Wenn die Sonne glüht - Sophie Bichon - E-Book

Wenn die Sonne glüht E-Book

Sophie Bichon

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Beschreibung

Eine Zeit voller Umbrüche und Veränderung - kann auch die Liebe endlich frei sein?

Klio kann ihr Glück kaum fassen, als sie 1978 die Zusage für die Stelle als Assistentin bei einem renommierten Fernsehsender in Hamburg bekommt. Endlich kann sie, wie ihre Vorgesetzte Anni Winter, über das berichten, was sich gerade in der Welt tut. Doch als Klio ihrem Idol gegenübersteht, ist Anni ganz anders als gedacht: arrogant, kalt, herablassend. Nur langsam legt sie diese Maske ab, vertraut sich Klio an, und die beiden Frauen überschreiten gemeinsam immer mehr Grenzen. Schon lange war Klio bewusst, dass sie lesbisch ist, doch erst mit Anni kann sie ganz sie selbst sein. Trotzdem muss ihre Liebe ein Geheimnis bleiben. Und dann ist da noch die Familienlegende, die Klio eine verbotene Liebe prophezeit, die kein gutes Ende finden wird. Klio und Anni müssen kämpfen. Für ihre Liebe. Und für eine bessere Zukunft.

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Seitenzahl: 604

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DASBUCH

Klio kann ihr Glück kaum fassen, als sie 1978 die Zusage für die Stelle als Assistentin bei einem renommierten Fernsehsender in Hamburg bekommt. Endlich kann sie, wie ihre Vorgesetzte Anni Winter, über das berichten, was sich gerade in der Welt tut. Doch als Klio ihrem Idol gegenübersteht, ist Anni ganz anders als gedacht: arrogant, kalt, herablassend. Nur langsam legt sie diese Maske ab, vertraut sich Klio an, und die beiden Frauen überschreiten gemeinsam immer mehr Grenzen. Schon lange war Klio bewusst, dass sie lesbisch ist, doch erst mit Anni kann sie ganz sie selbst sein. Trotzdem muss ihre Liebe ein Geheimnis bleiben. Und dann ist da noch die Familienlegende, die Klio eine verbotene Liebe prophezeit, die kein gutes Ende finden wird. Klio und Anni müssen kämpfen. Für ihre Liebe. Und für eine bessere Zukunft.

DIEAUTORIN

Sophie Bichon wurde 1995 in Augsburg geboren. Dort studierte sie Germanistik und Kunstgeschichte, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Inzwischen lebt und arbeitet sie direkt auf dem bunten Hamburger Kiez, umgeben von Büchern und ihren geliebten Pflanzen. Sophie Bichon liebt lange Schreibnachmittage in Cafés, durchtanzte Nächte und Tage, an denen die Sonne scheint. In ihren Büchern schreibt sie nicht nur über die kleinen und großen Momente des Lebens, über Fehler und neue Chancen, sondern auch über die Liebe in all ihren wunderschönen Facetten.

Sophie Bichon

WENN DIE SONNE GLÜHT

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 12/2023

Copyright © 2023 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Hanna Bauer

Das Gedicht auf Seite 9 stammt aus: Bichon,

Sophie: Denn wir sind aus Sternenstaub gemacht.

Heyne Verlag, 2022.

Umschlaggestaltung: zero-media.net unter Verwendung

eines Composings aus verschiedenen FinePic®, München Motiven

Illustrationen im Innenteil: © Sophie Bichon

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN:

www.heyne.de

Für Kati und Dana.

Und für jeden Menschen,der die Angst kennt.

VORWORT

Liebe Leser*innen,

»Eigentlich ist es doch ganz einfach: Du hilfst mir bei meinen und ich dir bei deinen Ängsten«, spricht Klio es einmal Anni gegenüber aus. Sie lernen sich in einer Zeit kennen, die als Deutscher Herbst in die Geschichte eingehen wird. Eine Zeit, in der ein ganzes Land sich in Aufruhr befindet und die Tage dunkel sind.

Vor allem Klio muss dabei ihre ganz eigenen Dämonen bekämpfen. Es geht nicht nur um übergriffiges Verhalten und (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen, sondern auch um Queerfeindlichkeit und Angstzustände, die sich durch den ganzen Roman ziehen.

