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Carmen Korn

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Beschreibung

In der Fortsetzung ihres Bestsellers «Und die Welt war jung» lässt Erfolgsautorin Carmen Korn einmal mehr Vergangenheit lebendig werden.  Jugendrevolte und Swinging Sixties – eine bewegende Familiengeschichte in bewegten Zeiten.  Ein neues Jahrzehnt bricht an für die Freundesfamilie aus Köln, Hamburg und San Remo. Die 1960er Jahre versprechen Aufbruch, Wohlstand, Lebensfreude. Auch die Kölner Galerie von Gerda und Heinrich floriert. Tochter Ursula in Hamburg erwartet ihr erstes Kind. Sie ist Elisabeth und Kurt, den lebenslangen Freunden ihrer Eltern, dankbar, dass sie ihr und Joachim ein Zuhause geben. Doch das Zusammenleben unter einem Dach ist nicht einfach. Während die nächste Generation nach ihrem Platz sucht im Heute, hält sich Elisabeth lieber am Vergangenen fest, und Kurt nutzt immer öfter die Gelegenheit für kleine Fluchten. Auch in San Remo bringt das neue Jahrzehnt Veränderungen und Abschiede. Vor allem sorgt sich Gianni um Freund Pips, den früheren Pianisten seines Jazzklubs, der mit einem dunklen Kapitel seiner Vergangenheit konfrontiert wurde, das sein Leben weit in die Zukunft hinein verändert hat. Carmen Korn erzählt von den Menschen, von den kleinen Momenten im großen Weltgeschehen, von dem, was ein gelebtes Leben ausmacht. Mit ihrer zweibändigen Drei-Städte-Saga schließt sie an den Erfolg ihrer Jahrhundert-Trilogie über vier Frauen aus Hamburg-Uhlenhorst an und eroberte einmal mehr die Bestsellerlisten. 

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Seitenzahl: 581

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Carmen Korn

Zwischen heute und morgen

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

«Zwischen heute und morgen kann so unsagbar vieles geschehen …»

Ein neues Jahrzehnt bricht an für die Freundesfamilie aus Köln, Hamburg und San Remo. Die 1960er-Jahre versprechen Aufbruch, Wohlstand, Lebensfreude. Auch die Kölner Galerie von Gerda und Heinrich floriert. Tochter Ursula in Hamburg erwartet ihr erstes Kind. Sie ist Elisabeth und Kurt, den lebenslangen Freunden ihrer Eltern, dankbar, dass sie ihr und Joachim ein Zuhause geben. Doch das Zusammenleben unter einem Dach ist nicht einfach. Während die nächste Generation nach ihrem Platz sucht im Heute, hält sich Elisabeth lieber am Vergangenen fest, und Kurt nutzt immer öfter die Gelegenheit für kleine Fluchten. Auch in San Remo bringt das neue Jahrzehnt Veränderungen und Abschiede. Vor allem sorgt sich Gianni um Freund Pips, den früheren Pianisten seines Jazzklubs, der mit einem dunklen Kapitel seiner Vergangenheit konfrontiert wurde, das sein Leben weit in die Zukunft hinein verändert hat.

 

Eine bewegende Familiengeschichte in bewegten Zeiten. Carmen Korn lässt Vergangenheit lebendig werden. Sie erzählt von den Menschen, von den kleinen Momenten im großen Weltgeschehen, von dem, was ein gelebtes Leben ausmacht.

Vita

Carmen Korn

wurde 1952 in Düsseldorf als Tochter des Komponisten Heinz Korn geboren. Nach ihrer Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule arbeitete sie als Redakteurin für den «Stern». Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Mit «Töchter einer neuen Zeit», dem Auftakt ihrer Jahrhundert-Saga, gelang ihr ein sensationeller Überraschungserfolg. Der Roman über vier Freundinnen aus Hamburg-Uhlenhorst wurde zum Lieblingsbuch zahlreicher Leser:innen. Die Trilogie verkaufte sich insgesamt über 1,5 Millionen Mal. Mit «Und die Welt war jung», dem ersten Teil ihrer neuen zweibändigen Saga, eroberte sie einmal mehr die Bestsellerliste.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Stammtafel von Peter Palm

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg

Coverabbildung Will McBride/bpk; Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-30035-4

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Hannah Henrike

 

Peter Christian

 

Jules Defoer

Personenverzeichnis

Die Hamburger

Elisabeth Borgfeldt

Jahrgang 1900. Elisabeth macht es sich und ihren Liebsten nicht leicht. Manchmal sehnt sie sich nach den Nachkriegsjahren zurück. Damals blieb der Familie nichts anderes, als einander nah zu rücken. Doch das würde Elisabeth niemandem eingestehen, natürlich ist sie froh, dass die schwere Zeit vorbei ist, ihr einstiger Schwiegersohn Joachim endlich wieder heimgekehrt. Für ihn hat sie immer noch eine besondere Schwäche. Das Leben außerhalb des Hauses in der Blumenstraße macht Elisabeth hingegen zunehmend Angst.

 

Kurt Borgfeldt

Jahrgang 1896. Eigentlich schätzt Kurt die Leichtigkeit, doch in letzter Zeit fällt es dem Werbeleiter einer Sparkasse, der vor der Pensionierung steht, schwer, einen heiteren Blick auf das Leben zu bewahren. Natürlich liebt er seine Lilleken, was für ein Gedanke, daran zu zweifeln. Ohne kleine Fluchten aber würde er ihre Umklammerung kaum ertragen. Unter dem Dach hat er zwei Zimmerchen eingerichtet. Dahin zieht er sich zurück, während Elisabeth unten auf dem Küchensofa sitzt und damit hadert, dass alle ihrer eigenen Wege gehen.

 

Nina Langley, geborene Borgfeldt

Jahrgang 1920. Die Tochter von Elisabeth und Kurt. In erster Ehe war sie mit Joachim Christensen verheiratet. Mit ihm hat sie den gemeinsamen Sohn Jan (*1944). Lange war Joachim in Russland vermisst, als er im Juli 1953 doch noch aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte, liebte Nina einen anderen. Mittlerweile sind sie und Vinton Langley verheiratet. Die Beziehung zu Joachim ist freundschaftlich, Jan hat zwei Väter, und mit Tom (*1955) auch noch einen Bruder bekommen.

 

June Clarke

Jahrgang 1911. Ninas Arbeitgeberin und Freundin. Zusammen mit ihrem Mann Oliver betreibt die Engländerin ein Übersetzungsbüro am Hamburger Klosterstern. Einen besonderen Platz unter ihren Flügeln hat Vinton, den sie 1940 während der Bombenangriffe auf London aus den Trümmern seines Elternhauses zog.

Die Kölner

Gerda Aldenhoven

Jahrgang 1902. Gerda betrachtet die Welt mit offenem Blick und weitem Herzen. Wenn sie am Neujahrsmorgen den Pan um Beistand bittet, ist sie voller Vertrauen, dass alles gut sein wird. Sie liebt und pflegt Rituale. Und eigentlich auch Freundschaften. Die zu ihrer Hamburger Freundin Elisabeth wird jedoch immer mehr zur Herausforderung. Unterschiedlich waren die beiden schon, als sie sich 1912 als Kinder am Timmendorfer Strand kennenlernten. Doch in letzter Zeit fällt es Gerda schwer, ihre Freundin zu verstehen.

 

Heinrich Aldenhoven

Jahrgang 1892. Den heiligen Heinrich nennt ihn seine Kusine Billa. Ja, Heinrich will das Leben würdig behandelt wissen. Glück ist für ihn, seiner Gerda nahe zu sein und sich an den Kindern und Enkeln zu freuen. Die einst vom Vater gegründete Kunstgalerie läuft nicht zuletzt durch Gerdas Einsatz. Auch wenn das Leben für Heinrich oft eine ernste Angelegenheit war, er hatte viel Glück. Das weiß er zu schätzen, und es lässt ihn gelegentlich selbst auf Billa mit nachsichtigem Blick schauen.

 

Billa Aldenhoven

Jahrgang 1900. Seit ihre Klettenberger Wohnung, in der sie zusammen mit ihrer Schwester Lucy Aldenhoven lebte, während einer Bombennacht verlorengegangen ist, wohnt Billa bei Heinrich und Gerda am Pauliplatz. In Georg Reim hat sie eine späte Liebe gefunden, auch wenn viele staunen über das ungleiche Paar. Nicht zuletzt Billa selbst. Das Zimmer bei Heinrich will Billa trotzdem nicht aufgeben, bei ihm und Gerda fühlt sie sich geborgen.

 

Ursula Christensen, geborene Aldenhoven

Jahrgang 1929. Nach dem jähen Tod ihrer großen Liebe Jef hat die Tochter von Gerda und Heinrich noch einmal ein Glück gefunden. Sie und Joachim erwarten ihr erstes gemeinsames Kind. Größer könnte der Unterschied zwischen den Männern ihres Lebens kaum sein. Der unkonventionelle Maler Jef. Der Studienrat Joachim, dem nach dreizehn Jahren Krieg und Gefangenschaft nur eine vorsichtige Annäherung an das Leben und dessen Leichtigkeit gelingt. Und dann ist da noch Pips. Der Mann, dem Ursula sagte, als Liebende seien sie nicht vorgesehen.

 

Ulrich Aldenhoven

Jahrgang 1930. Seine Familie sieht Uli als braven und soliden Mann. Den Beweis hat Ursulas Bruder angetreten, als er Carla Bianchi heiratete, eine Freundin seines italienischen Cousins Gianni. Carla war damals von Bixio Canna schwanger, Giannis skrupellosem Onkel. Die kleine Claudia anzunehmen und sie zu lieben wie seine eigene Tochter Maria, war für Ulrich selbstverständlich. Im Modesalon, den er und Carla zusammen mit Lucy betreiben, fühlt Uli sich von den beiden starken Frauen ins Abseits gedrängt. Bei dem Versuch, anderswo Bestätigung zu finden, gerät er abseits der soliden Wege.

