Wenn die Sterne fallen - Sophie Bichon - E-Book
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Wenn die Sterne fallen E-Book

Sophie Bichon

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Beschreibung

Wie echt ist der Traum von Frieden und freier Liebe?

Ein Dorf in der Nähe von Berlin, 1969. Kalliope und Kai. Laut und leise. Wildfang und Ruhepol. Seit Kalliope denken kann, ist Kai ihr bester Freund. In diesem langweiligen Sommer vor dem Abitur sind seine Briefe ihr einziger Lichtblick. Doch als Kai aus den Ferien zurück ist, fühlt sich das Zusammensein mit ihm plötzlich fremd an. Zu spät merkt Kalliope, wie viel Kai ihr wirklich bedeutet. Auf der Suche nach sich selbst schließt sie sich der Hippiebewegung an. Und auch Kai geht seinen eigenen Weg. Immer wieder treffen die beiden aufeinander, nähern sich an, entfernen sich wieder. Wenn es nach der Legende ihrer Familie geht, werden Kalliope und ihre beiden Schwestern nur für kurze Zeit wahres Glück finden. Ist also auch Kalliopes und Kais Liebe zum Scheitern verurteilt?

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DASBUCH

Ein Dorf in der Nähe von Berlin, 1969. Kalliope und Kai. Laut und leise. Wildfang und Ruhepol. Seit Kalliope denken kann, ist Kai ihr bester Freund. In diesem langweiligen Sommer vor dem Abitur sind seine Briefe ihr einziger Lichtblick. Doch als Kai aus den Ferien zurück ist, fühlt sich das Zusammensein mit ihm plötzlich fremd an. Zu spät merkt Kalliope, wie viel Kai ihr wirklich bedeutet. Auf der Suche nach sich selbst schließt sie sich der Hippiebewegung an. Und auch Kai geht seinen eigenen Weg. Immer wieder treffen die beiden aufeinander, nähern sich an, entfernen sich wieder. Wenn es nach der Legende ihrer Familie geht, werden Kalliope und ihre beiden Schwestern nur für kurze Zeit wahres Glück finden. Ist also auch Kalliopes und Kais Liebe zum Scheitern verurteilt?

DIEAUTORIN

Sophie Bichon wurde 1995 in Augsburg geboren. Dort studierte sie Germanistik und Kunstgeschichte, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Inzwischen lebt und arbeitet sie direkt auf dem bunten Hamburger Kiez, umgeben von Büchern und ihren geliebten Pflanzen. Sophie Bichon liebt lange Schreibnachmittage in Cafés, durchgetanzte Nächte und Tage, an denen die Sonne scheint. In ihren Büchern schreibt sie nicht nur über die kleinen und großen Momente des Lebens, über Fehler und neue Chancen, sondern auch über die Liebe in all ihren wunderschönen Facetten.

Sophie Bichon

WENN

DIE STERNE

FALLEN

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 12/2022

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Eva Jaeschke

Das Gedicht [>>] stammt aus:

Bichon, Sophie: Denn wir sind aus Sternenstaub gemacht.

Heyne Verlag, 2022.

Umschlaggestaltung: zero-media.net unter Verwendung

eines Composings aus verschiedenen FinePic®, München Motiven

Illustrationen im Innenteil: © Sophie Bichon

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27655-3V002

www.heyne.de

Für Lisa.

Weil du es schaffst,

jeden Tag Farbe und Musik

in mein Leben zu bringen.

Du bist für mich das,

was Hanni für Kalliope ist.

Neuanfangsleuchten

Irgendwo bei den Bäumen

schwebt zwischen Glühwürmchen ein Haus.

Klein,

aus Holz

und Tor zu einer anderen Welt.

Sie sitzt auf dem Boden, inmitten von Kissen,

auf ihr Gesicht scheint wärmendes Licht,

und sie

ist ganz bei sich.

Denn sie weiß,

dass das hier nicht das Ende ist,

sondern erst der Anfang.

Gedicht aus: Denn wir sind aus Sternenstaub gemacht von Sophie Bichon

TANZENWIEDIEBLUMENKINDER

Down on Me von Janis Joplin

Summertime von Janis Joplin

San Francisco (Be Sure to Wear Flowers in Your Hair) von Scott McKenzie

Surfin’ U.S.A. von The Beach Boys

Piece of My Heart von Janis Joplin

Purple Haze von Jimi Hendrix

She’s a Rainbow von The Rolling Stones

Here Comes the Sun von The Beatles

I Can’t Keep from Crying, Sometimes von Ten Years After

California Dreamin’ von The Mamas and the Papas

Come Together von The Beatles

For what it’s Worth von Buffalo Springfield

Son of a Preacher Man von Dusty Springfield

Kozmic Blues von Janis Joplin

In the Summertime von Mungo Jerry

STERNE, SONNE UND MOND

Die Nacht war still.

Da waren nur ich und mein pochendes Herz, welches beinah meine Schritte auf dem Sand übertönte. Wie im Rausch lief ich der Meereslinie entgegen. Hinter mir warfen steile Klippen ihre Schatten, die Ausläufer berührten das dunkle Wasser, auf dem das Abbild des prallen Mondes schimmerte. Ganz kurz nur hob ich den Blick und verlor mich in dem silbrigen Glanz, der heute etwas Überirdisches an sich hatte. Ein hypnotisierendes Leuchten, das mich immer drängender zu sich rief. Sofort fröstelte ich, doch die sengende Hitze in meiner Brust trieb mich ungeachtet dessen weiter und weiter.

Das Strahlen des Mondes schien zu schwinden, mir im nächsten Moment aber nur noch deutlicher den Weg in den Ozean zu zeigen. Plötzlich verhedderte ich mich mit den nackten Beinen in dem Mantel, den ich achtlos übergeworfen hatte. Feuchter Sand klebte mir zwischen den Zehen und die Kante einer Muschel schnitt mir in die Fußsohle, doch ich rannte so schnell wie möglich weiter.

Es gab nur diese eine Möglichkeit, denn ich gehörte nicht in diese Welt. Ich gehörte zur See, die Nacht für Nacht meine Anwesenheit verlangte. Weil ich die verborgenen Melodien des Meeres stets besser verstanden hatte als die Worte der Menschen. Und mit jedem Mal wurde sein sirenenhafter Gesang lauter.

Mein Herz machte einen erschrockenen Satz, als kaltes Wasser erst meine Füße umspülte, dann meine Waden. Ein winziger Teil in mir wollte umkehren und fliehen, doch ich begann zu rennen, eilte den Tiefen des Meeres atemlos entgegen, das im Licht der Sterne mit einem Mal gar nicht mehr so ruhig dalag. Tiefblaue Wellen mit schäumenden Kronen rollten auf mich zu, und ich konnte nicht sagen, ob sie mich als eine der Ihren willkommen hießen oder ob sie mich verschlingen wollten. Ich hob die Arme, öffnete meinen Mund, doch im nächsten Moment war überall nur noch Wasser. Die zahllosen Sterne, der leuchtende Mond und die verglühende Sonne in meinem Herzen. Und Welle um Welle türmte sich auf, ehe sie über mir zusammenschlugen und mich tiefer in die schimmernde Schwärze rissen.

Meine Lunge brannte.

Oder war das die Sonne in mir?

Ich fiel,

fiel,

fiel,

fiel,

bis ich mich meinem Schicksal ergab und einfach losließ.

Sommer 1969

AUSZUG AUS KAIS BRIEFEN

Geschrieben: Montag, den 07. Juli 1969

Abgeschickt: nie

Das ist jetzt schon der dritte Brief, den ich Dir schreibe. Der dritte Brief, von dem ich weiß, dass ich ihn am Ende doch nicht zum Postamt bringen werde. Kalliope, es steht schlimm um mich, denn ich denke, ich habe wahrhaftig mein Herz verloren.

1   EIN MANN AUF DEM MOND

Sie hat ein Recht darauf zu erfahren, was ihr bevorsteht.

Sie hat ein Recht darauf, ihr Schicksal zu kennen.

Kalliope ist eine von uns.

Es waren nur Worte, und doch kroch mir unwillkürlich eine Gänsehaut die Arme hinauf. Ich lehnte die Stirn gegen das überraschend kühle Fensterglas und blickte auf der Suche nach irgendeinem Fixpunkt in die Nacht hinaus, erahnte den Garten, den alten Baum mit den knorrigen Ästen direkt vor meinem Zimmer, gegenüber das Haus der Martins. Links die in vollkommene Stille gehüllte Magnolienallee mit den namensgebenden Bäumen zu beiden Seiten.

Trotz aller Vertrautheit war da in der Dunkelheit nichts, was mir den so dringend benötigten Halt geben konnte.

Sie hat ein Recht darauf zu erfahren, was ihr bevorsteht.

Sie hat ein Recht darauf, ihr Schicksal zu kennen.

Kalliope ist eine von uns.

Nicht zum ersten Mal löste die Erinnerung an diese Sätze viele Gefühle gleichzeitig in mir aus: Aufregung, Neugier, aber auch Angst. Doch sobald ich an Großmutters erst wütenden, schließlich resignierten Gesichtsausdruck dachte, überwog Letzteres. Dann schlug mein Herz schneller und wappnete sich für etwas, das viel größer als diese Welt schien.

