Doorbens mit Hitler, mit Goebbels, mit all den Nazi-Größen. Ein Vermögen, das auf Zwangsarbeit und dem Transport von Kriegsgerät fußt. Michelle hatte das nicht sonderlich gewundert, auch wenn es natürlich widerlich war.

Schließlich recherchierte Michelle auch zur Firmengründung. Dabei fiel ihr auf, dass am Tag nach der Gründung Zahlungen eingegangen waren, Zahlungen für Transporte, die zeitlich vor der Gründung lagen. Da hatte Michelle noch etwas weiter gegraben, war noch weiter in die Vergangenheit vorgedrungen.

 

Ein kurzes Klopfen von Ursula auf das Mikrofon reißt Michelle aus ihren Gedanken. Ursula lächelt breit, dann beginnt sie zu sprechen.

»Vielen Dank, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Was wir Ihnen heute vorstellen wollen, klingt erst einmal nach nicht viel. Es ist die Chronik der Reederei Doorben, die gleichzeitig auch die Chronik meiner Familie ist. Sie erinnern sich bestimmt alle an die von meiner Tochter ausgelöste Debatte über unsere Position im Dritten Reich. Als diese aufkam, wollte ich nicht mit Halbwissen glänzen, wie so viele heutzutage, sondern habe mich dazu entschlossen, diese Chronik schreiben zu lassen. Eine wirkliche Aufarbeitung der Geschichte meiner Familie. Wir konnten die großartige und vor allem unbestechliche Michelle van der Maur für dieses Projekt gewinnen, die sich akribisch mit jedem noch so kleinen Detail auseinandergesetzt hat.«

Ein Teil des Publikums klatscht. Michelle sieht sich um. Es sind Mitarbeiter der Reederei. Es fühlt sich falsch an. Inszeniert. Niemand applaudiert auf Pressekonferenzen.

»Sie konnte einen Teil unserer Firmengeschichte rekonstruieren, der mich ebenso beschämt wie der Profit unseres Unternehmens während der NS-Zeit. Die erste Handelsfirma unter Leitung der Familie Doorben, die Deutsch-Westafrika Transportgesellschaft, hat große Gewinne gemacht bei der Niederschlagung der Aufstände der Herero und Nama. Einem militärischen Akt, den man heute als Völkermord bezeichnen könnte. Als deutsches Traditionsunternehmen sind wir uns bewusst, dass wir die Verantwortung haben, uns mit unserer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Wie Sie alle wissen, engagiert sich das Unternehmen Doorben schon seit langer Zeit auf dem afrikanischen Kontinent. Nach den Erkenntnissen durch Frau van der Maur sind wir zu der Entscheidung gekommen, unser Engagement auszubauen. Wir werden unseren Afrikafonds finanziell weitaus besser ausstatten und auch direkt vor Ort Projekte umsetzen.«

Diese vor Stolz gespannte Brust im Angesicht eines Verbrechens von unvorstellbarem Ausmaß trifft Michelle unvorbereitet.

Eigentlich hatte sie erwartet, dass Ursula sich mit aller Macht gegen dieses Kapitel stemmen würde. Sie hatte sogar alle Unterlagen auf Memorysticks gesichert und bei einer befreundeten Journalistin versteckt, um zu verhindern, dass Ursula die Beweise vernichten kann. Als Ursula sie nicht einmal auf dieses Kapitel angesprochen hatte, war Michelle davon ausgegangen, dass sie den Teil des Buches kleinreden oder gar verschweigen würde. Diese Offensive war ihr nicht in den Sinn gekommen, und schon gar nicht die Reaktion der Journalisten vor Ort.

Hatten vorher nur Ursulas Mitarbeiter geklatscht, gibt es jetzt auch Applaus und Zuspruch durch die Journalisten. Sie umringen Ursula, drücken ihr die Hände, gratulieren ihr zu ihrer Ehrlichkeit, anstatt ihr die Verbrechen ihrer Familie vorzuwerfen.

Ursula, eine Heldin.

Wie konnten diese gebildeten Menschen so kurzsichtig sein?

