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June ist voller Lebenslust und steht am Anfang ihrer Arbeit am Theater. Nichts macht ihr Angst, mit Ausnahme des fragenden Ausdrucks in Kians Augen, den sie für ihren großen Traum, Musicaldarstellerin zu werden, nach nur wenigen gemeinsamen Monaten verlassen hat. Doch mindestens genau so sehr fürchtet sie Ashs hasserfüllte Blicke. Ash, Kians bester Freund, der sie schon immer auf unerklärliche Art und Weise faszinierte. Die drei begegnen sich immer wieder in Londons Straßen, und mit jedem Treffen wird ihnen klar, dass die Gefühle zwischen ihnen noch komplizierter sind, als sie bisher geahnt haben.
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Seitenzahl: 648
Das Buch
June ist voller Lebenslust und steht am Anfang ihrer Arbeit am Theater. Nichts macht ihr Angst, mit Ausnahme des fragenden Ausdrucks in Kians Augen, den sie für ihren großen Traum, Musicaldarstellerin zu werden, nach nur wenigen gemeinsamen Monaten verlassen hat. Doch mindestens genau so sehr fürchtet sie Ashs hasserfüllte Blicke. Ash, Kians bester Freund, der sie schon immer auf unerklärliche Art und Weise faszinierte. Die drei begegnen sich immer wieder in Londons Straßen, und mit jedem Treffen wird ihnen klar, dass die Gefühle zwischen ihnen noch komplizierter sind, als sie bisher geahnt haben.
Die Autorin
Sophie Bichon wurde 1995 in Augsburg geboren und studierte Germanistik und Kunstgeschichte, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie lebt und arbeitet in einer bunten WG mitten in Hamburg, umgeben von Büchern und ihren geliebten Pflanzen. Sophie Bichon liebt lange Schreibnachmittage in Cafés, durchgetanzte Nächte und Tage, an denen die Sonne scheint. In ihren Büchern schreibt sie nicht nur über die kleinen und großen Momente des Lebens, über Fehler und neue Chancen, sondern auch über die Liebe in all ihren wunderschönen Facetten.
SOPHIEBICHON
UNDWIR
TANZEN
ÜBERDEN
FLÜSSEN
love is love
Band 3
Roman
WILHELMHEYNEVERLAG
MÜNCHEN
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Originalausgabe 12/2021
Copyright © 2021 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Eva Jaeschke
Umschlaggestaltung: zero-media.net unter Verwendung von FinePic®, München
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-27062-9V001
www.heyne.de
Für Larry,
meine Seelenverwandte und beste Freundin –
weil du in mein Innerstes siehst.
Für alle Menschen,
die mit mir polyamorös und/oder polygam
gelebt und geliebt haben.
Ihr wisst, wer ihr seid.
Für jede*n,
der*die auf irgendeine Art und Weise anders liebt.
Ihr seid richtig, genauso wie ihr seid.
Lasst euch euer Buntsein niemals nehmen.
She don’t want to be your man or woman.
She wants to be your love.
Multi-love’s got me on my knee.
We were one, then become three.
Mama, what have you done to me?
I’m half crazy.
Multi-Love von Unknown Mortal Orchestra
PLAYLIST
London Thunder von Foals
Mind von Greentea Peng
Best Girl von Dope Lemon
Push Off von The Palms
Outter Space von Alex Serra
Summertime von Fort Frances
Crystal Lion von Native Young
Real Love von Alexis Troy
4/17/1975 von Rob Viktum
Confidence von Ocean Alley
Ghetto in Paradise von Guts
Multi-Love von Unknown Mortal Orchestra
Save Your Tears von The Weeknd
Kanzan von Fakear
Lips von Noah Slee und MELODOWNZ
Euro von Erik Lundin
* * * The Red Lady * * *
BESETZUNGSLISTE
June Lewis als Ilaria: Hausmagd im alten London
Ben James als Aillard: Ilarias bester Freund
Olivia Andrews als Esmeray: Ilarias Schwester
Rhonda Johnson als Foxa: Hüterin des Wolkentors
Layla Matthew als Roux: Königin von Maylora
Sophia McQueen als Lusiane: gute Fee
Timothy Scott als Sharin: Anführer der Schatten
Weitere Rollen:
Bewohner Londons
Roux’ Königinnengarde
Armee der Wolken
Geister der Flüsse
Schattenkämpfer
und andere magische Wesen
THERE WILL ALWAYS BE LOVE AND SORROW – ES WIRD IMMER LIEBE UND LEID GEBEN
June
Das Gute im Leben war, dass man immer behaupten konnte, seine Gründe zu haben. Das ließ einen zwar undurchsichtig und rätselhaft erscheinen, doch es war eine der Floskeln und Ausreden, die Lügen zu verhindern mochten. Lügen und Unwahrheiten und falsche Versprechungen. Gute Gründe vortäuschen, statt sich den verpassten Chancen und Leerstellen des Lebens zu stellen.
Staub tanzte im Licht der hereinfallenden Sonne, als sich von hinten zwei Arme um mich legten. Hier und jetzt traf beides unweigerlich aufeinander: die Chancen und die Leerstellen.
Lächelnd schloss ich die Augen wieder und ließ mich in die Umarmung hineinfallen. In meinem Bauch explodierten tausend Gefühle auf einmal, und Wärme flutete mich. Ich war nackt – mein Herz noch mehr als mein Körper. Es war, als würde ich in einem Sternenhimmel baden, denn ich fühlte mich übermütig und wach und mittendrin und vor allem unsterblich.
In einem Raum ohne Zeit.
In einer Zeit ohne Begrenzungen.
Ich seufzte, und er quittierte das leise Geräusch mit einem Lachen, das ich als Vibrieren seiner Brust im Rücken spürte. Begleitet von dem Kratzen von Bartstoppeln glitten seine Lippen über meinen Nacken.
»Ich bin glücklich«, murmelte er. Mit dieser rauen Stimme, die nach wenig Schlaf und früh am Morgen klang, und nach viel Sex. Nach ernsthafter Tiefe zwischen sich auftürmenden Wellen aus Leichtigkeit.
Ganz langsam drehte ich mich zu ihm um. Die Decke rutschte von seinen Schultern, und das Licht malte Muster auf die Haut, vor allem aber diese schönen Augen.
»Das bin ich auch«, wisperte ich und zeichnete mit den Fingerspitzen den Schwung seiner Lippen nach, die sich jetzt zu einem Grinsen verzogen. Verschmitzt und liebevoll.
Mein Herz machte einen Satz. Hoch und weit, wie es das in letzter Zeit ständig zu tun schien, denn ich hatte mich entschieden. Ich hatte keine andere Wahl gehabt, als mich dieses Mal der Realität zu stellen. Keine Ausweichmanöver, keine Flucht.
Und so sicher es sich gerade auch in seinen Armen anfühlen mochte, wusste ich inzwischen doch, dass wir ein Ablaufdatum hatten. There will always be love and sorrow – es wird immer Liebe und Leid geben. Das hatte ich gelernt, als ich gegangen war, und diese Wahrheit zählte immer noch. Auch wenn ich sie nicht sehen wollte, wenn wir zusammen waren. Damals waren wir ein wirrer Knoten aus Gefühlen und Handlungen gewesen, den richtigen und den falschen.
Liebe war Liebe.
Und doch war Liebe nicht immer genug.
* * * The Red Lady * * *
aus dem ersten Akt
*
Zu sehen ist Ilaria, die mit langsamen Schritten die Bühne betritt und zum Wolkentor hinaufblickt.
ILARIA: Ich dachte, ich sehe dich nie wieder.
AILLARD: Ich habe immer an dich gedacht. Es ging nie um die Reise nach Maylora, zumindest nicht nur. Eigentlich standest die ganze Zeit nur du im Mittelpunkt … du und ich.
Ilaria weicht einige Schritte zurück, wendet sich ab.
ILARIA, leise hauchend: Aillard. Tu das nicht …
AILLARD: Ich habe schon zu viel für andere Menschen geopfert. Für eine Prophezeiung, von der niemand weiß, ob sie stimmt.
ILARIA: Es ist nicht wichtig, ob sie stimmt. Wichtig ist nur die Hoffnung. Hoffnung für Millionen Menschen. Und du bist nun einmal der Mann, den sie erwählt haben.
AILLARD: Wage ja nicht, mir zu sagen, dass das eine Ehre wäre.
ILARIA: Das hatte ich nicht vor. Ich wollte dir sagen, dass ich dich liebe.
Ilaria hebt den Blick. Das Bühnenbild verdunkelt sich. Dann hebt sie beide Arme, der weiße Rock bauscht sich im Wind. Sie und Aillard laufen aufeinander zu, er wirbelt sie durch die Luft und sie beginnen gemeinsam Save Your Heart zu singen.
SIX MONTHS EARLIER – SECHS MONATE FRÜHER
1. Kapitel
June
Ich war die Letzte in der Garderobe – nicht, weil ich besonders getrödelt hätte, sondern weil ich die ersten zehn Minuten nach der Probe einfach nur vor dem Spiegel mit den runden Lämpchen an beiden Seiten gesessen hatte, während sich die anderen beeilten, nach Hause zu kommen.