Ich hatte schon vor langer Zeit damit aufgehört, nur an das zu glauben, was ich mit eigenen Augen sah, denn es existierten Dinge, die man einfach fühlte und nicht richtig erklären konnte. Wie zum Beispiel, als ich vor wenigen Tagen mit dem Fahrrad auf dem Weg zum Glühwürmchen wie immer über den schmalen Bach gesprungen war. Das tat ich, seit ich ein eigenes Rad hatte, und doch war ich zum ersten Mal mit dem Vorderrad hängen geblieben und gestürzt. Und in dem Moment hatte ich gewusst, dass dieses Missgeschick der Beginn von etwas war.

Seit einer halben Stunde tigerte ich nun schon unruhig in meinem Zimmer auf und ab, denn in Nächten wie diesen war es um so Vieles schwerer, das Aufgeschnappte als Unsinn abzutun.

Wo verdammt noch mal bleibt Kai?

Erst hatte ich es mir noch auf meinem Bett gemütlich gemacht und leise vor mich hin gesungen, um die Zeit totzuschlagen, doch obwohl Musik – die Gute, die Wahre, die Schöne – ein Heilmittel für so ziemlich alles war, hatte sie dieses Mal nicht geholfen. Nicht einmal Down on Me von Big Brother and The Holding Company, ein Song, der sonst alles irgendwie besser machte. Vielleicht aber lag es auch an Janis Joplins tiefer Stimme. Sie passte zu gut zu dem düsteren Gefühl, welches mich gefangen hielt, seit ich heute Morgen aus einem dieser grausamen Träume hochgeschreckt war.

Wieder einmal.

Bilder von sich auftürmenden Wassermassen und verzweifelte Schreie, die in diesem Szenario wohl meine eigenen waren. All das umhüllt vom dichten Nebel der Erinnerung, denn … das war es, was mir an meinen Albträumen am meisten zu schaffen machte: die Nähe zur Realität – als handelte es sich um eine Ansammlung eigener Erinnerungen und Erlebnisse.

Auch jetzt konnte ich das Gefühl von Wassermassen, die meine Lunge fluteten und drohten, mir die Luft abzuschnüren, nicht ganz abschütteln – wartete es doch stets am Rande meines Bewusstseins. Ohnehin schien meine Kehle an den Morgen nach den Träumen wie ausgedörrt zu sein.

Himmel, Kai, wo steckst du?

Ich warf einen Blick auf die Uhr – nur noch eine Stunde. Um Mitternacht hatten wir sonst eigentlich immer angefangen.

Ist dieses Jahr alles anders? Pfeifst du auf unsere Rituale?

Unruhig sah ich wieder in den Himmel empor, als ich plötzlich hörte, wie etwas Kleines, Hartes die Fensterscheibe traf. Erschrocken zuckte ich zusammen und erwartete, Kai gegenüber an seinem Fenster stehen zu sehen. Aber alles blieb dunkel wie zuvor. Doch von irgendwoher musste das Steinchen gekommen sein. Vielleicht hatte Kai es von unten geworfen?

Und tatsächlich: Als ich das Fenster öffnete, erblickte ich nicht nur einen durch den Garten huschenden Schatten. Ich entdeckte auch das zusammengefaltete Blatt Papier, das aus dem rostroten Eimer lugte, der speziell für diesen Zweck an meinem Fenstersims hing.

Endlich.

Gegen das Lächeln, das an meinen Mundwinkeln zupfte, hatte ich keine Chance.

Ich entfernte die Schnur, die um den Zettel gewickelt war, dann faltete ich ihn vorsichtig auseinander, strich die Seite glatt und inhalierte den Geruch von Tinte.

In den letzten Monaten waren unsere Briefe seltener geworden. Ich würde einen Teufel tun, es zuzugeben, doch nach den ganzen Wochen nun wieder Kais ausladende, geschwungene Buchstaben zu betrachten und dieses Papier unter den Fingerkuppen zu spüren, machte etwas mit mir. Ein Brief, der sich zu all den anderen reihte, die ihren Weg im Laufe der Jahre in den kleinen Eimer gefunden hatten.

Wenn mein bester Freund schrieb, drückte er sich anders aus als beim Sprechen. Ganz so, als würde auf dem Papier endlich das aus ihm hervorbrechen, was sonst immer unter seiner Stille verborgen lag. Kai und Papier und wunderschöne Tintensätze gehörten zusammen, weil er immer schon in Melodien und Liedern gedacht hatte.

Mitternacht,

unser Ort,

fallende Sterne.

K.

Nur wenige Worte dieses Mal, doch sie reichten, dass mir das Herz in der Brust schneller schlug. Bevor es endlich so weit war, drapierte ich noch die vorbereiteten Kissen unter der geblümten Bettdecke, dann warf ich mir den Rucksack über die Schulter und öffnete die beiden Flügel meines Fensters möglichst leise. Ein aufgeregtes Kribbeln strömte durch meinen Körper.

Meine kleinen Schwestern Klio und Erato hatten ihre Zimmer gegenüber von mir, das Schlafzimmer meiner Eltern lag zu meiner Linken, und genau unter mir, im Erdgeschoss, schlief meine Großmutter, die seit ihrem Schlaganfall wieder bei uns wohnte. Nicht zum ersten Mal stöhnte ich entnervt auf, weil ich verdammt noch mal eingekesselt war und ständig auf der Hut sein musste, wenn ich nicht erwischt werden wollte. Die Standpauke wegen des Rauchgeruchs in meinen Haaren war mir noch zu lebhaft im Gedächtnis. Dabei hatte ja nicht einmal ich selbst geraucht …

Routiniert kletterte ich auf den Fenstersims. Mit einer Hand stützte ich mich darauf ab, mit der anderen schloss ich die beiden Flügel – der schmale Spalt würde reichen, um das Fenster später wieder zu öffnen. Dann hielt ich mehrere Atemzüge lang still. Das dichte Blätterdach über mir verbarg den Mond, und nur ein paar wenige Straßenlaternen in der Magnolienallee spendeten schwaches Licht.

Vielleicht hätte die Dunkelheit mir Angst machen sollen, so wie meine ganz persönlichen Schreckensbilder, die irgendwo in meinem Verstand darauf warteten, mich heimzusuchen. Und ich hatte durchaus Respekt – mein schnell schlagendes Herz war der beste Beweis dafür. Doch beinah hätte ich laut aufgelacht: Wie schlimm konnte die Realität schon sein? Im Gegensatz zu den ständigen Augenringen? Der bleiernen Müdigkeit, weil ich kaum eine Nacht durchschlief? Der Angst vor neuen Bildern, die womöglich schlimmer waren als die alten?

Es war still, so unendlich still.

Der ganze Ort schlief, nur eine Eule rief irgendwo in die Dunkelheit hinein, ein anderer Vogel antwortete.

Mit einem geschickten Satz sprang ich auf den knorrigen Apfelbaum und kletterte den Stamm hinunter. Ich fluchte, als ich kurz darauf auszurutschen drohte, weil ich so ungeduldig war. Als ich nur noch knapp einen Meter über dem Boden war, ließ ich mich fallen. Das weiche Gras dämpfte das Geräusch meiner aufkommenden Füße ab. Sofort eilte ich zu den Sträuchern, wo ich mein Fahrrad versteckt hatte. Ich befreite es von Blättern und lächelte beim Anblick der Blumen, die ich im vergangenen Sommer zusammen mit Kai am Ufer des kleinen Sees am Dorfrand, dem Blauwasser, aufgemalt hatte. Dann schob ich es energisch über die Wiese hinter dem Haus, bis ich weit genug entfernt war, um mich in den Sattel zu schwingen.

Und mit jedem Meter, den ich die Magnolienallee hinter mir ließ, lockerte sich das enge Band um meine Brust ein Stück mehr. Weg von dem Haus mit seinen von der Sonne ausgeblichenen Pastellfarben und dem Porzellangeschirr im Nussbaumschrank, weg von den schweren Vorhängen und selbst gehäkelten Spitzendeckchen, weg von dem Gebäude, das einem Museum der Fünfzigerjahre glich, noch mehr aber einem Mausoleum. Die Magnolienallee 25, in der der Tod präsenter war als das Leben.

Mit dem festgeklebten Lächeln, den stets voluminös geföhnten Haaren und der Schürze mit den Rüschen war meine Mutter die Bewahrerin dieses Szenarios.

Eine Hüterin stillstehender Zeit des Jahres 1954.

Es war ein nasskalter Wintertag gewesen, als plötzlich dieser große hagere Mann mit dem löchrigen Mantel, begleitet vom eiskalten Wind, durch die Türe trat. Da war zwar fast so etwas wie ein Lächeln gewesen, als sein Blick auf mich fiel, er den Hut abnahm und gegen seine Brust knautschte, doch die Leere in seinen Augen hatte mir Angst gemacht. Das tat sie heute meistens auch noch. Trotzdem sollte dieser schweigsame Mann mein Vater sein. Doch anstatt dass das Leben nun endlich weiterging, stand es mit einem Mal so richtig still. Auch noch, als meine kleinen Schwestern Jahre später geboren wurden.

