Umwege mit Alex - Sonja Bethke-Jehle - E-Book

Umwege mit Alex E-Book

Sonja Bethke-Jehle

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Beschreibung

Mit einem konkreten Ziel vor Augen macht sich Alex per Anhalter auf den Weg nach Skandinavien: Er möchte die Nordlichter sehen! Als ausgerechnet ein altes Wohnmobil vor ihm hält, zögert er nur kurz. Nichts ahnend lässt er sich auf das Abenteuer ein und schließt sich der Gruppe um Fiefie an. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg immer weiter in den Norden. Unterwegs lernt Alex die Fahrgemeinschaft besser kennen: Fiefies Sorge vor rassistischen Angriffen, Fabios Kampf um seine psychische Gesundheit, und Joris, der sich bereits komplett mit dem Camperleben identifiziert. Doch je kälter und dunkler es um sie herum wird, desto verzweifelter wird Alex ... Was ist, wenn er sein Ziel erreicht und die Nordlichter gesehen hat? Gibt es danach überhaupt noch eine lohnenswerte Zukunft für ihn? Und soll er sich den anderen anvertrauen? Ein emotionaler Roadtrip weit in den immer dunkler werdende Norden Schwedens auf der Suche nach Nordlichter.

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Tack. Takk. Tak. Kiitos. Danke in allen Sprachen dieser Welt, Melanie!

Sonja Bethke-Jehle wurde 1984 im Odenwald geboren und studierte in Mannheim Wirtschaftsinformatik. Heute lebt sie an der Bergstraße. Das Lesen und Schreiben ist seit der Kindheit ihre große Leidenschaft. Dabei rückt sie vor allem Menschen in den Vordergrund, die Grenzen überwinden, gegen Ungerechtigkeit kämpfen oder Herausforderungen bestehen müssen und dabei über sich selbst hinauswachsen.

Wenn sie nicht gerade schreibt, arbeitet sie ehrenamtlich in einer Bücherei, hilft bei der Ausleihe oder jagt während ihrer Joggingrunden nach neuen „Plot-Bunnys“.

Weitere Informationen findet ihr auf: www.sonja-bethke-jehle.de

Vorwort

Das Vorgängerbuch Umwege mit Joris habe ich während des ersten Corona-Lockdowns im März 2020 geschrieben. Zwar endete das Buch mit einem aus meiner Sicht zufriedenstellenden Ende, doch ich fand, dass nicht alle Figuren komplett auserzählt waren.

Die Motivation Umwege mit Alex zu schreiben, entstand vorrangig mit dem Wunsch, Euch mehr über Charlie, Pete, Fabio sowie Fiefie und Hannah zu erzählen und zu berichten, wie Joris’ Vorhaben in die Tat umgesetzt wurde, sein Leben zu ändern.

Ich entschied, mich dieses Mal mehr auf Fiefie und Hannah zu konzentrieren, da diese im Vorgänger noch etwas unterkomplex gezeichnet waren, und eine neue Figur ins Rennen zu senden, die genauso wie Joris, ein Geheimnis verbirgt und dieses erst nach und nach den Mitreisenden und Euch, den Lesenden, offenbart.

Weil ich fand, dass noch eine weitere Figur fehlte, ich aber gleichzeitig keine gänzlich neue Figur ausarbeiten wollte, entschied ich mich, Steffi ebenfalls auf die Reise zu schicken. Steffi ist eine Nebenfigur aus Schrankgeflüster, die nie ihr eigenes Happy End bekam, sondern nur als Entwicklungsstütze von Hanis Entfaltung - ebenfalls selbst eine Nebenfigur - diente. Meiner Meinung nach stand ihr eine eigene Geschichte zu! Da all meine Romane sowieso untereinander verknüpft sind, war das kein Problem.

Nun hatte ich meine Charaktere komplett und ich begann zu schreiben. Alle Nebenfiguren entwickelten sich von alleine während des Schreibprozesses, dank der Vorarbeit, die ich bereits in Umwege mit Joris und Schrankgeflüster erledigt hatte. Lediglich in Alex’ Entwicklung musste ich mehr Arbeit stecken.

Wer mehr über Steffi erfahren möchte, kann vorher Schrankgeflüster lesen. Wer sich für die anderen Figuren interessiert, sollte zunächst Umwege mit Joris lesen. Dennoch ist Umwege mit Alex ein Roman, der auch alleinstehend in sich schlüssig ist.

Es wünscht Euch viel Spaß, Eure Sonja.

Umwege mit Alex

Als das alte Wohnmobil hielt, konnte Alex sein Glück nicht fassen. Seit sechs Stunden stand er am letzten Rastplatz vor der dänischen Grenze. Bis dorthin hatte ihn das junge Pärchen aus Berlin mitgenommen und ihm mehr oder weniger höflich zu verstehen gegeben, dass sie nun alleine weiterfahren wollten. Also war ihm nichts anderes übriggeblieben, als auszusteigen und darauf zu hoffen, dass ihn jemand anderes mitnahm. Bald hätte er sich nach einer Übernachtungsmöglichkeit umschauen müssen, was er vermeiden wollte, denn er hatte vor, die deutsch-dänische Grenze noch heute zu überqueren.

Das Wohnmobil schien seine besten Zeiten hinter sich zu haben. Es war nicht nur dreckig, sondern an einigen Stellen auch eingedellt und sogar verrostet. Alex runzelte die Stirn, als sich die Türen öffneten und mehrere Personen ausstiegen. Eine davon winkte, doch Alex zögerte, zurückzuwinken. Er senkte das Schild, auf das er lediglich ‚Norden‘ geschrieben hatte, und betrachtete die drei Gestalten, die auf ihn zumarschierten. Es handelte sich um eine dunkelhaarige Frau mit auffälligen Muttermalen, die sich auf kürzere Distanz als Tätowierungen am Hals herausstellten, einem großen, mageren Mann mit dunkler Haut, schwarzen Augen und kurzen blondierten Haaren und einer kleinen Frau mit heller Haut und chaotisch wirkenden, halblangen und bunt gefärbten Haaren, die wohl Opfer von zu vielen und zu mutigen Experimenten geworden waren. Ein seltsames Gefühl machte sich in seinem Magen breit, und sein Herz klopfte heftig in der Brust. Ihm war bewusst, dass Menschen, die mutig genug waren, ein Abenteuer zu wagen, eher anhalten würden, und auch das klapprige Gefährt hatte ihn ahnen lassen, auf welche Geschöpfe er treffen würde, doch so schlimm hatte er es sich nicht vorgestellt.

Er war sich nicht sicher, ob er mit diesen Leuten mitfahren wollte oder doch lieber hier übernachtete und sich am nächsten Tag nach einer neuen Möglichkeit umsah. Vielleicht eine nette Familie mit Kind und Familienhund?

»Du willst nach Norden?«, fragte die Frau mit den dunklen Haaren. Sie war älter als die anderen beiden, vermutlich sogar älter als er selbst. Sie musterte ihn aufmerksam und verschränkte die Arme vor der Brust, als sie das Gewicht auf ein Bein verlagerte. Die Tätowierungen auf der empfindlichen Stelle am Hals schockierten ihn. Er wusste nicht, ob er so direkt hinstarren durfte. Er zwang sich wegzusehen und bemerkte stattdessen, wie sich der Mann und die Frau mit den bunt gefärbten Haaren Blicke zuwarfen, bevor sie ihn unverhohlen musterte. Ihre Blicke waren Alex unangenehm. Als würde sie ihn analysieren und eine Bewertung über ihn schreiben wollen. Die beiden waren so unterschiedlich, er riesig, sie so klein, dass ihr Kopf ihm kaum bis zu den Schultern reichte. Ihre Haut war blass, seine viel dunkler. Und doch … Sie passten zueinander. Und zu der Frau, die auf eine Antwort von Alex wartete.

Er räusperte sich. »Ja, nach Norden«, antwortete er überflüssigerweise.

»Wie weit nach Norden?«, hakte die Frau nach und senkte den Blick, um sein Gepäck zu mustern.