Die San Remeser

Margarethe Canna, geborene Aldenhoven

Jahrgang 1906. Heinrichs Schwester ist ihrem Mann Bruno bereits 1934 in seine italienische Heimat nach San Remo gefolgt. Sie schätzt das gute südliche Leben. Jederzeit ist sie bereit, die Freunde ihres Sohnes Gianni mit großer Herzlichkeit und viel Pasta an ihrem Tisch willkommen zu heißen. Wie gut, dass das Haus an der Via Matteotti Platz für die ganze Familie bietet.

 

Bruno Canna

Jahrgang 1904. Margarethes Mann. An Margarethe liebt der Kunsthistoriker, dass sie frei von jeglichem Dünkel ist. Anders als seine Mutter. Nur dass ihre Küche in letzter Zeit zum Fleischlosen tendiert, behagt dem leidenschaftlichen Esser nicht. Zum Glück findet sich immer die eine oder andere Scheibe Porchetta im Kühlschrank. Die schwierige Beziehung zu seinem Bruder Bixio kann Bruno allerdings den Appetit verderben.

 

Bixio Canna

Jahrgang 1908. Anders als sein älterer Bruder hat Bixio die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt und arbeitet im Blumenhandel der Familie. Doch ansonsten hält Bixio nicht viel davon, Verantwortung zu übernehmen. Von seiner ersten Frau Donata hat er sich getrennt. Nun lebt er mit Lidia im Haus an der Via Matteotti. Bixios und Lidias verwöhnter Sohn Cesare wächst dort zum Tyrannen heran.

 

Gianni Canna

Jahrgang 1930. Margarethes und Brunos Sohn. Zweisprachig aufgewachsen, bewegt er sich in beiden Welten mit Leichtigkeit und Charme. Er ist mit Corinne de Vries verheiratet. Die Niederländerin leitet mittlerweile zusammen mit Bixio den Blumenhandel der Familie. Gianni ist stolz auf seine Frau, doch da er mit Giannis Bar ein erfolgreiches Jazzlokal führt, leben er und Corinne oft in unterschiedlichen Zeitzonen. Nicht hilfreich, zumal sich Corinne dringend ein Kind wünscht.

 

Agnese Canna

Jahrgang 1878. Brunos Mutter und Margarethes Schwiegermutter. Über 80-jährig, steht sie immer noch der Familie vor. Vor allem Bruno kann den Gedanken, es seiner Mutter stets recht machen zu wollen, nicht abstreifen.

 

Jules de Vries

Jahrgang 1914. Mit seinem Bruder, Corinnes Vater, dem strengen Mijnheer de Vries, hat Jules nur wenig gemeinsam. In seiner Familie gilt Jules als schwarzes Schaf. Corinne schätzt ihren Onkel dafür umso mehr. Ein braver Jesuit wäre er geworden, hätte er nicht damals in einer Londoner Bar die Nachtklubsängerin Katie kennengelernt. Das Gebot der Ehelosigkeit war danach nicht mehr zu halten gewesen. Mittlerweile führt Jules zusammen mit Gianni die Jazzbar an der Piazza Bresca. Seitdem Pips sie verlassen hat, leidet der Jazz allerdings. Keiner der Aushilfspianisten reicht an den Freund heran, den Jules gerade umso schmerzlicher vermisst, da die Ehe mit Katie in einer Sackgasse zu stecken scheint.

 

Pips Sander

Jahrgang 1927. Als Pianist in Giannis Bar trat er in das Leben der Cannas. Gianni ist er ein naher Freund, Margarethe fast ein zweiter Sohn. Doch nach der schicksalhaften Begegnung im September 1959 hält es Pips in San Remo nicht mehr aus. Nach Köln führt kein Weg zurück. Die Stadt ist nicht nur seine Heimat, sondern auch die seiner einstigen Peiniger. Nur Hamburg erscheint ihm als ein Ort, an dem er Frieden finden könnte. Vor allem Ursulas wegen. Dass sie nie Liebende sein werden und sie mit einem anderen verheiratet ist, respektiert Pips. Er schätzt Joachim. Und dennoch. In Ursels Nähe zu sein, ist manchmal das Einzige, was ihn mit dem Leben verbindet.

1960

17. Januar

San Remo

Gianni schreckte aus dem Schlaf wie so oft seit jener Nacht im September. Er setzte sich auf und blickte in das dunkle Zimmer, versuchte, die Traumbilder zu verdrängen, die ihn immer wieder Pips hinterherlaufen ließen, auf die alte Festung zu, die Beine wurden ihm schwer, als liefe er im tiefen Sand. Er sah zu Corinne, die ihre Hand auf seine Schulter gelegt hatte. «Ich habe dich wieder mal geweckt», sagte er.

Corinne griff nach dem Glas auf ihrem Nachttisch. «Trink einen Schluck Wasser.»

Er nahm ihr das Glas aus der Hand und trank in großen Zügen. Den Albtraum ertränken. Die Angst aus jener Nacht. Den Zorn, den er noch immer in sich trug. Auf die beiden Schergen der Gestapo, die keiner verurteilte für das, was sie Pips vor vielen Jahren angetan hatten. Die auch jetzt zu leicht davongekommen waren.

«Dieses letzte Bild», sagte Gianni. «Das Blut.»

«Pips lebt», sagte Corinne.

Ja. Er lebte. Ursula sagte, es gehe ihm leidlich. Zu viel Leid in den zwei Silben.

«Willst du noch mal nach Hamburg fahren?»

Das sollte er tun. Vor dem Festivale della Canzone, das am 28. Januar begann. Dann würde die Bar von trunkenen Gästen des Schlagerfestivals bersten, da durfte er nicht fern sein. Doch noch reichte die Zeit. Er könnte gleich heute fliegen. Von Nizza aus. Gerade hatte der Sonntag begonnen, der Tag, an dem Giannis Bar geschlossen blieb. Konnte er Corinne zumuten, auf diesen gemeinsamen Sonntag zu verzichten? Weil er nach Hamburg flog, statt mit ihr nach San Romolo zu fahren, um in einer der Locandas zu essen?

«Wärest du denn einverstanden, wenn ich fliege? Gleich heute?»

«Und das Ticket? Cook wird geschlossen haben.»

Corinne hatte recht. Im Reisebüro am Corso Imperatrice würde ihm wohl kaum jemand am Sonntagmorgen ein Flugticket verkaufen. Er müsste auf gut Glück nach Nizza fahren. War die ganze Idee nicht nur ein Nachtgedanke?

«Was quält dich so seit dem Gespräch mit Ursula?»

Gianni sank zurück in die Kissen. Vielleicht hatte Ursula ihre Antennen zu fein eingestellt. Sorgte sich zu sehr. Schwangere Frauen neigten dazu. Wer hatte das gesagt? Wohl kaum seine Mutter. Die Nonna hielt solche Weisheiten parat.

«Ursula hat Angst, er könnte sich das Leben nehmen.»

«Nein», sagte Corinne. «Pips ist ein Kämpfer.»

«Das denke ich auch.» Im November hatte er Pips nach Hamburg begleitet. Dessen Habseligkeiten im Gepäck. Sein Pianist hatte nicht länger hier leben wollen, obwohl San Remo unschuldig am Geschehen war, die Verursacher von Pips’ Pein waren aus seiner Heimatstadt gekommen. Köln schied also aus, Hamburg schien der einzige Ort zu sein, den Pips erträglich fand. Dort war Ursula.

Gianni drehte sich zu seiner Frau. Sie wollte, dass er blieb. Das spürte er. Corinne fing an, ihn zu streicheln. «Heute ist ein guter Tag dafür», sagte sie.

Ein Kind. Corinne wollte ein Kind. Viel dringender als er.

 

Hinter den schweren Vorhängen der Fenster ging gerade die Sonne auf, als Gianni wieder wach wurde. Er nahm seine Armbanduhr, die auf dem Nachttisch lag. Kurz vor acht. Im Haus der Cannas in der Via Matteotti begann der Tag, wenn auch mit den sanften Geräuschen eines Sonntags. Im ersten Stock wurden die Fensterläden geöffnet, von Rosa, dem Dienstmädchen der Nonna. Seine Großmutter war die Einzige im Haus, die Wert darauf legte, am Abend die Läden zu schließen. Unter ihm, im zweiten Stock, hörte er die quengelnde Stimme von Cesare, dem kleinen Sohn von Onkel Bixio. Bei Giannis Eltern im vierten blieb es noch still, doch er war sich sicher, dass schon der Duft des Kaffees in der Luft lag, den seine Mutter zubereitet hatte.

Corinne schlief noch fest, ihre Wimpern flatterten leicht, vielleicht träumte sie. Im Februar würde sie sechsundzwanzig Jahre alt werden, ihr schien es höchste Zeit für eine Schwangerschaft. In den ersten beiden Jahren ihrer Ehe hatten sie noch verhütet, das taten sie nun seit einem Jahr nicht mehr.

Gianni haderte mit der Entscheidung, nicht in ein Flugzeug zu steigen. Aber Pips schätzte keine Überraschungen. Er würde kopfschüttelnd in der Tür stehen. Sich überfallen fühlen.

Er stand auf, darauf bedacht, Corinne nicht zu wecken. Sie waren erst spät wieder eingeschlafen, nachdem er ihr versichert hatte, zu Hause zu bleiben. Gianni betrat die Küche und öffnete das Fenster. Ließ kalte Luft hinein und den Kaffeeduft. Nach oben gehen und um einen Cappuccino bitten. Margarethe hatte gestern Hefehörnchen mit Mohn gebacken, ihre Variante der cornetti.