All das lag inzwischen fast mein ganzes Leben zurück, doch fremd war Papa mir in all der Zeit geblieben. Ich hätte gern gesagt, ein Schatten seiner selbst, aber woher sollte ich schon wissen, wer er einst gewesen war? Damals, Ende der Dreißiger? Jetzt sah ich nur noch einen gebrochenen Mann, der uns alle lieben wollte, es aber einfach nicht konnte, weil die Schrecken des Kriegs und der Gefangenschaft sein Herz zerfetzt hatten wie einst die feindlichen Geschosse seine Kameraden. Er war Offizier gewesen, doch das hatte ihm auch nicht geholfen.

Gott, ich wollte ihn ja verstehen, ich wollte es wirklich so sehr. Und wenn Papa nachts wieder einmal schreiend aufwachte und wir anderen davon geweckt wurden, war ich manchmal kurz davor, ihm von meinen eigenen Träumen zu erzählen. Ich stellte mir vor, dass Papa sich gewissermaßen verstanden fühlen würde und wir zum ersten Mal richtig miteinander sprächen, ich vollkommen seine Tochter wäre. Letztendlich verwarf ich den Gedanken jedes Mal wieder, weil es mir dann doch lächerlich vorkam. Meine Träume von Wasser und Ertrinken und Tod gegen sein Trauma – wenn ich es so betrachtete, erschien es mir respektlos.

Also schwieg ich.

Am Ende der Wiese angekommen, steuerte ich nun die Baumreihe an, diese dunkle Linie, die den Beginn des Kiefernwalds markierte. Und je näher ich kam, desto stärker vertieften sich die Schatten um mich herum. Wind strich mir um die Nase, es roch nach frisch gemähtem Gras und überreifem Obst, der Boden war uneben und voller kleiner Hügel. Alles schien wie immer und doch beschlich mich, nicht zum ersten Mal heute, das Gefühl, dass etwas Grundlegendes nicht stimmte.

Unwillkürlich trat ich schneller in die Pedale. Irgendwo hinter mir knackte ein Ast. Gleich noch einmal, lauter jetzt und das wilde Schlagen meines Herzens dröhnte mir in den Ohren. Nur ein Tier, nur ein weiteres Kind der Nacht – so wie ich.

Ich bin furchtlos,

ich bin unbesiegbar,

ich bin Kalliope,

betete ich mein Mantra hinunter. Immer und immer wieder, während ich mit Herztrommeln und Pedalwind durch den Wald flog. Altbewährte Wege, die ich im Slalom um schlanke und auch knorrige Baumstämme herum nahm, während der Mond über mir so dick und prall leuchtete, als wäre er eine überreife Frucht.

Das hier war die letzte Gelegenheit, irgendetwas Abenteuerliches zu erleben. Das Ende unserer Sommerferien, bevor Kai und ich die dreizehnte Klasse besuchen würden.

Als die Steigung zunahm und der Boden immer unebener wurde, umgriff ich den Lenker fester und drückte mich im Sattel hoch. Meine langen Haare flatterten im Wind, nahmen mir die Sicht und wehten dann wieder hinter mir her. Hinauf, hinauf, immer weiter hinauf, an der zerklüfteten Felswand einer alten, verborgenen Höhle entlang, und dann weiter und weiter. Schweiß sammelte sich auf meiner Stirn, doch ich fuhr nur noch schneller, weil ich auf keinen Fall zu spät kommen wollte.

Als ich kurz darauf das Knistern und Knacken eines Feuers bemerkte, machte sich an einem winzigen Punkt in meinem Bauch diese Nervosität breit, die ich am Ende des Schuljahrs zum ersten Mal bemerkt hatte. Dann war Kai den ganzen Sommer über weg gewesen, und ich hatte nicht mehr daran gedacht – bis jetzt.

Zuerst hatten wir uns noch regelmäßig Briefe geschrieben, uns erzählt, was wir während der großen Ferien erlebten. Mit einem richtigen Briefkasten statt eines rostenden Eimers. Kai und seine Brüder verbrachten die Zeit auf dem Hof seiner Großeltern am Bodensee. Der Großvater war unglücklich gestürzt und mit dem Bein unter das Rad seines Traktors geraten. Die Martin-Geschwister griffen der Großmutter, die den Hof vorübergehend auch ohne ihren Mann bewirtschaften musste, unter die Arme.

Im Juni hatte Kai von dem riesigen Haus, den Apfelplantagen und den Pferden geschwärmt, während ich mich über die endlose Langeweile und Prüderie unseres Dorfs beklagte. Ich beschrieb ihm Belanglosigkeiten bis ins kleinste Detail, denn ich konnte mich an keine Zeit erinnern, in der wir uns nicht jeden Tag gesehen hatten. Kai war immer die erste Person, der ich von meinen Gedanken und Erlebnissen erzählte. Vielleicht auch die einzige, denn Menschen und ich – das war irgendwie schwierig.

Nur in seinen Worten konnte ich mich verlieren. Jeder seiner Briefe enthielt irgendwelche Kai-Gedanken, selbst geschriebene Liedtexte, die er nur mir anvertraute, Neuigkeiten aus den Zeitungen, weil überall Spannenderes passierte als hier in Niemstedt.

Wir füllten Seiten mit den Nachrichten aus New York, mit allem, was man über den Aufstand in der Christopher Street hörte. In einer Bar mit homo- und transsexuellem Publikum, dem Stonewall Inn, hatte es eine Razzia gegeben, bei der sich zum ersten Mal eine große Gruppe gegen die Verhaftung durch die Polizei gewehrt hatte.

Und ich wusste nicht, was ich von diesen Menschen halten sollte. Von Frauen, die Frauen liebten. Von Männern, die Männer liebten. Von Frauen und Männern, deren biologisches Geschlecht ein anderes war. Ich hatte gelernt, dass all das abnormal war, von Gesetzes wegen eine Straftat – in der Schule und zu Hause. Im Radio und auf dem Fernsehgerät, das im Schaufenster des Tante-Emma-Ladens stand und mittlerweile sogar Bilder in Farbe zeigte. Ich verstand nicht richtig, warum es krank sein sollte. War es nicht auch ein offenes Geheimnis, dass sich Janis Joplin zu Frauen hingezogen fühlte?

In der Zeitung hatte ich das Blut, die Gewalt und den Hass in der Christopher Street gesehen, nur weil diese Leute sie selbst waren und dazu standen. Predigte Kais Vater in der Kirche nicht immer von Nächstenliebe? Davon, dass wir unseren Mitmenschen mit Zuneigung, Güte und Respekt begegnen sollten? Doch wie wichtig konnte dieser Gedanke in unserer Welt wirklich sein, wenn Menschen wie mein Vater wegen irgendwelcher mächtigen Männer in den Krieg ziehen mussten, um dann vollkommen gebrochen zurückzukehren?

Kai und ich schickten Brief um Brief quer durch West-Deutschland auf die Reise. Wir diskutierten darüber, was Liebe war und wie sie zu sein hatte. Kai schien sich an den Vorkommnissen im Stonewall Inn im Speziellen und dem Thema dieses Aufstands im Allgemeinen festzubeißen, und ich ging begierig darauf ein, weil unsere hitzigen Diskussionen mein Licht in diesem trägen Sommer waren.

Als am 20. Juli der erste Mensch auf dem Mond landete, saß die ganze Familie wie gebannt vor dem Radio in der Stereo-Truhe. Die Beschreibungen des Nachrichtensprechers und das Hintergrundrauschen wurden nur von Eratos piepsiger Stimme durchbrochen, ihre Fragen blieben jedoch unbeantwortet oder wurden mit einem Pscht abgetan. Vor allem Großmutter starrte minutenlang mit dem exakt selben Gesichtsausdruck auf das alte Radio, und ich dachte nur an Kai, Kai, Kai. An die Nacht, in der wir geboren wurden und die mit ihren Sternschnuppen eine magische gewesen sein soll. An unsere Faszination für den Himmel und das Licht des Mondes, in dem wir am liebsten mit den Fahrrädern durch den Ort fuhren. An das Glühwürmchen, unser Baumhaus aus Kindertagen.

Dort, inmitten der Bäume, schrieb ich am nächsten Tag zehn lange Seiten an Kai. Alle voll mit meinen Gedanken zu dem Mann auf dem Mond. Seine Antwort erhielt ich erst drei Wochen später. Ich war enttäuscht, so lange auf eine Reaktion von ihm warten zu müssen. Noch mehr aber darüber, dass der Umschlag lediglich eine Seite enthielt. Und waren Kais Briefe zuvor schon seltener geworden, wurden sie jetzt auch kürzer. Irgendwann fühlte es sich fast so an, als hätten wir uns nicht mehr sonderlich viel zu sagen. Er war auf dem Hof seiner Großeltern voll eingespannt, hatte sich mit einem Jungen aus dem Dorf angefreundet, und scheinbar gab es da auch ein Mädchen. Dass sich zwischen ihnen etwas anzubahnen schien, hatte er lediglich angedeutet.

Gestern Abend war Kai wieder zurückgekommen. Erst heute Morgen hatte ich ihn kurz gesehen, gegenüber an seinem Fenster stehend. Mit einem schiefen Lächeln hatte er mir zugewinkt. Es war nur ein winziger Moment, aber er hatte mich erleichtert ausatmen lassen, denn die Art, wie Kai sich durch die dunklen Haare strich, war so unendlich vertraut.

