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Carmen Korn

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Beschreibung

Der Auftakt der neuen zweibändigen Saga von Bestsellerautorin Carmen Korn. Drei Familien, drei Städte, ein Jahrzehnt. 1. Januar 1950: In Köln, Hamburg und San Remo begrüßt man das neue Jahrzehnt. Das letzte hat tiefe Wunden hinterlassen: in den Städten, in den Köpfen und in den Herzen. Gerda und Heinrich Aldenhovens Haus in Köln platzt aus allen Nähten. Heinrichs Kunstgalerie wirft längst nicht genug ab, um all die hungrigen Mäuler zu stopfen. In Hamburg bei Gerdas Freundin Elisabeth und deren Mann Kurt macht man sich dagegen weniger Sorgen um Geld. Als Werbeleiter einer Sparkasse kann Kurt seiner Familie eine bescheidene Existenz sichern. Nach mehr Leichtigkeit im Leben sehnt man sich aber auch hier. Schwiegersohn Joachim ist noch immer nicht aus dem Krieg zurückgekehrt. Margarethe, geborene Aldenhoven, hat es von Köln nach San Remo verschlagen. Das Leben an der Seite ihres italienischen Mannes scheint sorgenfrei, doch die Abhängigkeit von der Schwiegermutter quält Margarethe. So unterschiedlich man die Silvesternacht verbracht hat - auf Jöck in Köln, still daheim in Hamburg, mondän in San Remo -, die Fragen am Neujahrsmorgen sind die gleichen: Werden die Wunden endlich heilen? Was bringt die Zukunft? In ihrer neuen Saga lässt uns Carmen Korn tief eintauchen in die Nachkriegsjahrzehnte. Anhand von drei befreundeten Familien erzählt sie vom Neuanfang in Köln, Hamburg und San Remo, von großen und kleinen Momenten, von Festen, die gemeinsam gefeiert werden, von Herausforderungen, die zu meistern sind. Und vom Wunsch, aus dem Schweren etwas Gutes entstehen zu lassen, der Hoffnung, dass es noch nicht vorbei ist, das Leben und das Glück.

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Carmen Korn

Und die Welt war jung

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

DREI FAMILIEN, DREI STÄDTE, EIN JAHRZEHNT

 

1. Januar 1950: In Hamburg, Köln und San Remo begrüßt man das neue Jahrzehnt. Das letzte hat tiefe Wunden hinterlassen: in den Städten, in den Köpfen und in den Herzen. Gerda und Heinrich Aldenhovens Haus in Köln platzt aus allen Nähten. Heinrichs Kunstgalerie wirft längst nicht genug ab, um all die hungrigen Mäuler zu stopfen. In Hamburg bei Gerdas Freundin Elisabeth und deren Mann Kurt macht man sich dagegen weniger Sorgen um Geld. Als Werbeleiter einer Sparkasse kann Kurt seiner Familie eine bescheidene Existenz sichern. Nach mehr Leichtigkeit im Leben sehnt man sich aber auch hier. Schwiegersohn Joachim ist noch immer nicht aus dem Krieg zurückgekehrt. Margarethe, geborene Aldenhoven, hat es von Köln nach San Remo verschlagen. Das Leben an der Seite ihres italienischen Mannes scheint sorgenfrei, doch die Abhängigkeit von der Schwiegermutter quält Margarethe.

 

So unterschiedlich man die Silvesternacht verbracht hat – auf Jöck in Köln, still daheim in Hamburg, mondän in San Remo –, die Fragen am Neujahrsmorgen sind die gleichen: Werden die Wunden endlich heilen? Was bringt die Zukunft?

Vita

Carmen Korn wurde 1952 in Düsseldorf als Tochter des Komponisten Heinz Korn geboren. Nach ihrer Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule arbeitete sie als Redakteurin u. a. für den «Stern». Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

Mami

1928–2019

Personenverzeichnis

Die Kölner

Gerda Aldenhoven

Jahrgang 1902. Gerda sei eine Frau, die keine Konventionen kenne. Über diesen Satz ihrer Hamburger Freundin Elisabeth muss Gerda dann doch lächeln. Stimmt es denn? Ein weites Herz hat sie auf jeden Fall und nicht nur für ihre Liebsten. Zusammen mit ihrem Mann Heinrich, den beiden Kindern und Heinrichs Kusinen lebt sie am Pauliplatz im Kölner Stadtteil Braunsfeld.

 

Heinrich Aldenhoven

Jahrgang 1892. Den heiligen Heinrich nennt ihn seine Kusine Billa. Ja, Heinrich ist ein beständiger Mensch und das Leben für ihn eine ernste Angelegenheit. Er hat sich immer in der Verantwortung gefühlt, bei den Eltern, den Schwestern, von denen ihm nur die jüngste geblieben ist. Bei Gerda und den Kindern. Sogar bei seinen Kusinen, die seine Geduld manchmal arg strapazieren. Deren Vater gründete einst zusammen mit Heinrichs Vater die Galerie Aldenhoven, die Heinrich mittlerweile führt. Doch die Geschäfte laufen schlecht, nach dem Krieg fehlen den Menschen die Wände für die Bilder. Das Geld reicht kaum, um für all diejenigen zu sorgen, die auf ihn zählen.

 

Ursula und Ulrich Aldenhoven

Jahrgang 1929 und Jahrgang 1930. Die Kinder von Heinrich und Gerda.

 

Billa und Lucy Aldenhoven

Heinrichs unverheiratete Kusinen. Seit ihre Klettenberger Wohnung in einer Bombennacht verlorengegangen ist, leben sie bei Heinrich und Gerda am Pauliplatz. In Heinrich sehen sie das sorgende Familienoberhaupt.

Die Hamburger

Elisabeth Borgfeldt

Jahrgang 1900. Von ihrem Mann liebevoll Lilleken genannt. 1912 haben sich Gerda und Elisabeth, zehn und elf Jahre alt, kennengelernt, in Timmendorf am Ostseestrand. Seitdem sind sie lebenslange Freundinnen. Anders als ihr Mann Kurt nimmt Elisabeth die Dinge oft schwer. Vor allem quält sie das Schicksal ihres Schwiegersohns, der noch immer nicht aus dem Krieg zurückgekehrt ist. Fünf Jahre ist der nun schon vorbei, doch Elisabeth will und kann die Hoffnung nicht aufgeben.

 

Kurt Borgfeldt

Jahrgang 1896. Als Werbeleiter bei der Sparkasse ist Kurt nicht nur, aber auch für die Auswahl der Sparbüchsen verantwortlich. Den unzuverlässigen Herrn Borgfeldt nennt man ihn gelegentlich, wenn er mal wieder zu spät zu einer Sitzung kommt. Kurt schätzt die Leichtigkeit, manchmal hat er das Gefühl, als Einziger in seiner Familie. Ein großzügiger Mann, der die Menschen um sich herum mit einem liebevollen und gelegentlich ironischen Blick betrachtet.

 

Nina Christensen, geborene Borgfeldt

Jahrgang 1920. Die Tochter von Elisabeth und Kurt. Ihr Mann Joachim Christensen, den sie Jockel nennt, wird seit dem März 1945 in Russland vermisst. Noch gibt es kein Lebenszeichen von ihm. Doch Elisabeth und Nina wollen die Hoffnung nicht aufgeben. Kurt dagegen hat den Eindruck, dass diese Hoffnung vergebens ist und sie sich damit nur quälen.

 

Jan Christensen

Ninas und Joachims Sohn. Gezeugt während eines Heimaturlaubs im April 1944, hat der mittlerweile Fünfjährige seinen Vater nie kennengelernt.

 

Vinton Langley

Nina begegnet dem jungen Engländer auf einer Silvesterfeier 1949/1950. Vinton kam 1948 als Korrespondent für den Manchester Guardian nach Hamburg. Mittlerweile arbeitet er für die von der britischen Militärregierung gegründete Zeitung Die Welt.

 

June Clarke

Ninas Arbeitgeberin und Freundin. Zusammen mit ihrem Mann Oliver betreibt die Engländerin ein Übersetzungsbüro am Hamburger Klosterstern. June nimmt gerne Menschen unter ihre Flügel und hisst ab und zu auch schon einmal zum Lunch die Cocktailflagge.

Die San Remeser

Margarethe Canna, geborene Aldenhoven

Jahrgang 1906. Heinrichs Schwester ist ihrem Mann Bruno ein Jahr nach Hitlers Machtergreifung in seine italienische Heimat nach San Remo gefolgt. An der Riviera führt sie ein komfortables Leben, doch das Familienvermögen verwaltet ihre Schwiegermutter, eine Abhängigkeit, die Margarethe quält.

 

Bruno Canna

Margarethes Mann. Seine zukünftige Frau lernte Bruno kennen, als er in einem Kölner Museum als Kurator tätig war. An Margarethe liebt er unter anderem, dass sie anders als seine Mutter frei von jeglichem Dünkel ist. Doch abgesehen von seiner Ehe geht Bruno gerne den Weg des geringsten Widerstands. Wenn er auch ab und zu kühne Vorhaben im Herzen trägt, umsetzen tut er sie selten.

 

Gianni Canna

Margarethes und Brunos einziges Kind. Gianni wurde 1930 noch in Köln geboren, bevor seine Eltern nach Italien zogen. Zweisprachig aufgewachsen, bewegt er sich in beiden Welten mit Leichtigkeit und seinem ganz eigenen Charme, dem sogar seine strenge Großmutter erliegt.

 

Agnese Canna

Brunos Mutter und Margarethes Schwiegermutter. Seit dem Tod ihres Mannes, Bruno Canna senior, im Mai 1945 steht sie dem Blumenhandel der Familie Canna vor. Agnese hat dabei klare Vorstellungen, wie die Dinge zu laufen haben. Nur ihr jüngerer Sohn Bixio genießt Narrenfreiheit bei ihr.

 

Bixio Canna

Anders als sein älterer Bruder Bruno hat Bixio die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt und arbeitet im Blumenhandel der Familie. Doch ansonsten hält Bixio nicht viel davon, Verantwortung zu übernehmen.