Ich liebte das Durcheinandergerede, das sich nach einem langen Tag auf der Bühne mit Erschöpfung und der Euphorie des Stücks vermischte. Dass es hier hinten nie richtig hell war und immer ein bisschen Chaos herrschte. Liebte die lange Reihe mit Spiegeln, den alten Holzschrank auf der anderen Seite, in dem jeder von uns ein eigenes Fach hatte, daneben ein paar der aussortierten Kleider aus dem Kostümraum und das riesige bordeauxrote Sofa, das beinah ein Viertel des Raums einnahm.
Dieser Ort war wie eine magische Dimension, die irgendwo zwischen der Welt der Red Lady und der Realität lag.
Wir waren wir, und doch waren wir für die Zeit des Musicals auch unsere Rollen. Sie hinterließen ihre Spuren in uns, waren uns ähnlich, waren in vielen Dingen auch unser Gegenteil, aber vor allem: Ein Teil dieser fiktiven Charaktere würde für immer bleiben.
Ich inhalierte die staubige Luft genauso wie die Stille und betrachtete mein Gesicht im Spiegel: die dunkelblonden Augenbrauen im Kontrast zu den langen rosa Haaren, die vollen Wangen und den Mund, den ich früher immer zu groß gefunden hatte. Stück für Stück streifte ich Ilaria für den heutigen Tag ab und wurde wieder zu mir selbst. Die Reise an Aillards Seite, ein altes verwunschenes London voller Geheimnisse und die Suche nach einer Stadt weit über den Wolken. Die Erfüllung einer alten Prophezeiung und ein Kuss, der alles für immer veränderte.
Ich legte meine Hände auf den schmalen Schminktisch und beugte mich ein Stück weiter vor. Meine Mundwinkel hoben sich an, zogen meine Lippen weit auseinander und als ich mein eigenes, echtes Lächeln sah, begann ein warmes Kribbeln meinen ganzen Körper zu durchlaufen.
Es mochte sein, dass ich einen hohen Preis für meinen großen Traum und für die vergangenen drei Jahre gezahlt hatte, doch jetzt war ich genau dort, wo ich hingehörte. Die Erinnerung an meine damalige Entscheidung für die Academy of Dramatic Art ließ zwar nach wie vor dieses widersprüchliche Gefühl und den Schmerz in mir aufsteigen, doch ich wusste, dass ich auch heute noch genauso handeln würde. Denn die New Yorker Akademie war nicht nur eine der renommiertesten Schauspielschulen der Welt und hatte große Namen hervorgebracht, ich war auch dieser Ganz-oder-gar-nicht-Mensch. Entweder wagte ich alles für meine Sehnsüchte, gab dafür Dinge auf und nahm ein Risiko in Kauf, oder aber ich ließ es bleiben.
Ich wollte nämlich nur die Dinge bereuen, die ich getan hatte. Ganz sicher aber nicht die, die ich mich nicht getraut hatte zu tun. Das Leben war ein Meer aus Chancen und Möglichkeiten, man musste nur im richtigen Augenblick und mit mutigem Herzen nach ihnen greifen.
»Na? Wie lange brauchst du noch?«
Erschrocken zuckte ich zusammen.
Im Spiegel sah ich, wie Henry den Kopf durch die angelehnte Tür steckte und mich grinsend musterte. Wie immer lagen die großen Kopfhörer um seinen schlanken Hals. »O June, hast du wieder vor dich hin geträumt?«
»Erwischt!« Ich drehte mich um. »Gibst du mir noch zehn Minuten? Ich zieh mich nur schnell um, dann bin ich fertig.«
»Alles klar. Ich warte draußen auf dich.« Henry trommelte mit den Fingern auf den Hörmuscheln herum. »Ich brauche von Jimmy eh noch ein Update zu seinem Dating-Leben. Es ist gerade wieder richtig spannend. Die Frau, die er vor Kurzem bei diesem Konzert kennengelernt hat, hat er doch wieder – wie er betont – höflich abserviert, aber scheinbar gibt es da jemand anderen.«
Amüsiert lachte ich auf.
Jimmy war im Mephisto eine Institution. Ohne den alten Mann, dessen Markenzeichen sein schwarzer Krempenhut war, wäre das alte Theater nicht dasselbe, denn er war sein pulsierendes Herz. Der, der meist im Hintergrund blieb, ohne den aber doch nichts richtig funktionierte. In dem kleinen Vorbau mit den hübschen Fenstern, der zwischen den beiden Treppenflügeln zum Theater hinauf stand, verkaufte Jimmy an den Nachmittagen und manchen Abenden Karten. Er war der geduldigste Souffleur während der Proben, bester Tröster bei schauspielerischen Selbstzweifeln und humorvollster Geschichtenerzähler, wenn die Stimmung aufgelockert werden musste.
»Wie kann ein Achtzigjähriger mehr Dates haben als du und ich zusammen?«, schmunzelte ich.
»Hey, hör auf, mich da mit reinzuziehen! Ich hatte erst vor zwei Wochen ein Date.« Henry zuckte mit den Achseln und zog seinen schlaksigen Körper damit noch mehr in die Länge. »Er sagt, wir jungen Leute hätten das Flirten und Umwerben verlernt mit diesen neumodischen Dating-Apps.« Er grinste. »Abgesehen von mir natürlich. Ich weiß genau, was ich mache. Auch mit Tinder.«
»Bist du dir wirklich so sicher, Baby Blue? Ich möchte dich ja wirklich nur ungern daran erinnern, aber wenn ich das richtig im Kopf habe, war das Date, das du gerade erwähnt hast …«
Henry zog eine Grimasse. »Müssen wir wirklich darüber reden?«
»Ich kann einfach nicht vergessen, wie du mich mitten in der Nacht supergenervt angerufen hast, weil dein Date mit einem Glas Wein und einer Gesichtsmaske in deiner Badewanne saß, während du draußen warten musstest. Hat sie währenddessen nicht auch noch mit einer Freundin telefoniert?« Ich kicherte.
»Ich fand es einfach sehr beeindruckend, dass sie Konzertpianistin ist … Na ja, das war natürlich bevor das Ganze diese unerwartete Wendung genommen und sie meine Wohnung in ihren persönlichen Wellnesstempel verwandelt hat. Aber wie du weißt«, Henry griff sich dramatisch an die Brust, »wird sowieso die Musik immer meine große Liebe sein.«
Liebe war als Bezeichnung für Henrys Besessenheit wahrscheinlich noch eine Untertreibung. Seit ich denken konnte, lebte er für die Musik, er atmete sie, inhalierte sie. Musik war unweigerlich Teil seiner Existenz – und das, obwohl er gleichzeitig einer der unmusikalischsten Menschen war, die ich kannte. Aus seinem Mund war noch nie auch nur ein einziger gerader Ton herausgekommen und so hatte er mich schon damals, als wir Kinder gewesen waren, ständig angebettelt, für ihn zu singen. In Henrys Kopf war in erster Linie Platz für Songtexte, dann erst für kreatives Chaos und ihn selbst.
»Aber wenigstens hatte ich mal wieder ein Date«, Henry schob die Unterlippe vor. »Und ich kann ja auch nichts dafür, wenn das irgendwie immer so komisch endet.«
»… weil du einen Mann, der viermal so alt ist wie du, nach Tipps im Umgang mit Frauen fragst«, zog ich ihn auf.
»Jimmy ist ein richtiger Gentleman. Und außerdem frage ich ihn nicht nach Tipps. Wir unterhalten uns auf Augenhöhe und tauschen uns über unsere Erfahrungen aus.«
»Das ist natürlich etwas vollkommen anderes.« Ich nickte ernst. Dann fragte ich: »Hast du ihm eigentlich auch von diesem anderen Date erzählt, bei dem du ebenfalls mitten in der Nacht plötzlich in einem Zug nach Paris saßt? Und dem davor? Mit dieser Influencerin, die eine halbe Stunde lang euer Essen fotografiert und dir Vorher-Nachher-Bilder von ihren gemachten Brüsten gezeigt hat, bevor du alles kalt essen musstest?«
»Okay«, Henry kniff die Augen zusammen und die hellen Brauen trafen sich in der Mitte über der Nase, »bis gleich, June.«
»He«, rief ich ihm hinterher und sprang auf. »Jimmy und du, ihr müsst auf mich warten. Ich will auch alle Neuigkeiten hören. Es ist nicht fair, dass du immer alles vor mir weißt!«
»Dann hör auf zu trödeln!«, rief mein bester Freund, bevor er die Garderobe verließ.
Auf den Stufen, die vor dem Mephisto auf die Mowbray Alley führten, blieb ich einen Moment stehen. Ich wollte den Augenblick inhalieren, doch wie so oft, seit ich wieder in London war, wanderten meine Gedanken zu dem Tag vor drei Jahren, an dem ich nach New York geflogen war. Und manchmal war da dann doch diese leise Stimme in meinem Kopf, die mir von einem Paralleluniversum erzählte, in dem alles ganz anders gekommen und ich geblieben war. Und dann dachte ich an ihn. Immer und immer wieder an ihn.