Mir ist es wichtig, dass ihr diese Dinge vor dem Lesen des Buchs wisst. Solltet ihr das Gefühl haben, dass diese Themen euch zu sehr an schlechte Erlebnisse erinnern oder gar triggern könnten, ist es völlig in Ordnung, an dieser Stelle erst einmal nicht weiterzulesen.

Ich wünsche euch eine wundervolle Zeit Ende der Siebzigerjahre. Lasst uns mit Klio tanzen gehen, bis die Sonne wieder glüht.

Eure Sophie

ERWACHEN

Noch seid ihr ein Königinnenreich hinter Glas,doch ein Teil von mir begreift:Euch mag ich auch.Euch und eure Herzen und eure Körper,die mich auf tausend Arten erregen− meine Seele und meinen Verstand.

Gedicht aus: Denn wir sind aus Sternenstaub gemacht von Sophie Bichon

GLITZERUNDSATURDAYNIGHTFEVER

Tiny Dancer von Elton John

Hotel California von Eagles

Night Fever von Bee Gees

Dancing Queen von ABBA

Stayin’ Alive von Bee Gees

Daddy Cool von Boney M.

Dancing In The Moonlight von King Harvest

Sultans Of Swing von Dire Straits

Right Down The Line von Gerry Rafferty

You Make Loving Fun von Fleetwood Mac

Spirits (Having Flown) von Bee Gees

You Make Me Feel Like Dancing von Leo Sayer

Do It Again von Steely Dan

How deep is your love von Bee Gees

It Never Rains in Southern California von Albert Hammond

Landslide von Fleetwood Mac

SO UNENDLICH WIE HIMMEL UND MEER

In den vergangenen Nächten war der Mond immer voller geworden, und ich bildete mir gern ein, dass er für mich allein so überirdisch leuchtete. Heute jedoch verschwand sein silbriger Schein hinter Wolken wie der Strandroggen im Nebel. Dunkelheit bedeckte die Inselküste und sandte mir eine erste Warnung die Wirbelsäule hinauf.

Meine Laterne schwankte im Wind. Mit jedem Schritt die Klippen hinab meinte ich, Stimmen im Meeresrauschen auszumachen, Melodien in Wellen und Gischt zu erkennen. Sie lullten mich ein und waren heute besonders laut und fordernd. Ich fröstelte. Zum ersten Mal lichtete sich der Schleier zwischen den Welten, und ich ahnte, was sie mir zu sagen versuchten.

Gefahr!

Kehr um oder stirb!

Jetzt oder nie!

Trotzdem lief ich der Brandung sehnsuchtsvoll entgegen und blickte auf den schwarzen Ozean hinaus. Wasser umspülte meine Zehen. Es wirkte aufgebracht. Wie Wildheit weit unter der Oberfläche, wie Ruhe vor dem Sturm, den ich nicht kommen sah.

Mit zitternden Händen stellte ich die Laterne im Sand ab. Sie versank ein Stück, warf orangefarbenes Licht auf die Dünen und die heranrollenden Wellen. Dort, wo sie auf mich wartete. Immer auf mich warten würde.

Als das Meer erst meine Waden, dann meine Schenkel umfloss, war das Wasser kalt und schwarz und fühlte sich so an, wie ich mir die Endgültigkeit vorstellte. Es war Wochen her, seit ich sie von meinem Platz über den Klippen aus inmitten der Fluten gesehen hatte. Wochen, seit ich ihr liebliches Gesicht zuletzt in den Händen gehalten hatte, auch wenn ich von Tag zu Tag gespürt hatte, wie sie mir mehr entglitt.

Und da setzte die Panik ein.

Nur die Unendlichkeit der See vor, die Insel hinter mir, und keine Spur von meinem Meermädchen.

Stattdessen schlugen dunkle Wassermassen über mir zusammen, und ein unerträglicher Schmerz schoss mir durch den Körper. Es war, als würde mir die Haut zerreißen und nichts als Fleisch und blanke Knochen freilegen. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, hatte keine Kraft zu schwimmen und sank einfach tiefer. Welle um Welle türmte sich auf und stürzte über mir zusammen. Meine Lunge brannte lichterloh, begleitet von einem letzten Schrei.

Und dann tauchte sie doch noch vor mir auf. Wunderschön in der Dunkelheit. Im Wasser, wo kein Oben oder Unten existierte, sondern nur Stille und Unendlichkeit.