Stattdessen nahm er die Zigarettenschachtel, die auf dem Küchentisch lag. Zündete eine Pall Mall an und blieb vor dem offenen Fenster stehen. Am Donnerstag kam ein neuer Pianist, der zurzeit in einem genuesischen Klub spielte und sich bei ihnen um ein festes Engagement bewarb. Das hatte er heute Nacht völlig vergessen. Die vergangenen vier Monate hatten sie mit wechselnden Klavierspielern überbrückt.

Nur gut, dass er sich dagegen entschieden hatte zu fliegen. Ein zu enger Zeitplan, wenn er spätestens am Mittwoch nach San Remo zurückkehren musste, sein Kompagnon Jules wollte die Entscheidung über den Pianisten nicht allein treffen.

Gianni drückte die Zigarette im Spülstein aus, ließ Wasser über die Kippe laufen. Wenn er dann demnächst in Hamburg wäre, würde er sich Zeit nehmen, um mit Pips auf die Suche zu gehen. Ein Engagement finden. Vielleicht auch eine andere Wohnung, nicht dieses Loch, in das Pips gezogen war, weil ihm alles egal schien. Das alte Klavier, das Ursula und ihr Mann für ihn angeschafft hatten, stand noch bei ihnen in der Wohnung. Pips spielte nicht. Lebte von Erspartem. Die Verletzungen seien ganz gut verheilt, hatte Ursula gesagt. Nur dass er sich noch immer mühsam bewege wie einer, der jederzeit den nächsten Schlag erwarte.

Pips Mut machen. Im Februar, wenn die Tage wieder heller wurden.

All diese Ausflüchte, die er da suchte, weil er hierblieb. Gianni seufzte. Widerstand der Versuchung, eine zweite Zigarette anzuzünden, und trat noch einmal ans Fenster. Er hatte jene Septembernacht im Ospedale San Pietro verbracht, auf dem Flur gewartet, bis er für ein paar Augenblicke zu Pips durfte. Das achte Bett im Krankenzimmer. Sie hatten einen weißen Paravent davorgestellt, um Pips vor den Blicken der anderen zu schützen, als befürchteten sie seinen baldigen Tod.

Wie klein Pips ausgesehen hatte. Als wäre er ein Kind. Nur der bandagierte Kopf schien zu groß, der Verband schon wieder blutig. Pips war noch nicht ansprechbar gewesen. «Commotio cerebri», hatte der Arzt gesagt. Eine Gehirnerschütterung. Die Schwester hatte einen Eimer neben das Bett gestellt, erst als sie den Kittel wechselte, den sie Pips übergezogen hatten, sah Gianni die Spuren von Erbrochenem.

Sekunden nur, in denen Pips nackt lag. Gianni hatte den Blick gesenkt und die toten Fliegen auf dem hellen Steinboden betrachtet. Versuchte da schon zu vergessen, was er gesehen hatte. Doch auch dieses Bild blieb ihm. Wie all die anderen.

Hamburg

Ein Schwindel, der sie erfasste, das geschah ihr nun gelegentlich. Dr. Unger hatte sie beruhigt, ein jäher Blutdruckabfall, darunter litten viele Frauen in dieser Phase der Schwangerschaft. Ursula ließ die Tischkante, nach der sie gegriffen hatte, wieder los, lockerte nur die Gürtelschleife ihres Kimonos, bevor sie sich auf einen der Stühle setzte und ihre Hände auf den kleinen Bauch legte.

«Alles in Ordnung mit euch beiden?»

Ursula sah zu Joachim, der in die Küche gekommen war, und nickte. Er war ein besorgter Vater. Schon jetzt. «Bleibt es dabei, dass du mich zu Pips begleitest?»

«Ich lass dich auf keinen Fall allein gehen. Wenn ich nur an die steile Treppe in diesem Haus denke. Kein Wunder, dass das Klavier noch hier steht.»

«Wäre doch die Treppe der einzige Grund dafür», sagte Ursula. «Ich weiß nicht, wie es mit Pips weitergehen soll, wenn er sich weigert, Klavier zu spielen.»

«Er sollte sich das Geschehen von damals von der Seele reden.»

«So wie du dir Russland von der Seele redest?»

Joachim zog die Augenbrauen hoch. Ursula hatte recht. Er erzählte kaum von dem, was er im Krieg und in acht Jahren sibirischer Gefangenschaft erlebt hatte.

«Ich ziehe mich mal an», sagte Ursula. «Machst du uns einen Tee?»

Er griff nach dem Flötenkessel, stellte ihn in die Spüle aus Edelstahl, ließ Wasser einlaufen. Früher hatte es an dieser Stelle einen Spülstein aus Steingut gegeben. Vieles war erneuert worden, und oft vergaß er, dass er schon einmal in dieser Wohnung gelebt hatte. Während des Urlaubs von der Front. Gestohlene Tage, viel zu wenige davon, um ein vertrautes Paar zu werden. Zuletzt im April 1944, da hatten Nina und er ihren Sohn gezeugt. Jan war acht Jahre alt gewesen, als Joachim ihm zum ersten Mal begegnete. Nina hatte da schon einen anderen geliebt.

Joachim füllte das Tee-Ei mit der Friesenmischung, hängte es in die Keramikkanne. Wann fing die Vergangenheit an? Gestern? Vor einer Sekunde? Hätte er bei seiner späten Heimkehr gedacht, noch eine Zukunft zu haben?

Der Tee dampfte in den Henkelbechern, als Ursula zurückkam. Sie trug einen alten grauen Pullover von ihm, den seine Mutter vor vielen Jahren gestrickt hatte, dazu eine von Ursulas schwarzen Hosen, noch passten sie. Joachim stellte den Topf mit braunem Kandis auf den Tisch. Die Rosinenbrötchen. Butter. Teller und Messer.

Ursula war seine Zukunft und das Kind, das in ihr wuchs. Sollte es mit einem Vater leben, der nachts im Schlaf russische Wörter stammelte, um dann von Weinkrämpfen geschüttelt zu werden?

 

Pips nahm die Espressokanne von der Kochplatte, die Kanne war eines der wenigen Dinge, die er aus San Remo mitgebracht hatte. Er goss den Kaffee in drei Schnapsgläser, auf denen Mampe Halb und Halb stand. «Tut mir leid. Was anderes habe ich nicht.»

«Wo findest du so was Schönes?», fragte Ursula.

«Im Küchenschrank.»

«Lass uns mal deinen Haushalt aufstocken.»

«Das lohnt nicht.»

«Warum nicht? Gedenkst du zu sterben?» Sie sah ihn prüfend an.

Pips schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. Fasste an die Narben, die nun von seinem kupferroten Haar bedeckt waren, sich aber noch krustig und hart anfühlten. «Ist doch alles vorhanden.»

Der Vermieter hatte die anderthalb Zimmer eine Theaterwohnung genannt. Mutete das nahe Schauspielhaus seinen auswärtigen Künstlern diese Wohnung zu? Pips hatte sie im November nach einer kurzen Besichtigung genommen, obwohl Ursula und Joachim abgeraten hatten. Wenigstens galt der Vertrag nur ein halbes Jahr.

«Wo willst du das Klavier denn überhaupt hinstellen?», fragte Ursula.

«Lasst es bei euch stehen. Ich hab ja das Radio.»

Ursulas Blick blieb an dem alten Gerät von Grundig hängen. «Du musst ja gar nicht mehr in einer Bar spielen», sagte sie. «Der NDR braucht auch gute Musiker. Wenn du dich nun schon mit dessen Sendungen vertraut machst.»

«Damals nach dem Krieg habe ich die Kurve noch mal gekriegt. Aber da war ich jung.»

«Du bist gerade erst zweiunddreißig Jahre alt geworden», sagte Ursula.

«Was dir die Kölner Gestapo 1944 angetan hat, war das grauenvollere Geschehen.»

Pips sah Joachim an. Was wusste Ursulas Mann? Außer dass ihm im Folterkeller der Gestapo ein Finger abgeschnitten worden war. Er versuchte, Joachims Blick auszuhalten. Am Anfang hatte er dessen Intensität geschätzt.

Die Glocken von St. Marien an der Danziger Straße begannen mit dem großen Mittagsgeläut. Oder war die Sonntagsmesse gerade zu Ende gegangen?

«Darf ich euch zum Essen einladen?», fragte Joachim. «Vielleicht zu Nagel. Da haben wir es nicht weit.»

Ursula nickte. «Das ist eine gute Idee. Du bist dünn geworden, Pips.»

«Ja, Mutter», sagte Pips.

 

«Ich hab Ursel und Joachim gar nicht aus dem Haus gehen sehen.» Elisabeth schloss die Tür zum Treppenhaus, nachdem sie vergeblich im ersten Stock geklopft hatte. «Schleichen sich einfach so davon. Sie hätten doch mit uns mittagessen können.»

Kurt Borgfeldt legte das Abendblatt beiseite. «Sie wollten zu Pips», sagte er.

«Ach. Dir haben sie das anvertraut.»

«Ganz nebenbei auf der Treppe.»

«Als du aus deiner Dependance gekommen bist. Warum hast du die zwei Zimmer unterm Dach nicht Pips angeboten? Dann wären wir alle zusammen.» Beinah alle. Nina lebte mit Vinton und den beiden Jungen in der Rothenbaumchaussee.

«Weil es meine zwei Zimmer sind. Du wolltest ja nicht in die Wohnung im ersten Stock ziehen. Lieber dicht aufeinanderhocken.» So weit wagte er sich selten vor.

«Da steht doch kaum etwas drin in deinen Zimmern.»

