Und dann kam Gott - Carolin George - E-Book

Und dann kam Gott E-Book

Carolin George

0,0

Beschreibung

Mit Gott konnte die WELT-Journalistin Carolin George lange nichts anfangen. Genauer gesagt, die längste Zeit ihres bisherigen Lebens. Bis ein redaktioneller Auftrag die Journalistin in viele verschiedene Kirchen und Kapellen führte. Dort erlebte sie etwas, das sie bis dahin so noch nie gespürt hatte: innere Ruhe. "Ich war fasziniert davon, als Mensch auch ohne Leistung und mit Fehlern akzeptiert zu sein, war verblüfft von der Ruhe, die mich fand." Auf einmal merkte sie, was ihr all die Jahre zuvor fehlte, ohne dass sie es bewusst vermisst hatte: Glaube, Liebe, Hoffnung – Gott. Als sie schließlich den Entschluss fasst, sich konfirmieren zu lassen, war sie 42 Jahre alt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 221

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



CAROLIN GEORGE

Und dannkam GOTT

Warum ich Glaube nie brauchte –und mich mit 42 konfirmieren ließ

Carolin George

Geboren 1976 in Hamburg. Studierte Angewandte Kulturwissenschaften an der Universität Lüneburg und arbeitet seit 2005 als freie Journalistin und Autorin in Lüneburg, unter anderem für WELT/WELT AM SONNTAG.

Wollte als Kind Karla Kolumna werden, die rasende Reporterin aus den Hörspielen. Gründete auf dem Gymnasium eine Schülerzeitung und absolvierte ihr erstes Praktikum bei einem Wochenblatt. Heute stellt sie in ihren Reportagen und Porträts am liebsten Menschen und ihre Geschichten vor.

Bibelzitate folgen der Neuen Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmenbzw. der Lutherbibel.

NGÜ, Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft.

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

© 2021 Brunnen Verlag GmbH, Gießen

Projektleitung und Lektorat: Petra Hahn-Lütjen

Umschlagfoto: Berit Neß, www.kreativ-kontor-lueneburg.de

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger

Satz: DTP Brunnen

ISBN Buch 978-3-7655-0765-6

ISBN E-Book 978-3-7655-7601-0

www.brunnen-verlag.de

Inhalt

Über „Und dann kam Gott“

1 Tulpen im Oktober

2 Gottesdienst ist „mein Yoga“

3 Da will ich nie wieder hin

4 Gott, der Strippenzieher

5 Dazwischen

6 Mein erster Engel

7 Dann sollte ich auf einmal eine Pastorin interviewen

8 … und kurze Zeit später ein ganzes Buch über Kirchen schreiben

9 Winke, winke

10 Wie die fremde Welt mir ihre Hand reichte

11 Und wie sie mir den Weg leuchtete

12 Die unerschrockene Freundin

13 Meine ersten Gottesdienste

14 Mein erstes Abendmahl

15 Meine Patin

16 Auf einmal brauchte ich ihn

17 Die Vergebung

18 Als ich getauft werden wollte, ging das nicht

19 Meine Konfirmation

20 Ich war 42 und neu geboren

21 Gott ist mein Bauchgefühl

22 Mein neues Universum

23 Das Glück

24 Der Trost

25 Die Freiheit

26 Die Prüfungen

27 Der Mut

28 Wenn mir etwas fremd ist

29 Wenn mich etwas enttäuscht

30 Zweifelst du denn nie?

31 Klopf klopf

32 Und dann kam alles anders

Nachwort

Anhang

Über „Und dann kam Gott“

Freiheit. Stärke. Gelassenheit. Carolin George erzählt, wie Gott ihr Leben liebevoll auf den Kopf gestellt hat. Und das macht sie so mitreißend, dass man neu versteht, warum der Glaube „ein Fenster in ein neues Universum“ ist. Unbedingt lesen!

Fabian Vogt, Schriftsteller, Theologe und Kabarettist(„Duo Camillo“)

Aus einem Essay für die WELT wurde ein Buch: Carolin George beschreibt, was passierte, seit sie in einer kleinen Kapelle auf dem Land auf einmal anfing zu weinen. Obwohl sie bis dahin doch immer gut drauf war. Wie ehrlich sie am Ende gegenüber sich selbst ist, macht diesen Text aus.