Und dennoch war da auch dieses Etwas aufgeblitzt:

Fremde.

Als wären diese Wochen in Wahrheit Monate gewesen, als wäre er auf irgendeine Art gereift und … erwachsener geworden. Als hätte Kai mich in der Zwischenzeit nicht nur an Körpergröße überholt.

Ich straffte die Schultern.

Dort war er, vorn in der Schlucht, wo der Weg im Nichts endete, wartete verdammt noch mal Kai auf mich. Der Mensch, der mein ganzes Leben lang schon bei mir war. Der Mensch, der mich wahrscheinlich besser kannte als ich mich selbst. Es gab überhaupt keinen Grund, nervös zu sein. Ich beschloss, den winzigen Punkt in meinem Bauch zu ignorieren, und hob mich aus dem Sattel.

Direkt vor mir, am höchsten Punkt über Niemstedt, wurde der Boden wieder eben und das Wäldchen lichtete sich. Ich lehnte das Fahrrad gegen den Stamm, an dem ich auch Kais rostiges Rad ausmachte, griff nach dem Rucksack im Korb und lief auf das Feuer zu, das zwischen den Baumstämmen immer größer wurde. Tieforange setzte sich die Glut von der Dunkelheit ab, während die Flammen sanft und doch unnachgiebig über den Himmel zu lecken versuchten.

Kai stand von mir abgewandt und hatte die Hände im Rücken verschränkt, als wäre er eine mystische Statue in der Nacht. Bluejeans und weißes Hemd. Klassisch, locker, so wie jeden Tag. Wahrscheinlich blickte er gerade über den Rand der Schlucht, die die kleine Lichtung begrenzte.

Die Ruhe, die von ihm ausging, faszinierte mich, seit ich denken konnte. Kai, wie er unbeweglich in die Ferne sah, versunken in seine ganz eigene Welt. Kai, wie er einfach innehielt und das Leben Leben sein ließ. Nicht so wie ich, die sich ständig getrieben fühlte. Stets auf dem Sprung und mit einem Fuß bereits im nächsten Abenteuer … oder einer weiteren Dummheit.

Mein bester Freund war immer schon schlaksig gewesen. In der neunten Klasse war er von einem Tag auf den anderen in die Höhe geschossen, und es war, als hätten seine Arme und Beine keine Zeit gehabt, sich an diesen neuen Körper anzupassen. Trotz seiner schmalen Statur fühlte ich mich in den Nächten, in denen das Meeresrauschen meiner Träume realer schien als alles andere, bei ihm am sichersten.

Ich trat aus der Dunkelheit. Und noch während sich die locker gemeinten Worte auf meinen Lippen formten, bemerkte ich, wie viel Ernst in ihnen mitschwang: »Ich dachte schon, dass wir unseren Geburtstag dieses Jahr getrennt feiern.«

2   ASTEROIDENSCHAUER

Langsam drehte Kai sich um. Der Schein des Feuers ließ eine Hälfte seines Gesichts im Dunklen, doch ich sah, wie sich sein anderer Mundwinkel leicht anhob. Kein Lächeln, aber die Andeutung davon.

Und ich entdeckte das kleine Grübchen in der linken Wange, das mich irgendwie beruhigte.

Ich dachte schon, dass wir unseren Geburtstag dieses Jahr getrennt feiern.

Lieber hätte ich gefragt: Wieso so knapp? Wieso dieses Mal anders?

»Du hättest mir den Kopf abgerissen.«

»O ja!« Ich grinste. »Hätte ich.«

Normalerweise wäre ich in diesem Moment die letzten Meter auf ihn zugerannt, um ihm in die Arme zu springen. Er hätte gelacht und ich auch, und dann hätte er sich mit mir im Kreis gedreht und ich gequietscht. So war es immer schon zwischen uns gewesen: nur echte Gefühle, nur Wahres, nur wir und niemals Dinge, für die man sich schämen musste.

Aber das Schweigen von Kais ungeschriebenen Briefen wog schwer. Etwas hatte sich verändert zwischen uns. Wie sollte ich ihn begrüßen, wenn nicht so wie sonst? Eine lange Umarmung? Eine kurze? Gar keine?

Doch ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, trat Kai schon auf mich zu, mit diesen langsamen Schritten, als hätte er alle Zeit der Welt und müsste sich jedes noch so kleinste Detail des Moments einprägen. Es war die Art, wie er an so ziemlich alles heranging. Vielleicht musste man sich diese Zeit auch einfach nehmen, wenn man das Jüngste von fünf Geschwistern war und stets damit rechnete, in der Menge unterzugehen oder übersehen zu werden. Zwischen den lauten Zwillingen, seiner Schwester Lizzie und dem Ältesten Andreas. Die Martins: Pastoren- und Vorzeigefamilie, und doch war es, als würde Kai dort nicht recht hineinpassen. Er hatte dasselbe dichte schwarze Haar wie alle anderen in seiner Familie, dieselben symmetrisch-schönen Gesichtszüge und auch die Güte, die jedem Martin anscheinend mit in die Wiege gelegt worden war. Kein Mensch konnte so gut sein, kein Herz so rein und golden wie seins.

In jeder Nacht, in der er nicht über meinen Schlaf gewacht hatte, war ich mir mit zunehmender Dunkelheit sicherer geworden, dass dieses eine Ereignis sich immer rascher näherte. Ein Ereignis, welches eine Wahrheit über meinen besten Freund enthüllen würde, die mir schon jetzt, da sie nur eine bloße Ahnung war, fast die Luft abschnürte.

Schnell schüttelte ich den Gedanken ab.

Eine Umarmung?

Oder keine?

Ich sah Schatten und glühendes Licht über Kais weiche Gesichtszüge flackern, dann fand ich mich schon in einer festen Umarmung wieder. Meine Wange lag an seiner schmalen Brust, die schlaksigen Arme hatte er um meinen Körper geschlungen, und doch fühlte es sich anders an. Die Hände schwerer, sein Griff irgendwie … stärker. Sogar der Abstand zwischen seinem Kinn und meinem Haaransatz hatte sich verändert. Doch als mir der Geruch nach Wald und Moos und Kai in die Nase stieg, wurde ich von einer Welle der Geborgenheit überschwemmt.

Kai und der Wald – sie beide waren für mich absolute Ruhepunkte voller Frieden und Magie. Orte, an denen eine Last von meinen Schultern rutschte und ich einfach existierte.

»Du warst echt lange weg«, flüsterte ich irgendwann und lehnte mich tiefer in diesen Moment hinein.

Du warst plötzlich ein anderer, hätte ich gerne hinzugefügt, doch ich biss mir auf die Zunge.

»Ich habe dich auch sehr vermisst, kleine Fee«, sagte Kai. Obwohl er die Worte mit dieser für ihn typischen Wärme sprach, spürte ich doch, wie sein Körper sich kurz versteifte.

Instinktiv wich ich zurück, und er schien mich fast schon erleichtert freizugeben.

Was geschieht da? Was stimmt auf einmal nicht mit uns, Kai?

»Sehr?«, wiederholte ich und ärgerte mich, dass ich wie ein quengelndes Kind klang.

Als wäre da gerade nicht dieser seltsame Augenblick gewesen, tauchte ein unbeschwertes Grinsen auf Kais Gesicht auf.

»Natürlich. Dir ist doch klar, dass ich nicht wüsste, was ich ohne dich machen sollte.«

Ich nickte, dann setzte ich mich an das Feuer und hielt die Hände den wärmenden Flammen entgegen. Es war zwar noch August, aber hier oben, nahe des Bachs, der in den Blauwasser floss, war es gerade nachts deutlich kühler. Das Feuer flackerte in tausend Nuancen von Gelb, Orange und Rot. Glut stieg auf und vermischte sich mit einer Unendlichkeit an Sternen.

So ähnlich stellte ich mir die Nacht vor achtzehn Jahren vor: unendlich klar, von Sternen erhellt und mit uralten Mythen, die im Nebel zwischen den Bäumen warteten. Das Knacken des brennenden Holzes gesellte sich zu den anderen Geräuschen des Waldes, zu dieser ganz eigenen Melodie, die nur zu dieser speziellen Zeit ertönte.

Kai kramte in seinem Rucksack, ich hörte es rascheln, dann klirren, schließlich schien er gefunden zu haben, was er gesucht hatte, und setzte sich neben mich. Was auch immer er gerade herausgeholt hatte – Kai stellte es so hin, dass ich es nicht erkennen konnte.

Die Beine streckte er von sich und lehnte sich auf die Handballen gestützt leicht nach hinten. Gemeinsam blickten wir erst auf das Feuer, dann über die Klippe. Und obwohl wir so nah am Abgrund saßen, fühlte sich dieser Ort nach einem Stück Freiheit an, weil man dem Himmel so viel näher war – zumindest war das normalerweise so.

»Noch drei Minuten«, sagte Kai feierlich.