Alex sah ebenfalls nach unten zu dem großen Wanderrucksack und der Reisetasche. »Ich will die Nordlichter sehen.«

Die Frau lachte und drehte sich zu den anderen um. »Da muss er aber lange fahren.«

»Es ist die ideale Reisezeit, um Nordlichter zu betrachten«, erwiderte der hagere Typ.

»Ich würde die Nordlichter auch gerne sehen«, betonte die kleine Frau.

Die dunkelhaarige Frau schien die Anführerin zu sein. Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Wir werden nicht zu den Nordlichtern fahren. Zu weit oben.« Sie drehte sich wieder zu Alex um. »Sorry, Mann, ist uns zu weit im Norden.«

Alex seufzte. Jetzt wäre eine gute Gelegenheit, dem seltsamen Trio eine gute Reise zu wünschen und auf den nächsten zu warten, der anhielt. Andererseits stand er nun schon echt lange hier, und es war fraglich, ob er in den nächsten Tagen überhaupt noch jemanden fand, der bereit war, einen Anhalter mitzunehmen. Er könnte ja mit dem Zug fahren … Alex biss sich auf die Lippen, dann gab er sich einen Ruck. »Ihr könnt mich doch mitnehmen, zumindest so weit, wie es geht, und ich trampe anschließend einfach mit dem Nächsten weiter.«

Die Frau hob eine Augenbraue, langsam drehte sie sich um. Die andere Frau äußerte sich gar nicht, der Typ hob kurz die Schultern, ging einen Schritt nach vorne und betrachtete Alex ähnlich streng, wie es zuvor die Frau getan hatte. Schließlich hob er erneut die Schultern. »Wie heißt du?«, fragte die Frau.

Alex nannte ihnen seinen Vornamen und dachte sich, dass sie vermutlich nicht die Typen waren, die seinen vollen Namen kennen wollten. »Der Camper ist zu klein für uns. Wir schlafen nur da drin, wenn es regnet. Hast du ein Zelt?«, fragte die Frau weiter.

Alex zeigte auf das verpackte Zelt, das gegen die Sporttasche gelehnt stand. »Gut. Hol mir ein Wasser in der Tanke, und wir beratschlagen uns währenddessen.«

»Okay«, sagte Alex verunsichert und streckte die Hand aus. Die Frau drehte sie sich zu ihren zwei Begleitern um. Irritiert ließ Alex die Hand fallen, und ihm brach der Schweiß aus, als ihm bewusstwurde, dass sie wohl davon ausging, dass er das Wasser zahlte. Wie peinlich, dass er bei ihr mitfahren wollte und nicht einmal diesen Wink verstanden hatte.

Eilig betrat er die Tankstelle. Statt einer Flasche nahm er drei; die anderen hatten sicherlich auch Durst. Während er an der Kasse wartete, sah er durch die Scheibe nach draußen. Der Typ lehnte gegen ein Auto und nickte mehrmals, während die Frau, die mit Alex gesprochen hatte, wild mit den Händen gestikulierte. Die kleine Frau schien sich heraushalten zu wollen. Sie stand etwas abseits und zwirbelte ein paar ihrer Haarsträhnen. Ihre Haare irritierten Alex. Sie waren am Haaransatz lila und blau, weiter unten mischten sich noch grün und rosa hinein. Er fragte sich, was sie dazu veranlasst hatte, ihr Haupt auf diese Weise zu färben. Warum war sie dabei so … unschlüssig vorgegangen?

Alex bezahlte und lief langsam über den Parkplatz zurück. »Ich habe euer Wasser«, sagte er, als er in Hörweite war. Sofort stob das Trio auseinander. Eingeschüchtert hielt Alex ihnen das Wasser hin. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er eine Art Bewerbungsgespräch führen müsste.

Der Typ und die Anführerin tauschten einen weiteren Blick aus, anschließend nickte die Frau. »Wir nehmen dich mit. Wir wissen nicht, wie lange wir dich mitnehmen, aber zumindest mal bis nach Schweden. Wir teilen uns die Kosten für Benzin und Brückenmaut.«

Schnell nickte Alex. »Natürlich. Das hätte ich von mir aus anbieten sollen. Ich zahle meinen Anteil. Selbstverständlich.« Er griff in seine hintere Hosentasche, doch der blondierte Mann hob die Hand.

»Lass stecken«, sagte er. »Wir machen das später. Lasst uns erst mal über die Grenze fahren.«

»Ich bin Hannah«, sagte die Frau und zeigte auf den Mann. »Das ist Fiefie. Und das da«, ihr Finger deutete auf die Frau, »ist Stefanie.«

»Fiefie?« fragte Alex verkrampft.

»Ja, Mann. Was dagegen?« Der Mann, der Fiefie hieß, machte eine genervte Handbewegung. »Nein.« Alex atmete tief durch. Das konnte heiter werden. »Gar nicht.«

»Du kannst mich Steffi nennen«, raunte ihm die Frau mit den bunten Haaren zu und drehte sich um. Sie lief zum Wohnmobil.

»Schaffst du das allein?«, fragte Hannah.

»Äh.« Alex sah zu seiner großen Sporttasche, dem Rucksack, dem eingerollten Schlafsack und dem Zelt. »Klar. Das geht schon …«

»Gut.« Hannah drehte sich ebenfalls um. Fiefie folgte ihr, ohne ihm etwas abzunehmen.

Alex blieb einen Moment lang stehen und starrte dem seltsamen Trio hinterher. Er hatte schwitzige Hände, als er seinen Rucksack aufsetzte, und das ungute Gefühl in seinem Bauch verstärkte sich. Alle drei waren seltsam, besonders dieser Fiefie. Und Hannah war herrisch. Nur Steffi schien nett zu sein, doch sie hatte von allen wohl am wenigsten zu sagen.

Es war ein Balanceakt, sein ganzes Gepäck zum Wohnmobil zu schleppen, und kurz bevor er dort ankam, drohte ihm der Schlafsack unter dem Arm herauszurutschen. Doch er schaffte es gerade noch so und legte das Zeug ins Innere des Gefährts.

»Hier drin wird nicht geraucht, und diese Regel gilt auch für Joints«, sagte Fiefie und warf ihm einen strengen Blick zu. »Der Fahrer bestimmt, was gehört wird. Und wir wechseln uns mit dem Fahren ab.«

Erschrocken hob Alex die Augenbraue. »Ich soll auch fahren?«

Abschätzig sah Fiefie ihn an, dann stöhnte er leise und verschwand ohne ein weiteres Wort.

»Setzt euch hin«, befahl Hannah. Sie zeigte auf die Bank neben der kleinen Küchenzeile.

»Aber muss ein Wohnmobil nicht so gebaut sein, dass man während der Fahrt in Fahrtrichtung sitzt und … angeschnallt ist?«, fragte Alex und starrte zu dem runden Tisch, vor dem Hannah stand. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und musterte ihn skeptisch. Rasch hob Alex die Hände und setzte sich. Was ging es ihn an, wenn die anderen bei einer Polizeikontrolle ein Bußgeld zahlen mussten? Es konnte ihm egal sein. Im gleichen Moment wurde im bewusst, dass er an den Kosten vermutlich beteiligt werden würde.

Steffi sah ihn entschuldigend an. Nachdem Hannah außer Hörweite war, raunte sie ihm zu: »Die sind eigentlich ganz nett.«

»Ja?« Alex war sich da nicht so sicher und zeigte seine Skepsis ganz offen. Noch konnte er aussteigen. Als er bemerkte, dass Steffi ihm nicht antwortete, fragte er: »Wohin fahrt ihr?« Er versuchte zu ignorieren, dass sich Hannah und Fiefie draußen leise stritten.

»Wohin es uns treibt«, antwortete Steffi. »Okay.« Mit der Antwort hatte Alex nicht gerechnet. Es klang zwar ehrlich, aber auch orientierungslos. Doch es passte zu dieser seltsamen Gruppe. Zumindest zu Fiefie und Steffi. Dieser Hannah hätte er mehr Planung und Voraussicht zugetraut.