Schnell öffnete ich die Augen wieder und steuerte den Vorbau an, der an die Treppe grenzte. Jimmy lehnte rauchend an einem der Fenster, sein Hut lag neben der Kasse.
»Das wird, mein Junge. Das wird.« Er lachte tief und klopfte Henry auf die Schulter.
»Hat er dir gerade von seinen letzten Dates erzählt?«
Henry verdrehte die Augen. »Halt die Klappe, June.«
Möglichst süß lächelte ich ihn an. »Du solltest da schon offen und ehrlich zu Jimmy sein.«
Henry und ich zogen uns gegenseitig auf, und Jimmy sah kopfschüttelnd zwischen uns hin und her, ehe er sich mit einem gutmütigen Lächeln an mich wandte: »Hast du dich gut eingelebt, June?«
»Yes«, ich strahlte Jimmy an, der immer so sehr darauf bedacht war, dass es wirklich jedem Mitglied unserer Crew gut ging.
Eine Crew, zu der mein bester Freund schon seit längerem gehörte. Nach unserem Abschluss hatte er am Mephisto seine Ausbildung zum Kostümbildner gemacht, während ich zwei Jahre lang gekellnert und so viel Geld wie möglich für Gesangsstunden, verschiedene Schauspielkurse und letztendlich Amerika gespart hatte. Trotz des Stipendiums, das ich dann bekommen hatte, war die Ausbildung an der Academy of Dramatic Art teuer gewesen.
»Die letzten Wochen sind superschnell vergangen«, erklärte ich Jimmy, »und irgendwie fühlt es sich so an, als wäre ich immer schon hier gewesen. Viele der Proben sind anstrengend, und klar wird der Druck stärker, je tiefer wir in das Stück einsteigen, aber trotzdem fühlt es sich an den meisten Tagen nicht so richtig wie Arbeiten an. Mehr wie ein Zuhause.«
»Ja, das hat das Mephisto so an sich«, erwiderte Jimmy verträumt und schien einen Moment lang ganz woanders zu sein, während sein Blick an der Fassade des kleinen Theaters hinaufwanderte. »Manchmal passieren hier Dinge, die eigentlich gar nicht möglich sein sollten. Dieser Ort hier hat einfach … eine ganz besondere Magie.«
Und ich wusste, dass er recht hatte.
Selbst zwischen all den berühmten Häusern, wie dem Her Majesty’s Theatre und dem Adelphi Theatre, dem Lyceum Theatre oder dem Royal Opera House, die ganz in der Nähe standen, war und blieb das Mephisto mit seiner Jugendstilfassade etwas ganz Besonderes. Jedes Mal, wenn ich es betrachtete, machte ich neue kleine Details aus und bewunderte die wunderschönen, floralen Ornamente, die teilweise hinter dichtem Efeu verschwanden, der sich fast bis auf die Höhe des runden Fensters ganz oben unter dem Dach hinaufrankte. Auch jetzt glänzte das bunte Glas des Fensters in der Sonne.
Vom Mephisto ausgehend flirrte in der ganzen schmalen Gasse eine geheimnisvolle, warme Energie. Sie waberte zwischen den hohen Straßenlaternen und legte sich auf das winzige Café mit weißen Tischen und Blumen vor den Fenstern, die vom Le Fleuriste direkt daneben stammten. Der Blumenladen gehörte Chloé, einer Mittsiebzigerin, die mich mit ihrem französischen Singsang und der eleganten Kleidung von Anfang an begeistert hatte.
Die Mowbray Alley, nur gut zweihundert Meter lang, aber ein ganzer Mikrokosmos in einer Weltstadt. So gut versteckt, dass ich mich zuerst gewundert hatte, wie das Theater so ganz ohne Werbung und nur aufgrund der wenigen, aushängenden Plakate überleben konnte. Jimmy hatte mir mit einem undurchschaubaren Lächeln erklärt, dass diejenigen das Mephisto fanden, die es brauchten. Und die, die unweigerlich hierhergehörten.
Vielleicht schien es sich deshalb auch so richtig anzufühlen, dass The Red Lady das Stück war, in dem ich mein Debüt als Musicaldarstellerin geben würde. An das Vorsprechen für die Rolle der Ilaria konnte ich mich kaum noch erinnern. Zu der Zeit steckte ich mitten in meinem Abschluss, arbeitete zusammen mit meinen Kommilitonen an dem Musical, das wir auf der großen Bühne der Academy of Dramatic Art aufführen würden, und war nur für wenige Tage zurück nach London geflogen.
Ebenso staunend wie heute hatte ich an diesem Tag am selben Platz gestanden. Die Mowbray Alley mit dem Mephisto als Herzstück, sowie Aillards und Ilarias Geschichte zeugten von dem London einer längst vergangenen Zeit und ließen seinen Zauber in den kleinsten Dingen sehen. Hier ergab alles auf leichteste Weise Sinn.
Henry und ich verabschiedeten uns von Jimmy, holten uns gegenüber im Miracle unseren Kaffee mit Zimt und machten uns auf den Weg. Fröhlich stieß ich Henry in die Seite, und mein Becher schwankte gefährlich.
»Trägst du mich bis zur Tube-Station?«, fragte ich.
»Nein.«
»Über den Leicester Square?«
»Ebenfalls nein.«
»Bis ans Ende der Mowbray Alley?«
»Auch nein.«
Schmollend schob ich die Unterlippe vor. »Komm schon. Die Luft da oben ist eine ganz andere. Und ich bin so viel kleiner als du. Gönn mir das Abenteuer.«
»Du bist manchmal wie ein kleines Kind.«
»Eine meiner besten Eigenschaften«, gab ich zurück.
»Und nervig auch.«
»So wie du.«
Henrys Mundwinkel zuckten verräterisch, dann wandte er mir den Rücken zu. »Na los, spring drauf. Aber ich trage dich sicher nicht bis zur Tube-Station. Das kannst du sowas von vergessen.«
Ich quietschte begeistert, drückte Henry meinen Kaffee in die Hand und sprang auf seinen Rücken.
»Sei froh, dass du nicht mehr so viel gewachsen bist, sonst könnten wir das nicht immer noch machen.«
»Komm schon, Baby Blue, du magst es doch auch.«
»Wie lang willst du mich eigentlich noch so nennen?«
Ich lachte. »Das kann ich dir nicht sagen. Aber ich denke nicht, dass ich es lassen werde. Ich mag es viel zu sehr.«
»Habe ich bemerkt«, murmelte Henry, und ich wuschelte ihm liebevoll durch seine blauen Haare.
Direkt nach dem Schulabschluss waren wir zusammen vom verschlafenen Groveford achtzig Kilometer westlich von London in die Metropole gezogen und hatten uns an unserem ersten Tag in der Stadt Haarfarbe gekauft. Ich ein Rosa so hell wie Zuckerwatte, Henry ein Blau so tief wie Mitternacht. Über der winzigen Badewanne in einem noch winzigeren Bad hatten wir uns gegenseitig die blonden Haare Strähne für Strähne gefärbt. Wir hatten beide einen Hang zur Dramatik, und es war uns um so viel mehr gegangen als um einen neuen Look. Es war Sinnbild eines neuen Lebensabschnitts in der Großstadt, eines Abenteuers, das hier auf uns wartete. Es ging darum, frei zu sein und eigene Entscheidungen zu treffen und ganz und gar wir selbst zu sein. Eventuell war ich inzwischen ein bisschen weniger theatralisch, die Farbe jedoch war geblieben.
Als ich am Samstag verschlafen meine Zimmertür öffnete, ging gegenüber im selben Moment die meines Mitbewohners auf. Über den winzigen Flur hinweg starrten wir uns erschrocken an, ehe wir beide laut losprusteten.
Benoît sah genauso müde aus, wie ich mich fühlte. Die dunkelblonden Haare waren wild verstrubbelt, die Brille saß schief auf der Nase und feine Bartstoppeln, die dort gestern noch nicht gewesen waren, zierten sein Kinn. Er murmelte ein knappes Morgen und schlurfte aus seinem Zimmer heraus, woraufhin ich einen Blick auf den aufgeklappten Laptop und eine Flut wild beschriebener Blätter und Notizen erhaschen konnte. Wahrscheinlich hatte er wieder die halbe Nacht an seinem Manuskript gesessen.
Kein Wunder, dass Benoît der schlimmste Morgenmuffel war, den ich kannte. In der ersten Woche, in der wir zusammengewohnt hatten, meinte er einmal, dass ich so etwas wie eine Mutantin sein müsse. Er fände es unnatürlich, dass jemand die Augen aufschlagen und so gut gelaunt sein könne – und all das vorgebracht mit diesem melodiösen französischen Akzent.