So sehr ich unser Ritual auch liebte, war ich dieses Mal nicht mit ganzem Herzen dabei. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals ein sorgloses Kind gewesen zu sein, aber je älter ich wurde, desto weniger schienen Worte wie Unbeschwertheit oder Leichtigkeit zu mir zu passen. Noch siebzehn, gleich achtzehn, und dabei doch immer noch auf dieser Schwelle. Zwischen Jugend und einem Erwachsenenleben. Oder zwischen etwas ganz anderem?

Meinem besten Freund zuliebe blickte ich wie jedes Jahr mit den Worten: »Dieses Mal wird etwas geschehen« hinauf in den Himmel.

Magie, wie in der Nacht unserer Geburt. Daran hatten wir als Kinder geglaubt und wollten aus tausend Gründen weiter daran festhalten.

Wir sahen uns an und wie jedes Jahr erwiderte Kai: »Dieses Mal wird es Sterne regnen.«

Drei.

Und plötzlich war alles wie weggeblasen, was in diesem Moment nichts verloren hatte. Das eisige Pulsieren, das sich in manchen Augenblicken von meinem Herzen ausgehend in meinem Körper ausbreitete. Die Briefe und die Nicht-Briefe. Dieses Mädchen, über welches Kai nicht sprechen wollte, das mich aber zu ersetzen drohte.

Zwei.

Und mit einem Mal war da einfach nur Kai, mit dem ich mein ganzes Leben verbracht hatte. Keine Träume, keine Geister, keine Wasserfluten, sondern sein Gesicht mit einem Ausdruck, der mir so vertraut war.

Eins.

Und plötzlich galt mein einziger Gedanke dem Frieden und der Stille, nach denen ich mich in all den vergangenen Nächten so sehr gesehnt hatte. Ich spürte das Lächeln, noch ehe es sich auf meine Lippen stahl, und schloss kurz die Augen.

»Alles Gute«, raunte Kai, und ich riss die Lider auf. Ich war abgedriftet und hatte meinen Einsatz verpasst.

»Alles Gute«, kam es mir holperig über die Lippen. Wir hatten beinah jeden Geburtstag auf diese Weise miteinander verbracht und nun auch den achtzehnten. Ob es dieses Jahr Sterne regnen würde? Ob sich der Himmel auftun würde?

Hast du es ihr immer noch nicht gesagt?

Sie hat ein Recht darauf zu wissen, was ihr bevorsteht.

Seit ich diese Worte aufgeschnappt hatte, schien ich noch mehr auf ein Zeichen zu warten. Immer wieder hatte ich sie in meiner Erinnerung hin und her gewälzt und mich gefragt, was sie wohl bedeuten mochten. Doch ich war so jung gewesen und mir manchmal nicht sicher, ob diese Sätze tatsächlich so gefallen waren, oder ob ich sie mir zusammengereimt hatte. Nicht einmal Kai hatte ich davon erzählt. Und trotzdem warteten wir an jedem unserer Geburtstage auf ein Wunder. Etwas Aufregendes, das diesen verschlafenen Ort aus seiner ewigen Winterruhe riss. Mit den Blicken tastete ich den Himmel ab, betrachtete Sterne und Glutfunken und Sternenglutfunken.

Und dann?

Dann würden sich endlich all meine Wünsche erfüllen?

Dann würde ich mit meiner Stimme endlich dieses eine Lied erschaffen, das Vater zurückholte? Für ihn singen und aus uns allen eine Familie machen?

Plötzlich leuchtete am Rande meines Blickfelds etwas auf. Nicht der magische Asteroidenschauer, den ich wohl noch sehnsüchtiger erwartete als Kai, sondern ein bläuliches Schimmern. Ich drehte den Kopf und sah, wie es irgendwo über den Baumwipfeln den nächtlichen Dunst durchdrang und mit dem Himmel verschmolz.

Schon wieder breitete sich eine Gänsehaut auf meinen Armen aus. Sie kroch mir die Wirbelsäule hinab und wieder hinauf, als die Temperatur auf einen Schlag zu sinken schien. Wie hypnotisiert starrte ich auf das überirdische Blau, und Kais Name lag mir schon auf der Zunge, doch ein Blinzeln später war die Unendlichkeit über uns so tiefschwarz wie immer.

Ich schluckte.

Meine Nächte waren in letzter Zeit noch kürzer als sonst schon gewesen und immer häufiger waren die Bilder aus dem Wasser auch tagsüber aufgetaucht, wie ein Schatten, der mich begleitete. Die Angst meiner Träume saß mir tief in den Knochen. Kein Wunder, dass ich schon glaubte, Dinge zu sehen, die gar nicht da waren. Vor allem in einer Nacht wie dieser, in der ich jedes Gefühl für Zeit verlor.

Glücklicherweise riss Kai mich aus meinen Gedanken, indem er mich bat, mich ihm gegenüber zu setzen. Endlich zeigte er mir, was er vorhin aus seinem Rucksack geholt hatte.

Ich entdeckte einen dunklen Kuchen, der schon ziemlich lädiert aussah. Ganz so, als hätte auf dem Weg hierher etwas Schweres darauf gelegen. Vielleicht die zwei Teller mit den Blumenranken, auf denen Kai den Kuchen jetzt so gut es ging anrichtete. Auch die beiden Kerzen, die er mit einem entschuldigenden Lächeln hervorholte, hatten eindeutig schon bessere Tage gesehen.

»Hier.« Er reichte mir eine von ihnen. Obwohl sie schon halb abgebrannt war, wog sie schwerer in der Hand als gedacht. Kai sah unschlüssig zwischen den beiden Kuchenstücken und den schmalen Kerzen hin und her, seine Zähne gruben sich beim Überlegen in die Unterlippe.

»Ich habe das nicht zu Ende gedacht«, murmelte er.

Ich kicherte.

Im nächsten Moment bohrte Kai mit dem Zeigefinger ein Loch in jedes Stück, in das er dann die Kerzen steckte.

»So, da ist er. Dein Geburtstagskuchen.«

Zufrieden blickte er mich an.

»Äh … ich hoffe, du hast saubere Hände.«

Kai hob die markanten Brauen an.

»Schon gut, ich probiere ihn ja schon.«

Seltsam gerührt nahm ich das Stück Kuchen entgegen. Ich hatte es mir gewünscht, aber trotzdem nicht damit gerechnet: mit Kai, der wie immer war. Der sich sorgte, der mir so leicht ein Lächeln ins Gesicht zauberte.

Der Duft nach Schokolade stieg mir in die Nase. Meine Finger klebten sofort wegen der Glasur, die bereits bröckelte und sich auf Händen und Hose zu verteilen begann. Ich versuchte den Teller auf meinen Knien so gerade wie möglich zu halten, während Kai in seiner Hosentasche nach einem Feuerzeug suchte und die Kerze schließlich anzündete.

Der Kuchen schmeckte himmlisch. Nach Schokolade und Nüssen, fast ein bisschen nach dem langsam nahenden Herbst. Bestimmt hatte Frau Martin ihn gemacht. Ihre Backkünste waren im Ort berühmt und die Kirchenfeste wahrscheinlich auch deshalb jedes Mal so gut besucht. Sie war dieser eine Mensch, der auf alles eine Antwort oder einen Ratschlag hatte.

Gleichzeitig bliesen Kai und ich die Kerzen aus, danach tranken wir ein paar Schlucke von dem Wein, den ich aus dem Keller meiner Eltern hatte mitgehen lassen. Mama würde es mit Sicherheit irgendwann bemerken. Und sollte der Verdacht auf mich fallen, würde sie mir die Hölle heiß machen – doch dies war ein Problem für einen anderen Tag.

Der Wein schmeckte süß und herb zugleich. Beim ersten Schluck musste Kai ein bisschen husten. Ich klopfte ihm auf den Rücken, tat so, als hätte ich weit mehr Erfahrung damit als er. Kais Wangen färbten sich leicht rosa, und auch mir brannte die rote Flüssigkeit in der Kehle, doch von Schluck zu Schluck rann sie mir angenehmer den Rachen hinab. Ich hatte bisher nur zweimal Alkohol getrunken. So ganz geheuer war mir das nicht, aber es war irgendwie so … erwachsen. Und mit Kai zusammen fühlte es sich sicher an.

Ich fragte ihn nach seinem Sommer am Bodensee, nach all dem, was er in seinen Briefen unerwähnt gelassen hatte. Er erzählte von dem ständigen Streit zwischen den Zwillingen, mit traurigem Blick von dem veränderten Wesen seines Großvaters und mit lächelnden Augen von den Abenden, die dort auf dem Hof so viel ruhiger und beschaulicher gewesen waren als der ständige Trubel zu Hause.

Nachdem ich mir den letzten Krümel des Kuchens aus den Mundwinkeln gewischt hatte, stellte ich den Teller auf der Erde ab und zog mein Geschenk für ihn aus dem Rucksack. Ich hatte es unter einer lockeren Diele in meinem Zimmer versteckt und immer wieder hervorgeholt, wenn ich mich sicher wähnte. Hatte mir seine Reaktion ausgemalt, und nun war es endlich so weit.

Gespannt sah ich zu, wie Kai das Papier vorsichtig beiseiteschlug. Ich hätte es an seiner Stelle wahrscheinlich sofort aufgerissen, aber natürlich nahm er sich die Zeit.