Michelle versucht sich unauffällig aus dem Raum zu schleichen, doch schon sind ihre Kollegen auch um sie versammelt. Sie wollen nicht wissen, wie Michelle diese komplexe Geschichte recherchiert hat, sondern wie Ursula die Vergangenheit der Familie aufgenommen hatte, ob es Überzeugungsarbeit gebraucht hat, diesen Teil zu veröffentlichen. Nachdem sie alle Fragen brav beantwortet hat, sieht sie sich nach Ursula um, doch die scheint den Saal schon verlassen zu haben.

Michelle hat sich lange überlegt, was sie anziehen soll, trägt ein Sommerkleid und Sandalen und fühlt sich dennoch underdressed. Das passiert ihr regelmäßig.

Nachdem ihr Vater sie und ihre Mutter verlassen hatte, waren sie aus dem großen Haus im Grunewald in eine Zweizimmerwohnung in der Plattenbausiedlung gezogen. Ihre Mutter hatte bis zu dem Zeitpunkt nie einen Job gehabt und war froh, dass sie eine Stelle als Sekretärin in einem Krankenhaus bekommen hatte. Am Wochenende putzte sie bar auf die Hand. Michelle wurde ihr ganzes Leben lang eingebläut, dass ihre Mutter das alles nur für sie tat, und sie musste es zurückzahlen. Mit guten Noten, Verlässlichkeit und Fleiß. Seit ihre Mutter vor zwei Jahren an Krebs gestorben ist, hat Michelle das Gefühl, dass noch mehr Verantwortung auf ihren Schultern liegt. Ihre Mutter hat ihr Leben für sie geopfert, und um das zu ehren, muss sie etwas aus sich machen.

Das Restaurant, in das Ursula Michelle eingeladen hat, ist Teil eines Hotels in einem großen alten Gebäude in Berlin. Der Innenhof wurde mit Glas überdacht. Zwischen den Tischen stehen meterhohe Palmen, und von der Stahlkonstruktion der Decke hängen runde Lampen, auf denen mit Graffiti Munchs Schrei nachempfunden ist.

Es ist Dienstagmittag, und dennoch ist das Lokal gut gefüllt. Am Tisch neben Michelle sitzt ein schmieriger Mann Mitte fünfzig mit einer jungen Frau, die er mit vermeintlichen Komplimenten erniedrigt. Zwei Tische weiter sieht Michelle ein verliebtes Pärchen um die achtzig. Zittrig und sehr langsam hilft der Mann der Frau in ihren Mantel, der viel zu warm ist für die Jahreszeit. Michelle will gerade auf ihr Smartphone blicken, da sieht sie Ursula auf sich zukommen und legt das Telefon auf die Bank neben sich.

»So schön, dich zu sehen, Michelle. Ein wundervolles Lokal, oder? Das allein ist eine Reise nach Berlin wert, findest du nicht? Und wir müssen dringend auf dich anstoßen!«

Ursula gibt dem Kellner ein für Michelle unverständliches Zeichen und legt dann ihre Hände auf Michelles.

»Ich bin wirklich maßlos begeistert von dir. Das Kompliment musst du annehmen. Die Reaktionen auf die Chronik sind phänomenal. In welcher Geschwindigkeit und mit welchem Biss du geschrieben hast, ist beeindruckend. Du musst mir glauben, wenn ich dir sage, dass mir ganz selten Menschen wie du begegnen.«

Ein Kellner war lautlos an ihren Tisch getreten und lässt nun mit sanftem Druck den Korken aus einer Champagnerflasche gleiten. Er gießt zwei Gläser ein. Ursula stellt eins davon vor Michelle und erhebt ihr Glas.

»Auf dich, Michelle. Auf deine Akribie, auf deine Unbestechlichkeit und nicht zuletzt auf deine klare Sprache.«

»Vielen Dank.«

Die beiden so unterschiedlichen Frauen stoßen an, und bei aller Distanz, die Michelle immer zu Ursula wahren wollte, fühlt sie sich doch sehr geschmeichelt von den Worten dieser mächtigen Frau.