»Setz dich hin. Ich mach uns Kaffee.«
Benoît seufzte. »Du bist die Frau meiner Träume.«
Am Ende des kleinen Flurs, den wir als eine Art Wohnzimmer nutzten, ließ er sich auf das Sofa mit der gemusterten Überdecke fallen. Alles war klein und beengt bei uns und dabei doch genau richtig. Die Couch stand direkt unter dem Fenster. Benoît und ich hatten sie nur mit vielem Schieben und Drücken gerade so hineinbekommen. Davor hatten ein kleiner Tisch, auf dem sich mehrere seiner Bücher stapelten, und ein beiges Sitzkissen Platz. An den Wänden hingen ein paar meiner gesammelten Musicalplakate: Grease und Wicked, Les Misérables und Hamilton. Außerdem einige wenige Polaroidfotos, die Benoît und ich kurz nach unserem Umzug gemacht hatten, und ein großes gerahmtes Bild mit bunten Wolken, das er von der Freundin seiner besten Freundin Mignon geschenkt bekommen hatte.
In der Küche machte ich das Radio an, bevor ich den Espressokocher auf den altmodischen Gasherd stellte. Ich erkannte Mind von Greentea Peng und drehte ein bisschen lauter, wippte im Takt der langsamen, souligen Melodie und griff nach zwei der Tassen, die an Haken über dem Herd baumelten. Darüber zwei Holzregale, auf denen die Töpfe voller Kräuter dicht an dicht standen und irgendwo auch die Dose mit dem Zucker.
»Hast du schon Hunger?«, rief ich in den Flur und erntete nur ein unverständliches Grunzen.
»Ich werte das mal als Ja.« Wieder bloß ein gedämpftes Geräusch als Antwort und ich schüttelte belustigt den Kopf. Benoît am Morgen war wirklich unerträglich. Wir waren noch nicht einkaufen gewesen, ich fand aber noch ein paar Eier, Toast und einen Rest Speck.
Wenige Minuten später war der Kaffee fertig, und innerhalb kürzester Zeit tauchte Benoît im Türrahmen auf. Ich deutete mit dem Kinn auf die Tasse, die ich schon für ihn befüllt hatte.
»Ich liebe unsere einseitigen Gespräche«, grinste ich, wendete den Speck in der Pfanne und sah Benoît dabei zu, wie er langsam zum Leben erwachte. Die Brille saß inzwischen gerade auf der Nase.
Ich verteilte Spiegeleier, Speck und den Tost auf zwei Tellern, dann setzten wir uns einander gegenüber an den schmalen Klapptisch und aßen schweigend.
Das Licht der Morgensonne fiel durch die bunt verfärbten Blätter der Bäume vor dem Fenster, tauchte die ganze Küche in sanftes Bernsteinlicht und malte hübsche Muster auf den Holzboden. Es war einer dieser Herbsttage voller Sonne und Wärme, an denen es einen unweigerlich nach draußen zog.
»Wie war deine Woche eigentlich?«, fragte ich, als wir mit dem Essen fertig waren und vor der zweiten Tasse Kaffee saßen. »Ich hab dich kaum gesehen, weil ich so viel im Mephisto gewesen bin.«
»Ich war selbst kaum zu Hause«, meinte Benoît inzwischen deutlich wacher. »Die Uni nimmt viel mehr Zeit in Anspruch, als ich am Anfang dachte. Es ist ja nicht nur das Inhaltliche, hier läuft auch alles anders ab, als ich es gewohnt bin. Und dann der ganze Orga-Kram wegen des Auslandssemesters und der Nebenjob, den ich noch nicht gefunden habe. Und mit dem Schreiben hänge ich gerade etwas fest, weil mir die Inspiration fehlt.«
Benoît machte hier in London ein Auslandssemester, studierte aber eigentlich in Paris Literaturwissenschaften im Master. Das hier war sein vorletztes Semester und damit die letzte Gelegenheit, diese Möglichkeit zu nutzen.
»Ich finde es so bewundernswert, dass du genau das tust, was dich glücklich macht«, sagte er jetzt. »Dass du genau den Job hast, der dich erfüllt.«
»Manchmal kann ich das selbst nicht richtig glauben«, sagte ich staunend. Und wieder dachte ich an den Preis, den ich dafür gezahlt hatte. Unwillkürlich wieder an ihn, wie ich es mit jedem weiteren Tag zurück in London immer häufiger tat.
»Ich habe nicht einmal mehr ein Jahr, bis mein Studium zu Ende ist, und keine Ahnung, was ich danach machen soll …«
»Aber was ist denn mit deinen Romanen?« Benoîts erstes Buch Wie der Wind in deinen Segeln erzählte die dramatische Liebesgeschichte seiner Großeltern und war Anfang des Jahres in einem kleinen Pariser Verlag erschienen. Ich konnte seinen Roman leider nicht lesen, weil ich kein Französisch sprach, doch Benoît hatte mir an vielen Abenden, wenn wir in unserem Wohnzimmerflur zusammensaßen, von François’ und Geraldines Geschichte erzählt und dabei hatte ich mich in seine Worte verliebt.
»Dieses Buch bedeutet mir alles, und ich finde es immer noch wahnsinnig abgefahren, dass Menschen da draußen meine Geschichte lesen. Und ich habe ja auch schon mit Wie die Sonne in meinem Herzen angefangen, aber … ich möchte mich auch keinen Illusionen hingeben. Es wäre ein Traum, das Schreiben zum Beruf zu machen und davon leben zu können, aber da braucht man einfach auch extrem viel Glück und das ist nichts, worauf ich mich gerade verlassen will.« Er lächelte schief. »Zumindest nicht, wenn es nach der Vernunft geht.«
»Aber du weißt, was diese eine Sache ist, die du willst«, sagte ich. »Und ich denke: Das ist verdammt viel wert! Vielleicht kommst du nicht auf direktem Weg dorthin, aber ich bin mir sicher, dass du früher oder später dort landen wirst. Du brennst dafür, du liebst es, es ist deine Leidenschaft. Und wenn du das hast und den Glauben an dich selbst, dann hast du echt richtig viel!«
Benoîts Lippen kräuselten sich. »Du bist sehr schlau.«
»Ich gebe mein Allerbestes.«
»Ich bin gerade einfach so eingespannt mit allem, dass ich bisher kaum etwas von London gesehen habe – was superschade ist.«
»Aber Zeit, jemanden abzuschleppen, hattest du«, zog ich ihn lachend auf.
»Pah, die paar Mal.«
»Was hältst du davon, wenn wir heute Abend zusammen etwas trinken gehen?«, schlug ich vor. »Ich habe letztens einen Pub in der Nähe entdeckt, der echt cool aussieht. Und zwar nicht einer von diesen Touri-Dingern. Und davor können wir den Tag ja nutzen, und ich zeige dir ein paar schöne Ecken der Stadt.«
Sofort leuchteten Benoîts dunkle Augen auf. »Das klingt gut.«
»Und wer weiß? Vielleicht wirst du ja von der Muse geküsst?« Ich musterte meinen Mitbewohner. »Oder von einer schönen Frau?«
Grinsend verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und warf mir einen dieser für ihn so typischen Blicke unter halb gesenkten Lidern zu, diesen flirtenden Ausdruck, von dem ich inzwischen wusste, dass er bei ihm fast schon so etwas wie ein Reflex war. »Ich hätte gegen beides absolut nichts einzuwenden.«
Und nicht zum ersten Mal dachte ich mir, wie verrückt es war, dass ich vor knapp einem Monat noch auf einem anderen Kontinent gelebt hatte und jetzt nicht nur wieder zurück bei Henry war, sondern in dieser niedlichen Wohnung mitten in Camden Town, mit einem Mitbewohner, den ich wegen seines Charmes und seiner lockeren Art innerhalb kürzester Zeit ins Herz geschlossen hatte.
Am Ende war alles so schnell gegangen. In weniger als zwei Stunden hatte ich meine Sachen in dem New Yorker Appartement zusammengepackt und mich zwischen Umzug und Flug nach einer bezahlbaren Wohnung in London umgesehen. Nachrichten mit Benoît ausgetauscht, der als Erster auf meine Anzeige geantwortet hatte. Mir war kaum Zeit geblieben, um über all das nachzudenken – stattdessen hatte ich einfach eine Liste an Dingen abgehakt, die getan werden mussten, bevor ich zurück nach Großbritannien gegangen war.
Es war alles so wahnsinnig schnell gegangen, flog der Gedanke erneut durch mein Bewusstsein, und ich atmete die Geräusche Londons ein. Sie drangen durch das geöffnete Küchenfenster und klangen so ganz anders als in New York. Immer noch eine Großstadt, immer noch laut und viel und manchmal dreckig, immer noch Menschen über Menschen und überall diese Hektik. Aber das hier war meine Stadt. Das war London. Geschichte und Moderne. Tradition, Magie und tausend verwunschene Ecken.