«Eben», sagte Kurt. Er genoss die Leere. Tisch und Stuhl. Der große Ohrensessel aus dunklem Leder, den er sich gegönnt hatte. Ein Stapel Bücher daneben. Es war seine Chance, gut mit Elisabeth weiterzuleben. Er legte sich noch immer neben sie in das Ehebett, das sie seit Jahrzehnten teilten. Würde nicht aufhören, Lilleken zur Seite zu stehen. Doch die Wohnküche war ihm zu eng geworden.

Elisabeth stellte die Terrine auf den Tisch. «Klopse hätte ich genügend gehabt», sagte sie. «Und der Reis ist schnell gekocht.»

«Stört es dich, wenn ich kurz den Frühschoppen einschalte? Ich will hören, ob Adenauers Rede zur Kölner Synagogenschändung ein Thema ist.»

Elisabeth nickte, obwohl sie es missbilligte. Sie sah den Frankenfeld gerne und die Schölermanns. Aber Werner Höfers Internationalen Frühschoppen beim Mittagessen? Flegeleien hatte Konrad Adenauer die Hakenkreuzschmiererei genannt, die zwei junge Rechtsradikale am Heiligabend verbrochen hatten. Von antisemitischen Lümmeln gesprochen. Das genügte doch nun. Adenauer war ein vernünftiger Mann, der ein gutes Verhältnis zu den Juden pflegte.

Kurt seufzte, als sich das Fernsehbild auftat. Höfer hob bereits das Glas, prostete den Gesprächspartnern der heutigen Runde mit Rheinwein zu, verabschiedete seine Gäste. Kurt hatte zu spät eingeschaltet. Der Frühschoppen war vorbei. Nun widmete er sich ganz den Königsberger Klopsen.

Köln

Billa stand vor ihrem Schrank, der lauter Hoffnungen auf schlankere Zeiten barg, seit der Währungsreform und den gut gefüllten Lebensmittelläden allesamt vergebliche Hoffnungen. Hatte eine ihrer Freundinnen nicht kürzlich in Billas Oberarm gekniffen, um den anderen vorzuführen, wie gut gepolstert er war? Vielleicht sollte sie sich von den Kleidern in Größe vierzig trennen. Wäre das voreilig?

Das schwarze Samtkleid mit dem tiefen Ausschnitt war zwei Nummern größer und wohl zu pompös für einen Sonntagmittag am Pauliplatz. Auch wenn Gerda das gute Porzellan von Wedgwood aufgedeckt hatte. Billa zog das Kleid über und blickte in den Spiegel, legte noch die Kette mit den Rheinkieseln an, bevor sie sich endlich entschloss, hinunter ins Parterre zu gehen. Das roch lecker da unten, von Rouladen war die Rede gewesen, ihren Appetit hatte sie noch nicht verloren.

«Kann ich dir helfen?», rief sie in die Küche hinein, an der sie nur vorbeigehen wollte auf dem Weg ins Wohnzimmer. Doch da hatte ihr Gerda schon die Schüssel mit den Klößen in die Hand gedrückt.

«Leeven Jott. Kartoffelklöße auch noch. Ich will doch Gewicht verlieren, bevor die den Sarg die Treppe runtertragen.»

Sie stellte die Schüssel auf den Esstisch und nahm daran Platz, bemerkte Heinrich erst, als der sich von seinem Lesesessel erhob.

Er war ein wenig irritiert von Billas Aufmachung. Sie sah aus, als ob sie an der Prunksitzung der Großen Kölner Karnevalsgesellschaft von 1823 teilnehmen wollte und nicht an einem familiären Mittagessen. «Wessen Sarg heruntertragen?», fragte er. «Wie soll ich das verstehen?»

Billa verlor sich in den Anblick der Efeublätter auf dem Teller von Wedgwood, der vor ihr stand. Sahen die nicht aus wie eine Grabbepflanzung?

«Das wird doch sonst zu schwer für die Leute», sagte sie. «Mit mir drin.»

«Was ist los, Billa?»

Billa schwieg.

Heinrich Aldenhoven betrachtete seine Kusine. Sie lebte bei ihnen im Haus, seit die Wohnung, die sie mit ihrer Schwester Lucy geteilt hatte, bei den Bombenangriffen vom Juni 1943 zerstört worden war. Von jener Nacht an ertrug er Billa. Keine Frage, dass sie ihn mit ihrer lauten und oft oberflächlichen Art nervte. Doch manchmal ging ihm durch den Kopf, ob sie diese Oberflächlichkeit zur Schau trug, weil in den Schichten darunter Schmerzvolles lag.

Er hatte gehofft, die Liebe zu seinem Freund Georg würde aus Billa eine glücklichere Frau machen. Aber die Beziehung der beiden blieb schwierig, die Charaktere waren zu verschieden, und Georg war zu sehr bereit, die eigenen Rückzugsorte zu verteidigen. Wäre Billa sonst so oft bei ihnen am Pauliplatz statt in Georgs Wohnung in Lindenthal?

«Was schaust du mich so an?», sagte Billa. «Wir sind doch alle sterblich.»

Heinrich hätte das Thema vertieft, wäre Gerda nicht mit der Kasserolle gekommen.

 

Gerda schlug einen Spaziergang vor, das konnte nur guttun nach dem üppigen Essen. Nachdem auch der Grießpudding und die eingemachten Mirabellen gegessen waren, hatte sich Billa in ihre Zimmer zurückgezogen und nicht einmal eines ihrer kaum je ernst gemeinten Hilfsangebote gemacht, das Geschirr in die Küche zu tragen, es gar abzuspülen.

Heinrichs und Gerdas Schuhe hinterließen nass glänzende Abdrücke im Schnee, der nach dem Dreikönigstag gefallen war, die Temperaturen waren wieder gestiegen, der Schnee taute schon an.

«Sind sie bequem?», fragte Heinrich. Er blickte auf die knöchelhohen Schuhe aus taubengrauem Wildleder, die mit Lammfell gefüttert waren, Gerda hatte sie vor wenigen Tagen von ihm zum Geburtstag geschenkt bekommen.

Gerda nickte. «Und schön warm», sagte sie.

«Weißt du, was mit Billa los ist?»

«Weil sie einsilbig war?»

«Als sie die Klöße hereintrug, sagte sie, dass sie abnehmen sollte, damit die Sargträger nicht so viel zu schleppen hätten mit ihr.»

«Du kennst doch Billas theatralische Talente.»

«Trotzdem. Wie kommt sie auf so was?» Heinrich kam ins Rutschen und hielt sich an Gerda fest. Die grob gestrickten Wollsocken in den Oxfords zu tragen, war wenig hilfreich, er sollte sie über die Schuhe ziehen, wie sein Vater es zu tun gepflegt hatte.

«Morgen gehen wir zu Kämpgen und kaufen auch für dich Winterschuhe. Du bist nicht mehr jung genug, um deine Knochen zu gefährden.»

Heinrich seufzte. Er war zehn Jahre älter als seine Frau. In letzter Zeit erinnerte sie ihn gerne daran. «Sprich doch mal mit Billa», sagte er. «Dir vertraut sie viel mehr an als mir.»

«Wir haben an Neujahr alles richtig gemacht», sagte Gerda. «Den Pan angeschaut. Das Konzert im Gürzenich gehört.»

«Du hast den Pan angeschaut.» Das Betrachten der Brunnenfigur am Morgen des Neujahrstages war Gerdas Ritual, das Jahr begrüßen und um Beistand bitten, dass es ein gutes werden würde und keiner verloren ginge.

Sie spazierten nicht weit, die früh einsetzende Dämmerung und Heinrichs kalte Füße ließen sie bald wieder umkehren. Dennoch standen sie eine Weile vor den dunklen Fenstern ihres Hauses, als zögerten sie hineinzugehen. Drehten sich beide zum nahen Brunnen um. Der vertraute Blick auf den kleinen Pan aus Kalkstein, der auf der Kugel des Brunnenstocks saß und die Hirtenflöte an die Lippen hielt.

«Hörst du die Flöte?»

Gerda schüttelte den Kopf.

Das Haus war still, kein Laut aus dem ersten Stock, als sie die Mäntel auszogen und über die Kleiderbügel an der Garderobe hängten. «Billa?», rief Gerda.

«Bitte halte daran fest, die Flöte zu hören», sagte Heinrich. Ihm schien es ein unseliges Signal, die Illusion nicht aufrechtzuerhalten.

«Ich schau mal nach, ob Billa oben ist und schläft.» Gerda stieg die Treppe hinauf.

San Remo

Die rote Aurelia stand vor dem Haus in der Via Matteotti, die jungen Leute waren also zurück aus San Romolo. Margarethe schloss das Küchenfenster und wandte sich wieder dem Ausrollen des Teigs zu. Eine kleine Pasta würde wohl noch in ihre Bäuche passen, trotz der erschöpfenden Menüs, die in den Locandas serviert wurden. Vor acht Uhr abends musste nicht gegessen werden, es sei denn, Bruno stünde kurz vor dem Verhungern und schlüge Alarm. Aber das sonntägliche Abendessen mit tutta la famiglia war Brauch. Betrüblich genug, dass Pips fehlte.

Sie hatte Gianni im vergangenen Oktober gedrängt, das gebrauchte Cabriolet von Lancia aus dem Jahr 1957 zu kaufen. Ihr Sohn hatte Jahre zuvor zum Wohle der Familie sein Geld in eine Limousine investiert, damit die Nonna weiterhin viertürig chauffiert werden konnte. Er sollte sich endlich ein eigenes Auto gönnen. Die Zeiten waren auch für ihn nicht leicht gewesen.

Margarethe nahm einen weiteren Klumpen Teig und setzte das Nudelholz erneut an.

«Tagliatelle?», fragte Bruno. «Alla was?» Er war gerade in die Küche gekommen, um den Inhalt des Kühlschranks zu inspizieren.