 

Donata Canna

Bixios Frau. Obwohl sie eine San Remeserin ist, einen leichten Stand hat auch Donata nicht bei der Schwiegermutter, die sie ein trockenes Täubchen nennt. Denn Donata ist immer noch kinderlos trotz ihrer nun bald zweiunddreißig Jahre. Agnese ist ganz und gar nicht zufrieden mit der Fruchtbarkeit ihrer Schwiegertöchter. Und um die Ehe zwischen Donata und Bixio steht es schlecht.

 

Carla Bianchi

Eine junge Frau aus Giannis Freundeskreis.

1950

1. Januar

Köln

Gerda schob die Gardine beiseite und schaute zum Brunnen, der vor dem Haus am Pauliplatz stand. Ein vertrauter Blick auf den kleinen Pan aus Kalkstein, er saß auf der Kugel des Brunnenstocks und hielt die Hirtenflöte an die Lippen, beinah glaubte sie leise Töne zu hören. Grauer war er geworden, poröser schien der Stein zu sein. Doch keine der Erschütterungen des Krieges, die den Häusern der Straße geschehen waren, hatte dem Pan die Flöte aus den Händen schlagen können.

Das Betrachten der Brunnenfigur am Morgen des Neujahrstages war ein Ritual, Gerda Aldenhoven pflegte es seit vielen Jahren. Sollte sie es versäumen, vielleicht würde ihnen das Unglück bringen.

«Erinnerst du dich an unser letztes Konzert im Gürzenich?»

«Schumanns Dritte. Das ist lange her und kaum noch wahr», sagte Heinrich Aldenhoven. Er seufzte in Erinnerung an das alte Festhaus, eine liebe Gewohnheit war es gewesen, am ersten Tag des Jahres ins Konzert zu gehen.

«Sie werden den Gürzenich wiederaufbauen, Heinrich.»

«Hoffentlich erlebe ich das noch. Und? Hörst du Pans Flöte?»

Gerda lächelte. Sie ließ die Gardine fallen, verließ den Erker und trat zu ihrem Mann, der in der Tür zum Wohnzimmer stand. Strich ihm über die noch nicht rasierten Wangen. «Geliebter Grandpa», sagte sie. «Hast du vor, dir einen Bart wachsen zu lassen?» Er war zehn Jahre älter als sie, bis vor kurzem hatte man ihm das nicht angesehen.

«Ich gehe mich gleich rasieren. Aber vielleicht kannst du doch zu anderen Kosenamen zurückkehren. Dass ich in den letzten Stunden des großen Schlachtens nicht wie ein junger Gott ausgesehen habe, ist vielleicht verständlich.» Ihren vierzehnjährigen Sohn hatten sie im Keller verstecken können und ihn so vor dem Volkssturm bewahrt. Doch Heinrich Aldenhoven war im letzten Augenblick noch eingezogen worden an jenem Märztag 1945, als in Köln der Krieg zu Ende ging. Schon auf der Aachener Straße war er amerikanischen Soldaten in die Arme gelaufen, die in die westlichen Stadtteile vorgedrungen waren. Erleichtert hatte er sich das Gewehr abnehmen lassen. «Go home, Grandpa», hatten die jungen Amerikaner gesagt.

«Sind du und ich als Einzige wach?» Er sah zu der Pendeluhr, die dort hing, seit seine Eltern 1914 in das Haus gezogen waren. Viertel vor neun.

«Die Kinder sind erst gegen vier nach Hause gekommen. Sie waren leise, doch ich habe den Lichtschein vom Flur unter der Tür gesehen.»

«Dann ist es ihnen wohl gelungen, ihr Silvesterfest.»

«Glückliche Jugend», sagte Gerda. «Wir fangen an, alt zu werden.»

«Vor allem ich.»

«Ich fühle mich noch nicht reif genug fürs Altwerden.»

«Ach meine Kleine», sagte Heinrich. Vermutlich war es kein guter Gedanke gewesen, den Silvesterabend nur zu zweit zu verbringen. Gerda feierte gern, aber er hatte sich Stille gewünscht. Ohne die Kinder, die ausgelassen nachholten, was sie lange versäumt hatten. Ohne seine anstrengenden Kusinen, die bei ihnen lebten, seit ihre Klettenberger Wohnung in einer Bombennacht verlorengegangen war. Wie war ihnen beiden gelungen, unverheiratet zu bleiben? Männer hatte es genug gegeben in Billas und Lucys Leben. Nun sahen sie in ihm das sorgende Familienoberhaupt.

Gestern Abend waren die beiden auf Jöck gegangen, wie Billa es nannte, wenn sie Vergnügen suchte. In einem der Brauhäuser gegessen, in den neuen Lichtspielen am Hahnentor einen Film gesehen. Sie würden früh genug davon erzählen.

Er setzte sich in den verschlissenen Gobelinsessel, der neben dem Bücherschrank stand, legte die Hornbrille ab und griff nach dem erstbesten Buch. Gottfried Kellers Grüner Heinrich. Die Geschichte eines gescheiterten Kunstmalers. Auch das noch. Da fielen ihm gleich wieder die schlechten Geschäfte in der Galerie ein. Den Leuten fehlten noch die Wände für die Bilder. Nicht einmal die Landschaften ließen sich verkaufen, die vor dem Krieg gutgegangen waren.

Er rutschte tiefer in den Sessel und schlug das Buch auf. Auf der Treppe zum ersten Stock war lautes Getrappel zu hören. Die Holzpantoletten von Billa. Vielleicht sollte er besser das großformatige Buch vors Gesicht halten, das auf dem Telefontisch lag. Das Große Jahrhundert Flämischer Malerei. Gerda hatte ihm den Bildband zu Weihnachten geschenkt.

«Billa kommt», sagte Gerda.

«Ich höre es.» Seine Kusine schien in die Küche gegangen zu sein. Vermutlich würde sie ein Eigelb ins Glas schlagen, die letzten Tropfen Worcestershiresauce dazugeben und mit reichlich Salz und Pfeffer verrühren. Das schluckte Billa auch, wenn sie keinen Kater hatte. Sie hielt es für ein Getränk der Boheme.

«Sei geduldig mit ihr. Wenn wir die Verwandtschaft nicht hier hätten, wären Leute einquartiert, die uns fremd sind.»

«Das würde mich froher stimmen, ich kenne Billa viel zu gut.» Heinrich seufzte.

«Sie ist nicht ausgefüllt.»

«Dann soll sie eine Arbeit finden, statt die Grande Dame zu geben. Ich habe gelesen, dass Telefonistinnen gesucht werden. Da kann sie Gespräche belauschen und ihre Freundinnen mit Tratsch füttern.»

«Heute bist du aber besonders ungnädig mit deiner Kusine. Lass uns lieber mit den Hamburgern telefonieren und ein Gespräch nach San Remo anmelden. Das hebt deine Laune.»

«Ja», sagte Heinrich. «Das tun wir nachher. Wir wollen allen ein gutes Jahr wünschen. Was uns diese fünfziger Jahre wohl bescheren werden?»

Was überwog in ihm? Hoffnung oder Bangnis vor dem ersten neuen Jahrzehnt nach dem Krieg? Vor allem fragte er sich, wie er den Haushalt hier am Laufen halten konnte. Kaum länger mit Landschaften vom Niederrhein. Vielleicht sollte er doch mehr von den kolorierten Zeichnungen mit Motiven aus dem alten Köln anbieten. So wie es einmal gewesen war. Hatten nicht alle Sehnsucht danach, die Erinnerungen auszustaffieren?

«Ich habe übrigens blendende Laune», sagte er, als Gerda in die Küche ging. Gleich wurde dort der Heringssalat serviert. Mit Roter Bete und Äpfeln. In diese Tradition hatte er eingeheiratet. Eine Scheibe vom hefeduftenden Rosinenplatz mit Butter wäre ihm um neun Uhr am Neujahrsmorgen lieber gewesen.

Heinrich stand auf, um seiner Frau zu folgen und sich zu Billa an den Küchentisch zu setzen. Nicht nur die Kinder fehlten. «Was ist mit Lucy?», fragte er.

«Dat will noch schlafen», erklärte Billa die Abwesenheit ihrer jüngeren Schwester. «Hat nur geknurrt, als ich an die Tür geklopft habe.» Sie häufte sich Heringssalat auf den Teller, kaum dass Gerda die Schüssel auf den Tisch gestellt hatte. «Genau das Richtige für fröhliche Zecher.» Sagte Billa das nicht jedes Jahr?

Heinrich betrachtete die dicken dunkelroten Würfel beinah vorwurfsvoll. «Da ist diesmal aber viel Rote Bete drin.»

«Die ist gut fürs Herz», sagte Gerda. Ganz so blendend schien ihr Heinrichs Laune nicht zu sein.

Hamburg

«Joachim kehrt nicht zurück», sagte Kurt.

«Mit diesem hoffnungslosen Satz willst du das neue Jahr beginnen?»

Kurt Borgfeldt löste den Blick vom grauen Hamburger Himmel, der heute keine Heiterkeit versprach, und drehte sich zu seiner Frau um. «Ich will nur nicht, dass Nina und du euch länger quält, und auch dem Jungen tut es nicht gut, wenn ihr ihn glauben lasst, dass sein Vater aus dem Krieg zurückkehren wird.»

«Der Krieg ist im kommenden Mai fünf Jahre vorbei.»

«Eben», sagte Kurt.

«Und du denkst, dass es uns weniger quält, wenn wir Joachim für tot erklären?» Elisabeth Borgfeldt schüttelte den Kopf.

«Dann hat die Qual eher ein Ende, Lilleken. Hast du eine Ahnung, warum Nina gestern schon vor Mitternacht nach Hause gekommen ist? Ich dachte, sie habe sich über die Silvestereinladung der Clarkes gefreut.» Ihre Tochter hatte verstört gewirkt, als sie von der Silvesterfeier kam. Dabei schätzte sie die Gastgeber, liebenswürdige Engländer, die ein Übersetzungsbüro in Hamburg aufgebaut hatten, für das Nina seit einem halben Jahr arbeitete.