Robin Alexander, stv. Chefredakteur WELT/WELT AM SONNTAG

Konfirmation mit 42 – klingt ungewöhnlich, doch dahinter steckt eine überraschend erfrischende Glaubensgeschichte! Carolin Georges biografisches Buch ist ebenso berührend wie inspirierend!

Petra Bahr, Regionalbischöfin Sprengel Hannover der Ev.-luth.Landeskirche Hannover. Langjährige EKD-Kulturbeauftragte.Mitglied des Deutschen Ethikrates

Glauben und Zweifeln gehören hier genauso zusammen wie offene Fragen und Gewissheit. Ehrlich, nachdenklich und sympathisch unperfekt macht Carolin George es uns leicht, sie auf ihrem sehr persönlichen, großen Abenteuer zu begleiten. Nicht unglaublich, sondern glaubwürdig im wahrsten Sinne des Wortes!

Daniel Böcking, Journalistund Autor „Warum Glaube großartig ist“

Oft kommt das Glückdurch eine Tür herein,von der man gar nicht wusste,dass man sie offen gelassen hatte.

JOHN BARRYMORE (1882–1942),US-AMERIKANISCHER SCHAUSPIELER

1

Tulpen im Oktober

Ich ließ mich suchen von denen,die nicht nach mir fragten,ich ließ mich finden von denen,die mich nicht suchten.

JESAJA 65,1

Wenn mir jemand vor zehn Jahren gesagt hätte, dass ich eines Tages traurig sein werde, wenn ich sonntags verschlafe und deshalb den Gottesdienst verpasse: Dann hätte ich gedacht, dass jeder Mensch seine eigene Fantasie haben darf.

Die Vorstellung, einen Gottesdienst zu besuchen, hatte in meinem Leben in etwa so viel Platz wie Tulpen im Oktober. Da stimmte einfach etwas nicht.

Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass ich mich im Alter von 42 Jahren konfirmieren lasse, nachdem ich das mit 14 Jahren so strikt abgelehnt hatte. Niemals hätte ich damals gedacht, dass mich mein Weg eines Tages hierhin führen sollte: in Kirchen, zu Pastorinnen und Pastoren, zu Gott.

Wie auch? Ich hatte nirgendwo ein Schild gesehen, das mir den Weg hätte weisen können, eine Landkarte über diese Gegend besaß ich auch nicht, und dann gab es da noch diese vielen Sackgassen und Einbahnstraßen.

Wenn mir also jemand erzählt hätte, wie gut ich mich eines Tages mit Gott verstehen werde und wie wohl ich mich damit fühlen werde, sonntags in den Gottesdienst zu gehen: Dann hätte ich das vielleicht lieb gefunden – oder aber naiv.

Gott brauchte ich schließlich nicht. Das dachte ich ungefähr 30 Jahre lang.

Als meine Freundinnen sich konfirmieren ließen, sagte ich Nein. Ich war stolz auf meine Entscheidung, fühlte mich unabhängig und frei.

Denn mit diesem „Herrn Gott“, der mir vorgestellt worden war als Kind und als Jugendliche, hatte ich nichts anfangen können. Er blieb mir fremd, ich fand nichts Sympathisches an ihm. Und den Pastor bei uns in der Hamburger Stadtteilgemeinde mochte ich auch nicht.

Keine guten Voraussetzungen also für Gott und mich. Ich hatte keinen Bedarf und keinen Bezug. Es gab nichts, was ich bei ihm suchte, und nichts, was mich hätte zu ihm führen können.

Bis ich mich eines Tages auf einem hellgrau lackierten Stuhl sitzend in einer alten Dorfkapelle aus Back- und Feldsteinen wiederfand und spürte, wie mir warme Tränen über die Wangen laufen. Die Tränen waren gekommen, einfach so. Ohne dass ich wusste, wie traurig ich eigentlich bin. Und worüber.

Das hat mich schockiert, denn Tränen war ich nicht gewohnt. Ich hatte sie jahrelang nicht zugelassen. Weinen? Das konnte ich gar nicht. Ich erschrak, was da geschah in dieser kleinen Kirche, ein wenig unheimlich war es mir auch. Doch ich spürte, dass es anders war als alles, was ich bisher kannte, was da passierte.