»Warum willst du dir die Nordlichter ansehen?«, fragte Steffi und lächelte ihn an. Ihre Haare gingen ihr bis zur Schulter, und jetzt entdeckte er auch einen Nasenring. Nicht diese Art Stecker, wie ihn viele Frauen hatten, sondern einen richtigen Ring. Sie war eine sehr hübsche Frau, deren Schönheit man erst auf den zweiten Blick entdecken konnte, mit blauen Augen und einer makellosen Haut. Was ihr zur Perfektion fehlte, war ein Lächeln. Doch bis eben war sie merkwürdig ernst geblieben und hatte keine Miene verzogen.

Alex dachte an die Liste in seinem Geldbeutel und hob die Schultern. »Sollte man sich das nicht mal angesehen haben? Ich meine, Nordlichter sind doch mit das Faszinierendste, was es am Himmel zu sehen gibt, oder?«

Steffi überlegte kurz. »Keine Ahnung. Ich habe nie drüber nachgedacht. Ich habe sie auch noch nie gesehen. Ich …«

»Wir fahren los«, rief Hannah, klopfte an die Tür, dann schloss sie diese. Sie stieg auf der Fahrerseite ein und drehte sich um. Sie musterte Steffi. »Alles okay?«, fragte sie, fürsorglicher als alles, was sie zuvor gesagt hatte.

»Klar.« Steffi nickte.

»Auf geht’s«, kommentierte Fiefie, und es schien, als hätte er Mühe, seine langen Beine so zu lagern, dass er bequem saß. Bevor er eine gemütliche Position gefunden hatte, startete Hannah das Wohnmobil. Es machte ein besorgniserregendes Geräusch und einen Satz nach vorne. Alex umklammerte mit einer Hand die Tischkante.

»Aber warum die Nordlichter? Gibt es keine anderen Dinge, die man sich mal ansehen sollte?«, fragte Steffi.

Alex zuckte zusammen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er gleich so befragt werden würde. Es war ihm unangenehm, und er überlegte, wie er Steffi auf Distanz halten konnte. Er brauchte einen Moment, bis er antworten konnte. »Hm, irgendwo muss man doch anfangen, oder?«

Steffi blinzelte, als hätte sie nicht mit dieser Antwort gerechnet. »Sicher. Klar. Aber warum ausgerechnet die Nordlichter? Warum bist du nicht zuerst nach Amerika gereist und hast dir den Grand Canyon angesehen oder einen erloschenen Vulkan? Oder die Wüste in Afrika?«

Alex dachte wieder an die Liste in seinem Geldbeutel. Tatsächlich stand das alles nicht darauf. Als er sie erstellt hatte, hatte er gar nicht daran gedacht, diese weit entfernten Naturwunder aufzunehmen. Nun fragte er sich selbst: Warum ausgerechnet die Nordlichter? Er hatte keine Ahnung. Er fand, dass sie etwas waren, das es auf die Liste schaffen musste. Und es war ihm logisch erschienen, bis zum nördlichsten Punkt zu reisen, um sich das Farbenspiel am Himmel anzusehen. »Es zieht mich dorthin«, sagte er leise und hob die Schultern.

»Na gut«, sagte Steffi, als ginge es darum, ob jemand von ihnen recht hatte. »Das Gute ist, du wirst unterwegs viele faszinierende Dinge sehen.«

Alex lächelte. »Das hört sich gut an. Darauf habe ich gehofft. Warst du schon oft in Norwegen?«

Steffi schüttelte den Kopf. »Ne, noch nie. Aber es soll super sein. Ich habe mich Hannah und Fiefie nicht angeschlossen, um etwas zu sehen, sondern um etwas zu fühlen.«

Ein schmerzlicher Stich ging durch sein Herz, und für einen kurzen Moment glaubte Alex nicht, dass er ruhig weiteratmen konnte, doch der Moment verging, und er schnappte eilig nach Luft. Steffis Worte klangen banal, doch in ihnen schwang viel Schmerz mit. Alex wusste sofort, dass ihr Schmerz ein anderer war als der, der ihn quälte. Es machte ihn neugierig. »Warum?«

Steffi hob die Schultern. »Ich habe das Fühlen nach einer Enttäuschung verlernt, glaube ich. Klassischer Liebeskummer. Und eine allgemeine Enttäuschung vom Leben.«

Hannah steuerte das Wohnmobil auf die Autobahn, beschleunigte aber nicht viel. Gemütlich ordnete sie sich hinter einen LKW ein und machte den Eindruck, als würde sie nicht schneller als 80 km/h fahren wollen.

Beruhigend, wie Alex fand. Er sah durch die Windschutzscheibe zwischen den Schultern von Hannah und Fiefie hindurch, anschließend wandte er sich erneut Steffi zu.

»Das klingt traurig«, sagte er.

Steffi lächelte. Das erste Mal, seit er sie kennengelernt hatte. Es war das traurigste Lächeln, das er je an einem Menschen gesehen hatte. Doch er hatte recht. Es stand ihr. Nun sah sie wunderschön aus. »Mag sein. Aber ich bin mir sicher, dass mir diese Reise sehr guttun wird.«

Alex erwiderte das Lächeln, dann schaute er auf die Tischplatte und verlagerte sein Gewicht. Er dachte wieder an die Liste und fragte sich, ob er während dieser Reise weitere Punkte abhaken konnte, nicht nur die Nordlichter, die ganz oben standen. Sie waren ihm als erstes eingefallen, auch wenn er Steffi nicht beantworten konnte, warum das so war. »Alles wird gut«, sagte Steffi, und ihr Blick wurde ernster. Sie zog die Beine auf die Sitzfläche und sah hinaus auf die an ihnen vorbeifahrenden Autos.

»Ich weiß nicht«, sagte Alex leise, und dieser altbekannte Knoten in seinem Magen zog sich enger zusammen und schien seine inneren Organe zu quetschen. Er hoffte, dass Steffi recht behielt, aber er bezweifelte es.

Doch er war unterwegs in die richtige Richtung. Er war unterwegs zu den Nordlichtern. Wenigstens das konnte ihn etwas beruhigen.

*

Während der Fahrt unterhielt er sich weiter mit Steffi. Sie war eine sehr offene Frau und teilte ihm viel von sich mit. Er hatte die Befürchtung, dass sie im Gegenzug mehr von ihm wissen wollte, aber sie akzeptierte seine gebrummten, ausweichenden Antworten, wenn sie ihm eine Frage stellte und bohrte nicht weiter. Von Steffi erfuhr Alex, wohin sie fuhren und dass ihre erste Anlaufstelle ein Parkplatz in Dänemark sein würde. Er erfuhr außerdem, dass Fiefie und Hannah schon häufiger mit anderen Leuten hier gewesen waren und Steffi sich den beiden angeschlossen hatte. Sie erzählte ihm, dass sie eine komplizierte Beziehung hinter sich und den Halt verloren hatte, als ihr gekündigt worden war. Sie war ausgebildete Yoga-Lehrerin, und Alex erfuhr außerdem, dass es nicht so leicht war, damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Nach fast zwei Stunden erreichten sie das Ziel: einen geschotterten Parkplatz.

Sie bauten ihre Zelte auf, und Alex spürte währenddessen Blicke auf sich gerichtet. Er hatte sich einen Platz etwas abseits von ihnen gesucht und war erstaunt, wie eng Hannah und Fiefie ihre Zelte nebeneinander aufbauten und wie sehr Steffi sich daran orientierte.

Hannah war skeptisch, das wusste er, aber auch Fiefie blieb ihm gegenüber zurückhaltend. Nur Steffi unterhielt sich mit ihm und rief ihm ein paar aufmunternde Worte zu, als es ihm nicht sofort gelang, das Zelt aufzurichten. Er war nicht besonders gut darin, obwohl er in den letzten Wochen mehrmals geübt hatte und – zur Freude von Silas – das Zelt im Wohnzimmer aufgebaut hatte. Vor Antritt der Reise war er davon ausgegangen, dass er gut zurechtkommen würde. Nun, wo er mit Hannah, Fiefie und Steffi unterwegs war, wurde ihm bewusst, dass er ungeschickt und langsam war, während sie Survival-Profis zu sein schienen.