«Al Pesto.»

«Senza carne», sagte Bruno. Er klang enttäuscht. «Deine Küche tendiert zum Fleischlosen in letzter Zeit. Liegt das an unserer Schwiegertochter?»

«Eine Vegetarierin ist Corinne nun wirklich nicht.»

«Warum kommen keine Kinder?», fragte Bruno. Er hatte die Mortadella entdeckt und schnitt eine dicke Scheibe davon ab.

«Hüte dich, Corinne oder Gianni diese Frage zu stellen.»

«Tu ich nicht. Ich wundere mich nur.»

«Vielleicht will Corinne es zu sehr.»

«Schwanger wird eine Frau am schnellsten, wenn sie es nicht will?»

Margarethe war dabei, die klemmende Kurbel der alten Nudelmaschine zu drehen, und konzentrierte sich ganz darauf, glatte Streifen Tagliatelle herzustellen.

Bruno füllte zwei kleine Wassergläser je zur Hälfte mit Rotwein. «Lass mich deine Zunge lockern», sagte er.

«Corinne ist zu kontrolliert.»

«Das muss man sein, wenn man mit einem Hallodri wie meinem Bruder einen Blumenhandel leitet.»

«Sie setzt sich unter Druck. Das ist beim Kinderkriegen kaum hilfreich.»

«Aha», sagte Bruno. «Wann essen wir?»

«Um acht. Geh bitte mal zu den Kindern und sag ihnen das.»

I bambini. Wer wusste, wobei er sie störte.

 

Ein letzter Klang von Nearer, still nearer lag in der Luft, als Jules de Vries vom Flügel aufstand. Warum spielte er ein Kirchenlied? Sehnsucht nach seinem früheren Leben als Jesuit? Oder hatten ihn die Stille und Dunkelheit eines Januarsonntags in die pastorale Stimmung versetzt? Vielleicht doch lieber die neue LP von Frank Sinatra auflegen. Ob Stormy weather ihn wirklich aufheiterte?

Jules trat an das Panoramafenster und blickte über die schwarze Landschaft, sah an ihrem Saum die Lichter von San Remo glitzern. Katie hatte sich mit einer Freundin zum Lunch im Rendez-Vous getroffen, das war sechs Stunden her. Er hatte seine englische Rose selbst in der Via Matteotti abgesetzt, Katies Freundin sollte sie die zwölf Kilometer zurückfahren. Gin und Tonic standen für die Damen bereit.

Aus dem Schornstein der casa rustica, die jenseits der Straße lag, kam weißer Rauch. Warum fiel ihm jetzt der Papst ein? Das fing an, ihn zu verstören, dieser Rückfall ins Religiöse.

Licht war gegenüber keines zu sehen, die beiden Fenster lagen auf der anderen Seite zu den terrassierten Hängen hin. Zwei kleine Zimmer in der Kate. Schwarz gebeizte Balken. Weiß gekalkte Wände. Ein Steinbecken. Fließendes Wasser. Der offene Kamin.

Das Bauernhäuschen aus dem neunzehnten Jahrhundert gehörte ihm wie das ganze Land hier. Feigenbäume. Olivenbäume. Brombeerranken und verwilderte Klematis. Alles hatte einmal zur längst vergangenen Villa Foscolo gehört, deren Ländereien er drei Jahre nach Kriegsende gekauft hatte.

Wenn Feuer im Kamin brannte, war der Kanadier wohl da. Auch die Vespa parkte am Straßenrand. Im November hatte der noch junge Mann vor der Tür gestanden und gebeten, ihm die Kate zu vermieten. Jules hatte ihm angeboten, dort gratis zu wohnen, lieber sollte er dem Gestrüpp auf die Dornen rücken, das Grundstück ein wenig roden. Das tat der Kanadier wohl, ab und zu brannten Feuer da unten, wenn der Boden nicht zu trocken war. An einem Buch schreibe er, hatte Ken Down gesagt. Nun gut. Sollte er eine Dichterklause aus der Kate machen.

Gegen Viertel nach sechs bereitete Jules sich den ersten Drink zu. Nicht zu früh für ihn. Eher spät. Er hatte gezögert. Vielleicht musste er doch noch mal nach San Remo hinunter, falls die Freundin als Chauffeuse ausfiel und Katie ihn anrief.

Eine halbe Stunde später stellte Jules einen zweiten Gin Tonic auf den Flügel, setzte sich und blickte eine Weile auf die Tasten, bevor er zu spielen anfing. Sinatra. When no one cares. Ein elegisches Stück, in das er versank.

Vielleicht hörte er darum nicht, dass Katie ins Haus kam. Auf einmal stand sie hinter ihm und legte ihre Hände auf seine Schultern.

«And your friend?»

«She was short on time.»

«You spent hours and hours in that restaurant.»

«We did some window-shopping in Via Matteotti.»

Später am Abend stolperte er über Katies Schuhe, die in einer Nische des Vorraums standen, und staunte über die feuchte Erde, die wohl auf der vornehmsten Straße von San Remo lag, um an spitzen Absätzen kleben zu bleiben.

Köln

Der Weg schien ihr weiter als sonst, dennoch kehrte Billa vor Georgs Haus um und ließ den langen Weg vergeblich gewesen sein, hoffte nur, er habe nicht am Fenster gestanden. Der Tag trübte bereits ein, als sie in den Stadtwald hineinging.

Zu kalt, um auf einer der Bänke zu sitzen, auch wenn sie das unpassende Samtkleid gegen Wollrock und Pullover getauscht hatte. Billa blieb auf der Brücke stehen und blickte auf den Kahnweiher, dessen Eisschicht nur noch die Enten trug.

«Mamsellchen, du fängst an, hysterisch zu werden», sagte sie laut.

Menschenleer um sie herum, keine Hunde, die ausgeführt wurden, keine Kinder, die Steinchen warfen, um die Enten zu stören. In die Wärme zurückkehren, das Leben am Pauliplatz gab ihr Geborgenheit, auch wenn sie nicht immer wohlgelitten war und es zu Spannungen mit Heinrich kam. Anders als ihre Schwester Lucy hatte sie sich in all den Jahren nie mehr um eigene vier Wände bemüht.

Ihre Ängste hatte sie Georg anvertrauen wollen, doch nun erschien ihr das keine gute Idee mehr.

Stockdunkel schon, als sie endlich zu Hause ankam. Die Wohnzimmertür war geschlossen, vielleicht um die kalte Luft des Windfangs nicht einzulassen. Billa schlich die Stufen zum ersten Stock hinauf, zog auch den Mantel erst in ihrem Zimmer aus. Hoffte, dass keiner sie gehört hatte. Ein großer roter Fleck auf dem hellkarierten Rock, genau das hatte sie befürchtet, die Bluterei wurde schlimmer, ihre Wechseljahre lagen doch schon lange hinter ihr.

Das Klopfen an der Tür, die im nächsten Moment geöffnet wurde, Gerdas Blick ging von Billas Gesicht zu ihren Händen, mit denen sie den Blutfleck kaum verbarg.

«Ich bringe dir eine Binde.»

Billa atmete durch, dankbar über Gerdas Gelassenheit, als sei es selbstverständlich, dass das Malheur einer Frau im sechzigsten Lebensjahr passierte. Sie zog den Rock aus, den Strumpfgürtel, den Schlüpfer, in den sie eine Schicht Watte gelegt hatte.

«Dass du noch Camelia hast», sagte sie, als Gerda ihr den blauen Karton gab.

«Eine letzte Reserve, die ich für unsere jungen Frauen in petto habe. Seit wann geht das so, Billa? Warst du beim Arzt?»

Sie schüttelte den Kopf. «Vielleicht will ich gar nichts wissen.»

«Dich lieber ängstigen? Ich mache dir morgen einen Termin bei meinem Frauenarzt und begleite dich zu ihm.»

«Der im Evangelischen Krankenhaus?»

«Genau der. Soll ich dir ein Bad einlaufen lassen?»

«Ich wasch nur untenrum. Mit der Brause.»

«Komm anschließend mal zu uns. Ich mache eine Kanne Kakao.»

«Wirst du es Heinrich sagen?»

«Ja. Wir haben uns heute große Sorgen um dich gemacht. Weiß Georg davon?»

«Bei dem lebe ich doch auf der Besuchsritze», sagte Billa.

 

Hatte er einen Augenblick lang geglaubt, Sybilla zu sehen? Aber was sollte sie in der Kälte vor seinem Haus? Um sich dann in Luft aufzulösen?

Halluzinationen. Die Schmierereien am Heiligabend an der Synagoge setzten ihm doch mehr zu als angenommen. Der Hass auf die Juden hörte nicht auf.

Nein. Er hatte keine nahen Angehörigen verloren. Sie waren alt genug gewesen, um friedlich zu sterben, bevor Hitlers Schreckensherrschaft über sie hereinbrechen konnte. Und ihm hatte die frühe Emigration vieles erspart. Glückliche Zufälle, die ihm ein leichtes Leben in Genf erlaubt hatten. Die Nachkriegsjahre in Rom. Dann die Rückkehr in die Heimatstadt Köln, in der seine Familie seit Generationen gelebt hatte.

Ein selten luxuriöses Schicksal für einen Juden, der 1892 in Deutschland geboren worden war.

Georg Reim nahm die Teekanne vom Stövchen und füllte die Tasse, setzte sich in einen der beiden Ledersessel, die im Arbeitszimmer standen. Sein Blick fiel auf das Bild im schwarz lackierten Rahmen, von einer schmalen Messingleuchte beschienen. Leo Freigangs Schwanenhaus. Eines der vier Bilder aus dem Hofgartenzyklus des Malers, den die Nazis im Juli 1942 nach Minsk deportierten und der bereits den viertägigen Transport nicht überlebt hatte.