Als ich den ersten Schreck verdaut hatte, wurde ich neugierig. Ich begann auszuprobieren, was da wohl noch so geht in diesen für mich neuen Räumen. Und das war viel – auch wenn ich das meiste, was ich später in Kirchen erleben sollte, vorher nie bewusst vermisst hatte.

Ich fing sogar an, die neuen Gefühle zu genießen, die mir in der kleinen Dorfkapelle einen so großen Schrecken eingejagt hatten.

Denn ich merkte, dass sie mir guttun. Dass es gut ist, wenn die Gefühle einmal stärker sein dürfen als der Verstand. Dass es guttun kann, sich traurig und schwach zu zeigen anstatt immer fröhlich und stark.

Seit den ersten Tränen auf dem Kirchenstuhl habe ich so viel Neues erlebt wie noch nie zuvor in meinem Leben. Meine Sicht auf so vieles hat sich so grundlegend geändert, dass ich mittlerweile das Gefühl habe, mein ganzes Universum sei saniert, seit ich Gott nicht mehr aus dem Weg gehe. Denn genau das habe ich früher getan, und zwar ganz bewusst. Ich habe Kirchen und Gott gemieden.

Aber Gott hat einfach nicht lockergelassen. Immer wieder zeigte Gott mir, was Ersiees sein kann – jahrelang. Bis ich es endlich bemerkte.

Keine Sorge, was jetzt folgt, ist kein Buch über meine Bekehrung. Keine Geschichte darüber, dass mich der Blitz traf und ich seither beseelt-schwingenden Schrittes durch das Leben springe.

Aber ich habe etwas gefunden, das mich so gelassen macht wie noch nie in meinem Leben. Das mich frei macht, stärkt und sichert. Das mich lieben, wagen und vergeben lässt. Das mir Hoffnung schenkt, Trost und Mut. Und das mir das Vertrauen gibt, meiner Intuition zu folgen. Das alles kann ich zwar nicht zu jeder Zeit und an jedem Ort scheinbar beliebig abrufen. Aber es schenkt mir eine Ruhe, die ich bisher nie kannte.

Eine Christin in meinem Alter hat mir einmal erzählt, dass sie ganz lange dachte, sie müsse in ihrem Leben doch wohl auch mal ohne Gott klarkommen. Es ohne Gott schaffen.

Ich selbst hatte das 30 Jahre lang geschafft.

Es war verdammt anstrengend.

Und ich bin heilfroh, dass es jetzt anders ist. Denn nichts hat mich bisher weitergebracht, als zu erkennen, dass mich diese Haltung eben nicht weiterbrachte. Um mich herum ist zwar nicht alles anders seit Gott. Aber ich bin anders. Und mein Leben ist ein anderes.

2

Gottesdienst ist „mein Yoga“

Ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeitwird sich in Freude verwandeln.

JOHANNES 16,20

Manchmal liege ich samstagsabends im Bett und hoffe, dass ich am nächsten Morgen früh aufwache. Zwar möchte ich so lange schlafen, wie mein Körper es braucht. Ich habe auch selten Lust, mir für einen Sonntagmorgen den Wecker zu stellen. Schließlich ist Sonntag der einzige Tag in der Woche ohne Aufgaben. Diesen Tag möchte ich so frei wie möglich beginnen.

Und trotzdem liege ich samstagsabends da und hoffe, dass ich früh genug aufwache, um in den Gottesdienst gehen zu können. Da meine beiden Lieblingskirchen luxuriöserweise nur zehn Minuten Fußweg von meinem Bett entfernt liegen und der Gottesdienst um 10 Uhr beginnt, heißt früh genug aufzustehen im Notfall für mich wunderbar spät – um 9 Uhr.

Als ich einmal schon um kurz vor 8 Uhr wach wurde, blieb ich einfach liegen. Ich kuschelte mich in meine Decke und freute mich. Ich lag da und freute mich, wach zu sein, und tat nichts anderes. Als ich beschloss, nun doch das warme weiche Bett zu verlassen für Brot, Kaffee und Kirche, war es 9 Uhr. Ich hatte eine Stunde lang nichts anderes getan, außer mich darüber zu freuen, dass ich früh genug wach geworden bin, einen Gottesdienst erleben zu können.