»Michelle, ich muss ehrlich mit dir sein. Ich weiß nicht, ob es da um die unterschiedlichen Generationen geht, aber wenn ich mir meine Tochter oder ihre Freunde ansehe, fehlt mir oft das Verständnis. Bei uns war ein Fest noch ein Fest. Etwas, das man sich gönnt, nachdem man etwas geleistet hat. Nun scheint das Fest die Arbeit zu sein. Man tut so, als habe man Spaß, und teilt das im Internet. Für mich ist das frivol. Du hast noch die alten Werte. Du hast dich reingehängt. Du hast eine Menge Überstunden gemacht. Dir war das Ergebnis wichtig. Dir war der Text wichtig. Du wolltest die Wahrheit herausfinden, und dir war es egal, ob mir das gefällt. Dafür bin ich dir dankbar.«

Michelle neigt etwas beschämt den Kopf zur Seite und trinkt einen Schluck vom Champagner. Mit Lob konnte sie noch nie gut umgehen.

»Selbstverständlich ist mir bewusst, dass wir dich gut vergütet haben. Das gehört zu unserem Firmenethos.«

So wie bei den Schiffen, die unter fremder Flagge laufen, damit man den deutschen Mindestlohn und die teuren deutschen Sicherheitsstandards nicht erfüllen muss, denkt sich Michelle. Doch sie lässt Ursula weiterreden.

»Ich würde mich trotzdem freuen, wenn ich dich auf deinem weiteren Weg unterstützen kann, auch wenn ich gehört habe, dass du das eigentlich nicht mehr benötigst.«

»Wie bitte?«

Michelles irritierter und etwas gereizter Ton animiert Ursula zu einem lauten Lachen.

»Ich meine doch nur die Verlobung, Michelle. Herzlichen Glückwunsch! Ferdinand ist ein feiner Kerl und von Dullen sicherlich einer der besten Nachnamen im Land.«

»Ich habe mich in Fips doch nicht wegen der Kanzlei verliebt.«

»Aber ein Nachteil ist es auch nicht, und man darf das doch mal aussprechen, oder etwa nicht? Ferdinand braucht eine kluge Frau, die zupacken kann, und das bist du. Seinen Vorteil kann ich doch auch klar sehen. Du musst den Mut bewahren, die Dinge so auszusprechen, wie sie sind. Das ist deine große Stärke.«

Ursulas Glas ist wieder erhoben, und Michelle muss versöhnlich grinsen. Sie mag Ursulas direkte Art. Ursula hat ja nicht unrecht.

Die Kanzlei von Dullen ist die größte Unternehmenskanzlei in Deutschland, und Michelle wäre nicht mit Fips verlobt, hätte es die Chronik nicht gegeben. Nur weil sie bei ihrer Recherche auch die Unterstützung von Ursulas Anwälten brauchte, hatte sie Fips kennengelernt.

Michelle spürt, wie ihr Smartphone neben ihr vibriert, und versucht einen kurzen Blick darauf zu erhaschen, ohne dass Ursula es mitbekommt.

Es ist Fips.

»Ich hab es gerade gesehen. Ignorier es einfach. Ruf mich an.«

Fips müsste es besser wissen. Michelle entschuldigt sich kurz in Richtung Toilette.

Sobald sie die ersten Stufen in den Keller genommen hat und sich sicher ist, dass Ursula sie nicht mehr sehen kann, nimmt sie ihr Smartphone aus der Tasche und öffnet die erste Social-Media-Plattform.

Der Benachrichtigungsbutton ist rot, und Michelle tippt ihn an. Hunderte Benachrichtigungen. Michelle tippt auf die erste und scrollt dann einfach durch.

»Instrument des Bösen @MichellevanderMaur #StimmevonMördern«

»Wie man sich an Massenmörder verkauft, zu lernen bei @MichellevanderMaur #StimmevonMördern«

»Wie man als linke Journalistin einen Genozid beschönigt, nur für ein bisschen Geld, @MichellevanderMaur #StimmevonMördern«

Nach den anfänglichen Posts wird es immer schlimmer. Böse Diffamierungen, Androhungen von sexueller Gewalt bis hin zu Mordaufrufen.

Michelles Hand fängt an zu zittern. Schnell steckt sie ihr Smartphone zurück in die Tasche und sieht sich um, ob sie jemand beobachtet, doch es ist niemand in der Nähe.

Michelles ganzer Körper hat sich verkrampft. Sie will so schnell wie möglich weg hier, wo ihr jemand begegnen kann. Sie beginnt Richtung Toiletten zu rennen, reißt die Tür auf und sperrt sich hastig in einer Kabine ein.

Sie klappt den Toilettendeckel herunter, entsperrt das Smartphone und setzt sich.