Alex beeilte sich und warf anschließend seinen Rucksack in das Innere des Zeltes. Er würde sich so schnell wie möglich von der Gruppe trennen, sobald # es eine realistische Chance gab, dass ihn jemand anderes mitnahm. Er glaubte nicht, dass er – abgesehen von Steffi – noch eine Verbindung zu dem Rest aufbauen konnte.

Er rief zu Hause an und erzählte, dass alles gut gegangen war. Dass er ein komisches Gefühl hatte, was seine Reisebegleiter anging, verschwieg er, weil das Zelt nur eine scheinbare Privatsphäre bot und die anderen ihn hören konnten. Es störte ihn, und er bereute, dass er sein Zelt nicht noch weiter weg aufgebaut hatte.

Als er mit Silas telefonierte, traten ihm die Tränen in die Augen. Wegen ihm hatte er so lange gezögert, ob er überhaupt fahren sollte. Fast hätte er sich dagegen entschieden. Schließlich war er das Schönste, das Alex jemals auf der Welt erblickt hatte, und er wusste, dass Nordlichter da niemals mithalten konnten. Allerdings wusste Alex, dass das sentimentaler Blödsinn war, er würde ja lediglich einige Wochen weg sein. Bald wäre er wieder zu Hause. Um eine Erfahrung und hoffentlich einige abgehakte Posten auf der Liste reicher.

Nachdem er aufgelegt hatte, versuchte er es sich etwas bequemer zu machen. Das Zelt war deutlich kleiner als die beiden der zwei Frauen. Nur Fiefie hatte ein ähnlich kleines Zelt wie er. Vor seinem inneren Auge versuchte Alex sich vorzustellen, wie es Fiefie gelang, dort drin zu schlafen. Unfreiwillig erschien ein Bild einer eingerollten Schlange in Menschengestalt.

Seufzend legte Alex sich hin und störte sich daran, dass er mit den Fußspitzen an die Zeltwand stieß, obwohl sein Kopf schon nah am Stoff der gegenüberliegenden Seite war. Es war echt unbequem, und da kamen wieder die Zweifel, warum er sich das antat. Er hätte fliegen sollen. Verdammt, er hätte einfach fliegen sollen, so wie es ihm Carola empfohlen hatte. Er hätte wie jeder normale Mensch, ein Hotel buchen und an einer Touristenwanderung teilnehmen sollen, um die Nordlichter zu bestaunen. Das wäre deutlich bequemer gewesen und zeitsparender. Aber auch deutlich teurer. Und immer, wenn Alex über seine finanzielle Lage nachdachte, brach ihm der Schweiß aus. Erneut wurde ihm bewusst, dass er absolut keinen finanziellen Spielraum hatte und darauf angewiesen war, möglichst günstig in den Norden zu kommen.

»Du musst dich diagonal legen.«

Alex richtete sich hastig auf und zuckte zusammen, als er sah, dass der große Kopf von Fiefie durch den Schlitz in der Zeltöffnung reinlugte. Das erste Mal sah er Fiefies Gesicht aus der Nähe. Er hatte Piercings in den Augenbrauen, in den Ohren und an der Lippe, sowie einen Nasenring in der Nase, wie auch Steffi ihn trug. Doch am meisten fiel Alex auf, dass Fiefies rechtes Auge rot war und tränte. Er fragte sich, ob er krank war oder er sonst irgendwelche Probleme hatte.

»Was?«, fragte Alex und sah auf den Schlafsack. Langsam drehte er sich zu Fiefie, der amüsiert aussah.

»Du musst dich von einer Ecke zur anderen legen, dann hast du mehr Platz«, erläuterte Fiefie geduldig, und als Alex ihn nur verwirrt ansah, beugte sich herein, griff nach Alex‘ Schlafsack und arrangierte ihn um. Tatsächlich hatte Alex jetzt deutlich mehr Platz, um sich auszustrecken, und in den Ecken neben seinem Körper noch genug Raum, um sein Zeug zu verstauen. »Ah, danke«, sagte Alex.

»Komm essen«, sagte Fiefie und krabbelte rückwärts aus dem Zelt heraus. Weil Alex nicht wusste, wann er das nächste Mal zu einer Tankstelle kam, hatte er sich am Vormittag bereits belegte Brötchen gekauft und ein paar Kekse, die er am Abend essen wollte. Trotzdem wollte er nicht unhöflich sein und verließ sein Zelt. Den ganzen Abend im Zelt zu verbringen, wäre sowieso eine Zumutung. Es würde mit der Zeit stickig werden.

Neben dem Wohnmobil saß Steffi auf einem Campingstuhl, vor ihr war ein Tisch mit drei weiteren, leeren Stühlen. »Komm, Hannah hat gekocht«, sagte Fiefie und drehte sich zu ihm um.

Erstaunt folgte Alex ihm. Er konnte sich doch unmöglich von den dreien zum Essen einladen lassen, nachdem sie ihm deutlich gemacht hatten, dass sie ihn nicht wirklich mochten. Alex fiel ein, dass er ihnen immer noch kein Geld gegeben hatte. War das der Grund, warum alle so skeptisch waren?

Zögerlich trat Alex näher. Er musterte die Teller und das Besteck auf dem Tisch. Das Letzte, womit er gerechnet hatte, war, dass das Trio einen Tisch mit Stühlen aufbaute und Hannah die vollgestellte Küche im Wohnmobil tatsächlich dazu nutzte, um zu kochen.

»Setz dich. Nimm dir ein Bier«, sagte Fiefie und zeigte auf den leeren Stuhl neben Steffi. Er selbst setzte sich Alex gegenüber und zündete sich eine selbstgedrehte Kippe an, die verdächtig roch. Steffi reichte ihm ein Bier.

»Erzähl«, sagte Fiefie und legte ein Bein über das andere. »Warum reist du alleine, und warum fliegst du nicht einfach, so wie es alle Dauergestressten tun, wenn sie sich die Nordlichter ansehen wollen?«

Alex sah zu seinem kleinen Zelt und grinste. »Genau das habe ich mich eben auch gefragt.« Er zögerte. Wie viel sollte er preisgeben? Er wollte den Fremden eigentlich nicht vertrauen, allerdings schienen sie ja doch Interesse für ihn entwickelt zu haben. Sie waren wohl doch … netter, als er zunächst gedacht hatte. Er sollte vielleicht etwas von sich preisgeben. Nur ein klein wenig. Alex sah abwechselnd zu Fiefie und zu Steffi. Beide sahen ihn geduldig an, nicht irritiert, dass er sich für seine Antwort viel Zeit nahm. »Es wäre teuer geworden, und ich habe momentan die Zeit für eine längere Reise, und die Gelegenheit war günstig, und deswegen dachte ich, ich spare Geld, wenn ich per Anhalter fahre und im Zelt schlafe.« Damit hatte er deutlich mehr erzählt, als er vorhatte. Er nahm sich vor, nicht mehr so viel zu plaudern, bis er über die anderen auch mehr erfuhr.

»Und warum …«

»Was ist mit deinem Auge?«, fragte Alex und unterbrach damit Fiefies weitere Fragen, hoffte er zumindest.

Ihm fiel auf, dass er Fiefie tatsächlich aus dem Konzept gebracht hatte. »Es ist dir aufgefallen?«, fragte er erstaunt. »Ist es so schlimm?«

»Was ist los?«, fragte Steffi und beugte sich vor.

»Es ist rot und tränt«, sagte Alex.

»Oh, jetzt, wo du es sagst.« Steffi lehnte sich zurück. »Seit wann hast du das, Fiefie?«, fragte sie.

Alex runzelte die Stirn. Steffi hatte erzählt, dass sie Fiefie im Winter über einen gemeinsamen Bekannten kennengelernt hatte und sie seit einigen Tagen mit ihm unterwegs war. Wie konnte sie diese Entzündung übersehen haben? Es war ihm, Alex, sofort aufgefallen, als er die Gelegenheit hatte, Fiefies Gesicht näher zu betrachten.

»Entzündung. Chronische Sache. Ich muss Augentropfen nehmen, dann wird es wieder besser«, sagte Fiefie und hob die Schultern.