Einen Gottesdienst! Der vor zehn Jahren für mich aus einem Bild diffuser Dunkelheit und gedrückter Stimmung bestanden hatte. Der mit der Kraft, Stärke und guten Laune von heute rein gar nichts zu tun hatte.

Der Gottesdienst ist für mich eine wahre Wohltat geworden. Ich kann die Woche innerlich Revue passieren lassen, ohne dass ich abgelenkt werde von irgendwelcher Wäsche, die aufgehängt werden, einer Spülmaschine, die ausgeräumt werden muss oder einem Telefonat, das geführt werden sollte. Der Gottesdienst ist eine Pause, die so wunderbar gefüllt ist mit Gedanken und Musik, dass ich sie nicht nur aushalten kann, sondern mich mittlerweile regelrecht nach ihr sehne.

Es gibt Sonntage, da ist alles wie früher. Da schlafe ich länger als bis 9 Uhr und es stört mich kein bisschen. Da bin ich wach und möchte trotzdem nicht aufstehen. Auch nicht um 9 Uhr. Da möchte ich lange frühstücken und nicht erst um 11.30 Uhr damit beginnen. Da möchte ich eine Radtour machen oder einen Ausflug und nicht erst um 12 Uhr losfahren. Da möchte ich einen Tag erleben, an dem ich zu keiner bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Ort sein muss. Und ich vermisse nichts. Auch nicht den Gottesdienst.

Aber es gibt sie eben auch: die vielen, vielen Sonntage, an denen es mir mittlerweile ein echtes Bedürfnis ist, in den Gottesdienst zu gehen. Und an denen ich traurig bin, wenn ich ihn verpasse, aus welchem Grund auch immer. Und manchmal stelle ich mir sogar den Wecker.

Denn was ich im Gottesdienst erlebe, erlebe ich an keinem anderen Ort, in keinem anderen Zusammenhang, zu keinem anderen Zeitpunkt meines Alltags. Andere erzählen mir manchmal, was sie beim autogenen Training erleben, beim Meditieren oder beim Yoga: Sie entspannen sich, lassen Gedanken los und finden zu neuen. Sie finden zu sich, finden sich selbst.

Yoga bringt Körper, Geist und Seele in Einklang und sorgt für innere Gelassenheit, lesen wir in nahezu jedem Werbeflyer. „Yoga citta vritti nirodha. Yoga ist das zur Ruhe Bringen der Gedanken im Geist“, heißt es im Yoga-Sutra von Pantanjali. Wenn ich lese, was der indische Gelehrte 400 Jahre nach Christus geschrieben hat, dann denke ich: Mein Yoga ist der Gottesdienst.

Der Gottesdienst räumt meinen Geist auf und kräftigt meine Seele. Allein das ruhige Dasitzen ohne irgendetwas tun zu müssen ist eine Wohltat nach einer Woche voller Termine, Gespräche, Fragen und Entscheidungen. Ein wenig zuhören, ein wenig abschweifen, wieder ein wenig zuhören und wieder ein wenig abschweifen: Das ist eine ideale Kombination für mich.

Durch das, was ich sonntags im Gottesdienst höre, komme ich auf andere Gedanken als montags bis samstags. Und ich kann das, was mich seit Montag oder auch seit Monaten beschäftigt, einmal ganz in Ruhe durchdenken – ich sitze schließlich nicht in einer Vorlesung, sondern nehme mir die Freiheit, mit meiner Aufmerksamkeit nicht immer voll dort zu sein, was gerade vorne passiert.

Ich genieße die Musik, ganz besonders, wenn ein Chor singt, und selbst an die Orgel habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Wirkte ihr Klang zunächst oft zu mächtig auf mich, empfinde ich ihn heute mitunter als regelrecht faszinierend.