In den 1960er- und 70er-Jahren war Camden das Zentrum von Gegenkulturen und verschiedenen Musikbewegungen gewesen, und den Geist dieser Zeit spürte man noch immer in den Straßen. Bei uns in der Prosperity Lane, mit ihren schmalen, pastellfarbenen Häusern in Rosa, Gelb und Blau, noch als fernes Echo, auf der Camden High Street dann ganz und gar. Überall dort ertönte Musik, es hingen Rhythmen und Melodien in der Luft: Metal, Indie, Jazz, Rock. Alles genauso laut und schrill wie auch die Häuser, die Menschen und das gesamte Viertel.
Und ich wusste:
Es gab noch so unendlich viel zu sehen,
noch so unfassbar viel zu erleben.
Kian
»Mach dir bitte keinen Kopf«, sagte ich zum wiederholten Mal und legte Stella behutsam eine Hand auf die Schulter. »Wir finden eine Lösung.«
»Aber …«, sie öffnete den Mund, nur um ihn im nächsten Moment wieder zu schließen.
»Nichts aber. Ash und ich schmeißen dich auch sicher nicht raus, falls du gerade so etwas sagen wolltest. Dein Platz ist hier, wir sind eine Familie. Punkt. Und du kommst zurück, sobald du so weit bist. Bis dahin finden wir jemanden, der einspringen kann.«
»Vielleicht ja Noah?«, schlug Stella vor. »Ich glaube, er hat gerade nichts anderes.«
Ich lachte. Noah war mit Abstand der unzuverlässigste Mensch, den ich kannte. »Mit Sicherheit nicht.«
»Du hast recht.«
»Dieser eine Abend, an dem er ausgeholfen hat, war das reinste Chaos«, erinnerte ich sie.
Lachend hob Stella die Hände. »Ja, okay.«
Das Licht verfing sich in der dunkel vertäfelten Theke und den Flaschen, die sich dahinter aneinanderreihten. Es entstand eine kurze Pause, dann blickte Stella erleichtert zu mir auf. Blaue Augen und geschwungener Lidstrich – so wie immer schon.
»Danke, Kian.«
»Es gibt nichts, wofür du dich bedanken müsstest.«
Stella legte eine Hand auf ihren Bauch. Noch konnte man nicht wirklich etwas erkennen. Sie war immer noch die einschüchternde Perfektion in Person, wie sie mir jetzt auf dem Barhocker gegenübersaß und ihre Endlosbeine übereinanderschlug. Als Ash und ich uns damals die zwei freien Zimmer bei ihr in der WG angesehen hatten, war sie mir wie eine Puppe vorgekommen, mit ihrer Porzellanhaut, den symmetrischen Gesichtszügen und den langen, blonden Haaren. Doch entgegen dem, was die meisten Leute in der ersten Sekunde wahrscheinlich über Stella dachten, war sie der bodenständigste und herzlichste Mensch, den ich kannte.
Ich hatte schon in den letzten Wochen bemerkt, dass irgendetwas an ihr anders war. Während ihrer Schichten im Five Bells war sie unkonzentrierter gewesen als sonst, die Augen glänzender, die Wangen gerötet. Und dann diese verschwörerischen Blicke, die River und sie sich plötzlich bei jeder sich bietenden Gelegenheit zuwarfen. Die beiden waren nach zwei Jahren immer noch heftig ineinander verliebt, doch was da in der Luft lag, war etwas anderes gewesen.
»Du bist das Herz dieses Ladens, Stella. Du warst auch das Herz unserer WG.«
Ihre rosa Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Einer muss ja auf euch Verrückte aufpassen, oder?«
»Ich weiß nicht, ob aufpassen das richtige Wort ist.«
»Natürlich ist es das. Oder muss ich dich an diesen einen Abend erinnern, an dem Ash und du vollkommen betrunken …«
»Das ist ewig her.«
»Manche Dinge verjähren eben nie. Ich ziehe dich viel zu gern damit auf.«
»Vielleicht schulden Ash und ich dir ein bisschen unser Leben«, gab ich zu.
»Ja, vielleicht tut ihr das.« Mit einem zufriedenen Lächeln warf Stella sich die Haare über die Schulter.
Und für einen Moment zogen Bilder unserer gemeinsamen WG-Zeit an mir vorbei, am intensivsten jedoch jene, die die Geschichte von Ashs und meiner Freundschaft erzählten.
Allen voran der Regen und ein Kerl, der im richtigen Moment den Schirm öffnete.
Der Zettel an der Treppe hinunter zur Tube wäre mir fast nicht aufgefallen. Eine Großstadt, nein, sogar eine Weltstadt, und doch hing da ganz altmodisch eine Anzeige am Geländer, in der für ein freies WG-Zimmer geworben wurde. Statt Fotos oder einem langen Text lediglich ein paar Eckdaten. Nicht nur hatte ich nach zwei Semestern mein Studium abgebrochen, Mum und Dad waren wenige Wochen zuvor auch noch zurück nach Irland gegangen und ich geblieben – auf dem Sofa eines Schulfreundes. Ich hatte die Hoffnung nach einem einigermaßen erschwinglichen Zimmer fast schon aufgegeben, doch irgendetwas an dem knappen, vom Regen durchweichten Zettel erregte meine Aufmerksamkeit. Die Telefonnummern waren bereits fast alle weggerissen.
»Nichts für ungut, aber das ist echt dringend.« Die fremde Hand war so schnell aus meinem Sichtfeld verschwunden, wie sie aufgetaucht war, und ich hatte perplex auf die Stelle gestarrt, an der gerade noch der letzte Abrisszettel gehangen hatte. Mein Blick fiel auf braune Jeans und Hosenträger über einem hellem Leinenhemd, das locker über die Unterarme hochgeschoben war. Dann in das Gesicht eines Mannes in meinem Alter, der mich entschuldigend angrinste. Der Fremde sah aus wie jemand, der es gewohnt war, für sich und das, was er wollte, zu kämpfen. Die schrägen, dunklen Brauen verliehen seinem Blick etwas Ernstes, das durch das herausfordernde Funkeln seiner katzenhaften Augen gebrochen wurde. Ich stellte mir vor, dass er Kunst studierte oder irgendetwas anderes Kreatives tat. Jemand, der sich vom Leben mitreißen ließ, noch mehr aber von einzelnen Momenten. Er stand selbstbewusst da, wie einer, der die Welt gesehen hatte, der auf jede Frage mehr als eine Antwort wusste. Bestimmt war er auf dem Weg zu einer Ausstellung, einem Happening oder sonst etwas.
O Gott. Ich tat es schon wieder. Ich analysierte mein Gegenüber, dachte mir eine Geschichte für ihn aus, ein Leben, das vermeintlich zu ihm passte. Etwas, was mir noch häufiger passierte, seit ich als Aushilfe in einem winzigen Pub arbeitete. Hinter dem Tresen war ich Teil dieser Menschen und dabei auf gute Art doch außen vor. Und dadurch erlaubten sie mir einen anderen Blick auf sich und ihre Leben, von denen keins dem anderen glich. Weil die Realität verrückter war als jede Geschichte, jeder Roman und jeder Film. Weil Fakten und Tatsachen und Eckdaten die interessantesten Dinge erzählten.
»Wer sagt, dass es bei mir nicht auch dringend ist?«, entgegnete ich schließlich, doch mein Gegenüber lachte bloß. Laut und ansteckend.
»Berechtigte Frage. Fairerweise muss ich gestehen, dass ich über die meisten meiner Entscheidungen vorher nie wirklich nachdenke.« Versonnen betrachtete er den schmalen Zettel zwischen Zeige- und Mittelfinger. »Aber, um auf deine Frage zurückzukommen: Erstens scheint es bei mir dringender zu sein, weil ich im Vergleich zu dir komplett durchgeschwitzt bin«, erst jetzt fiel mir der leichte Schweißfilm auf seiner Stirn auf und die Haare, die sich am Ansatz leicht kringelten, »und zweitens: Ich bin seit heute obdachlos und wäre wirklich froh, wenn dieser Umstand sich in den nächsten Stunden ändern würde.«
Zwei Antworten auf eine Frage, dachte ich zufrieden, aber auch ein bisschen überrascht. Also keine Kunst, keine Vernissage.
Wir begannen auf den Stufen hinunter zur Tube miteinander zu diskutieren, bis plötzlich Regen einsetzte und er einen Schirm über uns beide spannte. Er legte einen Arm um mich, damit wir besser unter den Schirm mit den Punkten passten, trotzdem rann mir das Wasser kalt den Nacken hinab. Kurz darauf bugsierte er mich in das erste Café, das in Sichtweite kam, und gab mir einen Kaffee aus.
»Ich bin Ash«, sagte er bei der ersten Tasse und reichte mir die Hand.
»Kian«, sagte ich, und er erwiderte: »Kian, wie der König. Interessant.«
Bei der zweiten Tasse sagte Ash: »Ich hab eine Idee.«
»Und die wäre?«
»Lass uns zusammen da anrufen.«
Ich fixierte ihn, nickte aber schließlich. Ich kannte Ash kaum, aber irgendwie mochte ich den Kerl.
»Möge der Bessere gewinnen«, meinte er.
Bei der Wohnungsbesichtigung in Shoreditch hatte sich dann auf einmal alles auf das Schönste gefügt.