»Bist du sicher?«, fragte Alex und trank einen Schluck seines Bieres. Er fand, dass Fiefie das viel zu locker nahm, und es verwirrte ihn, wie entspannt und lässig Fiefie an seinem Joint zog, ohne darüber nachzudenken, ob Drogen bei dieser Art von Entzündung nicht eher kontraproduktiv waren.

»Klar. Hatte ich schon öfter«, sagte Fiefie und hob erneut die Schultern. Er verlagerte das Gewicht. »Kann mir jemand helfen?«, rief Hannah aus dem Wohnmobil.

»Bleibt sitzen. Ich mach das«, sagte Fiefie und stand auf.

»Bist du so eine Art Augenarzt?«, fragte Steffi.

Alex lachte laut auf und betrachtete Steffi. »Ne.« Er fand den Gedanken amüsant, aber Steffi blieb ernst und sah ihn mit großen Augen an, ohne ihre Lippen zu einem Lächeln zu verziehen. Als trug sie die ganze Last der Welt auf ihren Schultern. Als hafte an ihr die Schwere, die Fiefie in seiner Leichtigkeit fehlte. Alex dachte darüber nach, dass er allein weiterreisen sollte, andererseits machten ihn die drei nun doch neugierig. Und er fand es nett, dass sie ihn einluden, an ihrem Tisch Platz zu nehmen, und dass Hannah für ihn mitkochte. Es war deutlich mehr, als er erwartet hatte, als er an diesem Rasthof den Daumen in die Höhe getreckt hatte, um eine Mitfahrgelegenheit zu finden.

»Nein, ich bin kein Augenarzt«, sagte er in Steffis Richtung und gluckste auf. Er wünschte sich, sie würde lächeln. Oder grinsen. Oder irgendwas in der Art. Doch sie starrte ihn nur mit traurigen Augen an. »Ich bin gar kein Arzt«, konkretisierte Alex und trank einen Schluck von dem Bier, das Fiefie ihm hingestellt hatte.

*

Zu seiner Verwunderung baute niemand am nächsten Morgen das Zelt ab, und Alex beschlich das Gefühl, dass das Trio vorhatte, hier einige Tage zu verweilen. Er ging zu Steffi, die mit einer Tasse Kaffee am Tisch saß, an dem sie am Abend zuvor zu Abend gegessen hatten. »Wann fahren wir weiter?«, fragte Alex.

Er war auf die Gruppe angewiesen. Sie hatten ihn zu einem verlassenen Parkplatz entführt, von wo aus er keine Chance hatte, per Anhalter weiterzufahren. Dass ihm das erst jetzt klar wurde, ärgerte ihn. Carola hatte ihn vorgewarnt, nicht zu naiv zu sein und nicht jedem zu trauen. Er hatte ihr versichert, dass er vorsichtig sein würde, aber so wie es aussah, begann er mit den Fehlern bereits zu diesem frühen Zeitpunkt seiner Reise. Warum hatte er sich ihre Worte nicht zu Herzen genommen?

»Hast du es eilig?«, fragte Steffi. Sie schob ihm die Kanne mit Kaffee hin. »Ich denke, wir werden einige Tage hierbleiben.«

Alex nahm sich eine leere Tasse. Wenigstens gab es Kaffee.

»Das ist …«

»Gibt es Milch?«, fragte Alex leicht genervt und schenkte sich ein. Er ärgerte sich über seine eigene Dummheit. Bis nach Nordnorwegen war es weit, und er würde es nicht rechtzeitig schaffen, wenn er hier herumtrödelte. Es nervte ihn, dass er nun praktisch gezwungen war, bei der Gruppe zu bleiben.

»Ist aus. Du musst den Kaffee schwarz trinken. Aber …«

Steffi hielt inne, als Alex einen Schluck nahm. Das heiße Getränk tat ihm gut und wärmte ihn von innen heraus. Durch das Koffein fühlte er sich gestärkt und wach, und die Wärme, die ihn durchströmte, tröstete ihn etwas. »Was ist?«, fragte er, als Steffi nicht weiterredete. »Ach, nichts.« Steffi winkte ab. »Ist eh zu spät.«

»Hey. Das ist meine Tasse!«

In dem Moment wurde Alex klar, was Steffi ihm hatte sagen können. Er sah auf und versuchte, möglichst entschuldigend zu Fiefie zu sehen. »Ich … äh …« Sofort stellte er die Tasse ab.

Als wäre die Tasse noch unbenutzt, trank Fiefie daraus, während er Alex streng ansah.

»Tut … Tut mir echt leid«, stotterte Alex. »Ich … Ich dachte, dass …«

»Schon gut«, herrschte Fiefie ihn an. Er nahm einen weiteren Schluck und schob die Tasse zu ihm zurück. »Wir können sie uns teilen.«

»Äh.« Alex sah zu der Tasse und spürte, dass er rot wurde. Noch nie hatte er mit Fremden das Geschirr geteilt. Ja, mit Carola. Und natürlich mit Silas, aber Fiefie war für ihn vollkommen fremd.

»Es ist okay«, sagte Fiefie und lächelte freundlich. »Trau dich.«

Zögerlich nahm Alex die Tasse und trank einen weiteren Schluck, dann setzte er die Tasse ab. Er fühlte sich unwohl.

»Er wollte wissen, wann wir weiterfahren«, sagte Steffi. Sie sah zu Fiefie hoch und band ihre Haare zu einem losen Knoten zusammen, während sie ihn aufmerksam musterte. »Ich glaube, er hat es eilig.«

Das hatte Alex wegen der Sache mit der Tasse glatt vergessen. »Warum hast du es eilig?«, fragte Fiefie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir haben alle Zeit der Welt. Du hast gestern gesagt, auch du hättest genug Zeit.«

»Ja, aber … ich muss irgendwann wieder heim. Ihr nicht?«, fragte Alex und sah Steffi und Fiefie abwechselnd an. »Also, ich bin arbeitslos. Beziehungslos. Meine Wohnung ist untervermietet. Mich erwartet niemand zu Hause«, erinnerte Steffi ihn und hob eine Augenbraue. Ein trauriger Zug umspielte ihre Augen.

»Und ich habe für dieses Jahr genug gearbeitet«, betonte Fiefie.

Alex runzelte die Stirn. »Könnt ihr mich wenigstens zu einer Hauptstraße fahren, damit ich weiterkomme?«

Fiefie grinste und betrachtete ihn auf eine Weise, wie ein Vater seinen Sohn ansehen würde, der wie erwartet Mist gebaut hatte.

»Ich meine, dann kann ich allein weiter. Es war nett bei euch, aber ich muss die Nordlichter sehen«, versuchte Alex zu erklären. »Schau dich um, hier ist so viel Schönheit«, sagte Steffi und zeigte auf die Felder, die großen Bäume, die hinter dem Wohnmobil standen, und den Wald, der am Horizont zu sehen war. »Du verpasst das alles, wenn du nur an deine Nordlichter denkst.«

»Ja, das mag schon sein.« Alex drehte sich um. Okay, die Lage war nicht schlecht, aber es war langweilig und nichts Besonderes. »Ich bin wegen der Nordlichter hergekommen.«

»Blöd, dass die Wahrscheinlichkeit, Nordlichter zu sehen, derzeit ziemlich gering ist. Wir haben Anfang September. Warte noch einen Monat, da stehen deine Chancen besser«, sagte Fiefie und kicherte leise. Sein Auge sah besser aus als am Vorabend. Vielleicht hatte er recht, und es reichte, wenn er es mit Augentropfen versorgte. »Du siehst, du hast alle Zeit der Welt. Mach die Augen auf und schau dir das an, was sich dir zeigt«, empfahl Steffi. »Welchen Sinn hat es, die Nordlichter gesehen zu haben und dabei für alles andere den Blick zu verlieren?«

Alex stöhnte leise. »Ihr versteht es nicht.«

»Er ist halt einer der Dauergestressten, die sich in den Norden fliegen lassen, eine geführte Tour zu den optimalen Plätzen für die Nordlichter buchen und anschließend eilig zurück nach Hause fliegen und glauben, sie würden Norwegen kennen«, überlegte Fiefie laut und lehnte sich vor. Er zog die Tasse wieder zu sich heran und trank, als wäre es das Normalste der Welt, sich eine Tasse zu teilen.