Ich wollte auf sie zuschwimmen, doch da überrollte mich eine erneute Welle aus Schmerz. Ein ungewohnt bläulicher Schimmer überzog meine Haut, ich schrie wieder, nur um noch stärker durch den Ozean gewirbelt zu werden.

Sie sah mich voller Wissen aus diesen dunklen, animalischen Augen an.

»Was hast du getan?«, fragte ich voller Entsetzen.

»Nur das«, flüsterte sie mit den Wellen, »was notwendig war.«

Zum ersten Mal glichen ihre Lippen einem roten Schlund, einer klaffenden Wunde voller spitzer Reißzähne. Sie küsste mich, vielleicht fraß sie mich aber auch auf, verschlang mich bei lebendigem Leib.

Alles löste sich in Schwärze auf.

Frühling 1978

AUSZUGAUSANNISTAGEBÜCHERN

Geschrieben: Mittwoch, den 15. April 1964.

Glaube ja nicht, dass ich nicht mehr wütend auf Dich bin. Ich schreibe Dir aus reinem Egoismus. Ich schreibe Dir, weil ich keine andere Wahl habe und so unbedingt mit Dir sprechen muss. Weil mein Herz so gebrochen ist wie am allerersten Tag – und ich immer noch nicht weiß, ob Dir das nun egal ist oder nicht.

1   AUGEN IN DER DUNKELHEIT

Sie stand im Eingang des Lokals, um das ich nun schon die fünfte Nacht in Folge herumschlich. Rote Lippen und Dauerwelle in ähnlichem Feuerton. Die Zigarette elegant zwischen den Fingern und einen weißen Pelzmantel um den ausladenden Körper geschlungen. Oben ein Meer aus Fluffigkeit, unten nackte Beine und glänzende Plateaustiefel.

Meine Mutter hätte hinter vorgehaltener Hand gewispert, die Fremde sehe wie ein leichtes Mädchen aus, doch ich konnte in ihrem Auftreten und der selbstsicheren Pose nur Schönheit erkennen, nur Reizvolles. Unwillkürlich fragte ich mich, wie es sich wohl anfühlen mochte, mit einer Frau zu schlafen.

Mit jemandem wie ihr.

Mit ihr.

Nackte Haut und Körper an Körper.

Die Tür des Ladens schwang auf, woraufhin einige Besucherinnen hinaushuschten. Hinter dem Lachen und den von Alkohol geröteten Wangen bemerkte ich dieselben umsichtigen Blicke zu allen Seiten, die auch meine Schritte zur Madame stets begleiteten. Diesem Lokal, das sich wie so viele andere als Treffpunkt für besonders gute Freunde tarnte. Allein seine Existenz bewies, dass sich längst etwas in Aufruhr befand. Es hätte 1971 begonnen, mit Rosa von Praunheims Dokumentarfilm Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Gesellschaft, in der er lebt, raunte man sich zu. Mit Wut und Frustration in Schwarz-Weiß, mit der unterschwelligen Botschaft, dass die Zeit des Versteckens endgültig vorüber war und wir es selbst in der Hand hatten.

Seitdem hatte ich jede mehr oder weniger verschlüsselte Zeitungsannonce intensiv studiert, jedes Flugblatt gesammelt und jeden Hinweis begierig aufgesogen, der von anderen frauenliebenden Frauen zeugte. Und von ersten Zusammenschlüssen, die zu so etwas wie einer Bewegung werden konnten. Alles lief unter der Hand und nur, wenn man jemanden kannte, der jemanden kannte.

Lange Zeit war das genug gewesen, aber nun wünschte ich mir mehr. Deshalb hatte es mich erst vom kleinen Niemstedt in den Hörsaal und jetzt hinaus in die echte Welt getrieben, nach Hamburg.

Ich wollte dorthin, wo Geschichten geschrieben, wo über das Zeitgeschehen berichtet wurde – so wie in der schwulen Zeitschrift Rosa, die vor zwei Jahren in der Hansestadt gegründet worden war. Ich wollte endlich anderen Lesbierinnen begegnen, frei sein und die Einsamkeit niederkämpfen, die mich auch unter Menschen stets befiel.

Unbemerkt war ich einen Schritt aus dem Schatten hinausgetreten. Voller Sehnsucht und kribbeliger Vorfreude, weil ich mich doch nur überwinden musste, nur mutig sein und das tun, weshalb ich vor wenigen Tagen nach Hamburg gezogen war. Weshalb ich seitdem immer wieder die Dunkelheit abwartete, um durch St. Georg zu schleichen.