Manchmal schenkt mir der Gottesdienst sogar einen freien Sonntag: Als ich mir einmal fest vorgenommen hatte, nach Gottesdienst und spätem Frühstück unbedingt noch etwas arbeiten zu wollen, und der Pastor in seiner Predigt vom Sabbat sprach und davon, wie wichtig es sei, mal einen Tag in der Woche nichts zu arbeiten – da habe ich entschieden, dass ich es auch noch Montag im Büro erledigen kann, was ich sonntagnachmittags zu Hause am Laptop hatte tun wollen.

Es sind Gedanken wie diese, die ich im Gottesdienst aufschnappe, spontan umsetze und dann sehr lange in mir trage. Die Idee, sich ganz bewusst einmal dafür zu entscheiden, einen Tag lang einmal wirklich gar nichts zu arbeiten, sei es für den Beruf oder den Haushalt, und keine einzige Erledigung von der langen Liste zu streichen: Diese Idee setze ich seither natürlich nicht an jedem Sonntag um. Darum geht es auch gar nicht. Aber sie ist in meinem Kopf, sie ist wertvoll – und ich habe sie aus dem Gottesdienst mitgebracht.

Und wenn ich dann noch in einer kleinen Kapelle auf dem Land sitze, mit gerade einmal einer Handvoll anderen Menschen zusammen, und ich höre, dass die Organistin für diesen Sonntag – das Thema der Predigt war Rache – eigens das Stück „Imagine“ von John Lennon einstudiert hat und ich es im Orgelnachspiel nach ein paar Tönen erahne und dann erkenne: Dann bin ich begeistert. Und glücklich, dass ich mir die Mühe gemacht habe, die gemütliche warme Bettdecke wegzulegen und ohne echtes Frühstück im Magen den Weg zu dieser kleinen Kapelle auf mich genommen zu haben.

Wenn ich aus dem Gottesdienst nach Hause gehe, fühle ich mich jedes Mal besser als vorher. Es ist nicht so, dass ich jedes Mal betrübt oder mit Problemen auf der Seele den Gottesdienst besuche. Aber wenn das so ist, dann fühlt sich die Schwere nach dem Gottesdienst ein wenig leichter an. Und wenn das noch nicht möglich ist, dann habe ich nach dem Gottesdienst zumindest das Gefühl, dass ich die Schwere tragen kann.

Weil ich für eine Weile nichts habe tun müssen, nichts habe ändern müssen. Nicht das Gefühl hatte, etwas bewirken, etwas verbessern zu müssen. Sondern in diesem ruhigen Raum, in dem ich stets in dem starken Empfinden sitze, dass alles sein und alles passieren darf, und mit der Kraft, die ich dort spüre, auch in den Steinen, in der Luft und zwischen den Menschen spüre, das Gefühl bekomme, dass ich aushalten kann, was mich belastet.

Die Kraft kommt durch das Licht, das die bunt bemalten Fenster leuchten lässt, und die Sonnenstrahlen, die ihren Weg von draußen bis zu den kräftigen Säulen der großen, alten Kirchen finden. Sie kommt durch das Holz der Bank unter mir, durch die Worte in den Predigten und Liedern – und sie kommt im Abendmahl.

Etwas, das ich zu Beginn meiner Gottesdienstkarriere als unheimlich empfand, das mir sehr fremd gewesen ist. Das ich mittlerweile sehr genieße und von dem ich mit einem warmen Gefühl im Körper zurück zu meinem Platz gehe; dem guten Gefühl, dass jetzt etwas anders ist als vorher, sei es auch noch so unbestimmt und klitzeklein.

Es ist nicht so, dass ich in jedem Gottesdienst das Gefühl habe, auf Gott zu treffen. Es gibt auch Gottesdienste, da bleibe ich innerlich ein wenig fern – sei es, weil mich die Predigt nicht anspricht oder weil mir der Kirchenraum fremd bleibt, weil ich zu abgelenkt bin und mich nicht recht einlassen kann auf das, was gerade passiert, weil ich doch immer noch zu unruhig und rastlos in meinem Inneren bin.