Alex seufzte.

»Oder?« Fiefie sah ihn an.

Alex spürte Wut in sich hochsteigen. »Ja, vielleicht«, sagte er und ballte eine Hand zu einer Faust. »Vielleicht habe ich nicht viel Zeit, und ja, vielleicht übersehe ich unterwegs einiges, aber ich habe mir vorgenommen, diese Nordlichter zu sehen, und das ist alles, was mich interessiert. Also sagt mir bitte einfach, ob ihr mich zu einer größeren Straße in einer dichter besiedelten Gegend fahren könnt. Bitte. Ich will nicht laufen. Ich habe Angst, mich zu verlaufen und in dieser Einsamkeit zu verhungern «, fügte er mit lauter Stimme hinzu. Er spürte, dass sich seine Hand etwas entspannte, er die Faust automatisch gelockert hatte.

Steffi und Fiefie sahen ihn an. Fiefie blinzelnd mit zusammengepressten Lippen, Steffi mit unbewegter Miene.

»Klar, das machen wir.« Hannah sah müde aus, als hätte sie nicht genug geschlafen. Ihre Haare trug sie in einem Pferdeschwanz, obwohl sie dafür zu kurz waren. Sie hatte am Tag zuvor besser ausgesehen. »Wir fahren dich dort hin, und du kannst versuchen, dich in den Norden durchzuschlagen.«

»Es gibt zurzeit noch keine Nordlichter«, sagte Fiefie laut. »Es ist vollkommen idiotisch, jetzt in Hektik zu verfallen.«

»Er ist Tramper. Er wird nicht viele Gelegenheiten haben, weiterzureisen. Ich glaube, es ist besser, wenn er sich auf den Weg macht«, erwiderte Hannah. Sie setzte sich ebenfalls und schenkte sich Kaffee ein. Sie hatte sich eine Tasse mitgebracht.

»Danke«, sagte Alex.

»Kein Problem«, erwiderte Hannah und lächelte ihn an.

»Warum nehmen wir ihn nicht mit nach Schweden und werfen ihn dort raus?«, fragte Fiefie und starrte Hannah ungeduldig an. »Dann können wir uns zumindest die Kosten für die Brücke teilen. Wenn wir zu viert drüberfahren, ist das günstiger für uns alle.«

»Du kannst ihn nicht zwingen, bei uns zu bleiben«, erwiderte Hannah. »Er ist hier, um sich die Nordlichter anzusehen. Das ist sein gutes Recht. Wir sind hergekommen, ohne Ziel und ohne feste Route. Es wäre unfair, in ihm die Hoffnung zu wecken, wir könnten ihn viel weiter mitnehmen.« Sie legte eine Hand auf Fiefies Schulter. »Hör auf zu träumen. So was wie mit Joris passiert nicht alle Tage. Und wir haben immerhin Steffi.«

Alex blinzelte. Er verstand nur Bahnhof.

Fiefie schien nicht Hannahs Meinung zu sein. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und stand auf.

Hannah sah ihm nach und seufzte laut.

Steffi trank von ihrem Kaffee. »Schade«, sagte sie.

»Ja, aber man kann es nicht erzwingen.« Hannah stand ebenfalls auf. »Mach dich fertig. Ich fahr dich in einer halben Stunde zur Hauptstraße.«

»Danke«, sagte Alex und versuchte, das alarmierende Grummeln in seinem Bauch zu ignorieren. Er spürte, dass er etwas verpasst hatte. Dass er einen Fehler gemacht hatte. Doch er wusste nicht, was er falsch gemacht hatte. Aber irgendwas stimmte nicht, und es fühlte sich nicht gut an, die drei einfach hinter sich zu lassen.

Vielleicht, weil Fiefie recht hatte und es viel zu früh war, die Nordlichter zu sehen. Oder war es, weil er insgeheim wusste, wie recht Steffi damit hatte, dass er aufgrund seiner Fokussierung auf die Nordlichter ganz andere Dinge verpasste?

*

Hannah sagte nichts, während sie das Wohnmobil auf dem kleinen Weg zurück ins Dorf lenkte. Alex musterte sie, während er versuchte, seine Finger davon abzuhalten, nervös auf seinem Oberschenkel zu trommeln. Er sah nach draußen und betrachtete die spätsommerlichen Felder. Vereinzelt standen Sonnenblumen am Rand, immer wieder waren diese blauen Blumen zu sehen, von denen er meinte, dass es Kornblumen waren. Er war sich jedoch nicht sicher. Er würde Steffis Hinweis beherzigen. Die Nordlichter waren bestimmt ein Highlight auf dieser Reise, doch nur diesen hinterherzujagen und dabei vor lauter Eile kein Auge für die restliche Schönheit zu haben, war falsch.

»Also kennt ihr euch schon lange, du und Fiefie?«, fragte er und wendete seinen Blick Hannah zu. Das Schweigen zwischen ihnen machte ihn nervös. Sie kaute auf einem Kaugummi und trug eine Sonnenbrille, die viel uncooler war, als er es von ihr erwartet hatte. Die Haare trug sie offen. Mit dem Muskelshirt wirkte sie maskulin, auch wenn ihre Jeans eng geschnitten war und die weibliche Silhouette nicht verhüllte. Sie hob die Schultern.

Alex seufzte und sah nach draußen. Erste Häuser waren zu sehen. Er hatte keine Ahnung, wie weit sie ihn fahren würde, aber er hoffte, dass die Straße dort wirklich belebt genug war, dass aufgeschlossene Autofahrer ihn mitnahmen. Doch was, wenn er wieder auf komische Menschen treffen würde? Was, wenn er gar nicht bis in den Norden kam, weil die Straßen verlassen waren?

»Wann fahrt ihr weiter?«, versuchte er es erneut.

Hannah steuerte den Wagen mit einer Hand, den linken Arm hielt sie lässig aus dem geöffneten Fenster. »Wir treffen uns mit Freunden bei Oslo und werden dann weiter nach Norden fahren, so ist der grobe Plan. Aber wir entscheiden meist spontan.«

Alex verdrehte die Augen. Zu Hause hatte ihn jeder bewundert für seine flexible Urlaubsplanung, jeder hatte ihm gesagt, er sei mutig, dass er ohne genauen Plan einfach losfuhr und lediglich ein ungefähres Ziel vor Augen hatte. Jetzt bei Hannah fühlte er sich stockkonservativ, weil er als Ziel seiner Reise einzig und allein den hohen Norden hatte. »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Wann fahrt ihr weiter?«

»Wir treffen uns in zwei Wochen mit einer zweiten Gruppe«, gab Hannah Auskunft und grinste ihn an, als hätte sie ihm bewusst nicht geantwortet, um ihn zappeln zu lassen.

»Aha.« Alex würde ihr nicht den Gefallen tun, weiter nachzufragen. Er konnte ihr ansehen, dass sie sich innerlich über ihn lustig machte. Er sah zum Fenster hinaus und presste seine Lippen aufeinander.

»Wir hätten die gleiche Richtung. Ich glaube, die Nordlichter würden mich auch interessieren, und ich schätze, Fiefie und Steffi wären ebenfalls nicht abgeneigt«, sagte Hannah.

Überrascht wendete Alex seinen Kopf. »Aber?«

Hannah grinste. Sie sah ihn an und hob schon wieder die Schultern. »Es gibt kein Aber. Wir waren einfach nur überrascht von der Hektik, die du an den Tag gelegt hast.«

Ein aufgeregtes Kitzeln im Bauch überkam ihn, und Alex musste lächeln. Für einen kurzen Moment stellte er sich vor, er würde mit den anderen reisen. Der Gedanke gefiel ihm mehr als erwartet. »Was macht ihr denn beruflich, dass ihr es euch erlauben könnt, so lange unterwegs zu sein.«

»Wir sind den Sommer über Erntehelfer. Also Fiefie und ich. Steffi sollte dir selbst über sich erzählen«, beantwortete Hannah seine Frage.

»Ich weiß. Sie hat mir erzählt, dass sie arbeitssuchend ist.« Alex versuchte, sich Hannah und Fiefie als Erntehelfer vorzustellen, und fand nicht, dass das zu den beiden passte.