Die Rothaarige hob den Kopf und blickte in meine Richtung. Ich war einen Atemzug zu langsam, ehe ich einen Satz nach hinten machte – und mit dem Rücken gegen eine Hausfassade stieß. Wie wild schlug mir das Herz gegen die Brust. Ob die Fremde meine widerstreitenden Gefühle gesehen hatte? Ob sie ahnte, dass ich mich am Ende immer nach Hause und in ein neues Buch flüchtete, statt endlich ich selbst zu sein? Auch heute würde ich es nicht mehr wagen, das wusste ich jetzt.

Vielleicht ja morgen.

Oder am Tag danach,

in einer anderen Frühlingsnacht.

Ich sollte gehen, bevor ich mir hier noch weiter die Beine in den Bauch stand. Oder die schöne Frau herüberkam und mich fragte, weshalb ich sie derart gruselig aus der Dunkelheit heraus beobachtete. Ich war alles andere als auf den Mund gefallen, aber was ich darauf erwidern sollte … keine Ahnung.

Ich nahm den Weg zurück, den ich gekommen war. Und wieder schaute ich mich zu allen Seiten um, ob mich auch ja niemand sah.

Vereinzelt beleuchteten Laternen den Weg. Licht und Schatten wechselten sich ab, doch die Abstände schienen größer zu werden. Hinter schmutzigen Fensterscheiben vernahm ich vereinzelt Gelächter, jemand stöhnte laut auf – ob vor Lust oder Schmerz vermochte ich nicht zu sagen.

Ein Stück an der Alster entlang, deren Wasser tiefschwarz glänzte, dann zurück in die kleinen Häuserschluchten und über die Lange Reihe. Es war eine abschreckende wie faszinierende Atmosphäre, wenn die Drogen zum ersehnten Delirium führten und die Männer erschöpft waren von den Dingen, die sie sich erkauft hatten. Es war die Zeit, in der sogar St. Georg ein bisschen schlief, so kurz vor der ersten Dämmerung, wo Tag und Nacht unaufhaltsam aufeinandertrafen. Schon bald wurde es gespenstisch still. Der Nebel hing tief in den Gassen, nur meine Schritte hallten laut nach. Immer wieder sah ich auf meinem Weg das Plakat mit den Schwarz-Weiß-Bildern. Attentat in Karlsruhe, stand über den drei Gesichtern. Und mit jedem Mal wurde die Gänsehaut auf meinen Armen stärker.

Funk, Fernsehen und Zeitung – sie alle waren voll gewesen von der zunächst so harmlos wirkenden Szene eines Autos an der roten Ampel. Ein Motorrad hielt neben dem Wagen, und ehe das Licht auf Grün springen konnte, zog der Sozius eine Waffe und drückte mehrmals ab. Der Knall von Schüssen. Das Motorrad verschwand, und Generalbundesanwalt Siegfried Buback wurde von Passanten aus dem Auto gezogen. Er starb, genauso wie der Fahrer und seine Begleitung auf der Rückbank.

Sonnenberg. Klar. Folkerts.

Die Namen der mutmaßlichen Täter hatten sich tief in mein Gedächtnis gebrannt, weil der Mord, der Anschlag auf die Bundesrepublik, wie Bundeskanzler Schmidt es nannte, in aller Munde war. Die drei Männer wurden über die Grenzen hinweg gesucht, und immer lauter flüsterte man Rote Armee Fraktion. Innerhalb der letzten zwei Jahre war die Baader-Meinhof-Gruppe nach und nach gefangen genommen worden. Das Ende von Bomben, Terror und Tod. Als man Ulrike Meinhof vor einem Jahr erhängt in ihrer Zelle fand, hatte Mama die Zeitung beiseitegelegt und mich ernst angesehen: »Terrorismus hört nicht einfach so auf.«

Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus. Ich bemerkte erst jetzt, dass ich stehen geblieben war, direkt vor dem Plakat an der Straßenlaterne. Die drei Männer blickten mich direkt an. Unnatürlich fest, Unheil verkündend. Schnell lief ich weiter, und es war, als würden ihre Blicke mir folgen.