Erst kam der Holzrahmen zum Vorschein, den ich für wenige Mark auf dem letzten Kirchenbasar gekauft und anschließend mit winzigen Noten bemalt hatte, dann das Foto: Kai und ich am Ufer des Blauwassers, klatschnass, mit hochroten Köpfen, weil wir uns kurz zuvor unerbittlich untergetaucht hatten.

»Das Bild ist von dem Sommer, in dem wir in die Zehnte gekommen sind«, erklärte ich überflüssigerweise und konnte dabei zusehen, wie sich Kais Wangen rötlich färbten.

Ich neigte den Kopf und versuchte die Fotografie mit seinen Augen zu betrachten: unsere Gesichtszüge, die kindlicher und doch gleich wirkten. Kai, der mich noch nicht so deutlich überragte wie heute. Er hatte den Arm fest um mich geschlungen, nackte Haut an nackter Haut, meine Brüste, die gegen seinen Oberkörper gepresst waren ….

Kai räusperte sich und ich lachte.

Ich war mir selbst nicht sicher, ob ich das damals wirklich nicht bemerkt hatte, weil die Erinnerung an diesen Sommer für mich im Vordergrund stand, oder ob ich es bewusst in Kauf genommen hatte, um Kai ein bisschen zu ärgern. Immerhin hatten wir jetzt 1969, die Welt veränderte sich. So kurz vor dem neuen Jahrzehnt war kein Platz mehr für Prüderie und Verklemmtheit – wobei meine Mutter wohl in Ohnmacht fallen würde, wenn sie wüsste, wie ich wirklich dachte, und auch darüber sprach.

Aber Himmel, wieso sollten Frauen und Männer denn nicht miteinander befreundet sein können? Diese Ansicht war mir schon immer schleierhaft gewesen.

Ich wusste nicht, warum, doch vor allem bei Kai redete ich gern erwachsen daher. Deswegen glaubte mein bester Freund auch, dass ich vergangenen Winter mein erstes Mal mit Samuel gehabt hatte. Dabei hatten wir zwar ein bisschen miteinander herumgeknutscht, aber mehr war nicht geschehen. Kai ging irgendwie davon aus, dass zwischen uns so ziemlich alles gelaufen war. Und aus welchem Grund auch immer, hatte ich ihn nie berichtigt, so gesehen handelte es sich auch um keine Lüge.

Samuel, der groß, attraktiv und schon an der Universität war – vielleicht gefiel mir der Gedanke, dass jemand wie er sich für mich interessierte. Aber dann war da auch mein süßer, schüchterner Kai, bei dem ich so sehr ich selbst sein konnte wie bei sonst niemandem auf der Welt.

»Danke«, sagte er schließlich, mit Wangen, die schon etwas weniger rot leuchteten. »Das ist eine schöne Erinnerung.«

»Gern.«

Und als ich Kais Geschenk entgegennahm, schluckte ich allein wegen der Form gerührt. Flach und viereckig – das konnte nur eine Schallplatte sein. Begierig und begleitet von Kais amüsiertem Lachen riss ich das Papier auf und rang nach Luft, als ich die Platte erkannte: Cheap Thrills von Big Brother and The Holding Company.

Ehrfürchtig strich ich über den oberen Rand, auf dem in Rot und Gelb Titel und Bandname geschrieben standen, dann über die einzelnen Comicbilder, aus denen sich das Cover zusammensetzte.

»Danke«, hauchte ich. »Aber … die muss doch wahnsinnig viel gekostet haben?«

Ich wendete die Platte hin und her, konnte es aber immer noch nicht ganz glauben, dass sie tatsächlich mir gehören sollte. Das zweite Album der Band war erst vergangenen Sommer erschienen – und das in den Staaten!

»Ich habe am Bodensee ein bisschen Geld von meiner Oma bekommen, weil wir so viel auf dem Hof geholfen haben. Und sie war günstiger, als du jetzt wahrscheinlich denkst.«

Ich war mir ziemlich sicher, dass Kai log, aber das rührte mich nur noch mehr. Ehrfürchtig strich ich über den bedruckten Karton, spürte den Abdruck des runden Vinyls darunter, glaubte schon die ersten Melodien hören und auf der Zunge schmecken zu können.

Seit ich mit sechzehn im Radio zum ersten Mal Aufnahmen vom Monterey-Pop-Festival gehört und danach die bunten Bilder in einigen Zeitungen gesehen hatte, war ich fasziniert vom Summer of Love und Janis Joplin. Die junge Sängerin mit den langen zerzausten Haaren und gemusterten Kleidern besaß eine Stimme wie ein Vulkan, vermischte gekonnt Soul-, Blues- und Folkelemente. Alles daran war hemmungslos und rau, denn sie sang im Namen einer neuen Generation. Und als Joplin sich von Big Brother and The Holding Company getrennt hatte, um ihren eigenen musikalischen Träumen zu folgen, weinte mein Herz nach kurzer Bestürzung vor Freude. So sah wahrer Mut aus!

»Wenn du Lust hast, können wir morgen zusammen reinhören«, schlug ich vor.

»Aber nur, wenn du nicht ständig zwischen den Liedern hin und her springst.« Er verzog gequält das Gesicht. »Ich kann unmöglich dabei zusehen, wie du diese Platte in den Tod treibst.«

»Mir ist nur ein einziges Mal eine Scheibe kaputtgegangen, und das hatte überhaupt nichts mit mir zu tun«, gab ich gespielt entrüstet zurück.

»Ach nein?«

»Vielleicht ein bisschen.«

»Sag ich ja«, zog Kai mich weiter auf.

»Hey, ich habe ein bisschen gesagt. Nicht gleich übermütig werden«, erwiderte ich. Dann wurde ich selbst wieder ernster und drückte Kai an mich. »Danke noch mal. Das ist wirklich das allerbeste Geschenk überhaupt.«

»Ich weiß.« Seine Mundwinkel kräuselten sich. »Und gern geschehen.«

Bei dir kann ich frei sein, dachte ich, aber was wird in einem Jahr sein? Werden wir einander dann noch etwas bedeuten?

Es gab so vieles, das ich hinter mir lassen wollte. Am allermeisten Niemstedt, wo ich mich immer schon gefangen gefühlt hatte, in meinen Gedanken und meinem gesamten Sein. In meinen Wünschen, wie ich als Frau in dieser Welt leben wollte, und in meinen Träumen von Musik, die Herzen berührte.

»Ich kann es kaum erwarten, dass das alles endet«, hauchte ich. Nur noch zwei Wochen, bis das nächste und damit letzte Schuljahr begann, bevor ich einen neuen Weg einschlagen konnte. Einen Weg, auf dem ich im Idealfall mehr Freiheit und Selbstbestimmung finden würde.

»Jedes Mal, wenn ich in unserem Schuppen bin, werde ich ganz hibbelig«, meinte Kai.

»Geht mir auch so.«

Mit dem alten Auto der Martins wollten wir nächstes Jahr, wenn die Schule vorbei war, losfahren – wobei Kai das Fahren genau genommen allein übernehmen musste. Ein Führerschein war teuer, ein Auto noch mehr. Und in der Regel saßen auch nicht die Frauen hinterm Steuer. Doch das war unwichtig. Hauptsache, wir hatten diesen Wagen, den Kais Eltern ihm zum achtzehnten Geburtstag versprochen hatten. Die einzige Bedingung war, dass er das Auto genau so bekam, wie es war. Er musste sich selbst darum kümmern, es wieder fahrtüchtig zu machen – kein Zweifel, dass Kai das problemlos hinbekam.

So war Kai eben: jemand, der anpackte. Ein Macher.

Wir hatten kein bestimmtes Ziel, wollten einen Sommer lang der Musik folgen, bis wir mit Sicherheit wussten, was wir danach mit unserem Leben machen wollten. Einfach ein Abenteuer wagen und nicht mehr zurückblicken. Den Liedern und Rhythmen hinterherjagen, die etwas Buntes in die Langeweile dieses Ortes gebracht hatten.

»Ich bin schon so gespannt, wo es uns hintreiben wird.«

Unwillkürlich tauchten Bilder der Blumenkinder vor mir auf. Von diesen jungen Menschen, die überall auf der Welt für Liebe und Gleichheit kämpften. Die in Scharen zusammenkamen, mit wehendem Haar und Blüten darin, die in bunten Bussen fuhren, nur das taten, was sie erfüllte.

Oder, wie Janis Joplin es in Summertime ausdrückte:

Eines Morgens

wirst du aufstehen, dich singend erheben.

Du wirst deine Flügel ausbreiten,

Kind, und den Himmel erobern.

»Ich finde es so verrückt, dass wir einige der Bands auf der Bühne sehen werden, deren Platten wir immer hören«, Kais dunkle Augen leuchteten auf.

»O ja. Und ich möchte auch unbedingt noch ans Meer«, träumte ich weiter.