Es ist aber immer so, dass mich die Ruhe, die Rituale, die Musik und die Worte, die ich während des Gottesdienstes höre, und die Gedanken, die ich mir während des Gottesdienstes selbst mache, die Kirche anders verlassen lassen, als ich sie betreten habe. Ich gehe regelmäßig mit Gedanken nach Hause, die ich mir zuvor noch nie gemacht hatte und auf die ich durch die Predigt oder durch Liedtexte gekommen bin. Ich lerne Sichtweisen und Perspektiven kennen, mit denen ich außerhalb von Kirchen nicht in Kontakt komme.

Als ich nach der vorübergehenden Schließung der Kirchen aufgrund der Corona-Pandemie meinen ersten Gottesdienst besuchte, kamen mir die Tränen. Allerdings nicht vor Rührung, Trauer oder Freude, so, wie ich es sonst in Kirchen erlebe.

Sondern vor Verzweiflung. Die Kirchen, mein gefundener Ort, an dem bisher alles sein durfte, alles passieren durfte – sie konnten dieser Ort auf einmal nicht mehr sein. Wie sehr ich die Freiheit in Kirchen zuvor genossen hatte, wurde mir schmerzhaft klar, als diese Freiheit auf einmal nicht mehr unbegrenzt vorhanden war, sondern innerhalb von auf einmal sehr klar abgesteckten Grenzen verlief: mit Maske und Abstand, ohne Gesang, ohne Abendmahl, ohne die Hand zum Nachbarn mit dem Wunsch „Friede sei mit dir“.

Das Gefühl war furchtbar. Die Kirche als Raum der Freiheit schien für mich verloren. Erst Monate später konnte ich Gottesdienste wieder genießen, und zwar auch ohne Abendmahl und eigenen Gesang. Meine Lieblingskirchen hatten zwischenzeitlich umgestellt auf einzelne Solosängerinnen und -sänger sowie kleine Ensembles, und ich bekam das Gefühl, jeden Sonntagmorgen ein Konzert geschenkt zu bekommen. Die Gottesdienste wurden zu meiner Wohltat der Woche. Diese eine Stunde am Sonntagmorgen bildete eine starke, ruhige, Kraft gebende Konstante inmitten einer sich permanent verändernden Umgebung.

Gott kommt immer mit, wenn ich die Kirche verlasse – ob wir uns drinnen begegnet sind oder nicht. Meine Füße sind leichter als auf dem Hinweg, mein Rückgrat ist stabiler, mein Kinn höher. Ich fühle mich gestärkt, so oder so. Wenn ich ohnehin schon frohen Mutes hingegangen bin, kann ich danach das Glück noch stärker spüren, wie gut es mir geht in diesem Moment, an diesem Sonntag, in dieser Zeit, in diesem Leben. Wofür ich dankbar bin und was ich bereits erlebt und durchlebt habe.

Was schwierig war oder ist, empfinde ich in solch einem Moment nicht mehr als Störfaktor eines geglückten Alltags, sondern als organischen Teil dessen. Etwas, das dazugehört, ganz natürlich, und für das nicht immer bloß mein Ziel sein kann, es möglichst schnell loszuwerden. Sondern mit dem ich Frieden geschlossen habe.

Dieser Frieden bleibt zwar nicht immer und überall bestehen. Manche Unbill und manche Erinnerung, eigene Schuld und eigenes Handeln wäre ich trotz aller Gottesdienste, die ich bisher besucht habe und vermutlich auch die ich jemals besuchen werde, eben doch am liebsten einfach los.

Die Quote meines inneren Friedens ist trotzdem spektakulär: Denn bevor ich überhaupt begann, sonntags mitunter in einen Gottesdienst zu gehen, habe ich diesen Frieden zu keinem Zeitpunkt und an keinem Ort gespürt.

Manchmal hat dieses Gefühl nach dem Gottesdienst sogar etwas Erhebendes. So, wie wir unsere Herzen vor dem Abendmahl zum Herren erheben sollen. Dann spüre ich förmlich die innere Kraft, wie sie aus meiner Seele durch die Fäden meiner Zellen bis zu meiner Haut fließt. Klar kräftige ich auch gern meine Faszien. Und gern auch beim echten Yoga. Aber nichts lässt mich so ruhig und stark zurück wie ein Gottesdienst.

Dabei hatte ich doch als Kind beschlossen, nie wieder eine Kirche betreten zu wollen.

3

Da will ich nie wieder hin

Wo der Geist des Herrn ist,da ist Freiheit.