Mein Herz schlug fester. Es jagte Blut durch meine Venen und sprach von Gefahr. Natürlich war ich mir darüber im Klaren, dass ich um diese Zeit nicht allein unterwegs sein sollte. Schon gar nicht in solch einer Gegend. Und trotzdem liebte ich die dunklen Stunden, weil sie Schutz für mein Denken und Fühlen boten. Paradox? Vielleicht.

Am Hansaplatz angekommen, atmete ich erleichtert aus. Ich hetzte vorbei an dem Etablissement, in dem Jungen ihre Dienste anboten, den Blick auf den Asphalt gerichtet. Sobald ich die Prostituierten an ihren gewohnten Plätzen stehen sah, wusste ich, dass ich gleich zu Hause war. Der opulente Brunnen in der Mitte warf lange Schatten über den Platz. Die Dunkelheit erschien mir jetzt noch schwärzer, und ich dachte an die Augen auf Papier. Es war Instinkt, ein Urinstinkt ganz tief in mir, der mich antrieb, größere Schritte zu gehen. Ich machte einen großen Bogen um die letzten Menschen, die nach Hause wankten, und huschte in die Rostocker Straße. Jeder Schritt länger als der vorherige. Mit bebenden Fingern umfasste ich den Schlüsselbund in meiner Manteltasche, wie ich es gelernt hatte – meinen Rettungsanker –, nur um ihn einen Wimpernschlag später wie aus weiter Ferne auf dem Asphalt aufkommen zu hören.

Die Welt zersplitterte in einzelne, endlose Sekunden.

Adrenalin flutete meinen Körper. Ich dachte an alles und nichts, spürte bloß die fremden Hände auf mir und einen metallischen Geschmack im Mund. Mit dem Rücken wurde ich grob gegen einen Körper gedrückt, Finger schoben sich über meinen Mund – und schon befand ich mich in einer Nebengasse, weit weg vom rettenden Licht. Wurde in die Dunkelheit geschoben, geschoben, geschoben.

Dunkelgoldenes Feuerhaar tauchte vor meinen Augen auf, die Friedlichkeit meiner Heimat fernab der Großstadt, die Jahre an der Universität und das Diplom, auf das ich hingearbeitet hatte. Alle Entscheidungen, die dazu geführt hatten, dass ich nun hier in Hamburg, in diesem Viertel, in diesem Moment war. Einst mein größter Traum, jetzt ein Nachtmahr.

Ich wollte schreien, doch ich konnte meine Lippen nicht bewegen, brachte sie einfach nicht auseinander. Panik flutete meine Sinne. Ich versuchte mich irgendwie aus dem Griff zu befreien, strampelte und schlug. Meine Brille rutschte ein Stück über die Nase.

»Halt still!«, erklang es dicht an meinem Ohr, schwer und alkoholgetränkt.

Mir gefror das Blut in den Adern. Grob zerrte der Mann an meinem Mantel, betastete das Kleid darunter und fixierte mich mit den Beinen so an der Wand, dass ich mich unmöglich rühren konnte.

Tränen schossen mir in die Augen.

Nein, nein, nein.

Das hier war real, es geschah wirklich. Licht und Schatten spielten mit mir, tanzten um mich herum, bis ich Oben und Unten nicht mehr klar benennen konnte. Alles bloß ein Strudel aus Empfindungen und Angst und Panik und dem Hämmern meines Herzens. Sein Takt begleitete diese eine Erinnerung, die in Wahrheit aus tausend gleichen Augenblicken bestand. Ein Kaleidoskop aus Sommerflirren und Blätterrauschen. Meine Hände waren mit denen meiner Schwestern, die linke mit Kalliopes, die rechte mit Eratos verschlungen. So rannten wir über die Wiesen hinter dem Haus, während die Sonne in unserem Rücken glühte und sanft tiefer sank. Ein Moment in Dauerschleife, der mich wissen ließ: Mit meinen Schwestern an meiner Seite machte all das Gute und das Schlechte des Lebens mit einem Mal Sinn. Ich hatte genug Kraft für alles auf der Welt.

Nein, nein, nein,

entschied ich wegen der beiden und für mich.

Mein Körper wand sich und kämpfte und schrie. War nicht bereit, das hier einfach hinzunehmen. Verzweifelt biss ich so fest ich konnte in die Finger vor meinem Mund. Sie schmeckten nach Schweiß und Blut und Dreck. Trotzdem bohrte ich meine Zähne immer tiefer hinein.