Welch einen Weg das Schwanenhaus genommen hatte, aus der Wohnung im Düsseldorfer Zoo-Viertel, wo Georg es zum ersten Mal gesehen hatte, zusammen mit zwei weiteren Bildern Freigangs, dem Ananasberg, der bei Aldenhovens hing, und dem Jägerhof, der nun in Hamburg bei Heinrichs und Gerdas Tochter angekommen war.

Sybilla. Durfte er denn sagen, dass er sie liebte? Obwohl er sie so oft fernhielt? Sie wirkte nicht glücklich in diesen Tagen. Sollten sie sich trennen?

Er hatte immer eine Beziehung gewollt, doch das Leben hatte sich sehr lange nicht so gelebt. Als er Sybilla dann wiedertraf, war er wohl längst unfähig geworden, ein guter Gefährte zu sein. Ließ sich das noch eigenbrötlerisch nennen?

Diese große Wohnung, in der er jetzt lebte. Die vielen Möbel. Dabei hatte er seit 1934 nur noch mit kleinem Gepäck unterwegs sein wollen. Brauchte er tatsächlich ein Arbeitszimmer und ein Wohnzimmer? Dort standen ein Tisch und zwei Sofas. Und der Fernseher. Der konnte stehen bleiben, falls er Sybilla das Zimmer anbot.

Nicht, um mit Koffern und Hutschachteln bei ihm einzuziehen, doch um einen Ort zu haben in seiner Wohnung, der ihr gehörte.

Wollte er das wirklich?

Georg grübelte in seinem Ledersessel. Stand auf, um heißen Tee auf den längst kalt gewordenen zu gießen. Er trat ans Fenster. Eine dünne Eisschicht brachte das Kopfsteinpflaster zum Glitzern. Fiel denn Regen?

Er wandte sich seinem Schreibtisch zu und nahm den Hörer von der Gabel des elfenbeinfarbenen Telefons.

Hamburg

Die hohen Fenster im Erdgeschoss waren beschlagen, in Elisabeths und Kurts Küche hatte sich wohl eine große Schar von Menschen versammelt. Joachim und Ursula blieben einen Moment vor dem Haus in der Blumenstraße stehen.

Viel später war es geworden als gedacht. Sie hatten lange in Nagels Bodega gesessen, Pips zu seiner Wohnung begleitet und dann noch einen Gang um die Außenalster gemacht.

Die Tür zu Borgfeldts öffnete sich, und Elisabeth stand im Rahmen, kaum dass sie das Haus betreten hatten, um in den ersten Stock zu steigen. Ihre Augen glänzten, das Gesicht war gerötet, vielleicht hatte sie vom Grog getrunken, den Kurt hoch schätzte und jetzt im Winter gerne Gästen anbot.

«Kommt rein. Die ganze Familie ist da.»

Machte es Joachim noch verlegen, die Küche seiner einstigen Schwiegereltern zu betreten, dort Nina zu begegnen, die nun mit Vinton verheiratet war? Deren Sohn Tom, dem eigenen Sohn Jan? Ursula und Vinton waren die Unbefangensten von denen, die einander umarmten, vielleicht weil sie weiter außen standen vom Kern jener Familie, die von Joachims dreizehn Jahren in Krieg und russischer Gefangenschaft zerrissen worden war. Nur hier wurde er noch Jockel genannt.

Seine Vermutung stimmte, auf dem Küchentisch stand eine Flasche Hansen Rum, gerade flötete der Wasserkessel auf dem Gasherd. Er willigte ein, einen Grog zu trinken. Für Ursula, die gerade zu Vinton und Kurt auf das Sofa rückte, wurde ein Glas Apfelsaft aus dem Alten Land auf den Tisch gestellt.

«Das hier ist eine vereinnahmende Familie, Ursel», sagte Kurt.

«So eine kenne ich aus Köln», sagte Ursula.

Sie fühlte sich wohl, Joachim sah es ihr an, während es ihm noch immer passierte, dass er Ninas Blick auswich. Nur mit dem nun vierjährigen Tom war es von Anfang an bestens gelaufen, obwohl der doch Vintons Sohn war.

«Ich kann euch noch Königsberger Klopse anbieten», sagte Elisabeth.

Ursula zählte auf, was sie alles bestellt hatten im Nagel, um Pips zu mästen.

«Birnen, Bohnen und Speck wäre auch mal wieder eine Idee», sagte Kurt.

Vielleicht hätte Joachim nicht fragen sollen, wie sich die zwei eigenen Zimmer unterm Dach für Kurt anfühlten, er hätte zu jeder Zeit diese Frage stellen können, nur nicht gerade hier in Elisabeths Küche.

«Bringt doch Pips mal mit zu uns», sagte Elisabeth. Doch ihre Stimmung war umgeschlagen. Als habe Kurt dort oben eine andere Frau und nicht nur einen Lesesessel und seinen Frieden.

Später am Abend, in der eigenen Wohnung, sprach Joachim vom Fettnäpfchen, in das er da getreten war.

«Elisabeth leidet unter Kurts kleinen Fluchten aus der Wohnküche», sagte Ursula. «Anders als ihm kann es ihr nicht eng genug sein auf der Ofenbank. Du hast dich immer mit ihr verstanden, nicht wahr?»

«Sie hat mich vom ersten Moment an gemocht. Und als ich dann am Tag meiner Rückkehr aus Russland erfuhr, dass ich Nina an einen anderen verloren hatte, stand Elisabeth als Einzige auf meiner Seite. Die übrige Familie lag Vinton zu Füßen.»

«Wirfst du ihm das noch vor?»

Joachim setzte sich auf das zweisitzige Sofa mit den schwarz-weißen Karos und den Edelstahlbeinen, das sie im Dezember gekauft hatten. «Nein», sagte er. Sein Blick fiel auf das Bild, das an der Wand gegenüber hing. Ursel lesend.

War er je auf Jef eifersüchtig gewesen? Den Maler des Bildes, den Ursula geliebt hatte, bis sein Leben an einem Chausseebaum zwischen Düsseldorf und Köln endete?

Viel leichter, großzügig zu den Toten zu sein.

Er legte den Arm um Ursulas Schultern, als sie neben ihm Platz nahm. «Wollen wir das Klavier hier ins Wohnzimmer stellen?» Noch stand es in dem kleinen Zimmer, das erst im Mai als Kinderzimmer gebraucht würde.

«An die Wand, wo der Jägerhof hängt? Lieber wäre mir, Pips sucht nach einer anderen Bleibe und nimmt das Klavier. Er ist der Einzige, der darauf spielen kann.»

Wenn er jemals wieder vor Publikum spiele, dann nur in einer Spelunke auf dem Kiez. Das hatte Pips heute in Nagels Bodega gesagt. Auch das wäre ein Anfang.

4. Februar

Köln

«Das Auto sieht aus wie eine Holländische Schnitte vom Bäcker Schmitz.»

«Unten Sahne und oben eine Schicht Kirschmarmelade?», fragte Heinrich.

«Manchmal bist du schnell im Spitzkriegen.»

Heinrich sah Billa von der Seite an.

«War juxich gemeint», sagte sie. Sie schien zu Späßchen bereit, obwohl ihr eine Operation bevorstand. Vielleicht war das Pfeifen im dunklen Wald.

Er hatte sich den neuen Borgward Kombi seines Sohnes ausgeliehen. Weiß mit einem kirschroten Dach. Ihr alter VW war seit Tagen in der Werkstatt. Billas kleiner Koffer stand hinten im Auto, den hatte sie damals im Bunker dabeigehabt und trug ihn nun als Talisman durchs Leben.

Neben dem Koffer lag verpackt eine gerahmte Kopie von Wilhelm Morgners Einzug in Jerusalem, die er Georg vorbeibringen wollte. Das Original, das sein Freund gern besessen hätte, hing im Dortmunder Museum Ostwall.

Er parkte direkt vor dem Backsteingebäude des Evangelischen Krankenhauses, das am Anfang des Jahrhunderts von Kaiserin Auguste Viktoria eingeweiht worden war, Anstaltsarchitektur jener Zeit.

«Du musst nicht mit auf die Station. Sonst denken die noch, du bist mein Mann.»

«Was wäre schlimm daran?», fragte Heinrich.

«Fahr mal gleich zu Georg. Du willst ihm doch das Bild bringen.»

Aber Heinrich ließ sich nicht davon abbringen, sie auf die Station zu begleiten. Er legte Billas Koffer auf einen Stuhl im Zweibettzimmer, in das sie die Oberschwester geführt hatte. Das zweite Bett schien nicht belegt zu sein.

«Gefallen tut mir die Oberschwester nicht. Ich sag dir, dat is ein Drachen. Nu mach schon, dass du zu Georg kommst.»

Auf dem Flur zum Ausgang begegnete ihm die Schwester noch einmal. «Wir werden schon aufpassen auf Ihre Frau», sagte sie. Klang schmallippig dabei.

Heinrich nickte. Vielleicht hatte Billa recht.

 

«Ich war davon ausgegangen, dass Gerda sie hinbringt», sagte Georg.

Heinrich folgte ihm ins Arbeitszimmer. «Gerda ist in der Galerie, um Bilder in Augenschein zu nehmen. Sie wollte das selbst tun, der Maler hat sich auf Jef berufen.» Er packte die Kopie des Morgners aus, die kleiner war als das Original.

Georg blickte ihm über die Schulter. «Ein gutes Bild. Auch wenn ich einer der Spinner bin, die großen Wert darauf legen, das Original an der Wand hängen zu haben. Aber die Farben stimmen, und der echte Morgner wäre wohl auch zu groß für den verbliebenen Platz an meinen Wänden.» Er nahm die Kopie und trug sie zum Fenster. «Das muss eine lang zurückliegende Empfehlung sein, Jef ist seit über vier Jahren tot.»