Ich erinnerte mich noch genau an Stella, die uns zur Begrüßung anstrahlte, als wären wir alte Freunde. Noah, der nur in Boxershorts und mit einem Sandwich in der Hand durch den Flur schlurfte und Ash und mich irritiert musterte, als er uns im Eingang entdeckte. Quinn mit ihren durcheinandergeratenen, dunklen Dreads, die den Kopf aus einem der Zimmer steckte und uns zuwinkte. Wie sich herausstellte, waren sogar zwei Zimmer frei geworden, weil eine Mitbewohnerin überstürzt ihre Sachen gepackt und ausgezogen war. Ash und ich waren fast vier Stunden geblieben und zwei Tage später beide eingezogen.
In den fünf Jahren, die wir in dieser Wohnung lebten, waren wir erst von Fremden zu Mitbewohnern und dann beste Freunde geworden. Ash hatte mich darin bestärkt, nach dem abgebrochenen Studium die Ausbildung zum Hotelfachmann zu machen, von der ich schon länger geträumt hatte. Er hatte sich mit mir gefreut, als ich danach die Stelle als Restaurantleiter im White Roses bekommen hatte und mich auch sonst bei jedem Auf und Ab begleitet – immer in seiner sorglosen und leichten Art, die im größten Gegensatz zu meinen ständigen Gedanken stand.
Vor zwei Jahren hatte unsere WG in Shoreditch sich schließlich aufgelöst, weil jeder von uns auf die ein oder andere Art und Weise ein neues Kapitel seines Lebens hatte aufschlagen wollen. Stella zog mit ihrem Freund, River, zusammen, Quinn unternahm die Reise, von der sie immer geträumt hatte, und folgte in Kenia den Spuren ihrer Familie. Ash und ich wollten endlich unseren Plan vom eigenen Pub umsetzen und eröffneten das Five Bells. Nur Noah, unser Abenteurer, war nach wie vor auf der ewigen Suche. Er probierte ständig Neues aus, doch seine Euphorie hielt stets nur kurze Zeit an, bis er sich der nächsten Sache zuwandte. Auch wenn Noah der Einzige von uns war, der nicht hier arbeitete, kam er trotzdem fast jeden Abend vorbei. Das Five Bells war für uns das, was unsere WG früher gewesen war.
Ich liebte diesen Haufen Menschen aus ganzem Herzen. Der Zufall und die Suche nach einem möglichst günstigen Zimmer hatten uns zusammengewürfelt. Fünf unterschiedliche Menschen, die sich in so vielem unterschieden und doch eine überraschend große Schnittmenge hatten.
»Du wirst eine wunderbare Mutter sein, Stella«, sagte ich jetzt aus ganzem Herzen. »Und ich freue mich wirklich riesig für euch.«
In diesem Moment trat River in den Gastraum. Wie die anderen auch, besaß er einen Schlüssel für den Hintereingang des Pubs.
»Auf was freust du dich? Hat Stella es dir erzählt?«, wollte er sofort mit glänzenden Augen wissen und schlang von hinten die volltätowierten Arme um sie. »Hast du es ihm gesagt, Babe?«
River, unser riesiger, schweigsamer Koch, sah für einen kurzen Moment aus wie ein kleiner Junge, der ein besonderes neues Spielzeug bekommen hatte.
»Ja, hat sie. Glückwunsch, Mann.« Ich klopfte ihm auf die Schulter.
»Es ist abgefahren, oder? Wir bekommen ein Kind.« Er rieb sich über die kurz rasierten Haare. »Zusammen. Ein Kind. Stella und ich.«
Stella lehnte sich in seine Umarmung hinein. »Du bist süß.«
»Ich mag vieles sein, aber ganz sicher bin ich nicht süß.« River sah sie finster an, doch seine Mundwinkel zuckten verräterisch.
»Ist gut. Du bist knallhart.«
»Glaub nicht, dass ich dich deswegen jetzt heirate. Also wegen dem Kind.«
»Das werden wir ja noch sehen.«
»Das ist spießig.« River verzog das Gesicht, doch der liebevolle Blick, mit dem er seine Freundin bedachte, sprach Bände.
»Du sollst mich ja auch nicht wegen dem Kind heiraten, du Dummkopf.«
»Wieso dann?«
»Weil du mich liebst, zum Beispiel? So macht man das doch.«
»Kian, hilf mir hier mal«, wandte River sich an mich.
»No way«, lachte ich. »Auf keinen Fall. Da halte ich mich raus.«
River war drei Jahre lang im Gefängnis gewesen und seit zwei wieder draußen. Er hatte nur Stella erzählt, weshalb, und das war in Ordnung, denn letztendlich spielte das weder für Ash noch für mich eine Rolle. Ich war der Meinung, dass jeder eine zweite Chance verdient hatte.
Und River war nicht nur ein großartiger Koch, er trug Stella auch auf Händen. In all den Jahren hatte ich mitbekommen, wie die Männer sie ansahen, sie sexualisierten, sie auf ihren Körper und das makellose Gesicht reduzierten und sie auszunutzen versuchten. Doch River sah auch Stellas innere Schönheit, und das war es, worauf es letzten Endes ankam.
Doch obwohl ich den beiden ihr Glück von ganzem Herzen gönnte, spürte ich in Momenten wie diesem doch ein schmerzhaftes Stechen im Magen. Wegen der Frau, die für mich das gewesen war, was Stella für River war. Wir hatten nicht viel Zeit zusammen gehabt, aber die Monate mit ihr waren verdammt nochmal irgendwie alles gewesen.
Liebe ohne Vernunft.
Liebe nur basierend auf Herz und Bauch. Etwas, das ich vorher nicht gekannt hatte.
Ich ließ Stella und River, die sich immer noch neckten und meine Anwesenheit ganz vergessen zu haben schienen, allein und drehte meine Runde durch das Five Bells. Ash war noch unterwegs und kümmerte sich um eine Getränkelieferung, mit der etwas schiefgegangen war – in gut einer Stunde würden wir aufschließen, er musste also jeden Moment kommen.
Durch die hohen Bogenfenster an der Straßenseite fiel Licht in das Innere, auch wenn es hier drin nie richtig hell war. Ich mochte die nackten Ziegelmauern und die wenigen verputzten und dunkelgrün gestrichenen Wände, die in dem schummrigen Schein besonders einladend wirkten. An einer von ihnen hingen bis unter die Decke gerahmte Bilder unserer Pub Family. Von den Menschen, die hier gearbeitet hatten, und denen, die es immer noch taten. Von vergnügten, gemeinsamen Abenden, den Live Acts, Geburtstagen und allem anderen, das wir im Five Bells gefeiert hatten.
Es war der vorletzte Samstag des Monats. Der Tag, an dem unser legendärer Karaoke-Abend stattfand. Während ich die Ausgelassenheit dieser Abende liebte, beschwerte River sich regelmäßig über den Lärm und betonte, wie froh er war, das schiefe Gesinge der Leute hinten in der Küche nur halb zu hören. Ich war mir trotzdem sicher, dass er das Ganze nicht so übel fand, wie er uns alle glauben lassen wollte. Einmal, als er sich am Herd unbeobachtet wähnte, hatte ich ihn im Takt mitwippen sehen.
Ich kontrollierte, ob die Anlage und der Beamer, der die Songtexte auf die Leinwand projizieren würde, funktionierte und verteilte auf den dunklen Holztischen die Karten, auf denen die Lieder standen. Dann beschriftete ich die Schiefertafel neben der Theke mit den aktuellen Bar Meals – wie immer eine bunte Mischung aus klassischen Burgern, Pies, Fish and Chips und einigen Eigenkreationen.
»Es gibt Neuigkeiten«, rief River quer durch den Laden, noch bevor Ash die Kiste, die er in den Armen balancierte, abstellen konnte.
»Was für Neuigkeiten?«
»Ich werde Vater«, platzte River heraus.
Ruckartig hob Ash den Kopf. »Echt jetzt?«
»Ja, echt jetzt.«
»Und seit wann weißt du es?«, fragte er mich und hängte seine Jacke über einen der Stühle. Regentropfen schimmerten in seinen dunklen schulterlangen Haaren, die er nun mit geübten Griffen im Nacken zusammenband.
»Seit gerade eben.«
Ash legte mir einen Arm um die Schulter. »Sieht aus, als bekäme das Five Bells ein Baby.«
»Du sagst das so, als wäre dieses Kind ein Maskottchen«, lachte ich.
Er gab meist vor, nichts im Leben so richtig ernst zu nehmen, aber im Grunde war er ein Romantiker, ein wahrer Träumer. Und sein Herz hatte immer schon für Kinder geschlagen. Bis wir vor zwei Jahren das Five Bells eröffnet hatten, hatte er einen Job als Erzieher in einem Kindergarten gehabt.
Im ersten Jahr hatte er weiterhin dort gearbeitet – zumindest an zwei Tagen in der Woche, weil er seine Schützlinge vermisst hatte. Ich erinnerte mich noch zu gut daran, wie fertig er in dieser Zeit gewesen war, als er wegen der Kleinen mehrmals die Woche durch halb London gefahren war. Wie er sich zwischen den zwei Dingen, die ihm wichtig waren, beinah aufgerieben hatte. Doch inzwischen konzentrierte er sich zum Glück ganz auf unser gemeinsames Projekt.