Und dann war da Luft,

rettende, befreiende Luft, die meine Lunge flutete. Für einen Moment gelang es mir, mich zumindest so weit loszureißen, dass ich schreien konnte. Um Hilfe, um Beachtung, um ein Wunder, das mich aus dieser Situation reißen würde.

Meine Lunge brannte noch mehr als meine Muskeln. Weg, ich musste weg. Verschwommene Sicht durch dreckige Brillengläser. Er torkelte, und ich nahm die Beine in die Hand, wollte in die Gasse zurückrennen. Ein Luftholen, ehe ich stolperte oder fiel, zu Boden gerissen wurde. Ich schlug mir die Knie auf. Blut und Kiesel und stechender Schmerz, und ich robbte über den Boden.

»Du Miststück«, zischte er wütend, als er sich mit seinem ganzen Gewicht auf mich legte.

Er zog an meinen Haaren. Mein Kopf wurde nach hinten gerissen. Ein ziehender Schmerz fuhr mir durch den Nacken. Ich fühlte mich hilflos, so scheiß hilflos, und im nächsten Moment lag die Hand noch fester als zuvor auf meinem Mund. Das Klicken einer Gürtelschnalle, das Rascheln einer Hose waren die wohl beängstigendsten Geräusche meines bisherigen Lebens.

»Ich mag es, wenn meine Mädchen wild sind«, lallte er in meinem Rücken. »Aber übertreib es nicht.«

Und mit diesen Worten versiegte auf seltsame Weise jedes Gefühl. Ganz so, als würde ich meinen Körper verlassen. Nur darauf hoffend, dass es möglichst schnell vorbei wäre.

»Lass sie sofort los!«, ertönte es.

Das Gewicht auf mir verschwand, und ich sackte zusammen, hörte mein Herz überlaut schlagen, ein Rauschen in den Ohren, das alles andere übertönte. Das Brüllen, das Fluchen, die schnell verschwindenden Schritte. Tief atmete ich ein, atmete aus, versuchte mich irgendwie zu beruhigen. Doch das Gefühl der fremden Hände auf meinem Körper blieb. Das Gefühl, mich nicht mehr bewegen, nicht mehr entscheiden zu können. Keine Kontrolle zu haben.

Ich schluchzte auf, unfähig, mich zu rühren. Da schoben sich zwei Beine in mein Sichtfeld, die in eleganten Schuhen steckten.

Die Stimme, erinnerte ich mich.

Der, der mich gerettet hatte. Oder der, der nur ein anderes Übel war.

Der Mann streckte mir eine Hand entgegen. Ich zögerte, doch was hatte ich schon für eine Wahl? Ich ließ mich hochziehen. Und noch ehe ich mich der Berührung entziehen konnte, machte der Fremde einen Schritt zurück. Erleichtert atmete ich aus.

Ich blickte in ein schmales Gesicht mit scharfem Profil. Der Zug um seinen Mund verriet, dass er hart arbeitete, die Hände aber waren überraschend weich und gepflegt.

»Ich habe Ihre Schreie gehört«, erklärte der Mann. »Geht es Ihnen gut?«

Ich strich meinen Rock glatt und sprach erst, als das Beben langsam nachließ. »Es ist nicht so weit gekommen, falls Sie das als Nächstes fragen wollten.«

Einen Moment studierte er mein Gesicht, dann reichte er mir meinen Schlüsselbund – wieder darauf bedacht, mich nicht anzufassen. »Ich vermute, der hier gehört Ihnen.« Er räusperte sich. »Wenn Sie erlauben, würde ich Sie gern nach Hause bringen. Nach dem, was ich gerade gesehen habe, kann ich Sie unmöglich guten Gewissens allein lassen.«

Ich wog seine Worte ab. Er war größer als ich, schlank, aber muskulös. Eine Gefahr. Irgendetwas an seinem jungenhaften Gesicht und seiner Höflichkeit aber ließen mich tatsächlich auf das Angebot eingehen. Mein Herz schlug immer noch wie wild in der Brust. Vielleicht war dies die nächste dumme Entscheidung, aber die Vorstellung, die letzten Meter ohne jemanden an meiner Seite zu gehen, fühlte sich weitaus schlimmer an. Was, wenn mein Angreifer noch in der Nähe war?