»Aber … es gibt schon einige Dinge, die wir vorbereiten sollten.«

»Ach ja?« Ich lachte. »Was denn zum Beispiel?«

»Na ja, das Auto ist längst noch nicht fertig. Außerdem sollten wir uns zumindest grob überlegen, wo wir überall hinwollen, und eine geeignete Strecke finden, damit wir nicht so viele Umwege fahren müssen und der Tank nicht zu schnell leer ist. Und womöglich sollten wir auch wegen dem Geld schauen, ob –«

»Du musst dich echt ein bisschen lockermachen, Kai. So erleben wir doch nichts Spannendes. Ich weiß schon mein ganzes Leben, was als Nächstes passiert.« Ich schob die Unterlippe vor. »Gönn mir doch wenigstens auf unserer Reise ein bisschen Spaß.«

Kai murmelte irgendetwas Unverständliches vor sich hin.

»Hmm?«

»Na ja … findest du die Tatsache, dass wir einfach so losfahren werden, nicht auch irgendwie … beängstigend?«

Kai sah mich an und in diesem Moment wirkten seine Augen schwärzer als schwarz, und ich hätte am liebsten geschrien: Ja! Ja, verdammt, weil meine eigene Forschheit mich beinah schon überforderte. Weil das Danach ein Leben ohne meinen besten Freund sein könnte. Doch ich schwieg, natürlich schwieg ich, denn diese Furcht und Unsicherheit passte nicht zu der Kalliope, die ich sein wollte.

»Nicht wirklich …«, setzte ich zu einer Halbwahrheit an, brach aber ab, als Vaters Gesicht vor mir auftauchte. Ob ich es schaffen würde, die richtige Melodie für ihn zu finden? Ob er mich jemals auf die Art lieben würde, wie es zwischen Kai und seinen Eltern der Fall war?

Ich biss mir auf die Unterlippe, ehe ähnliche Gedanken sich zu Worten formten. Würde ich sie erst einmal mit Kai und dieser Nacht teilen, wären sie nicht mehr zurückzunehmen und so viel mehr Realität, als ich mir einzugestehen bereit war.

»Hör auf damit«, sagte Kai unvermittelt.

Ein Blick auf den ernsten Ausdruck in seinem Gesicht und ich wusste, dass ich vor ihm wieder einmal aufgeflogen war.

Verdammt.

»Womit?«, stellte ich mich dumm.

»Ich bin es.« Die drei Worte klangen so vorsichtig, dass ich nicht wagte entgegenzuhalten, dass Kai mir offenbar auch nicht mehr alles erzählte.

Stattdessen schluckte ich dieses seltsam bohrende Gefühl hinunter und antwortete das Ehrlichste, was ich aussprechen konnte. Das, was diese nervtötende Bitte-verlass-mich-nächstes-Jahr-nicht-Angst außen vorhielt: »Ich habe weniger Bedenken wegen dem, was kommt, sondern eher … wegen dem, was ich zurücklasse.«

»Aber genau das wolltest du doch immer, oder?«

»Ja, schon. Aber … weißt du, ich stand am Fenster, als deine Brüder und du … als ihr zurückgekommen seid.«

»Ich habe dich gar nicht gesehen.« Überrascht sah Kai mich an. »Wieso bist du denn nicht runtergekommen? Ich dachte schon, du bist gar nicht zu Hause.«

Ich hatte Angst, dir gegenüberzustehen und zu merken, dass wir uns nach diesem Sommer nichts mehr zu sagen haben.

»Mama wollte, dass ich ihr bei der Essensvorbereitung helfe«, meinte ich locker. »Ich hatte keine Lust und habe in meinem Zimmer herumgetrödelt und vorgegeben, dass ich noch aufräumen muss. Als ich euch sah, bin ich am Fenster stehen geblieben. Ich hatte es schon aufgemacht und wollte dich rufen, aber …«

Seufzend rieb ich mir über die Augen. Dass mir bei der Bewegung die langen hellbraunen Haarsträhnen ins Gesicht fielen und ihm so mein Ausdruck verborgen blieb, kam mir gerade recht.

»Aber?«

Das Wort war nicht mehr als ein Hauchen, das vom Wind davongetragen wurde.

»Aber ihr habt alle so glücklich gewirkt. Vor allem deine Mama.«

Sofort sah ich Frau Martin wieder vor mir, wie sie im Hauseingang stand. Sonnenstrahlen verfingen sich in der hellblauen Schürze, die um ihre schmale Taille gebunden war, und im Blumenkranz, der hinter ihr an der Tür baumelte. Sie lief die Stufen hinunter und eilte ihren Kindern entgegen. Die Zwillinge beschwerten sich lauthals über die feste Umarmung, Andreas tat lässig und versuchte das Lächeln zu verstecken, das Kai ganz offen zeigte.

»Ich hätte das Gefühl gehabt zu stören, und das wollte ich nicht. Es ist einfach … Ich glaube, in diesem Moment habe ich zum ersten Mal darüber nachgedacht, was es bedeutet, dass mir der Gedanke so leichtfällt, alles hier hinter mir zu lassen.« Ich lachte auf. »Ich meine, ich möchte raus, die Welt sehen und etwas erleben. Ich will da sein, wo Wichtiges geschieht und die Dinge sich verändern. Da, wo es echte Musik gibt. Aber dieser Ort? Ich hänge hier fest, verstehst du? Und fühle mich so eingeengt. Wenn ich sage, dass ich es kaum mehr erwarten kann, dann meine ich das auch genau so. Die Sache ist nur die … meine Familie. Ich habe kein Problem, sie zu verlassen. Es fühlt sich fast schon befreiend an.« Mit jedem Wort war meine Stimme leiser geworden, bis sie nur noch ein Flüstern war. »Und das macht mich so traurig. Ich will gar nicht darüber nachdenken, wie sehr. Ich habe immer so getan, als würde mir das alles nichts ausmachen. Dass meine Schwestern und ich nichts miteinander anzufangen wissen. Dass ich keine Ahnung habe, wer mein Vater eigentlich ist, und meine Mutter in mir nur irgendein weiteres Vorhaben sieht, wahrscheinlich eher eine Belastung. Auch sie kenne ich nicht wirklich. Verdammt, ich habe mir einfach so sehr gewünscht, dass wir eine Familie sind, aber jetzt ist es zu spät, denn die Zeit läuft ab.«

Ich traute mich kaum, Kai nach all diesen Worten anzusehen, doch als ich es tat, war da dieses langsame Nicken, als würde er genau jetzt und hier etwas Grundlegendes verstehen. Das Schwarz seiner Haare wurde fast eins mit dem Himmel, der Feuerschein erhellte nur sein Gesicht mit den perfekten Zügen. Und die sanfte Weichheit, die auch in seinen Worten mitklang: »Du hast so viel Leben vor dir und es werden wundervolle Dinge geschehen. Und vielleicht wird sich auch eure Beziehung zueinander verändern.«

Stumm schüttelte ich den Kopf.

»Ich glaube nicht, dass man plötzlich anfängt, jemanden zu lieben, den man vorher nicht geliebt hat. Und … wenn ich wegziehe und mein eigenes Leben lebe und dann zurück nach Hause komme …« Ich schluckte. »Da wird niemand so an der Tür stehen, wie es bei dir der Fall ist. Da wartet einfach niemand.«

»Ich schon. Ich warte immer auf dich.«

»Na ja … Aber du wirst dann ja auch nicht mehr hier sein, oder?«

Kai legte den Kopf schief und musterte mich: »Gib deiner Familie wenigstens die Chance, es richtig zu machen.«

»Komm schon«, schnaubte ich, »niemand von denen weiß, wer ich wirklich bin.«

»Und das liegt nicht vielleicht auch daran, dass du gar nicht erst zulässt, dass jemand so richtig an dich herankommt?«

»Na ja, so ganz stimmt das nicht.«

»Ach nein?«

»Einen Menschen lasse ich sehr wohl an mich heran«, sagte ich, woraufhin Kai den Kopf drehte. »Dich. Dich lasse ich an mich heran.«

Ein kurzer Moment der Stille,

dann:

»Meistens.«

»Meistens«, gab ich ihm grinsend recht, wurde aber sofort wieder ernst, weil diese

sanfte,

weiche,

vorsichtig tastende

Offenheit erschreckend guttat.

»Ich wünsche mir, dass es bis nächsten Sommer etwas zu vermissen gibt. Etwas, das ein bisschen wehtut, wenn ich – von wo auch immer – an unser Dorf zurückdenke.«

Ich löste meinen Blick von den Sternen und wandte mich Kai zu.

»Und du?«

Wind fuhr durch seine Haare und Kai versank sofort tiefer in seinem Pullover. »Ich wünsche mir, dass ich genau dort bin, wo ich sein möchte.«

Irgendetwas in seinem Blick hielt mich davon ab zu fragen, welcher Ort das sein sollte. Ob er sie meinte?

»Auf unsere Wünsche«, sagte ich schnell.

»Und darauf, dass die Sterne eines Tages fallen«, ergänzte Kai.

Ich stupste mit meiner Schulter gegen seine, und er antwortete auf dieselbe Weise. Und als ich vorsichtig ein Stück näher rückte und mich gegen ihn lehnte, zuckte er nicht zusammen. Dieses Mal legte er den Arm um mich und ich versteckte das Lächeln hinter meinen Haaren.

Ich war eingeschlafen, dicht an Kai gepresst und eingehüllt in Stille und Geborgenheit – so lange, bis mich das laute Krächzen eines Vogels weckte. Offensichtlich waren Stunden vergangen, denn inzwischen war es strahlend hell. Die Sonne stand an einem pastellblauen Himmel, und die Natur war bereits zum Leben erwacht.