2. KORINTHER 3,17

Meine Entscheidung gegen Gott fiel ziemlich früh. Ich war noch ein Kind, da erlebte ich in der Kirche etwas, das ich so unangenehm fand, dass ich eine schnelle, eindeutige Entscheidung traf: Eine einzige Situation reichte, und ich war weg – sowohl emotional als auch körperlich. Ich sollte nämlich etwas tun, obwohl ich das nicht wollte. Und ich mochte es noch nie, wenn mir jemand sagt, was ich tun soll – es sei denn, ich selbst will das auch.

Es mag wirken wie eine Kleinigkeit, aber für mich war es eine Welt. Ein Eingriff in meine Freiheit. Und mein eigener Wille war mir schon als Kind wichtiger als der Wunsch, es anderen recht zu machen.

Die Überschreitung meines Tanzbereichs bestand in einer ganz einfachen Sache: Ich sollte zum Beten die Hände falten. Das Problem war allerdings, dass ich noch nicht einmal richtig verstanden hatte, was Beten eigentlich bedeutet. Dieser Begriff wurde ganz einfach benutzt, aber erklärt hatte ihn mir niemand. Und als ich zu dem Pastor in der evangelischen Kirche unseres Hamburger Stadtteils sagte, ich wolle meine Hände nicht falten, antwortete er mir doch allen Ernstes, ich müsse das aber tun.

Ich saß also auf dieser Kirchbank, der Pastor hatte gesagt, wir würden jetzt beten und dazu die Hände falten. Und dann blickten alle betreten zu Boden. Ich wusste nicht, was das bedeutet, Beten, ich wollte meine Hände nicht falten, ich wollte auch nicht nach unten blicken. Ich hatte einfach keine Lust dazu, und daher tat ich es auch nicht. Der Pastor aber ließ mich nicht gewähren, ließ mir diese Entscheidung nicht frei. Er bestand darauf, dass ich die Hände falte.

Wie die Situation ausging, ob ich bockig-wütend die Kirche verließ (was ich mir durchaus zutraue) oder eben doch tat wie vorgeschrieben, nur eben widerwillig: Das weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich danach ein sehr klares Gefühl hatte: Da will ich nie wieder hin. Da, wo ich gemaßregelt werde und mir Anweisungen gegeben werden ohne sie zu erklären.

Diesem „da“ habe ich keine weitere Chance gegeben. Also zum Beispiel einer anderen Kirche oder einem anderen Pastor. Für mich war das alles eins. Ein Kirchengebäude war damals ein Ort der Unfreiheit für mich. Und es gab zu jener Zeit keinerlei Anzeichen dafür, was ein solches Gebäude drei Jahrzehnte später für mich bedeuten sollte: ein Ort, an dem die größtmögliche innere Freiheit herrscht.

Später, als Erwachsene, bekam ich immer mal wieder die Bestätigung für das, was ich mir über die Jahre hinweg als Meinung aufgebaut hatte: „Kirche“ mag ich nicht. „Kirche“ will über die Menschen bestimmen, und das mag ich nicht.

Als ein Schulfreund heiratete, es war eine katholische Trauung, formulierte der Pfarrer ganz selbstverständlich den Sinn dieser Beziehung in den zukünftigen Kindern, die Gottes Wille seien. Ich empfand die Reduzierung der Ehe auf die Reproduktion als furchtbar. Bekommt eine kinderlose Liebe denn keinen Segen?

Als der Pastor diesen Moment dann noch einen „Point of no return“ nannte, schnürte sich mir die Kehle zu.

Ich kenne eine Frau, deren Mann sie nach vielen Jahren Ehe verließ und die Scheidung wollte. Zum Schmerz des Verlassenwerdens und dem ungewollten Abschied von einem Lebenskonzept kam für die Frau die Strafe der katholischen Kirche dazu. So jedenfalls fühlte es sich für mich an, als sie mir von ihren Erlebnissen erzählte. Denn vor dem Amtsgericht wurden die beiden zwar geschieden. Aber anstatt Unterstützung in ihrer schwierigen Lage zu bekommen, vielleicht sogar ein wenig Trost, bekam sie von der Pfarrsekretärin eine zweite Ohrfeige: Für die Kirche sei sie ihr Leben lang mit diesem Mann vereint. Vereint mit einem Mann, der sich gegen das gemeinsame Leben mit ihr entschieden hat.