Das Smartphone liegt auf ihren Beinen, und ein paar lange Sekunden starrt Michelle es einfach an. Dann öffnet sie wieder die App und versucht sich zum ersten Post durchzuscrollen.

Michelle spürt, wie sich ein großes Gewicht auf ihre Brust legt. Sie fühlt ihr Herz hart gegen die Rippen schlagen. Sie bekommt kaum Luft.

Michelle steht auf und lehnt sich mit beiden Händen an die Toilettentür. Sie versucht, ihren Atem zu kontrollieren. Sich zu beruhigen. Langsam wird es besser.

Sie zwingt sich, die Tür zu öffnen und zu den Waschbecken zu gehen. Zitternd öffnet sie den Wasserhahn. Das kalte Wasser auf ihren Unterarmen tut ihr gut. Am liebsten würde sie den ganzen Kopf unter den Hahn halten, doch dann wären Frisur und Make-up ruiniert.

Sie atmet noch zweimal tief ein, dann geht sie zurück zu Ursula.

 

An das restliche Gespräch kann Michelle sich nur noch schemenhaft erinnern. Ursula schien nichts bemerkt zu haben. Sie hat ihr ein Angebot gemacht. Ein Buch schreiben. Ein tolles Buch über die mächtigsten Frauen Deutschlands. Leider für diesen furchtbaren Boulevardverlag Frautner. Trotzdem ein schönes Projekt. Ein wichtiges Projekt obendrein, und ein Buch, auf das Michelle stolz sein wird.

Am Bahnhof wollte sie sich eine Zeitung kaufen, um sich abzulenken, doch dann kam die Angst, dass ihre Chronik möglicherweise auch dort zerrissen wurde. Also machte sie Musik auf ihrem Telefon an und starrte aus dem Fenster des Zuges, während Vinicius de Moraes den Soundtrack beisteuerte.

Die Herero und Nama waren gute Krieger, doch die Übermacht der deutschen Einheiten war zu groß. Sie wollten ihr Land verteidigen. Dieses fruchtbare Land, von dem sie lebten. Zunächst konnten sie die Deutschen auch vertreiben. Doch dann kamen noch mehr weiße Männer mit mächtigem Kriegsgerät.

Sie hatten von dem Mann gehört, vor dem sie jetzt flohen. Lothar von Trotha trug den Schnurrbart nach oben gedreht und seine militärischen Auszeichnungen stolz auf seiner Uniform. Er wollte sie nicht einfach besiegen, er wollte ihre Völker vernichten. Die Deutschen vor Ort, darunter die Familie Doorben, hatten nach militärischer Hilfe aus Deutschland verlangt, um ihren Hafen und ihre Ländereien zu beschützen. »Aufräumen, aufhängen, niederknallen, bis auf den letzten Mann, kein Pardon«, war die Forderung, und dieser wollte von Trotha nachkommen.

Am Waterberg konnten die Herero die Linie der deutschen Truppen durchbrechen. Doch der einzige offene Weg vor ihnen führte durch die Wüste.

Auf dem Weg versuchten sie, Brunnen zu heben. Immer die deutschen Soldaten im Nacken. Selten hatten sie genug Zeit dafür, und das Wasser wurde immer spärlicher. Wenn sie einen Brunnen heben konnten, stürzten sie sich auf die braune Brühe, die aus dem Boden kam. Doch das dreckige Wasser war oft tödlich. So verloren sie viele Menschen und noch viel mehr Vieh. Sie wussten, wie groß das Risiko war, in der Wüste zu verdursten. Niemand zählte ihre Toten, doch sie sahen sich beim Sterben zu. Historiker werden später sagen, dass bis zu 100000 Menschen starben.

Doch ihr Leid endete nicht in der Wüste. Die Überlebenden wurden in Konzentrationslagern zusammengepfercht. Eines davon auf Shark Island in der Lüderitzbucht. Schnell bekam die Insel den Beinamen Todesinsel. Dieser Name sprach sich rum. Das Konzentrationslager auf der Insel war so gefürchtet, dass viele bei einer drohenden Gefangenschaft Suizid begingen.

Das ist die Geschichte hinter den trockenen Worten, die Michelle van der Maur in ihrer Chronik der Reederei Doorben verwendet. Dabei darf nicht vergessen werden, dass der deutsche Staat zwar eine kleine Kompensation bezahlt hat, die Unternehmen jedoch, allen voran der größte Profiteur, die Reederei Doorben, aber auch die Reederei Hansen, sich konsequent weigern, eine Verantwortung am ersten deutschen Genozid einzugestehen.