Wir schwiegen bis zu dem dreistöckigen Haus in Mintfarben. Beim Anblick der schiefen 16 neben der Tür sackte mir das Herz ab. Das hier mochte seit nicht einmal einer Woche mein Zuhause sein, aber in meinem Kopf war das noch nicht angekommen. In mir wallte Heimweh auf und der Wunsch, Mama möge dort mit Schürze und Zigarette zwischen den Lippen auf mich warten und mir versichern, alles werde gut.

Ein leichter Lichtstreifen fiel unter der Tür hindurch auf die Straße. Ich wollte mich gerade von meiner Begleitung verabschieden, irgendetwas sagen, vielleicht Danke, da zückte der Unbekannte zu meiner Überraschung seinen eigenen Schlüssel und sperrte auf.

Im Flur stand meine Vermieterin Bärbel. Eine Matrone inmitten ihres Sammelsuriums von Trödel und Kuriositäten, die sich in jedem Winkel des Hauses, ja sogar in meiner winzigen Wohnung, finden ließen.

»Schorschi?«, fragte sie mindestens so verwirrt, wie ich mich fühlte. »Was machst du denn hier? Bist du nicht gerade erst gegangen?« Ihr Blick fiel auf mich. »Ach Gott, Kindchen … Was ist passiert? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

Schlimmer, schrie es in meinem Kopf. Einen Menschen aus Fleisch und Blut.

Innerhalb von Sekunden war Bärbel bei mir und legte einen teigigen Arm um meine Schultern. Im ersten Moment zuckte ich wegen der Berührung zusammen. Dann war da wieder das Heimweh, Bärbels beherzte Art, und all die Anspannung fiel von mir ab. Auf einen Schlag fühlte ich mich leer und schwach. Sie schob mich den schmalen Hausflur entlang – vorbei an dem Geweih, der archaischen Tigerskulptur, auf deren Kopf ein senfgelber Lampenschirm thronte. Die Schlüssel an Bärbels Gürtel klirrten bei jedem Schritt.

Zwei einander gegenüberliegende Wohnungen je Stockwerk vermietete sie, diese hier unten am Ende des Gangs hatte sie jedoch selbst bezogen. Ohne ihren Arm von mir zu lösen, sperrte sie auf und schob mich sanft ins Innere. Obwohl ich die Räume zum ersten Mal betrat, schaute ich nicht nach links oder rechts. In der Küche wurde ich auf einer Eckbank platziert. Kühle Finger tupften den Dreck von meinen Knien und legten mir eine warme Decke um die Schultern. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie kalt mir mit einem Mal war.

Und ich wiegte mich hin und her, begann die Ringe auf dem Holztisch zu zählen. Bärbel und Schorschi, wie sie den fremden Mann genannt hatte, unterhielten sich währenddessen mit gedämpften Stimmen im Flur. Ich blendete sie aus, blendete alles aus. Nichts war wichtig außer der Luft, die in regelmäßigen Zügen in meine Lunge floss.

Irgendwann steckte Schorschi den Kopf zur Küche herein und hob seine Hand zum Abschied. Ich wollte etwas sagen, bekam aber den Mund nicht auf. Vielleicht, weil es das Geschehene wirklicher machen würde. Zu schnell war der Moment vorbei, und die Haustür fiel ins Schloss. Bärbel griff beherzt nach dem Teekessel, befüllte ihn mit Wasser und setzte ihn auf den Herd.

»Wer ist der Mann, mit dem ich gekommen bin?«

Bärbel drehte sich um. »Schorschi?«

Ich nickte.

»Er wohnt auch hier. In der Wohnung direkt gegenüber von dir.«

Ich war überrascht.

Mittlerweile kannte ich die alte Dame aus dem zweiten Stock, die stets schwarzen Pelz trug und sich selbst Die Baronesse nannte. Hatte die stillen Zwillinge auf ihrer Ebene zumindest schon einmal gesehen. Ich wusste von der Frau aus der dritten Etage, deren Katze vor Kurzem ausgebüxt und in meiner Wohnung gelandet war, genauso wie von dem Jungen ihr gegenüber, der bei mir nach Eiern gefragt hatte.

Auf meiner Etage, der ersten, hatte ich nie jemanden kommen oder gehen sehen. Und die schweren Schritte, die meist erst in den frühen Morgenstunden auf dem Gang zu hören waren, schienen so gar nicht zu Schorschi zu passen.

Bärbel deutete meine Miene offenbar falsch.