»Sie nimmt sich die Auszeit, die sie braucht, und hat keinerlei Vorgaben, wann sie zurück sein muss«, fügte Hannah hinzu. Sie kaute mit offenem Mund auf ihrem Kaugummi. »Wann musst du zurück sein? Hast du einen Job?«

Alex zuckte zusammen. »Der Job ist egal«, sagte er schnell, und in der Hoffnung, dass sie nicht mehr nachfragen würde, ergänzte er. »Aber ich habe ein Kind. Ich will nicht zu lange wegbleiben.«

»Du hast ein Kind?« Hannah nickte. »Wow, das hätte ich nicht gedacht.«

»Ich bin jung Vater geworden. Silas, mein Sohn, ist acht Jahre alt.« Alex berührte die Hosentasche mit seinem Geldbeutel. Darin waren zwei Bilder von Silas, eines, auf dem Silas noch ganz klein war, und eines, auf dem er zusammen mit seiner Mutter in die Kamera strahlte. Das zweite Bild war erst vor einigen Wochen im Frühsommer während einer Wanderung entstanden.

»Und seine Mutter? Seid ihr verheiratet?«, fragte Hannah.

»Ja«, sagte Alex knapp. Über Carola wollte er nicht reden. Er wollte nicht mal über Silas reden, doch es war eine willkommene Ablenkung, um von seinem Job abzulenken. Vielleicht spürte Hannah, dass er nicht über Carola reden wollte, denn sie stellte ihm keine weiteren Fragen. Alex sah wieder aus dem Fenster. Die Straße, auf der sie fuhren, war bereits zweispurig. Sicherlich würde sie bald anhalten.

Er beneidete Leute wie Hannah. Leute, denen die Karriere nicht so wichtig war, die nur arbeiteten, um Geld zum Leben zu verdienen. Er wünschte, er hätte ebenfalls solch eine lockere Einstellung. Ihm war eine Karriere früher wichtig gewesen, doch seit er sein Architekturstudium abgeschlossen hatte, hatte er mehrere Enttäuschungen erlebt. Und jetzt war sowieso alles egal.

»Also bist du nicht gebunden«, stellte Hannah nach einigen Minuten fest.

»Nein.« Alex schüttelte den Kopf, und eine Kälte stieg von seinen Fingerspitzen auf bis zu seinen Unterarmen. Die Gründe, warum er sich auf diese Reise begeben hatte, durchfluteten sein Gehirn wie eine Flutwelle. Auf einmal fühlte er sich einsam und von allem gelöst, das ihm vorher Halt gegeben hatte.

Er konnte Hannahs Blick spüren, doch er wollte sie nicht ansehen. Auch nicht, als sie sagte: »Dann schließ dich uns an. Wir kennen uns gut aus. Es gibt kaum eine bessere Chance für dich, als mit uns möglichst weit in den Norden zu kommen. Fiefie war echt traurig, als du gepackt hast.«

»Warum?«, fragte Alex.

»Fiefie ist gerne mit vielen Menschen zusammen. Es soll eine möglichst große Gruppe sein. Er sehnt sich nach Reisebegleitern, die dauerhaft bleiben«, erklärte Hannah.

Was meinte sie wohl mit dauerhaft? Alex schluckte schwer.

»Du hast doch Zeit. Es gibt nichts, was dich daran hindert, es langsamer anzugehen, oder?« Hannah klopfte leicht mit den Fingern auf das Lenkrad.

Alex konnte ihr nicht antworten. Sein Herz schlug ihm hastig in der Brust. Das Rauschen im Ohr wurde immer lauter. Er schüttelte wie betäubt den Kopf. Er dachte an Silas und dessen Bilder in seinem Geldbeutel. Hannah fuhr raus und hielt an einem Parkplatz. Sie waren nun an der Hauptstraße, auf der sie hergekommen waren. Alex erkannte die Stelle sofort.

»Alles okay?«, fragte Hannah. Ihre Stimme klang besorgt.

»Ja«, sagte Alex und sah stur geradeaus. Das Rauschen wurde schwächer, und als er seine Finger aneinander rieb, wurden sie wärmer. Er straffte seine Schultern. »Ja«, wiederholte er. »Danke, es geht schon.«

Hannah trommelte schneller mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. »Hör mal, du siehst blass aus, Alex«, sagte sie. »Ich werde dich nicht hier stehen lassen. Ich glaube nicht, dass du gerade in der Lage bist, allein weiterzureisen.«

Mühsam drehte Alex seinen Kopf. Er bemühte sich darum, sie anzulächeln, doch er konnte sie nicht überzeugen. Das spürte er bereits, als sich sein Lächeln verkrampft und steif anfühlte. Sie schüttelte den Kopf und musterte ihn aufmerksam. »Alex«, sagte sie leise.

Er räusperte sich. »Ich … weiß nicht, was ich machen soll. Ich will wirklich nicht alleine weiterreisen, aber ich will mich euch nicht aufdrängen. Ich glaube, ich will zurück nach Hause.« Den letzten Satz flüsterte er.

Hannah seufzte. »Also, ich fahr dich jetzt nicht wieder nach Deutschland zurück. Das kannst du vergessen.« Sie lachte, und es klang ein wenig spöttisch.

Es animierte ihn trotzdem dazu, zu lächeln.

»Du bist ein bisschen komisch, und ich habe keine Ahnung, welche Gründe du hast, dass du dir ausgerechnet die Nordlichter anschauen willst, aber du hast hier drei Menschen, die ebenfalls komisch sind und denen es egal ist, wohin sie fahren, solange sie nur unterwegs sind. Also, ich finde, das passt ganz gut.«

»Und die Leute, mit denen ihr euch trefft?«, fragte Alex. »Die sind auch komisch, mach dir keine Sorgen«, antwortete Hannah.

Alex schmunzelte. »Sehr beruhigend.«

»Ich weiß nicht, ob sie mitkommen wollen. Ich weiß nicht einmal, ob Fiefie und Steffi dabei sein wollen, aber wir können dich gerne so weit begleiten, wie es sich für uns alle gut anfühlt. Und wir könnten uns wirklich die Kosten für die Brücke und das Benzin teilen.« Hannah zeigte nach vorne, wo sie wohl Schweden vermutete.

»Lass uns zurückfahren und mit den anderen darüber reden. Ich kann dich nicht aussteigen lassen. Nicht in dieser Verfassung, in der du dich gerade befindest.«

Alex starrte auf seine Finger und rieb sie vorsichtig aneinander. Sie waren nicht mehr länger taub. Warum glaubte Hannah, Verantwortung für ihn übernehmen zu müssen? Sie kannten sich doch gar nicht. Trotzdem schien Hannah der Meinung zu sein, es ihm schuldig zu sein.

»Und?« Hannah lächelte ihn an, und sie sah zum ersten Mal richtig freundlich aus.

»Also gut, dann komme ich mit«, entschied Alex schnell, bevor er noch länger darüber nachdenken konnte. Er musste weiterreisen. Und es war besser, das mit drei Menschen zu tun, die er zumindest etwas kannte. Er wollte nicht allein reisen.

*

»Ich wusste es!«, schrie Fiefie, als Alex ausstieg, und lief auf ihn zu. Er packte ihn an der Hand und drückte seine Schulter fest gegen die von Alex, eine Begrüßung, die zu ihm passte.

Grinsend sah Alex zu ihm hoch und hob beide Hände. »Ich wollte doch nicht allein weiterreisen.«

»Sehr gut«, sagte Fiefie und nickte.

»Hey.« Steffi lief auf ihn zu, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und lächelte ihn an. Da Alex wusste, wie selten sie lächelte, fühlte er sich erst recht sehr geehrt.

Einen Moment lang standen sie sich im Kreis gegenüber, Fiefie, Steffi und er. Alex war überrascht, dass sich die anderen so über seine Rückkehr freuten, insbesondere Fiefie, mit dem Alex noch nicht viel gesprochen hatte. Damit hatte er gar nicht gerechnet. Aus seiner Sicht hatten sie einen miserablen Start gehabt, aber vielleicht sahen das Steffi und Fiefie anders.