«Irgendwas irritiert Gerda auch daran.»

«Ist der Kopist namentlich bekannt?»

Heinrich schüttelte den Kopf. «Keine Signatur.»

«Das erinnert ja an den Zyklus von Leo Freigang. Hast du jemals wieder vom elusiven Herrn Jarre gehört?»

«Nein. Er ist im letzten August aus diesem Gasthaus in Hamburg verschwunden. Und du weißt, er hat nicht einmal den in Kommission gegebenen Jägerhof abgeholt.»

Georg nickte. «Habt ihr mal wieder eine Reise nach Hamburg geplant?»

«Spätestens im Mai, wenn Ursels Kind geboren ist. Doch in Hamburg wird unser Lügenbold wohl kaum noch sein. Wo willst du den Jerusalemer Einzug hinhängen?»

«Auf jeden Fall hier ins Arbeitszimmer. Ich nehme an, du weißt, dass ich Sybilla das Wohnzimmer angeboten habe, als Dependance zu ihren Zimmern bei euch, damit sie auch bei mir ein eigenes hat.»

Georg sah an Heinrichs Gesichtsausdruck, dass er davon zum ersten Mal hörte.

«Vielleicht weiß Gerda davon», sagte Heinrich. Hätte die ihm diese Information vorenthalten? Das konnte er nicht glauben. «Wann haben Billa und du darüber gesprochen?»

«Gut zwei Wochen her.»

«Wie hat sie reagiert?»

«Verhaltener, als ich mir vorgestellt hatte.»

«Sie war ziemlich durch den Wind in letzter Zeit.»

«Warten wir ab, ob sie darauf zurückkommt.»

«Wirst du darauf zurückkommen?»

Georg hob die Schultern. Er wusste es nicht.

 

Gerda nahm die Tasse mit dem doppelten Espresso und trug sie in den vorderen Bereich der Galerie. Das Bild, das der Maler dagelassen hatte, lehnte am Ladentisch, die leicht pornografische Liebesszene zweier Frauen ließ sich kaum mit dem jungen Mann in Verbindung bringen, der so arglos ausgesehen hatte wie das Christkind in der Krippe. In welchem Alter wollte er Jef kennengelernt haben?

Leider hatte sie nicht nach dem wann gefragt, nur nach dem wo. In der Eis-Diele auf der Hohe Straße. Da sei Jef oft gewesen und habe rote Cocktails getrunken. Und der junge Maler? Hatte der ein Eis gelöffelt und seine frühen Werke im Schulranzen mit sich getragen?

Sie drehte sich um, als das Wandlungsgeläut der Ladenglocke erklang. «Du bist spät dran», sagte sie, als Heinrich die Galerie betrat.

«Ich habe noch das Auto zu Carla und Uli gebracht. War er da?»

Gerda hob das pastellhelle Bild auf den Ladentisch.

«Eine Gouache. Ziemlich frivol.»

«Dabei hätte ich ihn für noch nicht aufgeklärt gehalten», sagte Gerda.

«Und was erzählt er von Jef?»

«Er habe ihn im Campi kennengelernt.»

«Das hört sich doch glaubwürdig an. Ist das dein Espresso, der da kalt wird?»

Gerda blickte auf die kleine weiße Tasse. «Kalt ist er wohl schon», sagte sie. Nahm die Tasse und trank. «Billa ist gut untergebracht?»

«Ein Zweibettzimmer, noch liegt sie dort allein. Wusstest du, dass Georg ihr angeboten hat, eines seiner Zimmer zu bewohnen, zusätzlich zu denen bei uns?»

«Nein. Bei mir hat sie sich beschwert, sie lebe bei ihm auf der Besuchsritze.»

«Billa hat jedenfalls verhalten auf den Vorschlag reagiert.»

«Das wundert mich. Ich habe die Gouache übrigens in Kommission genommen.»

«Lass uns Ursel fragen, ob sie sich an den jungen Maler aus dem Campi erinnert.»

«Das Bild trägt den Titel Gisel und Ursel. Er war verlegen, als er ihn nannte.»

Heinrich grinste. «Die Hälfte aller Kölnerinnen heißt Ursula», sagte er. «Aber vielleicht kann unsere Tochter auch dazu etwas sagen.»

 

Billas Empörung legte sich nur langsam. Selbstverständlich hatte sie angenommen, sofort ein Telefon auf den Nachttisch gestellt zu bekommen und nicht erst in der kommenden Woche. Was war denn das für eine Herzlosigkeit, sie hier ohne Kontakt zur Außenwelt zu lassen? Ganz allein mit dem trüben Februartag vorm Fenster.

Und wenn sie auf dem Operationstisch liegen blieb, ohne Georg gesagt zu haben, dass sie sein Angebot gerne annähme? Sie hatte nur nicht gleich niedersinken wollen vor Dankbarkeit, in seine heiligen Hallen aufgenommen zu werden.

«Wo wollen Sie denn hin?», fragte die Schwester, als Billa im Mantel vor ihr stand.

«Draußen wird es ja eine Telefonzelle geben.»

«Der Arzt kommt noch zu Ihnen. Der will Sie nicht in ganz Weyertal suchen. Und zum EKG sollen Sie auch. Sie sind wohl der ungeduldige Typ.»

«Ich wusste es doch», sagte Billa, als sie in das Zimmer zurückgekehrt war und ihren Mantel in den Schrank hängte. Mit Drachen kannte sie sich aus.

San Remo

Der Pianist aus Genua sah aus wie Mussolinis klavierspielender Sohn, nur leider war er längst nicht so virtuos. Gianni hatte Romano Mussolini im Sommer 1956 auf dem San Remo Jazzfestival erlebt, der jüngste Sohn des Duce konnte spielen.

Ivo nicht. Vor allem nicht, wenn man sich an Pips erinnerte, und das tat Gianni jeden Tag. Und doch hatte er die Reise nach Hamburg erneut verschoben. Seines Vaters wegen, der den Tod der Nonna kommen sah, gebrechlich, wie sie war. Auch Dottor Muran befürchtete das Schlimmste, die letzte Stunde stünde bevor.

Aber bisher war Agnese nicht gestorben. Die Feierlichkeiten zu ihrem zweiundachtzigsten Geburtstag tauchten die alte Schildkröte noch einmal in Glanz. Und wenn sie auch schwer an Brunos Arm hing, dem älteren ihrer beiden Söhne, sich dazu auf den schwarzen Ebenholzstock mit der massiven Silberkrücke stützte, sie schaffte es in die erste Reihe des Kirchengestühls der Madonna della Costa, um die Kerzenprozession an Mariä Lichtmess abzunehmen, von der sie ein Leben lang glauben wollte, sie fände zu Ehren von Agnese Cannas Geburt statt.

Gianni verzog das Gesicht, als Ivo nun den Siegertitel des Festivals spielte. Bei Tony Dallara hatte dieser typisch italienische Schmachtfetzen noch leidenschaftlich geklungen, bei Ivo dagegen schleppte sich Romantica über die Klaviertasten.

Warum hatten Jules und er die Schwächen dieses Pianisten beim Probespiel nicht erkannt? Weil er ein gut vorbereitetes Medley von Filmmusiken dargeboten hatte? Three coins in the fountain und My foolish heart, dann noch Leslie Carons Hi-Lili Hi-Lo, das alles leicht verjazzt, zu leicht verjazzt, sie hatten das für eine Kostprobe gehalten, doch es war das ganze Programm gewesen.

Nun verbrachte Ivo die Nachmittage in der Bar, um sein Repertoire zu vergrößern, und Gianni tat es ihm gleich, versuchte sich am Schütteln neuer Cocktails, um die Zeit zu füllen, bis es Abend wurde und die Gäste kamen.

Wie hatte er die Gespräche mit Pips geliebt, diese Geplänkel, oft sarkastisch und gelegentlich geistreich. All die Espressi und Cappuccini, die sie dabei getrunken hatten, der genuesische Ivo trank Tee alla verbena, das Eisenkraut zog seine Mutter im eigenen Garten. Der Vater sei ein Trinker gewesen, seine Mamma habe ihm verboten, in die Nähe von Alkohol zu kommen. Der geborene Barmusiker.

«Wir denken noch mal über ihn nach», sagte Jules, der sich angewöhnt hatte, ebenfalls frühzeitig in Giannis Bar einzutreffen. Noch war die endgültige Entscheidung nicht gefallen, Ivo wusste das.

«Probiere das mal», sagte Gianni und füllte ein kleines Schnapsglas mit dem neu geschüttelten Getränk.

Jules schmeckte lange. «Erinnert mich an etwas, das Katie und ich auf unserer Hochzeitsreise getrunken haben, kurz bevor sie von den japanischen Invasoren beendet wurde.»

«Ein beeindruckender Cocktail, wenn du ihn heute noch nachschmecken kannst.»

«Der Umstände wegen», sagte Jules. «Aber da war auch Bananenlikör drin. Gib mir einen kalten Pigato, der ist mir lieber als das süße Zeug.»

Gianni nahm eine angebrochene Flasche vom einheimischen Weißwein aus dem Kühlschrank und schenkte Jules und sich ein. Ivo spielte jetzt Come Prima. Mit den italienischen Schlagern kannte er sich aus. Wie war er in den Ruf geraten, ein Jazzpianist zu sein?

«Wann wirst du zu Pips fahren?»

«Anfang März, denke ich.»

«Deiner Nonna geht es wieder besser?»

«Faccio ancora un giro», hatte seine Großmutter vorgestern gesagt. Sie würde eine weitere Runde auf dem Karussell des Lebens drehen. Lag das alles an dem Grappa mit Rosmarin, den sie nun allabendlich vorm Schlafengehen trank? Dottor Muran staunte. Er würde sich kaum mehr trauen, Agneses baldiges Ableben vorherzusagen.