Michelle lässt die Allgemeine Tageszeitung in ihren Schoß sinken und sieht aus dem Fenster von Fips’ Mercedes E-Klasse. Sie kommen nur langsam durch den Berufsverkehr.

Fips hat beide Hände am Lenkrad und lauscht andächtig einem Eminem-Song. Michelle beobachtet, wie Regentropfen die Scheibe herunterrollen und sich die Lichter der Stadt darin brechen.

»Vielleicht haben sie recht. Vielleicht wollte ich Ursula in Schutz nehmen und habe meine Pflicht als Journalistin vernachlässigt.«

Fips sieht Michelle an. Sie mag es gar nicht, wenn er beim Fahren so lange nicht auf die Straße schaut, aber heute will sie sich nicht darüber ärgern.

»Wenn du dich erinnern möchtest, dann hast du genau diesem Kapitel besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt. Wir haben darüber geredet, und du hast mit deinen Kollegen von der Hamburger Zeitung darüber gesprochen. Alle fanden, dass du den richtigen Ton getroffen hast.«

»Aber wenn die das so schreiben, fühlt sich das gar nicht mehr so an.«

»Das sind radikale Linke. Denen macht es Spaß, andere in die Pfanne zu hauen.«

»Ich bin auch eine Linke.«

»Du bist eine gute Journalistin, und die sind einfach nur sensationsgeil. Die haben den Shitstorm auf Social Media gesehen und wollen jetzt mit draufhauen. Das ist jämmerlich.«

»Wenn ich einen Fehler gemacht habe, dann ist es vollkommen richtig, dass sie das benennen.«

»Du hast aber keinen Fehler gemacht. Das ist denen doch auch völlig egal. Die wollen Auflage machen und mehr Zeitungen verkaufen. Da geht es doch nicht um die Wahrheit.«

Michelle faltet die Zeitung ordentlich zusammen. Sie weiß, dass Fips sie immer verteidigen würde. Sie ist ihm dankbar dafür, doch in diesem Fall ist das keine große Hilfe.

Die Gründerzeitvilla der von Dullens in Harvestehude steht in der Nähe der ägyptischen Botschaft. Ruhig und elegant liegt der Backsteinbau mit dem grünen Dach inmitten eines gepflegten Gartens. Einladendes warmes Licht strahlt aus den Fenstern auf die Einfahrt.

Als Michelle das erste Mal hier ankam, war sie nervös. Auf allen Bildern, die sie von Fips’ Vater gefunden hatte, blickte er ernst in die Kamera. Akkurater Seitenscheitel, Dreireiher. Wie musste sie sich einen Mann vorstellen, dessen Ego so groß ist, dass er seinem Sohn den eigenen Vornamen gab?

In ihrer Fantasie war Ferdinand senior ein Mann, der selbst am Sonntag im Anzug den Müll rausbringt. Mittlerweile weiß sie, dass er wohl nie selbst den Müll rausbringen würde. Sie weiß aber auch, dass Ferdinand von Dullen nicht so ernst ist, wie sie ihn sich vorgestellt hat. Er ist ein guter Geschichtenerzähler und ein angenehmer Gesprächspartner – zumindest ihr gegenüber. Fips hingegen hat es schwer. Sein Vater scheint nie zufrieden mit seiner Leistung und seinem Einsatz, obwohl Fips jeden Tag bis spät am Abend in der Kanzlei sitzt und auch oft am Wochenende arbeitet. Fips nimmt das stoisch hin, doch Michelle spürt, wie sehr es ihn verletzt.

Über Fips’ Mutter hat Michelle kaum etwas im Internet gefunden. Martha hat ein offenes, ja auch einnehmendes Wesen, doch ihre Körperhaltung ist immer perfekt, und nie hat Michelle eine Falte in ihrer Bluse entdeckt. Martha wirbt um Michelles Freundschaft, will mit ihr allein ins Theater. Sie ist auch schnell eingeschnappt, wenn Michelle ihr absagen muss. Michelle versucht nachsichtig zu sein. Sie mag Martha und freut sich über ihr Interesse.