«Sie hat sicher bei Jan sein wollen, wenn die Glocken das Jahr einläuten.»

«Der Junge lag im Tiefschlaf, über den du und ich gut gewacht haben.»

«Das alles ist schwer für sie, Kurt. Ein neues Jahrzehnt hat angefangen, und Joachim entfernt sich mit jedem Jahr weiter von uns. Jan ist vor zwei Tagen fünf geworden, ohne dass sein Vater ihn je gesehen hat.»

«Ein Schicksal, das er mit vielen anderen Kindern teilt.»

«Das macht es nicht leichter.»

«Nein», sagte Kurt. «Lilleken, ich sehne mich nach mehr Leichtigkeit in unser aller Leben. Und ich vermute, dass Nina es auch tut.»

«Und die Leichtigkeit käme, wenn wir Joachim verlorengeben?»

«Dank des Roten Kreuzes ist es selbst den russischen Kriegsgefangenen möglich, ihren Familien ein Lebenszeichen zukommen zu lassen. Wir hätten längst von ihm hören müssen.»

«Ich verlasse mich auf mein gutes Gefühl», sagte Elisabeth.

«Das hattest du auch bei Tetjens Sohn, bis die Todesnachricht kam.»

Beide blickten sie zur Decke, wo die Lampe mit den milchweißen Glasschalen schwankte. Büffelherden schienen zu trampeln. Dass sie da oben bei Blümels schon wieder munter waren, der Vater und Ernährer der Familie war erst am frühen Morgen vom Kellnern nach Hause gekommen.

Die erste Etage des Hauses hatten einmal Nina und Joachim bewohnt. Im April 1944 ein letzter Heimaturlaub ihres Schwiegersohns. Dann die Geburt des Jungen am Ende jenes Jahres. Nun lebten Nina und das Kind bei ihnen im Parterre. Elisabeth und Kurt hatten ihr Schlafzimmer geräumt und schliefen in der Kammer neben der Küche. Im ersten Stock war jetzt Familie Blümel einquartiert und unterm Dach das Ehepaar Tetjens.

Im ganzen Haus Gedränge. Selbst der Keller war meist überfüllt von Leuten, die unter den Heizungsrohren auf alten Matratzen schliefen und sich in der Waschküche wuschen. Blümels gaben die Adresse des heilen Hauses in Hamburg an alle schlesischen Bekannten, die auf der Durchreise waren oder auch länger blieben.

«Lass uns dankbar sein, noch ein Dach über dem Kopf zu haben.» Entweder er oder Elisabeth sagten das meist in solchen Momenten.

«Und die Hoffnung auf Joachims Heimkehr wollen wir auch behalten.»

Kurt nickte und fühlte Unbehagen. Sie blickten zur Tür, die um einen Spalt aufgegangen war. Ihr Enkel Jan trottete in die Küche, den großen alten Bären im Schlepptau, der schon Ninas Kindheit begleitet hatte.

«Mami schläft noch. Ist sie spät nach Hause gekommen?»

«Nein. Mami war schon wieder hier, noch ehe das neue Jahr begonnen hat.»

Elisabeth sah zu den beiden Sektgläsern, die auf der Keramikablage neben dem Spülstein standen. Nina hatte nicht mit ihnen anstoßen wollen, war gleich in ihr Zimmer gegangen, um sich neben Jan und dem Stoffbären ins Bett zu legen. Hatte es Streit gegeben auf der Silvesterfeier?

«Können wir Cornflakes frühstücken?», fragte Jan. Er liebte die Lebensmittel aus den Läden, in denen die britischen Besatzungssoldaten und ihre Familien einkauften. Die Clarkes versorgten Nina großzügig damit.

«Klöben mit Butter und Marmelade», sagte sein Großvater. «Und für dich Kakao, weil der erste Tag des Jahres ein Feiertag ist.» Er hatte sich immer für anglophil gehalten, doch die neuen Frühstücksgewohnheiten waren ihm nicht geheuer. Maisflocken. Erdnussbutter. Der größte Graus war eine Hefepaste, die Marmite hieß.

«Lass uns mit dem Frühstück warten, bis Nina wach ist», sagte Elisabeth. «Jan kann schon mal ein Schüsselchen mit Cornflakes haben.»

«Noch ein Wort zur Leichtigkeit», sagte Kurt. «Wir könnten am frühen Nachmittag um die Alster spazieren. Anschließend kehren wir bei Bobby Reich ein und trinken einen Grog.»

«Ich auch?», fragte Jan.

«Du auch», sagte sein Großvater. «Einen für Kinder.»

«Dann einen zweiten Grog und noch einen dritten und dir wird leicht im Kopf», sagte Elisabeth. «Das zum Thema Leichtigkeit.»

«Sei nicht streng, Lilleken. So steif sind die Grogs da nicht. Jan kann den Tretroller auf den Spaziergang mitnehmen.»

«Au ja», sagte Jan. An Weihnachten war die Enttäuschung groß gewesen, lauter weiche Päckchen hatten unter dem Tannenbaum gelegen, Pullover, Mütze, Schal, Fäustlinge. Doch dann hatte er den Tretroller am vorletzten Tag des Jahres zum Geburtstag geschenkt bekommen. Keinen aus Holz mit kleinen eisernen Rollen, einen aus glänzendem roten Metall mit dicken Gummireifen.

Elisabeth schob ihrem Enkel das Schüsselchen mit Cornflakes und Milch hin, stellte Teller und Tassen auf den Tisch, wo schon die Butterdose stand und das Glas Marmelade aus den Johannisbeeren der Sträucher im Garten. Legte den Klöben auf das Brotbrett. Sie blickte auf, als ihre Tochter in die Küche kam. Noch blinzelnd. Aufgelöste Haare. Vom Schlaf gerötete Wangen. So sah Nina an jedem Morgen aus, wenn sie gerade aufgestanden war. Doch irgendwas schien heute anders an ihr.

San Remo

Kalte Luft kam herein, als sie das Fenster zur Straße öffnete, kalt genug, um nachher den Hermelin zu tragen. Der tiefblaue Himmel täuschte, in der Neujahrsnacht war die Temperatur gefallen. Glitzerte nicht sogar die Via Matteotti vier Stockwerke unter ihr? Margarethe mochte den Hermelinmantel nicht, doch ihre Schwiegermutter wäre gekränkt, wenn sie ihn nicht trüge zum großen Familienessen im Ristorante Royal. Die Cannas zeigten, was sie besaßen, und dazu gehörte auch der Hermelin. La pelliccia reale. Ein königlicher Pelz.

Schließlich hatte Italien gerade noch einen König gehabt. Ihre Schwiegermutter litt darunter, dass man Umberto vor vier Jahren des Landes verwiesen hatte. Ein feiner Mann sei das. Un uomo gentile. Nun müsse er in der Fremde leben.

Lebte Margarethe in der Fremde? Oder war ihr San Remo längst Heimat geworden? Ihr Sohn war noch in Köln geboren. Ein Jahr nach Hitlers Machtergreifung waren sie in die Heimat ihres Mannes gegangen, Bruno hatte den italienischen Faschismus erträglicher gefunden als den deutschen, doch auch das Klima am Kölner Museum, in dem er Kurator gewesen war, hatte sich verändert.

Margarethe Canna, geborene Aldenhoven, seufzte, als sie an ihre Schwiegermutter und den Hermelin dachte. Brunos Mutter führte die eigene Vornehmheit darauf zurück, aus einer venezianischen Familie zu stammen, dabei war sie in keinem Palazzo aufgewachsen, ihr Elternhaus hatte in einem Arbeiterviertel gestanden. Wohlstand war erst durch die Heirat mit einem Sohn der Cannas in ihr Leben gekommen.

Hatte Margarethe je die Erwartungen ihrer Schwiegermutter erfüllt? Sie kam aus keinem Kohlenkeller, auch wenn Agnese gelegentlich so tat, sondern aus einer angesehenen Kölner Familie. Margarethe schüttelte den Kopf. Warum machte sich Brunos Mutter derart breit in ihren Gedanken? Deren Dünkel ertrug sie doch seit bald sechzehn Jahren.

«Dann zieh den Mantel einfach nicht an.»

«Prego?», fragte Margarethe, obwohl ihr Mann deutsch gesprochen hatte.

«Den Hermelin», sagte Bruno. «Ich sehe dich den Kopf schütteln. Und deine Schultern sind hochgezogen. Zeichen deines Missvergnügens.»

Sie drehte sich um. «Das ist mal wieder einer der Momente, in denen ich genau weiß, warum ich dich vor zwanzig Jahren geheiratet habe.»

«Du hast mich geheiratet, weil du unser Kind erwartet hast. Gianni ist übrigens schon wach. Ich war eben bei ihm, er macht Liegestütze. Ich nehme an, er hat gute Vorsätze gefasst.»

«Es wäre mir viel lieber, nur mit euch beiden nach San Romolo hochzufahren und in einer der Locandas zu essen statt im Royal.» Margarethe hatte bereits das Bild vor Augen, ihre Schwiegermutter am Kopfende der Tafel, der ölige Padrone, der um die Matriarchin dienerte. Die große Silberplatte mit dem Fasan, der viel zu lange vor dem Laden des Geflügelhändlers in der Via Palazzo gehangen hatte. Im Royal wurde die Küche des nahen Frankreichs gepflegt. Samt Hautgout.

«Würdest du lieber wieder in Köln leben?»

«Nein, Bruno. Ich lebe gerne hier. Nur Agnese macht mir das Leben schwer, und sie wird mit jedem Jahr ungnädiger. Dass ich katholisch bin, ist das Einzige, was sie mir zugutehält.»

«Und dass du ihr einen Enkel geschenkt hast.»

«Doch die Fehlgeburten wirft sie mir vor.»

«Questo non è vero», sagte Bruno.