»Du könntest den Kleinen Ash nennen«, schlug mein bester Freund da schon grinsend vor. »Nach seinem coolsten Onkel.«
»Wenn es nach dem coolsten Onkel geht, solltet ihr ihn lieber Kian nennen.«
»Oder Ashian.«
»Oder Kash.«
»Ähm …«, Stella sah zwischen uns hin und her, »definitiv nicht.«
Wenige Stunden später war im Five Bells die Hölle los. Doch es waren genau diese Abende, die ich über alles liebte. Ja, für die ich lebte. Bis jetzt hatte es keinen Tag gegeben, an dem ich meine Entscheidung, in der Gastronomie zu arbeiten, anstatt mein Studium zu beenden, bereute. Ein Jahr Sozialwissenschaften in irgendwelchen alten Hörsälen, doch die größten Wahrheiten über den Menschen lernte man nicht dort, sondern da, wo man ihnen am nächsten war: in einem Pub, an einem Ort, an dem das Leben pulsierte. Praxis statt Theorie. Ich war Menschenkenner, Menschenliebhaber. Ich mochte ihre Geschichten, ihre Individualität, ihre Ansichten und ganz eigenen Denkweisen, die mich über meinen Tellerrand blicken ließen. Denn trotz aller Gemeinsamkeiten, die man ausmachen konnte, glich keiner dem anderen. Und genau darin lag der Reiz.
Inzwischen war auch Quinn gekommen und stand neben mir an der Bar. Die schwarzen Dreads mit den eingeflochtenen Perlen schwangen bei jeder Bewegung um ihre dunklen Schultern, während ihre Hände zwischen Gläsern, Flaschen und Zapfhähnen hin- und herflogen. Lager, Ale und Bitter. Cider und Strout.
Die nächsten Stunden arbeiteten wir routiniert nebeneinander. So wie man es nur machte, wenn man sich schon seit Jahren kannte und einander blind vertraute. Wir beide funktionierten ohne die Worte, die Quinn sowieso nicht auf klassische Art nutzte. Sie, die seit ihrer Geburt gehörlos war, hatte mir gezeigt, wie fröhlich-laut oder aufbrausend Stille sein konnte. Unsere Gäste wussten, dass Quinn taub war, und gaben ihr meist mit Handzeichen zu verstehen, was sie bestellen wollten. Und ansonsten konnte sie wahnsinnig gut von den Lippen lesen.
Ash war irgendwo in der Menschenmenge, die dicht an dicht stand, und half Stella dabei, das Essen zu den Tischen zu bringen. Ich schwitzte und schob zwischendurch immer wieder die Brille hoch, wenn sie mir über die Nase rutschte. Die Tür und die Fenster waren geöffnet, und trotzdem war es wegen all der Leute drückend heiß.
Zwischendurch drängte Ash sich mit diesem für ihn typischen Grinsen zu mir an die Bar, stieß mit einem gekühlten Bier mit mir an und verschwand dann wieder zu River in die Küche, weil der nächste Schwung Teller fertig war. Auch seine Stirn war von einem leichten Schweißfilm bedeckt, doch trotzdem war jeder seiner Schritte wie immer voller tänzelnder Leichtigkeit.
Ich füllte gerade Cider in ein Pint, als es passierte.
Eigentlich waren es routinierte Handgriffe, und doch drohten meine Finger plötzlich von der glatten Oberfläche abzurutschen. In mir begann etwas zu pulsieren und sich zu überschlagen, wie ich es nur einmal im Leben empfunden hatte. Und als ich dieses Mal den Blick hob, geriet mein Herz endgültig aus dem Takt.
Später würde ich mich fragen, wie mein Körper ihre Anwesenheit hatte spüren können, ohne sie zu sehen. Ob ich mir diese wenigen, bedeutsamen Sekunden davor nur eingebildet hatte oder sie ebenso real waren wie ihr unerwarteter Anblick.
June.
Juniper mit ihren wilden, rosafarbenen Wellen direkt vor der Theke.
Mit ihren großen Augen unter dramatisch geschwungenen Brauen, die sich jetzt erschrocken weiteten.
Zwischen dem Saum eines weißen Shirts mit gelben Punkten und dem hoch sitzenden Bund ihrer Jeans blieb ein schmaler Streifen Haut sichtbar. Dort, direkt über dem Saum schimmerten die schwarzen Linien eines tätowierten Herzens im warmen Licht. June sah aus, wie ich sie in Erinnerung hatte, und doch stellte ich in diesen wenigen Sekunden, die sich unnatürlich in die Länge zu ziehen schienen, fest, dass etwas an ihr anders war. Die Musik, vor allem aber die Menschen, die sich an der Bar drängten, um ihre Bestellungen aufzugeben, traten in den Hintergrund.
Sie.
Juniper, die voller großer Träume und Sehnsüchte gewesen war.
Juniper, von der ich tatsächlich gedacht hatte, dass sie in ihrer Wildheit mein Gegenstück war.
Juniper, an die ich in den vergangenen Jahren immer wieder und dabei zu oft gedacht hatte, obwohl ich mich für zu vernünftig hielt, um der einzigen Frau hinterher zu trauern, die es geschafft hatte, mir das Herz zu brechen.
June öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder, anscheinend ebenso hilflos, wie ich mich fühlte. Ihr unerwartetes Erscheinen zog mir für den Moment den Boden unter den Füßen weg – und das, obwohl ich mir in den ersten Monaten nach ihrem Weggang immer und immer wieder ausgemalt hatte, was passieren würde, wenn wir erneut aufeinandertreffen würden. Entfremdet und mit der fernen Erinnerung an das, was einmal zwischen uns gewesen war.
Ohne June aus den Augen zu lassen, schob ich dem wartenden Gast den Pint über den Tresen zu. Und dann fiel mir mit einem Mal auf, was anders an ihr war: nicht die gerade, selbstbewusste Haltung. Nicht das Haar, das sie inzwischen bis zu den Hüften trug. Es war das Feuer in ihren Augen, das noch heller loderte als damals.
Keins der Szenarien, die ich im Kopf durchgespielt hatte, trat ein. Stattdessen tat ich etwas, womit ich selbst wohl am wenigsten gerechnet hatte.
Ich lächelte.
2. Kapitel
June
»Kian«, stieß ich hervor und hasste es, dass meine Stimme so atemlos klang. Ganz so, als wäre ich gerannt und gerade eben erst vor ihm zum Stehen gekommen. Neun Millionen Menschen und doch befand er sich direkt vor mir mit nichts als dem Tresen zwischen uns. Ich versuchte das Zittern zu verbergen, das meinen Körper unwillkürlich zu durchlaufen begann, und krallte mich möglichst unauffällig an einem gerade frei gewordenen Barhocker fest.
Da stand Kian vor mir.
Der Mann, an den ich noch mehr dachte, seit ich hier in London wieder aus dem Flieger gestiegen war.
Und als wäre die ganze Situation nicht schon überfordernd genug, sah er mich offen an. So als hätte ich ihm nicht vor drei Jahren das Herz gebrochen und ihm dabei einen Teil der Wahrheit verschwiegen. So als wäre keine Zeit vergangen. Von einer Sekunde auf die andere schien ich nicht nur in eine andere Version Londons zurückkatapultiert zu werden, sondern auch in eine andere Version meiner selbst.
»June«, erwiderte Kian eine Ewigkeit später, und in der Betonung meines Namens allein lag schon diese kraftvolle Ruhe, die ihn heute noch mehr umgab als damals. »Juniper«, schob er meinen vollständigen Namen mit gesenkter Stimme hinterher. Er war einer der wenigen Menschen gewesen, die mich tatsächlich so nannten.
Bei ihm hatte es mich nie gestört.
Bei ihm hatte es sanft und irgendwie beschützend geklungen.
»Hey«, sagte ich unbeholfen, sah weg und sah ihn wieder an.
Kians Lächeln verrutschte kein Stück. Er trug die kupferfarbenen Haare immer noch kurz, sodass sie seine markanten Gesichtszüge betonten, dazu der Bart, der etwas voller schien. Immer noch eine Nerd-Brille, doch das stylische Modell mit dem feinen, goldenen Rahmen war neu. Es ließ das tiefe Braun seiner Augen noch intensiver und dunkler schimmern.
Kaffeefarbene Gänsehautaugen.
Himmel, wenn es Magie auf dieser Welt gab, dann hatte ich sie vor drei Jahren in ihm gefunden und trotzdem weggeworfen. Nein, nicht weggeworfen, ich hatte sie zerstört. Und das auf noch schlimmere Art und Weise, als er ahnte.
»Was möchtest du trinken?«, fragte er jetzt und wischte sich die Hände an dem Geschirrtuch ab, das er lässig über der rechten Schulter trug.