 

Natürlich macht die Haushälterin den beiden die Tür auf. Dass es in Deutschland bis heute Menschen gibt, die mit Personal leben, bleibt für Michelle irritierend. Die Haushälterin führt das Paar in den Salon, in dem Fips’ Eltern bei einem Aperitif sitzen.

Fips’ Mutter springt auf, küsst ihren Sohn auf die Wange und umarmt Michelle lange.

»Wie geht es dir, meine Liebe?«

»Gut so weit.«

»Wirklich? Das kann ich dir nicht glauben. Bei dem, was da gerade passiert, muss dir furchtbar zumute sein.«

Während Martha spricht, schenkt sie Michelle und Fips ein Glas Crémant ein.

»Wie kommt man dazu, so über jemanden zu schreiben? Das ist so unerzogen. Das alles nur wegen einem Buch.«

Michelle dreht sich etwas weg und lässt den Blick über den Kamin und die Jugendstilmöbel gleiten.

»Es kam unerwartet.«

Fips’ Vater hat den Sturm seiner Frau vorüberziehen lassen. Nun steht er auf und gibt Fips die Hand. Michelle umarmt er.

»Schön, dass ihr gekommen seid. Auf euch und auf das Buch.«

Sie stoßen an, und Ferdinand setzt sich wieder in seinen Sessel.

»Wie geht’s euch in der Wohnung? Hast du sie schon eingerichtet, Michelle?«

»Die Wohnung ist wunderschön.«

Fips muss laut lachen.

»Wir haben drei Zimmer, die wir nur betreten, wenn wir etwas suchen, was in all den Kisten steckt, die wir noch nicht ausgepackt haben.«

Martha sieht Michelle ernst an.

»Du musst dich schon um euer Zuhause kümmern. Die schönste Wohnung ist nichts wert, wenn sie nicht mit Liebe eingerichtet ist.«

Ferdinand greift beschwichtigend ein.

»Na, lass sie mal, Martha. Michelle hatte ja auch viel zu tun in letzter Zeit. Jetzt, wo die Chronik fertig ist, wird sie bestimmt mehr Zeit finden, um alles einzurichten.«

Michelle muss einen Anflug von Ärger herunterschlucken. Fips’ Eltern sind alt und konservativ, aber auch sehr großzügig und herzlich ihnen gegenüber.

»Kommt doch mal bei uns vorbei. Dann könnt ihr ja sehen, was wir daraus gemacht haben. Ich hab ein paar Bilder auf meinem Handy.«

»Die musst du mir nachher unbedingt zeigen. Jetzt lasst uns mal rübergehen. Das Essen ist bestimmt schon fertig.«

Das Esszimmer hat holzvertäfelte Wände, an denen offensichtlich teure Bilder hängen. Ein Kronleuchter erhellt den Tisch, auf dessen weiß gestärkter Tischdecke das Essen in silbernen Schalen bereitgestellt wurde.

Sechzehn Stühle stehen um den Tisch, doch Michelle hat hier immer nur mit Fips und seinen Eltern gegessen, und das ist schon die Ausnahme. Die meiste Zeit isst Martha allein in der Küche, weil die Kanzlei Ferdinand braucht. Wenn sie mit ihrem Mann isst, dann bei einem Geschäftsessen, bei dem man die Ehefrauen mitnimmt. Michelle hat Fips gleich am Anfang klargemacht, dass sie so nicht leben wird, und er hat ihr versprochen, dass er das nicht von ihr verlangen wird.

Martha verteilt das Essen.

»Dieses Wort alleine ist so unflätig. Shitstorm. Wem ist denn das eingefallen?«

»Lass uns einen schönen Abend haben und nicht darüber reden, ja?«

Ferdinands Stimme ist etwas gereizt.