«Du weißt, dass es wahr ist.»

«Komm in die Küche und trink einen Kaffee mit mir. Dann können wir über den gestrigen Abend lästern und auch noch ein paar Linsen essen. Das wird Mammas erste Frage sein. Seit ich denken kann, ist ihre Sorge, dass uns das Geld im neuen Jahr ausgehen wird, weil wir an Silvester nicht genügend Linsen gegessen haben.»

«Lass uns lieber den Panettone anschneiden.» Der locker gebackene Kuchen mit kandierten Früchten war ihr zum Kaffee deutlich lieber als kalte Linsen.

«Nimm wenigstens einen Löffel voll», sagte Bruno. «Dann muss ich nicht lügen.»

Margarethe ging an ihm vorbei in den Flur. Als er in die Küche kam, kaute sie schon auf den Linsen, die zu al dente waren.

«Du denkst, ich bin ein Feigling.»

«Im Falle des Hermelins wirst du heute zum Helden werden, wenn du mit einer Frau im roten Mantel das Restaurant betrittst.»

«Ja», sagte Bruno. «Das werde ich. Mit einer Frau in einem sehr roten Mantel.» Er zog die Schüssel zu sich heran und fing an, die Linsen aufzuessen.

«Ich fand den gestrigen Abend mit deinem Bruder und Donata gelungen», sagte Margarethe. «Ihre Freunde aus Bordighera sind sympathische Leute.» Sie nahm das große Messer, schnitt den Panettone an und legte je eine Scheibe auf die Teller aus dickem weißen Porzellan, das sie nur in der Küche benutzten.

«Ich will auch nur den Augenblick nachschmecken, in dem meiner Schwägerin die Brüste aus dem Ausschnitt gefallen sind. Das wäre ein Fest für meine Mutter gewesen. Mindestens ein Dutzend Gegrüßet seist du, Maria hätte sie von Donata verlangt, als Buße für dieses Dekolleté.»

Donata hatte keinen leichteren Stand als Margarethe, sie war zwar eine San Remeserin, doch noch immer kinderlos und mit ihren nun bald zweiunddreißig Jahren nicht ein einziges Mal schwanger gewesen. Una colomba secca, nannte Brunos Mutter die Frau ihres jüngeren Sohnes. Ein trockenes Täubchen. Sie war ganz und gar nicht zufrieden mit der Fruchtbarkeit ihrer Schwiegertöchter.

Warum ertrugen sie alle Agnese Canna? Dazu noch oft genug klaglos? Weil sie das Geld in den Händen hielt, das die Cannas seit Jahrzehnten mit dem Blumenhandel verdienten? Nein, dachte Margarethe. Nicht das Geld, die Familienbande fesselten sie. Bruno und sein Bruder Bixio würden sich zu Tode schämen, wären sie ihrer Mamma keine guten Söhne oder übten gar Kritik an ihr. Solange der Vater lebte, war alles leichter gewesen, er hatte viele von Agneses Bosheiten abgefangen. Doch Bruno Canna senior war im Mai 1945 gestorben, nicht durch eine letzte Kriegseinwirkung, sondern an seinem lebenslangen Herzleiden.

«Ich ziehe mich jetzt an», sagte Margarethe.

Bruno nickte. «Auf in den Kampf.» Er gönnte sich den Gedanken, seine Mutter möge mit ihren neuen teuren Zähnen auf eine Schrotkugel beißen. Der Fasan war ganz sicher von einem der hiesigen Jäger erlegt worden. Er grinste und griff nach dem Teller mit dem Panettone.

Köln

Heinrich Aldenhoven blickte in den Rasierspiegel und zog die Augenbrauen hoch. Sein Gesicht wirkte noch immer hager wie auch seine ganze Gestalt, als seien die Hungerjahre nicht vorbei. Dabei konnte man den Menschen dabei zusehen, wie sie dicker wurden, nur ihm gelang nicht, Gewicht zuzulegen. Er tauchte den nassen Dachshaarpinsel in die Porzellanschüssel und rührte den Schaum. Atmete den Duft von Kaloderma ein, seine Rasierseife, seit ihm Barthaare wuchsen. Nie hatte er die Marke gewechselt. Anfangs, um sich abzuheben vom türkisgoldenen 4711, das seine Heimatstadt durchtränkte, nun aus tröstlicher Gewöhnung an den sauberen Duft der Kaloderma.

Den Heringssalat hatte er brav gegessen, auch Billa ertragen, die vom Kinobesuch gestern erzählte und der Notwendigkeit, eine Stola aus Silberfuchs zu besitzen, wie der Heldin des Films eine auf den Schultern gelegen hatte. Vermutlich wussten seine Kusinen wirklich nicht von der misslichen Lage der Galerie. Billa war talentiert darin, unliebsame Tatsachen auszublenden, und weder sie noch Lucy kümmerten sich um die Geschäfte, seit sie den Anteil ihres Vaters an der Galerie geerbt hatten.

In den Jahren nach der Gründung waren die Brüder Aldenhoven erfolgreich gewesen mit den Künstlern des Expressionismus, doch schon im Laufe der zwanziger Jahre hatten sie keine großen Namen mehr vertreten, und mit der Machtübernahme der Nazis wurden sie endgültig zu Händlern beschaulicher Malerei.

In diesen Tagen lag ihm nur ein Bild in der Galerie am Herzen, und das würde er Gerda zum Geburtstag schenken. Das Werk eines jungen Künstlers, genial und mit leichter Hand gemalt. Aus der Erinnerung, denn auch das Kaffeehaus am Ananasberg im Düsseldorfer Hofgarten gab es seit dem Krieg nicht mehr.

 

«Brennsuppe an Neujahr», sagte Billa. «Das ist nicht dein Ernst.»

«Was hättest du denn gern? Langusten?» Gerda hörte den gereizten Ton in ihrer eigenen Stimme, sie war diejenige, die am meisten Geduld hatte mit Billa, doch nun reichte es bald.

«Heinrich und du tut so, als ob wir noch den Hungerwinter von 1946 hätten.»

Gerda häutete eine zweite große Zwiebel und legte sie auf das Schneidebrett. «Ich mache sie mit Grieß statt mit Mehl.»

«Wenn das mal nicht zu extravagant ist.»

«Dann tu doch was in die Haushaltskasse.»

«Lucy und ich haben unser Geld in der Galerie gelassen, als Vater starb. Wir hätten uns auch auszahlen lassen können.»

«Besser, du gehst spazieren, Billa. Sonst kriegen wir zwei noch Krach. Vielleicht kommt ein älterer Herr des Weges und lädt dich zum Essen ins Marienbildchen ein.»

«Älter hättest du dir sparen können.»

«Du wirst fünfzig in diesem Jahr.»

«Aber erst im Herbst, und du bist auch nicht viel jünger.»

«Nein», sagte Gerda. Am 12. Januar würde sie achtundvierzig werden, acht Tage später wurde Heinrich achtundfünfzig. Vor dem Krieg hatten sie ihre Geburtstage gerne gemeinsam mit einem Karnevalsfest gefeiert, hin und wieder war Elisabeth, ihre Hamburger Freundin, zu Besuch gekommen. Vielleicht sollten sie das mal wieder aufnehmen. Sie blickte zur Küchenuhr, kurz vor halb zwei, ein spätes Mittagessen würde das werden nach dem Heringssalat am Morgen, danach wollten sie endlich in Hamburg bei den Borgfeldts anrufen.

«Mach doch wenigstens eine Einlage für die Brennsuppe. Altes Brot werden wir ja wohl haben. Oder ist Heinrich noch immer so gierig nach Brot, dass es hier nicht alt wird?»

«Da ist ein dicker Kanten in der Speisekammer, wenn dir gelingt, den klein zu schneiden, kannst du Brotwürfel rösten.»

«Croûtons», sagte Billa. «Obliegt allein mir, Eleganz in diesen Haushalt zu bringen. Früher haben wir die feinste Feinkost bei Hoss eingekauft. Ich sage nur Gänseleber-Pastete mit Trüffeln.»

«Ist dir wirklich entgangen, dass Heinrich kaum mehr Bilder verkauft?»

«Kaufmännisches Talent hat er noch nie besessen, und wenn er auch vor den Kunden dieses heilige Gesicht macht, dann verschreckt das die Leute. Hast du sein Gesicht gesehen, als ich vom Silberfuchs sprach?»

Gerda hackte auf die Zwiebeln ein. Ihre Augen fingen an zu tränen. «Vielleicht solltest du mal Margarethe in San Remo besuchen. Ich könnte mir vorstellen, dass du dich blendend mit ihrer Schwiegermutter verstehst. Von Pelz zu Pelz.»

«Ganz bestimmt», sagte Billa. «Ich habe die alte Signora Canna als elegante Erscheinung in Erinnerung. Doch leider bin ich in Köln unabkömmlich. Eines jüngeren Herrn wegen.» Sie genoss Gerdas Erstaunen.

«Und dann verbringst du den Silvesterabend mit deiner Schwester?»

«Er ist auf einer Gastspielreise im Holsteinischen.» Billa verschwand in der Speisekammer und kam mit dem Brotkanten zurück. Der ließ sich nur noch in der Suppe versenken, so hart war der. Sie würde ihn Heinrich neben den Teller legen. Bei dem Gedanken musste Billa lächeln.

 

Brot. Dass sie alle schon den Wert des Brotes vergessen hatten. Wie kostbar es gewesen war. Heinrich fing Billas lauernden Blick auf und zögerte, den Kanten in die Brennsuppe zu tunken. Nein. Den Gefallen tat er ihr nicht. Wenn sie aufgestanden war, nach dem Essen, dann würde er das Brot in die Tasche der Strickjacke stecken und bei einer anderen Gelegenheit aufweichen.

Doch nicht nur Billa beobachtete ihn, auch Gerda tat es. Besorgt? Lucy schien unbefangen und löffelte ihre Suppe. Die Kinder waren nicht da: ihren Freunden beim Aufräumen helfen, Reste essen, Reste trinken.