„Kirche“ war damals ein diffuses Ganzes für mich, obwohl es sich natürlich nur um wenige Erfahrungen mit einzelnen Pastoren oder anderen Repräsentanten dieser Institution handelte. Ich habe das damals nicht getrennt. Ich habe damals auch noch nicht darüber nachgedacht, ob es einen Unterschied geben könnte zwischen „der Kirche“, in deren Settings ich mich so unwohl gefühlt hatte – und Gott. Für mich waren diese Erlebnisse „die Kirche“, und in „der Kirche“ fühlte ich mich nicht wohl.

Dass es viele Jahre später Pastorinnen und Pastoren geben würde, deren Worte mich wirklich interessieren und die mir weiterhelfen, ob in Alltagsfragen oder den ganz großen Themen des Lebens, damit rechnete ich damals überhaupt nicht.

Und dass da ja auch noch Gott ist, den ich vielleicht ganz unabhängig von diesen Pastoren kennenlernen könnte: Für so einen Gedanken hatte ich keinen Platz in meiner Kiste, die mit meiner Haltung zu Gott, Glaube und Institution Kirche schon so vollgestopft war, dass nichts Neues mehr hineinpasste.

Ehrlich gesagt hatte ich damals auch gar keine große Lust, die Kiste leerzuräumen und von vorne anzufangen, sie zu packen. Meine Aufmerksamkeit lenkte ich auf andere Dinge, und die Sache war für mich erledigt. Gott war kein Thema für mich, mit „Kirche“ wollte ich nichts zu tun haben.

Der Herr schaut vom Himmel herab auf die Menschen. Er möchte sehen, ob es einen unter ihnen gibt, der verständig ist, einen, der nach Gott fragt.

PSALM 14,2

Tja, ich gehörte nicht zu den verständigen Menschen. Ich selbst habe auch nichts hinterfragt von dem, was mir damals erzählt worden war – ich habe es lediglich gehört und stante pede kritisiert. Ich habe nicht gefragt, was genau es eigentlich bedeuten soll, was „die Kirche“ da äußert, ob es vielleicht anders gemeint war, als ich es verstand, und was als Grundidee hinter diesen Äußerungen steht. Ganz ehrlich gesagt hat mich das damals auch gar nicht interessiert. Im Gegenteil: Ich war einfach nur froh, in meiner Meinung bestätigt zu werden.

Ich habe nicht unterschieden zwischen Gott und meinen Erlebnissen mit „der Kirche“. Ich habe auch die Loslösung der einzelnen Vertreter der Institution Kirche vom großen Ganzen nicht in Betracht gezogen. Habe nicht hinterfragt, was ich da gehört und erlebt hatte, welche Hintergründe es haben könnte. Ich spürte nur, dass ich mich unwohl fühlte in Kirchen und bei dem, was ich von Kirche hörte. Das „Warum“ interessierte mich damals nicht. Über Gott habe ich mir zwar mitunter Gedanken gemacht, aber nur darüber, was ich von anderen Menschen über Gott gehört hatte. Und das war nichts, was mich stärkte oder tröstete, was mir Halt gab.

Nach Gott gefragt, wirklich gefragt habe ich nie. Zum Glück ist Gott verständiger als ich.

Meine Haltung zu den damals erlebten Dingen ist übrigens heute dieselbe wie damals. Einen Pastor, der einem Kind Anweisungen gibt und den Grund dafür nicht erklärt, finde ich heute genauso untragbar wie vor 35 Jahren. Eine Eheschließung als „Point of no return“ zu bezeichnen, löst bei mir noch immer die spontane Verdickung meines Halses aus. Eine verlassene Ehefrau mit Vorwürfen zu konfrontieren, anstatt sie in ihrer schwierigen Situation zu stützen, und einem Menschen nicht seine freie Entscheidung zuzugestehen: Das hat für mich nichts mit einem menschlichen Miteinander in Respekt und auf Augenhöhe zu tun.