Die Klänge von Ciao Ciao Bambina wehten zu ihnen herüber.

«Vielleicht sollten wir die Bar mit strohummantelten Chiantiflaschen dekorieren», sagte Jules. «Bitte bewege Pips zur Rückkehr.»

«Das wird mir nicht gelingen.»

«Ist er denn glücklich in Hamburg?»

«Pips ist überall unglücklich», sagte Gianni. Doch das Kapitel San Remo war für Pips zu Ende, daran zweifelte er nicht. Die polizia hatte in den Hotels und Pensionen lustlos nach den Schlägern gesucht, von denen Gianni und sein Barkeeper genaue Personenbeschreibungen gegeben hatten. Beinah schien es, als gäbe die Polizei Pips die Schuld an dem Geschehen, weil er seine Folterer von einst hatte stellen wollen.

Warum nicht endlich alles ruhen lassen. Das große Vergessen war angesagt.

Hamburg

Pips erzählte keinem von seinen Gängen über den Kiez. Dass die Huren den kleinen einsamen Mann auch am helllichten Tag ansprachen und ihn zu locken versuchten.

St. Pauli, der Ankerplatz der Freude, schien ihm ein trostloser Ort zu sein.

Er fing an, die Trampelpfade zu meiden, ging nicht mehr über die Reeperbahn und die Große Freiheit, schon gar nicht am Abend, wenn aus den Touristenbussen das brave Publikum stieg, in Vorfreude auf das Verluderte und Verlotterte.

Den Zettel in einem einsamen Schaukasten sah er erst, als er zum zweiten Mal vorüberging an dieser Kneipe, die er nicht als solche erkannt hatte.

Klavierspieler gesucht. Vier Abende die Woche. Keine Bilder von halb Nackten im Schaukasten, nur eines von einem Tresen mit hohen Hockern, auf denen niemand saß.

Vielleicht gab die Tresenbeleuchtung von Mampe Halb und Halb den Anstoß, die paar Stufen hinunterzusteigen, die Tür zu öffnen.

Die Frau mochte in ihren frühen Siebzigern sein, er konnte schlecht schätzen. Sie betrat den Schankraum aus einem hinteren Zimmer, trug einen Morgenmantel und Lockenwickler im Haar und wirkte wenig erfreut, ihn zu sehen.

«Sie suchen einen Klavierspieler», sagte Pips, ehe sie ihn auffordern konnte zu gehen. Er sah sich um. Kein Klavier.

«Und Sie sind einer?»

Pips nickte. Hinten in der Ecke stand es, versteckt unter schwerem Brokat.

«Dann packen wir das Klavier mal aus. Helfen Sie mir, die Decke zu falten.»

Er fühlte sich an Kindertage erinnert, wenn seine Mutter im Hof die Wäsche von der Leine nahm und er die großen Laken mit ihr zusammenlegte.

«Ihnen fehlt ja ein Finger.»

«Lassen Sie mich erst mal vorspielen», sagte Pips. Hoffentlich war dieser alte Klimperkasten nicht allzu verstimmt. Er setzte sich auf den runden Schemel und schlug die Tasten an. Die Wirtin positionierte sich an seiner Seite.

Was ließ ihn dieses Lied auswählen? Theo Mackebens Bei dir war es immer so schön hatte weder in Giannis Bar noch im Negresco zu seinem Repertoire gehört.

«Dass Sie dieses Lied spielen», sagte sie. «Das habe ich immer so gern gesungen.»

Das glaubte Pips ihr. Sie hatte das Timbre dazu. Tief und versoffen.

Ein paar Tränen werd ich weinen um dich, spielte Pips. Ein weiterer Schlager aus der großen Zeit der Ufa.

«Das waren noch Filme. Und Lieder. Wenn Sie meinen Gesang an vier Abenden in der Woche begleiten wollen, sind Sie engagiert.»

«Warum hat Ihr Lokal keinen Namen?», fragte Pips, als sie am Tresen saßen, Kaffee tranken, sich auf eine kleine Gage einigten.

«Die Leute wissen, dass sie hier zu Grete kommen. Ich bin ein Geheimtipp.»

«Wer hat Sie bisher begleitet?»

«Mein Verlobter. Der spielt längst nicht so begabt wie Sie. Hat sich aus dem Staub gemacht, ist aber nicht schade drum.» Sie löste erste Lockenwickler aus dem Haar. Das bis auf einen weißen Ansatz kupferfarben war. Wie seines.

Als Pips in die anderthalb Zimmer in der Schmilinskystraße zurückkehrte, ging es ihm beinah gut. Das abgetakelte Lokal der Grete Weiland war genau richtig für einen zerrupften Vogel wie ihn.

 

Die Kellnerin stellte die Teller mit den Königinpastetchen neben die Teetassen. Eine Lunchpause im Hübner, die war ihnen lange nicht gelungen, trotz des kurzen Fußwegs von der Redaktion der Welt und Kurts Sparkasse zum Café.

«In diesem Jahr werde ich vierundsechzig. Noch anderthalb Jahre, bis ich den Tüddelkram hinter mir habe. Endlich ein Leben ohne Sparbüchsen und Weltspartag.» Kurt hob den Blätterteigdeckel und atmete den Duft des dampfenden Ragout fin ein.

«Deine Werbeabteilung wird dir fehlen. Und das Fräulein Marx.»

Kurt schüttelte den Kopf. «Ich habe geträumt, die Marx säße auf dem Sofa in unserer Küche und belauerte mich auch noch nach Feierabend. Ein Albtraum.»

Vinton lachte. «Hast du dir was vorgenommen für die Zeit danach?»

«Ich will das tun, was ich damals aufgegeben habe, als ich Elisabeth heiratete, Nina unterwegs war. Schreiben. Den Schreibtisch dazu werde ich mir bald in eines meiner Zimmer oben stellen. Schon mal ein bisschen üben. Mich an kleinen Texten versuchen. Vielleicht auch an Geschichten für Kinder. Tom ist noch im Vorschulalter, der wächst als Leser heran.»

«Stimmt, dein Enkel liebt die Wörter.»

«Und du? Liebst du die Wörter noch?»

«Ja. Und die Themen in der Kultur finde ich nach wie vor interessant. Da muss sich nichts verändern. Ein weiteres Kind wäre schön, aber ich werde Nina nicht drängen. Ich habe den Eindruck, dass Elisabeth das Kind, das Ursula und Joachim erwarten, als ihr drittes Enkelkind betrachtet.»

«Dein Eindruck stimmt.»

«Ein weiteres von ihrem geliebten Jockel.»

Kurt sah seinen Schwiegersohn an. Schwang da noch eine Bitterkeit mit, weil Elisabeth ihn lange zu ignorieren versucht hatte?

Vinton lächelte. «It’s all good», sagte er. «Ihr wart an meiner Seite. Du und Jan. Ich denke oft, dass es schrecklich gewesen sein muss für Joachim, aus Krieg und Gefangenschaft heimzukehren und von meiner Existenz in Ninas Leben zu erfahren.»

«Habt ihr viel Kontakt?»

«Immer dann, wenn es um Jan geht. Obwohl der jetzt lieber mit seinen buddies Schlittschuh läuft und Fußball spielt, da sind die Väter aus dem Spiel.»

«Und der Kontakt zwischen den Paaren?»

«Ist steigerungsfähig», sagte Vinton. «Ursel und Nina treffen sich ab und zu.»

«Ich würde euch gerne um einen großen Tisch versammeln.»

«Wir sitzen doch gelegentlich an eurem Küchentisch beisammen.»

«Ich dachte an einen Tisch im Vier Jahreszeiten mit Blick auf die kleine Alster.»

«Du hast Zugang zum Tresor der Sparkasse?»

«Einmal im Leben möchte ich mir das gönnen. Zur Rubinhochzeit.»

«Beschwörst du da etwas, Kurt?»

«Ich will Elisabeth meine Zuneigung zeigen.» Warum sprach er nicht von Liebe? Das war ihm doch stets das vertraute Wort gewesen. Hatte Elisabeth recht mit der Befürchtung, dass die Zimmer unterm Dach sie einander entfremdeten?

Fondness, dachte Vinton. Affection. Suchte in seiner Muttersprache nach der besten Übersetzung, um das von Kurt gewählte Wort einzuordnen.

Kurt blickte auf und bemerkte Vintons Irritation. Er hob die Hand, bat die Kellnerin herbei. «Bist du mit Sherry einverstanden?»

«Worauf trinken wir?»

«Auf meine und Elisabeths Liebe. Die schon länger als vierzig Jahre währt.» Keinen Zweifel zulassen. Viel zu viel, das Lilleken und ihn verband. Die Sparkasse endlich abschütteln, den alten Traum vom Schreiben verwirklichen, das wäre doch genügend Veränderung.

14. März

Köln

«Kinder hätte ich haben sollen. Nun ist es zu spät.»

Billa setzte das Officemesser an. Ein rigoroser Schnitt am Strunk des Rosenkohls, dann löste sie die äußeren welken Blätter von den Röschen. Seit sie entlassen worden war aus dem Evangelischen Krankenhaus, suchte sie Gerdas Nähe, dafür setzte sie sich sogar an den Küchentisch, um Gemüse zu putzen.

«Zu spät wäre es mit bald sechzig ohnehin gewesen.» Gerda blieb geduldig bei der steten Wiederholung dieses Dialogs. Ein Myom war entfernt worden und mit ihm der Uterus. Eine gutartige Geschwulst. Es hätte schlimmer kommen können.

«All die verpassten Gelegenheiten», sagte Billa.

«Eine ledige Mutter zu werden?»

«Da war schon mancher dabei, der mich gern geheiratet hätte.»