Nachher muss ich dir was erzählen, hatte Gerda vor dem Essen gesagt. Ich denke, es wird dich freuen.

«Was willst du mir erzählen?», fragte er, als sie alle aufgestanden waren, das Geschirr in die Küche trugen und er seinen Brotkanten in der Tasche hatte verschwinden lassen.

«Wollen wir nicht erst einmal in Hamburg anrufen?»

«Ja», sagte Heinrich. «Sie werden jetzt auch zu Mittag gegessen haben.»

Doch als dann das Gespräch vermittelt worden war, erreichten sie nur Elisabeths und Kurts Tochter Nina. Die anderen gingen gerade an der Alster spazieren.

Da war er wieder, Gerdas Blick. «Manchmal siehst du wirklich ein wenig heilig aus», sagte sie. «Billa liegt gar nicht so falsch.»

«Du leeven Jott», sagte Heinrich Aldenhoven.

Hamburg

Nina legte den Hörer auf die Gabel des Telefons, das auf einem Tischchen im kleinen Flur stand. Zwischen Küche und dem einstigen Schlafzimmer ihrer Eltern, nun Jans und ihr Zimmer. Ein Stuhl daneben, falls die Telefongespräche länger dauerten, doch sie blieben fast immer kurz. Käme Joachim unerwartet, er liefe am Tischchen vorbei, würde die Treppe zum ersten Stock hinaufstürmen, um Frau und Sohn in die Arme zu schließen. Wusste ja nicht, dass dort nun die Blümels wohnten, aus der Gegend von Breslau geflohen. Mutter, Vater und drei Kinder.

Unerwartet? Sie wartete seit dem letzten Feldpostbrief auf ihn. Der war aus dem Januar 1945. Die Nachricht, dass er Vater geworden war, hatte ihn da gerade erreicht.

Joachim, den sie Jockel nannte. Immer seltener tat sie das in ihren Gedanken.

Nina ging in die Küche und trat ans Fenster. Der Himmel war wieder dunkler geworden, wie lange würden Jan und ihre Eltern bei dem Wetter spazieren gehen? Sie fröstele, hatte sie ihrer Mutter gesagt, habe sich wohl eine Erkältung eingefangen, besser, sie bliebe zu Hause. Um allein zu sein mit den Gedanken an einen Mann, der nicht Jockel war.

Vinton. Hatte sie den Namen je vorher gehört? Vinton Langley. Engländer. Vor anderthalb Jahren für den Manchester Guardian als Korrespondent nach Hamburg gekommen, doch nun arbeitete er für die Welt, die Zeitung, die 1946 von der britischen Militärregierung gegründet worden war.

So viel wusste sie schon von Vinton Langley. Und was wusste er von ihr?

Dass sie einen kleinen Sohn hatte, zu dem sie dringend zurückkehren wollte, noch vor dem Glockengeläut, dem Gläserklirren, den guten Wünschen zum neuen Jahr. Er hatte ihr nachgeschaut, als hoffe er, dass sie wenigstens einen Schuh verliere, der ihm helfen könnte, Cinderella zu finden. Doch sie waren in keinem Märchen, und er brauchte nur die Clarkes zu fragen.

Nein. Es war nicht möglich, dass sie Hals über Kopf einen anderen liebte. Liebe geschah einem nicht jäh. Wie war es bei Joachim gewesen? Damals im ersten Jahr des Krieges. 1940. Da waren sie beide zwanzig Jahre alt. Nina glaubte, sich an eine zögernde Annäherung zu erinnern. So jung und verlegen waren sie gewesen.

June Clarke würde Vinton Langley auch erzählen, warum sie davongelaufen war. Von Ninas Warten sprechen. Vom Warten auf einen Mann, der vielleicht lange schon nicht mehr lebte. Nur ihre Mutter und sie glaubten noch daran, dass Joachim zurückkehrte. Und Jan, in dem sie Hoffnung weckten und ihn damit nur verunsicherten.

Vinton. Was hatte er gesagt? Dass er in den nächsten Tagen nach London fahren würde, um vier Wochen lang an einer Schulung der BBC teilzunehmen. Sie hatte nicht verstanden, warum. Er war kein Rundfunkmann, schrieb für Zeitungen. Das hatte er betont. Doch es konnte nur gut sein, wenn er fern von Hamburg war. Am besten, er bliebe in England.

Der große helle living room der Clarkes war voller Menschen gewesen, sie hatte nahe der Balkontür gestanden, sich an ihrem Glas festgehalten, da kam er auf einmal vom anderen Ende des Raumes auf sie zu und tat, als habe er sie endlich gefunden.

Nina drückte die Stirn an die Scheibe, von der nun Tropfen rannen, es hatte zu regnen angefangen. Da waren sie, die Spaziergänger, eilten zur Tür des alten Hauses in der Blumenstraße, das schon vor dem Krieg nicht mehr herrschaftlich gewesen war, das Mauerblümchen in einer herrschaftlichen Straße.

Sie schaltete das Licht in der Küche an, die vier weißen Glasschalen standen wie Kompottschüsseln auf dem Kreuz aus dunklem Holz. Im Sommer würden sich dort wieder tote Tierchen sammeln, die an den Hundertwattbirnen verglühten. Das hatte sie schon als Kind gehasst.

Helle Möbel, dachte Nina. Wie bei den Clarkes. Wenn Joachim nach Hause kam, dann wollte sie helle Möbel haben. Alles neu. Sie lächelte. Sich festhalten an diesem Gedanken.

 

Ein Lächeln im Gesicht ihrer Tochter, Elisabeth Borgfeldt nahm es dankbar auf. Sie hängte die schweren Holzbügel mit den beiden Wollmänteln zum Trocknen an das Geländer des Treppenhauses. Ihre Tochter war dabei, dem Jungen den Anorak auszuziehen, der Reißverschluss klemmte.

«Geht es dir besser?», fragte Elisabeth.

«Die Kölner haben angerufen», sagte Nina.

«Werden sie es noch mal versuchen?»

«Ja.» Nina nahm die kalten Hände ihres Sohnes zwischen die eigenen warmen. «Hast du deine Fäustlinge nicht angehabt?»

«Damit kann ich die Griffe vom Roller nicht gut halten.»

«Ist dir denn wieder warm? Kein Frösteln mehr?» Elisabeth blickte ihre Tochter aufmerksam an. Nein. Nina sah nicht erkältet aus. Eher weit weg mit ihren Gedanken. Sanft schob sie ihren Enkel in die Küche. «Du wolltest doch mit Opa Mensch ärgere dich nicht spielen, Jan.»

«Wollten wir das?» Kurt Borgfeldt sah vom Abendblatt des Silvestertages auf, das er gerade zur Hand genommen hatte. «Wenn Lilleken das sagt.» Jan brachte schon die rote Schachtel und fing an, die Figuren auf das Spielfeld zu stellen.

«Und wir kümmern uns mal um den losen Saum deines Kleides.» Elisabeth zog Nina in das Schlafzimmer nebenan, ehe Zweifel an losen Kleidersäumen aufkamen.

«Mama, was soll das? Ich habe dir nichts zu erzählen.»

«Ist es wegen Joachim?» Elisabeth setzte sich auf die Bettkante.

Nina blieb vor dem kleinen Sekretär stehen, der noch aus ihrer Kindheit stammte. «Geht es nicht immer um Joachim?», fragte sie.

«Was ist gestern bei den Clarkes passiert?»

«Nichts. Ich hatte nur viel zu schnell einen Schwips. Darum wollte ich keinen Sekt mehr mit euch trinken, mir war schon schwindelig.»

Elisabeth nickte. «Du weißt, dass du mir alles sagen kannst.»

Beide hörten sie das Klingeln des Telefons.

«Das werden die Kölner sein», sagte Nina. Sie klang erleichtert.

Ihre Mutter stand auf und drehte sich in der Tür noch einmal um. «Und es war wirklich nichts? Ist dir jemand zu nahe getreten?»

«Lass deine Gerda nicht länger warten», sagte Nina. Die inquisitorischen Fragen gingen ihr auf die Nerven. Ihr charmanter Vater, dem ihre Mutter gerne Leichtsinn vorwarf, zeigte da viel mehr Zurückhaltung. Ihm hätte sie sich vielleicht anvertraut, schon als Kind hatte sie kleine Geheimnisse mit Kurt geteilt. Aber es war besser zu schweigen.

«Jan braucht Fingerhandschuhe», sagte Elisabeth, ehe sie aus dem Zimmer ging, um Neujahrswünsche mit ihrer Freundin auszutauschen.

Bei den ersten Sätzen waren ihre Gedanken noch bei Nina. Nicht, dass ihre Tochter anfing, an Joachims Heimkehr zu zweifeln.

San Remo

Wärest du breiter gebaut, ich hätte dich für ein Feuerwehrauto gehalten, hatte ihre Schwiegermutter gesagt. Una autopompa. Margarethe war rot geworden, was gut zum Mantel passte, den der Padrone ihr da gerade abgenommen hatte, um ihn an die Garderobe zu hängen. Den Hermelin hätte er fürsorglich in sein Büro gebracht, da wurde schon der Pelz von Agnese aufbewahrt. Einer ihrer Pelze.

Bruno hatte gelacht. Den Kommentar seiner Mutter weglachen wollen, vielleicht hätte Margarethe das auch tun sollen, doch das war ihr erst bei den Antipasti eingefallen, als sie in den marinierten Steinpilzen stocherte und die Linsenfrage ausführlich geklärt worden war.

«Ich verstehe nicht, warum das nicht längst abperlt an dir. Du solltest sie doch nun kennen», sagte Gianni auf der Fahrt nach Hause. Ihr Sohn saß am Steuer des alten Lancia, im vergangenen Sommer hatte er den Führerschein gemacht, er war ein viel leidenschaftlicherer Fahrer als sein Vater.