»Hilf ihm, das Zelt aufzubauen. Ich bereite das Essen vor«, sagte Hannah. Von der Freundlichkeit, die sie zuvor gezeigt hatte, war nichts mehr zu merken. Sie hatte wieder den dominanten Ton angenommen und wedelte eifrig mit den Händen, als sie sich nicht sofort in Bewegung setzten. Sie hörte erst damit auf, als sie auseinanderstoben.

*

Nach dem Essen beugten sie sich gemeinsam über eine riesige Karte von Südschweden. Sie war abgenutzt, hatte Risse an den Seiten und Flecken, die wie aufgemalte Seen aussahen. Zusammen mit den Falten, die kreuz und quer verliefen und davon zeugten, dass jemand sich nicht die Mühe gemacht hatte, die Karte an der Faltkante zu falten, erinnerte sie Alex an das Wohnmobil, das ebenfalls seine besten Zeiten hinter sich hatte.

Hannah und Fiefie, die Südschweden besser kannten als Steffi und er, schlugen einen Umweg über die östliche Küste vor und rieten zu längeren Aufenthalten an einem großen See.

»Und dort treffen wir uns mit den anderen«, sagte Hannah und deutete knapp unterhalb von Oslo.

Steffi nickte, und auch Alex fand, dass das nach einem guten Plan klang. Er freute sich sehr darüber, dass das Trio ihn weiter aufnahm. Er fühlte sich erstaunlich wohl, und die Panik, die ihn am Vormittag überkommen hatte, war nur noch eine ferne Erinnerung. Er wischte alles von sich weg und tauchte ganz in das Abenteuer ein, das vor ihm lag.

Dass sie bereit waren, Pläne zu schmieden und ihre Route auf einer Karte ankündigten, machte es ihm leichter, ihnen zu vertrauen und sich als Teil der Gruppe zu definieren.

Als er an diesem Abend Carola und Silas anrief, war er optimistischer als am Tag zuvor, und selbst die Nacht verbrachte er besser, auch wenn es in dem kleinen Zelt nach wie vor sehr unbequem war.

Am nächsten Tag reisten sie über die Öresundbrücke nach Schweden ein. Zuerst übernahm Fiefie das Fahren, dann fuhr Steffi und anschließend Hannah. Die letzte Etappe sollte Alex hinter das Steuer. Er war unsicher, da er wenig Fahrpraxis hatte und schon gar nicht mit einem Wohnmobil. Zunächst wusste er nicht, ob er es mit seinem Führerschein überhaupt fahren durfte, aber die anderen hatten ihn beruhigt und behauptet, dass das in Ordnung gehen würde. Alex war sich da nicht ganz so sicher, aber andererseits konnte es ihm ja egal sein, wenn er erwischt wurde und man ihm den Führerschein entzog. Wenigstens war es hell und die Straßen leer, was es deutlich vereinfachte. Ihm war klar, dass er irgendwann an seine Grenzen kommen würde. Wenn es regnete oder die Straßen kurviger und enger wurden. Als er daran dachte, dass er den anderen irgendwann sagen musste, dass er nicht mehr fahren könne, schwappte eine neue Welle von Panik über ihn.

Es gelang ihm, sie vom Rest der Gruppe unbemerkt über sich ergehen zu lassen, und er konzentrierte sich wieder auf das Fahren und seinen Atem. Nach einiger Zeit konnte er sich ganz und gar der Fahrt widmen, ohne an die düstere Zukunft zu denken.

Fiefie saß neben ihm und wies ihm den Weg zu einem Rastplatz auf einer Halbinsel unterhalb von Kalmar. Dort gab es eine Dusche und Toiletten und einen großen Tisch mit zwei Holzbänken. Hier würden sie nun den nächsten Halt machen. Alex parkte das Wohnmobil und sah sich um. Ihm fielen sofort die hohen Gräser und die Wildblumen darin auf. Es sah schön aus. Nicht das, weswegen er gekommen war, aber auf jeden Fall sehenswert.

*

Bevor es dämmerte, lief Alex den schmalen Weg entlang zum Ufer und starrte aufs Wasser, das eine tiefblaue Farbe hatte und im Kontrast zum hellblauen Himmel stand. Der Horizont bildete die gegenüberliegende Insel Oland, die sich in einem satten Grün abhob. Alex versuchte, alles auf sich wirken zu lassen, immer daran denkend, was Steffi zu ihm gesagt hatte. Er musste auch alles andere außer den Nordlichtern in sich aufsaugen.

Für einen kurzen Moment schloss Alex die Augen und versuchte, die Umgebung mit allen restlichen Sinnen wahrzunehmen, um die Schönheit darin zu erkennen. Er war neugierig, ob es ihm gelingen würde.

Er spürte die warmen Sonnenstrahlen auf der Haut. Das Geräusch von Wellen vermischte sich mit dem entfernten Kinderlachen. Nur die Gerüche waren komplex und nicht eindeutig definierbar. Schnell wurde ihm klar. Es gelang ihm nicht. Es spiegelte einfach nicht das wider, was er vor sich sehen konnte. Eilig riss Alex die Augen auf, blinzelte und betrachtete die Farbenvielfalt vor sich, als wäre er längst am Ziel und würde am Himmel die grünen Schatten eines Nordlichts erkennen.

Als er ein Geräusch hinter sich hörte, drehte er sich ruckartig um.

Steffi trat näher und blieb dicht neben ihm stehen, ohne ihn anzusprechen. Ihre Ellenbogen berührten einander. »Sieht es nicht wunderbar aus?«, fragte Alex leise.

»Ja«, sagte sie leise und sah zu ihm.

»Diese Farben. Diese Weite. Diese Freiheit.« Alex spürte, wie er fröstelte, und schob seine Hände in die Hosentaschen. Er drehte sich so, dass er sie sehen konnte und dahinter die umwerfende Kulisse.

Steffi antwortete nichts, sondern sah nur mit weit geöffneten Augen auf das Wasser. Sie trug ihre Haare als wirren Knoten, eine einzelne lila-grün gefärbte Strähne hatte sich gelöst und hing an ihrer Schläfe hinab. Alles in ihrem Gesicht wirkte entspannt, aber sie lächelte weiterhin nicht, und das bedauerte Alex zutiefst. Sie könnte eine so hübsche Frau sein, wenn sie nur lächeln würde.

Sie atmete tief ein und stieß die Luft mit Druck aus ihrer Lunge. Genau wie er schloss sie die Augen und hob ihr Kinn, als wollte sie den Moment mit allen Sinnen erfassen. Dann streckte sie ihren Rücken und lehnte sich nach hinten. Die Hände an der Taille dehnte sie ihren Brustkorb. Als sie die Streckung löste, öffnete sie die Augen und sah ihn direkt an.

»Ich bin so verspannt, habe seit einigen Wochen kein Yoga mehr gemacht«, sagte sie.

»Aber du bist Yoga-Lehrerin«, sagte Alex. Die Aussage war so nichtssagend, aber das fiel ihm erst auf, als er die Worte nicht mehr zurücknehmen konnte.

»Ja, aber seit ich nicht mehr arbeite, habe ich nichts mehr gemacht. Ich habe früher gedacht, ich könnte ohne Yoga nicht leben, aber komischerweise klappt es ganz gut, obwohl wenn ich merke, dass mir etwas fehlt.«

Alex schwieg. Was sollte er dazu auch sagen? Er könnte sie fragen, was ihr am Yoga am meisten fehlte oder warum sie es nach der Kündigung aufgegeben hatte, statt sich woanders zu bewerben, aber er wollte ja auch nicht, dass man ihn löcherte, also hätte er es unpassend gefunden.

»Hast du schon mal Yoga gemacht?«, fragte Steffi.

»Nein.« Alex schüttelte den Kopf. »Meine Freundin hat früher mal Pilates gemacht. Oder macht es immer noch. Ich habe keine Ahnung.«

Steffi hob eine Augenbraue.

Alex‘ Fingerspitzen kribbelten, als ihm bewusstwurde, wie reserviert das klang, also fügte er hinzu: »Sie geht ins Studio. Die haben viele Kurse. Ich kenne mich damit nicht aus.«