»Da zieht ein Orkan über deine zukünftige Schwiegertochter, und du willst nicht darüber reden? Das kann doch nicht dein Ernst sein.«

»Du weißt, dass wir ständig Gegenwind bekommen. Das Beste ist: nicht drüber nachdenken, möglichst wenig lesen und abwarten, bis es vorbei ist.«

»Also erst mal ist das nicht Gegenwind, sondern ein Orkan, und außerdem musst du gar nicht so abgebrüht tun. Du schlägst Türen und brüllst rum, wenn nur ein negativer Artikel erscheint.«

»Da geht es nicht um mich, sondern um Klienten.«

»Ich hoffe ja nur, dass es sie emotional nicht zu sehr mitnimmt. Wenn man so was in sich reinfrisst, ist das auch nicht gut.«

»Deshalb lasse ich es ja raus.«

»Du gibst also zu, dass du dich nicht beherrschen kannst? Na, immerhin. Also ich finde, wir sollten da was machen. Man muss die Menschen in die Schranken weisen. Wie stehen wir denn da, wenn Michelle so verleumdet wird und wir nicht darauf reagieren?«

»Was soll ich denn machen? Hunderte von Kindern verklagen?«

Michelle blickt um Unterstützung flehend zu Fips, aber er scheint nicht mehr zuzuhören. Seine Eltern haben sie zum Thema gemacht, und Michelle sitzt hilflos da und traut sich nicht, etwas zu ihrer eigenen Situation zu sagen. Um keinen Fehler zu machen und niemanden zu verärgern, sich aber dennoch der Situation zu entziehen, flüstert sie ein »Entschuldigt mich« und verlässt den Raum.

Kaum hat sie sich in der Toilette eingesperrt, spürt sie, wie ihr die Tränen kommen. Sie kämpft sie mit aller Macht herunter. Sie will gar nicht wissen, wie Fips’ Eltern reagieren würden, wenn sie ihnen jetzt mit verweinten Augen gegenübertreten würde.

Das Einzige, was hilft, ist Sport. Hart trainieren. So hart, dass ihr schwindelig wird, weil die Gewichte so schwer sind, dass die Muskeln ihr sämtlichen Sauerstoff entziehen. Frida kämpft ihren Körper nieder. Wenn jeder Muskel schmerzt, wenn kein Platz mehr ist für Gefühle, dann geht es ihr ein wenig besser.

Diese Wut, diese Ohnmacht, diese Angst. Sie will nicht mehr aufs Revier, obwohl sie immer so gern Polizistin war. Am Anfang konnte sie es nicht richtig greifen. Sie wurde auf einmal nicht mehr so häufig gegrüßt. Die Einladungen zum Bowling oder Feierabendbier blieben aus. Dann kamen die kleinen Gemeinheiten. Es tat weh, wenn sie mitbekam, wie man sich über sie lustig machte. Ständig war sie im Wochenenddienst. Als sie sich beschwerte, kam eine Nachtschicht nach der anderen hinzu.

Sie will auch nicht nach Hause. Die vorwurfsvollen Blicke von Marc schmerzen. Er will, dass sie funktioniert. Dass sie ihre Gefühle in den Griff bekommt, wie er sagt. Für die Kinder. Aber wie macht man so was?

Hier im Gym fühlt sie sich wohl. Es ist eines der wenigen Fitnessstudios, das zu keiner Kette gehört. Das Licht ist gleißend hell, die Geräte sind alt, und der Boden ist an vielen Stellen abgewetzt. Hier gibt es keine Sauna und keinen Whirlpool, dafür einen Boxring.

Marc war am Anfang noch mitgekommen, aber Sport ist nicht sein Ding. Dafür bewundert er ihren durchtrainierten Körper, und das schmeichelt Frida. Sie ist froh darüber, dass Marc keinen Gefallen am Fitnessstudio gefunden hat. Zum einen, weil es ihr guttut, diesen Ort für sich zu haben, aber vor allem, weil sie Typen mit Muskelbergen nicht so mag. Sie mag den kleinen Bauch, den Marc hat.

Sie sind jetzt seit fünf Jahren ein Paar. Das erste Jahr war schwierig für Frida. Marc hat zwei Töchter. Ihre Mutter ist an Krebs gestorben, als sie noch ganz klein waren. Marc wollte ihnen auf keinen Fall immer neue Frauen vorstellen. Er wollte ihnen Stabilität geben. Das klang auch für Frida erst einmal sehr vernünftig, doch am Ende bedeutete es, dass sie Marc nur sehen konnte, wenn die Kinder nicht zu Hause waren oder er einen Babysitter hatte. Im ersten Jahr wachten sie nicht ein Mal nebeneinander auf.

Frida lernte die Mädchen aus der Ferne kennen. Sie sah die Fotos und Videos von der Einschulung und aus dem Schwimmverein. Marc schickte ihr Bilder aus dem Urlaub in Kroatien.