Gianni sprach deutsch, wenn er mit seinen Eltern allein war, obwohl er Köln im Alter von drei Jahren verlassen hatte, eine kleine Rebellion gegen seine Nonna, der nicht gefiel, dass Margarethe und Bruno ihn zweisprachig hatten aufwachsen lassen. Dabei kam er gut aus mit Agnese, deren Kronprinz er war. Er blickte in den Rückspiegel zu seinem Vater. «Was meinst du, Papa?»

«Sono d’accordo», sagte Bruno.

«Du und Onkel Bixio, ihr müsst mutiger sein. Man hat es leichter bei Nonna, wenn man Widerworte gibt, ich glaube, das gefällt ihr sogar ganz gut.»

«Hm», sagte Bruno. Er hatte da andere Erfahrungen.

«Lancia bringt in diesem Jahr ein neues Modell auf den Markt. Wir sollten uns von der alten Karosse hier trennen», sagte Gianni.

«Diese Karosse hat dein Großvater 1937 neu angeschafft. Ich glaube nicht, dass es deiner Nonna gefallen würde, wenn wir uns ein anderes Auto kaufen.»

Gianni grinste und sah zu seiner Mutter. «Was sage ich.»

«Pazienza. Wartet nur ab. Ihr werdet euch noch wundern», sagte Bruno.

«Vielleicht könnten wir im März nach Köln fahren. Ich würde gerne meinen Bruder und Gerda wiedersehen.» Margarethe drehte sich zu Bruno um.

«Ich chauffiere euch», sagte Gianni. Er parkte das Auto vor dem ältesten und prächtigsten Palazzo der Via Matteotti, das schmale vierstöckige Haus der Cannas lag nur ein paar Schritte entfernt. Der Mann der englischen Kronprinzessin war vor gut einem Jahr in dem Palazzo beherbergt worden, Agnese hatte schwer darunter gelitten, dass sie nicht zum Empfang für den Herzog von Edinburgh geladen worden war.

«Gleich melden wir erst einmal das Gespräch nach Köln an», sagte Bruno. Zwei, drei ungestörte Stunden lagen vor ihnen, seine Mutter besichtigte zusammen mit Bixio und Donata in Ospedaletti ein Grundstück für Gewächshäuser.

Am Abend würde Agnese dann noch einmal in den gläsernen Aufzug steigen, der von schmiedeeisernen Ranken umgeben war, und zu ihnen in den vierten Stock kommen, um von ihrem Dienstmädchen Rosa die cicchetti servieren zu lassen, kleine geröstete Brotscheiben mit Stockfisch, Tomaten, Eiern, Sardellen, Oliven. Eine venezianische Spezialität zum Wein, die bei ihnen den ersten Tag des Jahres abschloss. Viele Traditionen, in die sie gebettet waren. Oder gezwängt.

 

Margarethe lag auf der Chaiselongue und hörte ihrem Mann zu, der das Gespräch nach Köln anmeldete.

«Das kann dauern», sagte Bruno, als er den Hörer auflegte. Die Drähte glühten von all den guten Wünschen zum neuen Jahr.

Heinrich und sie waren die einzig Überlebenden von vier Geschwistern, ihre beiden Schwestern waren vor Margarethes Geburt an Scharlach gestorben. Ein Segen, dass die Amerikaner nach dem zweiten Krieg das Penizillin nach Europa gebracht hatten, so viel größer war seitdem die Chance, eine Epidemie zu überleben, sei es Scharlach oder Diphtherie.

Sie rückte ein Stück zur Seite, als Bruno sich an das untere Ende der Chaiselongue setzte und damit begann, ihre Füße zu massieren. Er machte das gut.

«Vielleicht sollten wir doch noch mal ein zweites Kind versuchen», sagte er.

Margarethe lachte. «So viele Grappe hat der Padrone doch gar nicht ausgegeben. Bruno, ich bin dreiundvierzig Jahre alt. Als ich vierzig wurde, haben wir uns dafür entschieden zu verhüten.»

«Du bist keine Erstgebärende, ich habe gehört, das sei den Medizinern wichtig.»

«Unser Sohn wird zwanzig am Ende des Jahres.»

«Lass es uns versuchen», sagte Bruno.

Margarethe entzog ihm die Füße und setzte sich auf. «Geht es dabei um deine Mutter?»

«Meine Mutter hat damit nichts zu tun. Ganz im Gegenteil. Ich denke sogar, dass du eher eine Chance hast, ein Kind zur Welt zu bringen, wenn wir von hier weggehen.»

«Du willst San Remo verlassen?»

«Nicht San Remo, nur Agneses Haus. Ich erinnere mich gut, wie sie sich bei deiner letzten Schwangerschaft dauernd eingemischt und dir Vorhaltungen gemacht hat.»

«Weil ich mich weigerte, die neun Monate liegend zu verbringen. Deine Mutter fürchtete eine weitere Fehlgeburt, und leider hat sie recht behalten.»

«Dottor Muran teilte ihre Meinung nicht. Dass du die Zeit nur in der Horizontalen verbringen solltest, habe ich als Machtwort von Agnese in Erinnerung.»

«Könnten wir uns denn eine andere Wohnung leisten? Sie wird weiterhin auf deinem Firmenanteil sitzen.»

«Wir verkaufen einfach den Hermelin.» Bruno lachte kurz auf. «Nein, im Ernst. Die Restaurierung bei den Dominikanern bringt ja auch was ein.»

«Vergiss nicht, dass sie nun alt wird und von ihrer Familie versorgt sein will.»

«Das wäre sie nach wie vor. Bixio und Donata im zweiten Stock, unser Sohn im dritten. Ich habe mich gewundert, dass Agnese ihm die Wohnung schon jetzt überlassen hat, vielleicht will sie Giannis Verheiratung und Vaterschaft vorantreiben.»

«Was treibt dich an, Bruno?»

«Mein Vorsatz fürs neue Jahr: mich von den Fesseln meiner Mutter zu befreien. Einmal ist es mir gelungen, doch als ich dann aus Köln zurückkam, hat Agnese sie erneut angelegt.» Er stand auf, als das Telefon klingelte. «Pronto? Si si.» Bruno hob die Schultern. «Bei deinem Bruder ist dauernd besetzt.»

«Vermutlich meine Kusinen», sagte Margarethe.

Doch weder Billa noch Lucy telefonierten.

Köln

Gerda sank immer tiefer in den Gobelinsessel, er war wirklich sehr durchgesessen. Ein kurzes Gespräch hatte es sein sollen, und nun sprachen sie und Elisabeth schon seit einer guten halben Stunde.

Was das kosten wird, dachte Heinrich, der ab und zu ins Wohnzimmer kam, doch er sagte nichts, kehrte zurück in die Küche, wo er sich von Tochter und Sohn über deren Silvesterabend berichten ließ. Die Kinder hatten ihn an der Ehrenstraße verbracht, in einem halben Haus, dessen untere Stockwerke bewohnbar waren. Um Mitternacht waren sie in das nächste Stockwerk geklettert, hatten keine Zimmerdecke mehr über sich gehabt, nur den weiten Himmel. Vom Dom hatte die Petersglocke geschlagen.

Gerda und Elisabeth sprachen über ihre Männer, das hatte Heinrich schon verstanden beim Ohrenspitzen im Wohnzimmer. Schlechte Geschäfte hatte er aufgeschnappt, aber auch das Wort heilig, das ihm Billa angehängt hatte. Das Leben war eine ernste Angelegenheit für ihn. Ging es darum?

Er hatte sich immer in der Verantwortung gefühlt, bei den Eltern, den Schwestern, von denen ihm nur die jüngste geblieben war. Bei Gerda und den Kindern. Der ganzen verdammten Familie. Streich das Wort verdammt, dachte Heinrich. Er liebte sie alle, vermutlich sogar seine Kusinen. Er hing an der Galerie, die Vater und Onkel gegründet hatten. Ein beständiger Mensch. War das zu tadeln?

Elisabeths Mann in Hamburg war leichtblütiger. Er hatte Kurt bei den Begegnungen der letzten Jahrzehnte darum beneidet. Ein schmaler gutaussehender Mann mit langer Nase und lächelnden Augen, eine große Freundlichkeit für die Menschen darin, doch auch Ironie. Irgendwas mit Werbung machte er. Bei der Hamburger Sparcasse von 1827. Schrieb Texte für die hauseigene Zeitschrift. Verteilte Werbegeschenke an die Kunden am Weltspartag. Vermutlich suchte er auch die Sparbüchsen aus. Ein Reklamespruch der Nazizeit kam Heinrich in den Kopf: Dein Sparen hilft dem Führer. Den würde wohl kaum Kurt verbrochen haben.

Er ging noch mal ins Wohnzimmer, Gerda runzelte die Stirn, als er auf das Zifferblatt der Pendeluhr zeigte.

«Ich wäre gern großzügiger», sagte er, nachdem sie das Gespräch beendet hatte.

«Es gab viel zu erzählen», sagte Gerda. «Vielleicht kommt Elisabeth im Februar zum Rosenmontag nach Köln.»

Heinrich nickte. Hatte er wieder Sinn für den Karneval? Im vergangenen Jahr war der Rosenmontagszug zum ersten Mal nach dem Krieg durch Köln gezogen.

Mer sin widder do un dun wat mer künne.

Ja. Sie waren wieder da und taten, was sie konnten. Prinz, Bauer und Jungfrau. Die ganze Kölner Seligkeit. Die Jungfrau war in der vergangenen Saison zum ersten Mal wieder von einem Mann gegeben worden, während der Nazizeit hatten Frauen die Rolle übernommen.

Der diesjährige Prinz war ein wohlhabender Kartoffelhändler. Geld musste man haben, um zum Kölner Dreigestirn zu gehören. Das kostete. Allein die Orden. Und was da alles ins Volk geworfen wurde. Mimosensträußchen. Fläschchen mit Kölnisch Wasser. Pralinen. Im Vorjahr waren die Gebrüder Stollwerck auf der Rechnung für die gelieferten Kamellen sitzengeblieben. Heinrich seufzte. Hoffentlich wurde das nicht manisch, dass er dauernd über Geld nachdachte.