Wie spät es wohl war?

Ich musste nach Hause, ehe irgendjemand mitbekam, dass ich mich wieder einmal hinausgeschlichen hatte. Meine Kleidung fühlte sich seltsam klamm an und Nebel lag noch über den Wäldern.

Verrückt, wie unterschiedlich die Welt einem in der Dunkelheit erscheinen konnte. In der Nacht hatten die Bäume riesenhaft gewirkt und der Himmel hatte für Sekunden geleuchtet. Jetzt war da die Wärme eines neuen Spätsommertags, der bald den milchigen Dunst über den Feldern vertreiben würde. Sattes Grün, wohin das Auge auch blickte.

Schnell packten Kai und ich unsere Rucksäcke, stopften alles hinein, was wir mit hier hochgenommen hatten. Schnell auf die Fahrräder schwingen und über die Abhänge und Wiesen bis zur Magnolienallee. Nicht zum ersten Mal freute ich mich, dass unser Garten direkt am Wald lag – so musste ich nicht ständig Angst haben, gesehen zu werden.

Kai und ich schwiegen während des gesamten Rückwegs, nur das Quietschen meines Rads durchbrach die morgendliche Stille. Und auch wenn ich gerade noch auf unebenem Waldboden geschlafen hatte, waren die Träume zumindest in dieser kurzen Nacht ausgeblieben. Vielleicht war das mein Geburtstagsgeschenk: eine Auszeit für meinen Körper, viel mehr aber noch für mein Herz und die Gedanken.

Das Fahrrad schob ich wieder zwischen die Büsche hinter dem Garten, dann verabschiedeten Kai und ich uns auf der Wiese zwischen unseren Fenstern.

Er blickte auf mich hinab, sah mich schon wieder einfach nur an. Leichter Wind zerzauste seine Haare. Eine einzelne dunkle Strähne strich über die kleine Narbe, die seine linke Braue teilte, seit er mit sechs Jahren von einem Baum gefallen war.

»Was ist?«, wollte ich wissen.

Kai wandte den Blick kurz ab, ehe er meinen wieder suchte.

»Hab einen schönen Geburtstag, Kalliope«, raunte er, und während ich den Baum zu meinem Zimmer hinaufkletterte und durch das Fenster stieg, fragte ich mich, ob seine Stimme immer schon so einen samtig dunklen Klang gehabt hatte. Himmel, wie konnte es sein, dass es nur einen Sommer gebraucht hatte, um den Jungen aus meiner Kindheit durch diesen … Fast-Mann zu ersetzen? Diesen Irgendwie-bald-Mann?

Am liebsten hätte ich mir sofort Cheap Thrills angehört, erst die B-, dann die A-Seite, weil ich Dinge aus Prinzip gern andersherum machte. Doch bevor alle aufstanden, sollte ich lieber noch eine Weile schlafen. Bevor ich mich nach unten zu einem Geburtstagsfrühstück setzen musste, auf das ich keine Lust hatte. Bevor ich mein Ich-bin-eine-brave-Tochter-Gesicht aufsetzte, was mir von Tag zu Tag schwerer fiel.

Die Platte in den Händen, fielen mir wieder die Augen zu. Der Schlaf kam mit Melodien und Rhythmen, mit Musik, die nur in meinem Kopf existierte. Auf den Schwingen der Töne wurde ich sanft davongetragen, und mein letzter Gedanke galt dem, was ich mir vergangene Nacht von den Sternen erbeten hatte.

Erst sehr viel später würde ich erkennen, wie gefährlich manche Wünsche sein konnten.

3   WENN DIE SEE RUFT

Und wieder rannte ich auf das Meer zu, obwohl ich es eigentlich gar nicht wollte. Obwohl alles in mir sich dagegen sträubte, war mein Körper offensichtlich anderer Meinung. Ganz gleich, wie fest mich die Angst auch umklammert hielt. Muscheln und spitze Steine bohrten sich in meine Fußsohlen, und ich eilte weiter über den feuchten Sand.

Über mir leuchtete der Mond groß und kugelig wie auch in all den Nächten zuvor. Wie auch sonst war er das Letzte, was ich sah. Dann war da nur noch Schwärze und Angst.

Und es war mein eigener spitzer Schrei, der mich hochfahren ließ.

Bum.

Bum.

Bum-bum.

Eben war ich noch auf den Meeresgrund gesunken, während mich stilles Sterben erfüllte, jetzt saß ich schweißgebadet in meinem Bett und schaffte es mit bebenden Fingern gerade so, das kleine Licht auf dem Nachtkästchen anzuknipsen.

Trotz der tröstlichen Helligkeit erblickte ich im ersten Moment nur die Schatten,

denn ich starb,

wieder und wieder,

jede Nacht aufs Neue.

Man sah es mir nicht an, man ahnte es wohl kaum, doch der Tod war seit meiner Kindheit mein ständiger Begleiter. Das Düstere, ja sogar das Dunkle. Das, was sich nicht erklären ließ, und das, was einen nachts wachhielt.

Während des Tages machten meine Dämonen mich furchtloser, in den Nächten jedoch waren sie alles, woran ich dachte. Instinktiv wanderte mein Blick aus dem Fenster, hinüber zum Haus der Martins und blieb an Kais Fenster hängen, in dem schon längst kein Licht mehr brannte. Natürlich nicht.

Nur ein Traum, es war nur ein böser Traum gewesen.

Mit immer noch pochendem Herzen schlug ich die Bettdecke zurück und stand auf. Dort, wo ich gerade noch gelegen hatte, schimmerten die Laken feucht. Früher hatte ich nach diesen Träumen die Bettwäsche immer hinuntergezerrt, hatte mich auf frisch duftende Überzüge legen wollen, die mir das Gefühl gaben, dass alles in Ordnung war oder sein würde. Doch inzwischen wusste ich, dass manche Dinge im Leben eben nicht zu ändern waren und die einzige Möglichkeit darin bestand, mit diesen nächtlichen Dämonen zu leben.

Auf Zehenspitzen schlich ich durchs Zimmer. Einerseits hatte ich Angst vor dem, was sonst noch in der Dunkelheit lauern konnte, andererseits war ich in der realen Welt Herrin meiner Gedanken und Taten. Hatte die Dinge unter Kontrolle.

Wassermassen.

Brennende Lungenflügel.

Schreie, die mir nicht über die Lippen kommen.

Sofort krampfte sich mein Herz wieder zusammen.

Das Knarzen meiner Zimmertür kam mir überlaut vor, das kleine Licht im Flur viel zu grell. Doch ich hatte es anmachen müssen, weil ich gerade jetzt Schatten noch weniger ertrug als vollkommene Schwärze. Die Treppenstufen ächzten unter meinen Schritten, und ich hielt einen Moment mit klopfendem Herzen inne, ehe ich weiter nach unten lief. Ich zitterte noch immer. Meine Haare waren ein wirrer Knoten auf meinem Kopf, einzelne Strähnen klebten mir genauso feucht an der Stirn wie das dünne Nachthemd auf meiner Haut.

Ich wollte unbedingt vermeiden, jemandem aus meiner Familie so über den Weg zu laufen. Weder Papas quälendes Schweigen noch Großmutters unheimliche Geschichten könnte ich gerade ertragen, genauso wenig wie Klios altkluge Kommentare oder Eratos ununterbrochene Fragen. Aber am allerwenigsten wollte ich Mama begegnen. Nicht wenn ich offensichtlich schon wieder Opfer meinerlebhaften Fantasie geworden war.

Früher, als ich ihr einmal weinend erzählt hatte, welche Bilder mich heimsuchten, hatte ich gehofft, sie würde mich tröstend in den Arm nehmen. Sie würde irgendein Heilmittel kennen, damit ich einfach nur ein ganz normales Kind sein konnte. Doch meine Mutter hatte meine Worte ignoriert, so wie sie auch Papas nächtliche Schreie verleugnete, sein Zusammenzucken bei lauten Geräuschen, die Leere in seinen Augen.

Vielleicht gab es doch etwas, das mich mit meinem Vater verband. Vielleicht gab es ein Band aus Dunkelheit, aus schlimmen Träumen und Dämonen, die uns beide immer wieder hinterrücks überfielen. Und diese Blicke, mit denen Mama uns beide bedachte. Die Art, wie sie um uns herumtänzelte und in anderen Momenten auswich, immer auf der Hut.

Ich konnte nicht verhindern, dass mir bei dem Gedanken ein schwerer Seufzer entwich.

Die meiste Zeit fühlte ich mich an diesem Ort, der mein Zuhause sein sollte, wie ein Fremdkörper. Und selbst wenn ich für einen Moment Geborgenheit empfand, merkte ich doch immer wieder, dass dies alles hier bloß eine Heile-Welt-Fassade war.

Unten angekommen durchquerte ich den großzügigen Flur mit all den gerahmten Fotos an den hellblauen Wänden, die uns sechs als glückliche Familie inszenierten. Vorbei am Wohnzimmer, aus dem man Großvaters alte Standuhr ticken hörte, auf Zehenspitzen an den Türen vorbei, hinter denen meine Eltern und meine Großmutter schliefen, bis hin zur Küche.