»Ich … also … ich nehme …«, stammelte ich erneut. Ich war in einem Pub, er stand hinter der Bar. Was sollte er mich auch sonst fragen.
Lebst du? Liebst du? Bist du glücklich?
All diese Fragen hätte ich ihm am liebsten entgegengerufen, doch ich stolperte über meine eigenen Gedanken.
»Geht aufs Haus«, schob Kian freundlich hinterher, als würde er mein Unwohlsein und die Überforderung spüren. Natürlich tat er es. Egal, wie sein Leben sich auch entwickelt haben mochte, es war immer noch Kian. Kian mit dem Herzen aus Gold.
»Einen Cider, bitte«, sagte ich schließlich und sah den routinierten Bewegungen seiner Hände zu. Breite Schultern, muskulöse Arme und kräftige Finger, die mich einmal berührt hatten. Schnell schüttelte ich den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben.
Ich war Musicaldarstellerin, ich konnte in jede Rolle schlüpfen, wenn ich es wollte. Ich konnte alles und jeder sein, doch das echte Leben war nun einmal keine Bühne. Jetzt und hier war ich einfach nur June und der Mann mir gegenüber meine erste große Liebe.
Wie auch allen anderen schob Kian mir mein Getränk hin, wandte sich dann aber direkt wieder ab und nahm die nächste Bestellung auf. Mein Mund war staubtrocken, meine Handflächen fühlten sich feucht an. Wir hatten einmal so viel miteinander geteilt. Diese wenigen, belanglosen Worte, die gerade gefallen waren, wurden dem nicht gerecht. Ich war enttäuscht, obwohl ich nichts erwarten durfte. Aber auch erleichtert, weil ich so keinen Fehler machen konnte.
Spätestens das war der Moment, in dem sich die Bilder einer unwiederbringlichen Vergangenheit an den Rand meines Bewusstseins gedrängt hatten, um nun unaufhaltsam auf mich einzustürzen. Ich sah Kian und mich, wie wir lachend durch die Endlosgänge des White Roses liefen. Kian, der genau genommen mein Boss gewesen war. Der Generalschlüssel, der uns alle nur erdenklichen Möglichkeiten bot und das Hotel zu unserem Palast und Abenteuerspielplatz machte. Ein erster Kuss auf dem Dach, wo wir über London und die Themse im Laternenlicht hatten blicken können, ein zweiter im Pool.
»Bleibst du noch ein bisschen?«, durchbrach Kian meine Gedanken, dieses Mal konnte ich absolut nichts in seinem Gesicht lesen. Wollte er, dass ich blieb? War das eine Höflichkeitsfrage, um unser Unbehagen zu überspielen? Eine Frage, die verstecken sollte, dass es ihm eigentlich lieber wäre, wenn ich so bald wie möglich wieder verschwand?
Bevor ich noch länger darüber nachdenken konnte, nickte ich. Kian wandte sich erneut ab und stellte sich zusammen mit seiner Kollegin, in der ich erst jetzt Quinn erkannte, der nicht enden wollenden Flut an Bestellungen.
Das Pub war brechend voll: Leute an den dunklen Tischen, provisorisch dazugeschobene Stühle. Menschen in großen Gruppen aber auch einige, die allein hier waren. Leute, die sich für ein kurzes Gespräch an Tischkanten irgendwelcher Bekannter lehnten, zwei junge Frauen, die in der Nähe der Bühne zu tanzen begonnen hatten, während ein junger Kerl eine schiefe Version von Eye of the Tiger in das Mikro schmetterte.
Das war eines der Dinge, die ich an dieser Stadt liebte und in New York schmerzlichst vermisst hatte: die Pub-Kultur, das Konzept einer Kneipe, die das Wohnzimmer für alle war. Ein familiärer Ort für all jene, die noch nicht nach Hause gehen wollten. Ein Local, zu dem es einen immer wieder zog, in dem wie hier Jung und Alt aufeinandertrafen. Menschen aller Schichten und jeder Herkunft.
Noch immer stand ich mit dem Glas Cider an der Theke und wusste nicht so recht, was ich jetzt tun sollte. Ziellos schob ich mich an den dicht an dicht stehenden Leuten vorbei, bis mein Blick auf ein Paar eleganter, brauner Schuhe fiel, eine schmal geschnittene Hose und eine weinrote Fliege – alles viel zu schick für einen Besuch im Pub und trotzdem … Ich sah den Mann nur von der Seite, die selbstbewusste Haltung und wie er den Kopf in den Nacken warf und lachte. Bartschatten auf den Wangen und Schnauzer. Schwarze Haarsträhnen streiften über hellen Hemdstoff, und als er sich umdrehte, traf sein Blick meinen, als hätte er gewusst, dass ich hier stand und ihn beobachtete.
Mein Herz sank mir in die Hose, als ich begriff.
Nicht auch noch das.
Nicht auch noch er.
Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht, flehte ich innerlich. Nach der kurzen Begegnung mit Kian verkraftete ich nicht auch noch das.
Hilfesuchend sah ich mich nach Benoît um, doch er war nirgends zu sehen. Gerade überlegte ich noch, was ich tun sollte, da bahnte Ash sich schon seinen Weg zu mir durch. Geschmeidig, elegant, fast ein bisschen raubtierartig. Er bewegte sich, als gehöre die Welt ihm. Und tatsächlich hatte es eine Zeit gegeben, da hatte er mich glauben lassen, dass dem so war.
»Ich habe dich bei Kian an der Bar gesehen.«
Ich blinzelte.
In diesem einzigen Satz schwang zu viel mit, das ich zu gern überhört hätte.
»Hallo, Ash«, erwiderte ich möglichst ruhig und gab mir Mühe, die Feindseligkeit in seiner Stimme zu ignorieren. Sie hielt mich davon ab, die wichtigen Fragen zu stellen: Wie geht es dir, und wie ist es dir ergangen? Wie lang hast du damals noch im Regen gestanden? Hast du jemals darüber gesprochen? Woher kommt diese Narbe an deiner Schläfe? Was bist du heute für ein Mensch?
»Was machst du hier?«, wollte er mit dieser Stimme wissen, die sich permanent zwischen kräftig und brüchig bewegte. Und bei diesem Klang aus der Vergangenheit kamen auch die letzten Worte, die Ash an meinem letzten Tag in Großbritannien an mich gerichtet hatte, zurück. Wieder meinte ich die Tränen auf meinen Wangen zu spüren, genau wie den klebrigen Sitz des Black Cabs unter meinen Schenkeln, und sah Ash im Rückspiegel des Autos, wie er mit den Händen in den Hosentaschen am Straßenrand stand und mir hinterhersah.
Kian war zu gut für dich, das ist er immer schon gewesen.
»Ich bin hier, um zusammen mit einem Freund etwas zu trinken.«
Ash kam einen Schritt auf mich zu, und sofort schrie alles in mir, dass er mir zu nah war und ich möglichst Abstand zwischen uns bringen sollte. In Anbetracht der Leute, die immer weiter in das Innere des Pubs drängten, leider ein Ding der Unmöglichkeit.
Mein Herz sank erst langsam und fiel dann ins Bodenlose.
»Und das tut ihr ganz zufällig ausgerechnet hier?«
Ich blinzelte und fragte mich, weshalb Ash das letzte Wort so seltsam betonte. »Ja, das tun wir hier.«
»Okay, June.« Ash verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte mich hasserfüllt an. »Was tust du hier wirklich?«
»Das habe ich dir gerade gesagt. Ich bin hier zusammen mit einem Freund.«
Ash lachte auf. Es war ein anderes Lachen als das, an das ich mich erinnerte. Ebenso tief, doch der Funken darin fehlte.
»Hat dein kleiner Schauspieltraum nicht geklappt, und jetzt bist du wieder in London und willst deine Vergangenheit zurück?«
Die Art, wie er mit mir redete, versetzte mir einen Stich. Nicht nur Kian, auch ihn hatte ich das letzte Mal vor drei Jahren gesehen. Hitze breitete sich bei der Art, wie Ash mit mir redete, in mir aus. Abwertend, abfällig. Er hatte kein Recht dazu, so mit mir umzugehen, ganz gleich, was vorgefallen war.
»Ich bin in London, weil ich hier wohne, wenn du es genau wissen willst«, schoss ich zurück. »Und wie schon gesagt: Ich bin zusammen mit einem Freund hier. Mal ganz davon abgesehen, dass es keinen Grund gibt, weshalb ich mich vor dir rechtfertigen müsste.«
Ich wandte mich ein Stück ab und entdeckte in diesem Moment endlich Benoît, der gerade an der Bar stand – und mit Quinn flirtete. Für einen kurzen Moment lag ihre Hand auf seinem Unterarm, dunkel auf hell. Ich hatte mich immer gut mit Kians Mitbewohnerin verstanden, konnte aber gut auf eine weitere Begegnung mit der Vergangenheit verzichten. Ich musste hier raus, ich musste hier weg! Oder ich ließ Benoît seinen Spaß und schrieb ihm von unterwegs eine Nachricht, dass ich mich schon auf den Heimweg gemacht hatte.