«Was war es, das du mir schon nach dem Mittagessen erzählen wolltest?»

«Billa hat einen Galan.»

«Einen Galan? Warum hat er sie an Silvester nicht ausgeführt?»

«Er befindet sich auf Gastspielreise im Holsteinischen, sagt Billa.»

«Als was?»

«In künstlerischer Tätigkeit, nehme ich an.»

«Vielleicht ist er ein Krätzchessänger.»

«Ich glaube kaum, dass er im Norden Kölner Mundart vorträgt.»

«Er kann gerne um Billas Hand anhalten», sagte Heinrich. Er sah Hoffnungsstreifen am Horizont, Billa, die auszog. Ein viel zu früher Gedanke. Egal. Sie sollten gleich noch mal anstoßen auf das neue Jahr. Gerda und er. Vielleicht brachte es vor allem Gutes.

Hamburg

Die Klänge eines Saxophons erfüllten die Küche im Erdgeschoss der Blumenstraße, als Elisabeth vom Telefon zurückkehrte. Der sanfte Jazz des Tanzorchesters hatte vor kurzer Zeit noch zu Kontroversen zwischen den Hörern des NWDR geführt, viele verbaten sich die angloamerikanische Musik. Doch Elisabeth gefiel sie besser als Rudi Schurickes Gesang von den Caprifischern, der aus Blümels Küche im ersten Stock schallte.

All the things you are ließ der Orchesterleiter Franz Thon seine Musiker spielen. Elisabeth kannte den Titel nicht, doch ihrer Tochter schien er vertraut, und er tat ihr nicht gut. Nina sah aus, als ob ihr gleich die Tränen kämen.

«Was ist los, Nina? Du kennst das Lied?»

Nun wurden auch Kurt und der Junge aufmerksam, die am Tisch saßen, Kurt die Zeitung lesend, Jan über ein Bilderbuch gebeugt.

«Papi kommt bestimmt zurück», sagte Jan. Er stand auf und kletterte seiner Mutter auf den Schoß. Eifrig bemüht, sich zu sehnen nach einem Menschen, den er nicht kannte und der ihm kaum fehlte.

«Was gibt es denn Neues bei den Kölnern?», fragte Kurt.

Elisabeth zögerte.

«Erzähl, Mama», sagte Nina. «Ich will es auch hören.» Aufmerksamkeit von sich lenken. Nicht länger daran denken, wie Vinton auf sie zukam, während dieses Lied spielte.

«Heinrichs Geschäfte gehen schlecht. Gerda sagt, um sie herum wachse der Wohlstand, und ihr Leben würde immer bescheidener. Wenigstens haben sie das Haus, das Heinrich von den Eltern geerbt hat.»

«Irgendwann werden die Leute auch wieder Bilder an den Wänden brauchen.»

«Geht es den Sparkassen gut, Kurt?»

«Was ist das für eine Frage», sagte Kurt. «Ob es den Sparkassen gut geht? Oder den Sparern? Den Kreditnehmern? Die Leute übernehmen sich bei den Ratenkäufen. Doch wir haben hübsche bunte Bilder auf den Sparbüchsen für die Kinder. Oben auf der Brücke braust der Zug nach Italien, und unten auf der Straße sitzt eine rotbackige Achtjährige am Steuer eines Cabriolets.»

«Hast du die Sparbüchsen ausgesucht, Opa? Bringst du mir eine mit?»

«Das mache ich.»

Nina kam aus ihrer Trance. «Italien. Cabriolet. Das lässt sich alles erfüllen, wenn man seine Groschen in die Büchse tut?»

Kurt Borgfeldt grinste. «Und ab und zu mal einen Heiermann.»

«Du hättest Zauberer werden sollen, statt zur Sparkasse zu gehen.» Seine Frau warf ihm einen tadelnden Blick zu.

«Ja, Lilleken. Das hätte ich. Du hast immer schon gesagt, dass ich meine Arbeit nicht ernst genug nehme.» Er lavierte sich durch. Das hatte er auch bei den Nazis getan. Und in den ersten Nachkriegsjahren.

Als Die Worte zum Jahreswechsel die Tanzmusik des Orchesters Franz Thon ablösten, stand Elisabeth auf und schaltete das Radio aus. Das kam ihr jetzt zu getragen daher. «Ich mache uns Omelettes», sagte sie. Eier hatten sie da, auch ein Stück Emmentaler. Leichtes bieten, wenn schon keine Leichtigkeit.

 

Vinton Langley hatte am frühen Abend begonnen, die letzte der Kisten auszupacken, mit denen er im Juli 1948 kurz nach der Währungsreform in die kleine Wohnung an der Rothenbaumchaussee eingezogen war. Folder and Files stand auf der Kiste. Er hatte diese Ordner mit alten Texten und Studienunterlagen bislang nicht vermisst. Doch nach anderthalb Jahren war es Zeit, endlich anzukommen.

Ihn erstaunte, einen in Leinen gebundenen Band mit Gedichten von Keats in der Kiste zu finden. Ein Zigarrenetui aus schwarzem Krokodilleder, das seinem Vater gehört hatte und dessen Initialen trug. Das gerahmte Bild seines Elternhauses in Shepherds Bush. Zwei grobe Handtücher unbekannter Herkunft, Schallplatten lagen darin eingewickelt. Er hatte ganz vergessen, dass er Bing Crosbys White Christmas besaß. Er nahm die andere Platte in die Hand und lächelte, als er das schwarze Etikett mit der goldenen Schrift der Decca sah. Eine Aufnahme mit Tony Martin aus dem Jahr 1947. All the things you are.

Er wollte es als Zeichen nehmen.

San Remo

Dass sie endlich ihren Bruder am Apparat hatte, abends um halb zehn. Der erste Tag des Jahres 1950 war schon bald wieder vorbei. Sie hatten die Cicchetti gegessen, eine Flasche Pigato dazu getrunken, den hiesigen Weißwein. Zu viert. Bixio und Donata waren nicht erschienen, ihrer Schwägerin war schlecht geworden auf der Autofahrt zurück von Ospedaletti, sie hatte sich am Straßenrand übergeben.

Brunos Mutter hatte sich zeitig verabschiedet, ihre Knöchel seien geschwollen, Rosa müsse ihr ein Fußbad mit einem Sud aus Löwenzahnblättern anrichten. Foglie di tarassaco. Gianni war gleich danach gegangen, um sich noch mit Freunden zu treffen.

Viel Heiteres, das Heinrich erzählte. Von Gerdas morgendlichem Blick auf den Pan, dessen Flöte ihre Schwägerin zu hören glaubte. Von Billa, dem ersehnten Silberfuchs und einem Verehrer, der es hoffentlich ernst meinte mit ihrer Kusine. Margarethe lächelte. Ihr Bruder hatte schon immer über Kreuz gelegen mit Billa, obwohl er doch beinah neun Jahre älter war. Bei ihr verlor er seine Besonnenheit.

«Und wie geht es euren Kindern?», fragte sie. Ihr Neffe war nur eine Woche älter als Gianni, während der ersten Lebensjahre der beiden, als sie noch alle in Köln lebten, hatten die Jungen aneinandergeklebt.

«Ulrich wird endlich sein Abitur machen. Was danach kommt, steht noch in den Sternen. Und Ursula findet großes Gefallen an der Kunstgeschichte. Leider. Eine brotlose Kunst, Bruno ist da eine Ausnahme.»

«Bruno hat in Köln gut verdient, im Kloster bei den Dominikanern tut er es nicht.» Margarethe glaubte, ihren Bruder nicken zu hören. «Ich bin froh, dass Gianni eine kaufmännische Lehre macht», fuhr sie fort. «Er wird in den Blumenhandel einsteigen. Und wie geht es bei dir in der Galerie?»

«Selbst im Dezember habe ich nur wenige kleinere Bilder verkauft.»

«Wovon lebt ihr?»

«Das wird im Frühjahr eine interessante Frage werden.»

«Im Frühjahr kommen wir wahrscheinlich nach Köln. Spätestens dann sollten wir Lösungen finden, Heinrich. Vielleicht können wir helfen.»

«Du hast gerade selbst von Brunos eher bescheidenen Einnahmen gesprochen. Und auf dem Vermögen sitzt doch wohl noch immer deine Schwiegermutter.»

«Bruno kommt gerade ins Zimmer und lässt herzlich grüßen.» Bruno nickte zustimmend. Margarethe hatte kaum Geheimnisse vor ihm, doch sie zögerte, die Kalamitäten in Köln länger zu erörtern. «Und mach dir keine Sorgen wegen Ursels Zukunft, Köln hat noch ein paar romanische Kirchen, derer sie sich annehmen kann.»

«Ursels Zukunft?», fragte Bruno, als Margarethe das Gespräch beendet hatte. Er ließ sich auf der Chaiselongue nieder.

«Sie hat angefangen, Kunstgeschichte zu studieren. Du warst bei Agnese?»

Ja. Er war noch bei seiner Mutter gewesen, hatte es ausgenutzt, dass sie im Salon festsaß, die Füße im Löwenzahnsud, und eine Flasche Sangiovese aus dem Regal in der großen Speisekammer genommen. Agnese geizte mit dem Rotwein.

«Ich habe uns einen Roten entkorkt. Er atmet in der Küche, aber ich denke, das hat er nun lange genug getan.» Bruno stand auf, um zwei Gläser aus der Vitrine zu nehmen und den Wein einzuschenken. Als er zurückkehrte, lag Margarethe auf der Chaiselongue. Ihr enger Rock mit dem Seitenschlitz war hochgerutscht, sie trug die Seidenstrümpfe, die er ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Er war eigens nach Nizza gefahren, um sie zu kaufen. Dort tummelten sich die Amerikaner und der Luxus.

«Das könnte ein guter Abend für die Liebe werden. Eigentlich schade, dass du das Pessar hast.»

«Dir ist also ernst mit alldem?»

«Sehr ernst.»

«Das alles ist völlig unvernünftig.»

«Ist erwiesen, dass die Vernunft den Menschen glücklich macht?»

«Kein Kind, Bruno. Ich traue mir das nicht mehr zu.»

«Ich habe dich überfallen. Mi scuso. Doch denke bitte noch mal darüber nach.»

«Donatas Übelkeit. Vielleicht ist sie ja schwanger. Ich wünsche es ihr.»

«Meine Mutter mutmaßt, dass Donata zu viele Steinpilze gegessen hat, die liegen schwer im Magen.» Er setzte sich neben Margarethe und reichte ihr ein Glas. «Ich hätte gleich zwei Flaschen vom Sangiovese aus ihrer Kammer nehmen sollen.»

«Sie zählt den Wein bestimmt täglich durch», sagte Margarethe. «Nachher gerät Rosa noch in den Verdacht, eine Trinkerin zu sein.»

Bruno stieß sein hochstieliges Kristallglas gegen ihres. «Auf unsere Zukunft, carissima. Du und ich sind jung genug, um noch vieles vor uns zu haben.»

Margarethe lächelte. Auch ohne ein zweites Kind, dachte sie.

11. Januar

Hamburg

June stand am Fenster und blickte hinaus auf den Klosterstern, in dessen Kreisverkehr nur wenige Autos fuhren, einer der neuen Peterwagen der Polizei und zwei Land Rover der Briten, die in die Rothenbaumchaussee einbogen.

«Wirst du ihm eine Chance geben?» Sie drehte sich zu Nina um. Betrachtete dann die kleine Schachtel mit den kalifornischen Rosinen, die sie in der Hand hielt und beinah zerdrückt hätte.

Nina sah von ihrer Olympia auf, ein Vorkriegsmodell. Die einzige moderne Schreibmaschine im Übersetzungsbüro der Clarkes war eine zwei Jahre alte IBM, an der June arbeitete. Doch nun gab es im Westen ein neues Werk der Erfurter Firma Olympia, Junes Mann Oliver hatte dort in Wilhelmshaven zwei der modernen Maschinen bestellt. Das Büro lief gut. Sie hatten sich auf Pressetexte spezialisiert und arbeiteten vor allem für die Redaktionen der Zeit, der Welt und für die Nachrichtenagentur Reuters.

«Du sprichst von Vinton, nehme ich an», sagte Nina.

Zwei Briefe, die sie von ihm bekommen hatte. Einen kurzen, der am Tag nach Neujahr hier auf ihrem Schreibtisch gelegen hatte, wohl von June deponiert. Vinton bat darin, sie vor seiner Abreise noch einmal sehen zu dürfen. Dieser Brief war genauso unbeantwortet geblieben wie der zweite, längere, am Tag seines Abflugs nach London aufgegeben. Als Absender hatte er die Adresse eines Hotels in Bayswater genannt. Gab es keine Familie, die ihn in seiner Heimatstadt hätte aufnehmen können?

«Willst du gar nichts über ihn wissen?», fragte June.

Doch. Nina lechzte danach, etwas aus dem Leben des Mannes zu erfahren, der angefangen hatte, sich in ihrem Herzen einzunisten. Wenn ihr nur gelänge, Vinton Langley weniger liebenswert zu finden.

«Was hat er im Krieg gemacht?»

«Eine interessante erste Frage», sagte June. «Er hat geschrieben. Aber nicht als Frontberichterstatter, Vinton hat Nachrichtentexte für die BBC verfasst.»

June Clarke hätte ihr dazu viel mehr sagen können. Doch sie tat es nicht. Sie trat an ihren Schreibtisch und fing an, das knappe Dutzend kleiner Schachteln in eine Tüte zu tun, die sie für Ninas Sohn Jan packte. Sun Maids. Von den alliierten Freunden aus Kalifornien. Der kleine Jan liebte die Rosinen.

«Du kennst ihn schon lange?»

«Ja», sagte June. Sie kannte Vinton nicht erst, seit er in Hamburg angekommen war und sie ihn unter ihre Flügel genommen hatte in der fremden Stadt. Aber von ihrem Kennenlernen würde sie Nina ein anderes Mal erzählen, nicht heute.

«Er war also kein Soldat?»

June stellte die Tüte auf Ninas Schreibtisch. «Eine frühe Verwundung», sagte sie. «Kurz nach seiner Rekrutierung. Darum ist ihm der Fronteinsatz erspart geblieben.» Sie dachte über das Wort Verwundung nach. War es das richtige, für das, was Vinton geschehen war am Ende des Jahres 1940?

«Weißt du was von seiner Familie?»

«Nur, dass seine Eltern tot sind.»

«Ist er deinetwegen nach Hamburg gekommen?»

«Nein. Er wollte weg aus London. Vinton hat unsere Wohnung in der Rothenbaumchaussee übernommen, als er hierherkam. Sie war zu klein geworden für Oliver und mich. Wir fingen an, uns zu streiten, wenn wir die Schrankbetten aufklappten.»

«Vielleicht will die BBC ihn nach England zurückholen.»

«Wünschst du dir das?», fragte June.

Nina blickte auf den Text über Erdnussfelder in Rhodesien, den sie gerade ins Deutsche übersetzte, und tat, als konzentriere sie sich darauf. Viel zu weit schon hatte sie sich vorgewagt mit ihren Fragen.

June setzte sich an ihre Schreibmaschine. «Gestern hat mir unsere Nachbarin eine dieser Karten vom Roten Kreuz gezeigt. Im März 1946 geschrieben. Ihr Mann ist als Kriegsgefangener in einem Lager im Kaukasus. Sie nimmt an, dass die Russen ihn nicht gehen lassen, weil er Arzt ist. Er ist noch nützlich für sie.»

«Warum erzählst du mir das, June?»

«Unsere Nachbarin hat Kontakt zu ihm über eine Postfachnummer, die auf dieser Karte genannt ist. Sie schreiben einander.»

«Ich habe keine Karte vom Roten Kreuz.»

June nickte. Das war ihr bekannt.

«Willst du mir sagen, dass mein Mann tot ist? Das ist er nicht. Joachim wird seit dem März 1945 lediglich vermisst.»

Sie schwiegen beide für die verbleibende Stunde des Nachmittags.

«Don’t forget the raisins», war das Erste, was June wieder sagte, als Nina aufstand und ihre Tasche packte. Selten, dass sie englisch sprach. Deutsch hatte sie schon als Dreijährige von ihrer Kinderfrau gelernt.

Nina trat aus dem Haus und ging quer über den Klosterstern, um den Weg zur Streekbrücke einzuschlagen. Die kahlen schwarzen Bäume des Januars, die dort im Kreis standen, schienen sich zum Totengesang aufgestellt zu haben für einen, den Nina nicht loslassen wollte.

Köln

Heinrich Aldenhoven war vor die Galerie getreten und sah hinüber zum Denkmal des Adolph Kolping, das vor den hohlen Fenstern des Wallraf-Richartz-Museums stand. Schnee war gefallen und hüllte die Ruinen der Fassade gnädig ein.

In einer halben Stunde würde er den Laden schließen, kaum zu erwarten, dass bis dahin noch ein Kunde kam. Er drehte sich um und betrachtete das eigene Schaufenster, ein Aquarell war nun das zentrale Bild der Auslage. Er hatte es in Kommission genommen, eine Landschaft im Vorfrühling, Birken, ein noch kahles Feld, von Stacheldraht umgeben. Zarte Farben. Helles Grau. Ein Hauch von Aprikose.

Das Ölgemälde vom Ananasberg hatte er heute aus dem Fenster genommen. Am Ladentisch lehnte es nun, bereit, in festes weißes Papier gepackt und mit einer Kordel verschnürt zu werden, um morgen auf Gerdas Gabentisch zu liegen.

Er kehrte in den Laden zurück, schloss die Tür hinter sich und trat an den Tisch. Lange hatte er nicht mehr ein solch beglückendes Geschenk für Gerda gehabt. Heiterer heller Sommer leuchtete aus dem Bild. Den Preis hatte er von zweihundert auf vierhundert Mark hochgesetzt, um zu verhindern, dass es im letzten Augenblick einen Käufer fand. Dabei hätten knisternde Hundertmarkscheine in der Kasse das Haushaltsgeld für viele Wochen garantiert.

Heinrich zuckte leicht zusammen, als die Ladentür vehement geöffnet wurde, der Luftzug das Papier auf dem Tisch wehen ließ. Ihm fehlte die Klingel, die zerbrochen war, ihre angenehme kleine Tonfolge, er wollte sich um eine ähnliche kümmern.

Es hatte wieder zu schneien angefangen, dem Mann, der eintrat, lagen weiße Flocken auf Hut und Schultern. Hatte er den Gruß überhört?

«Das Bild im Fenster.» Die Augen des Mannes blickten umher.

«Das Aquarell», sagte Heinrich. «Eine anmutige Vorfrühlingsstimmung.»

«Nein. Das Bild, das vorher im Fenster war. Dessen Preis sich verdoppelt hat.»

Heinrich zögerte. Er hätte den Ananasberg längst aus dem Schaufenster nehmen sollen. Aber das Bild als Aushängeschild hatte der Galerie Glanz gegeben.

Nun fiel der Blick des Mannes auf das Ölbild, das am Tisch lehnte. «Da ist es ja. Ich zahle Ihnen den höheren Preis, auch wenn mich dieses Gebaren befremdet.»

Heinrich Aldenhoven schwieg.

Gerdas Gabentisch. Die Kinder schenkten ihr eine Mappe mit Briefpapier. Von Margarethe war ein Päckchen angekündigt. Heinrich wusste nicht, was seine Kusinen vorgesehen hatten. Aber ihm bliebe dann nur der schmächtige Band mit der Erzählung eines jungen Kölner Schriftstellers. Zwischen Lemberg und Czernowitz. Eine Kriegsgeschichte. Für das Heitere sollte der Ananasberg sorgen.

«Sie wollen das Bild nicht verkaufen?»

«Es ist als Geburtstagsgeschenk für meine Frau gedacht.»