»Keine Sorge. Der Junge ist ein Goldstück. Vor ihm musst du dich nicht fürchten.«

Der Tonfall meiner Vermieterin verriet mir, dass er ihr erzählt hatte, was vorgefallen war.

»Ich habe keine Angst vor Schorschi.«

Der Teekessel pfiff. Kurz darauf stellte Bärbel eine Tasse vor mir ab und setzte sich zu mir. Ein Teebeutel trieb im heißen Wasser. Es roch billig nach Früchten und Aromen, und ich beobachtete fasziniert, wie das Rot die Flüssigkeit färbte.

Ich wickelte die Schnur um meinen Zeigefinger und bewegte sie auf und ab, sodass der Beutel immer wieder in das Wasser eintauchte und winzige Wellen schlug. Wie in meinem Kopf, in dem die Ereignisse der vergangenen Stunden umherwirbelten.

»Wenn du darüber sprechen möchtest, bin ich da«, versprach Bärbel mir ernst.

»Du hast jetzt schon so viel für mich getan«, flüsterte ich ausweichend und dachte an die fällige Miete.

Wieso fühlte ich mich schuldig wegen dem, was geschehen war? Weshalb war da dieses eklige Gefühl in meinem Bauch?

»Ach was.« Bärbel winkte ab. »Du zahlst mir das Geld eben, wenn dein erstes Gehalt da ist. Ich möchte Menschen einfach eine Chance geben. Die Welt ist doch so schon hart genug.«

Das Mitgefühl in ihren hellen Augen traf mich wie ein Fausthieb. Übelkeit stieg in mir hoch, als ich an den fremden Körper dachte, der sich gegen meinen presste. So ganz anders als die leidenschaftlichen Berührungen, die ich mir kurz vorher noch ausgemalt hatte.

Wenn ich nur eine günstige Wohnung in einem anderen Viertel gefunden oder heute Nacht zumindest einen anderen Weg gewählt, vielleicht auf die Schuhe mit den Absätzen oder das Glitzerkleid verzichtet hätte.

»Es war so … Ich habe mich so hilflos gefühlt«, stieß ich hervor, musste den Blick aber beschämt abwenden.

»Hör mir gut zu«, sagte Bärbel und griff nach meinen bebenden Händen. »Es ist nicht deine Schuld. Es ist niemals deine Schuld. Du warst zur falschen Zeit am falschen Ort. Aber es gibt nichts, was du hättest anders oder besser machen können. Es gibt zu viele Unmenschen dort draußen. Und leider Gottes ist das eine Erfahrung, die wir Frauen alle früher oder später erdulden müssen.«

Tief im Inneren wusste ich, dass Bärbel die Wahrheit sprach. Aber erdulden?

»Ich muss zur Polizei gehen.«

Sie zog eine Augenbraue in die Höhe. »Du kannst es versuchen.«

»Das hat nichts mit Versuchen zu tun«, sagte ich nun bestimmter.

»Und was wirst du denen sagen?«, wollte sie wissen.

»Genau das, was vorgefallen ist«, erwiderte ich.

Und da dämmerte es mir langsam selbst. Mein Weg durch das Bahnhofsviertel und seine schmuddeligen Ecken, die Mädchen am Hansaplatz, die Nähe zur Langen Reihe, von der alle wussten, dass dort mehr Homosexuelle als sonst wo die Liebe suchten. Nichts davon machte mich zu der Art Frau, der man zu Hilfe eilte.

Trotzdem straffte ich die Schultern und sah meine Vermieterin an. Vorgeschobenes Kinn, stolzer Blick.

»Menschen wie … uns wird nicht geholfen. Zumindest müssen wir sehr viel Glück haben, damit das passiert.« Sie tätschelte mir die Hand, und die mütterliche Geste ließ mich schlucken. »Manchmal ist Sicherheit wichtiger als Gerechtigkeit.«

Wir sahen uns an, und keine von uns sprach es aus, doch: Wir hatten uns erkannt.

Bärbel erhob sich, dann drückte sie noch einmal meine Hand. Sie holte etwas aus dem Kühlschrank hervor, kurz darauf tauchte ein prächtiges Stück Kuchen vor mir auf.

Die Geste rührte mich und erinnerte mich an meine Großmutter, die auch stets mit Tee und Gebäck versucht hatte, alles ein bisschen besser zu machen. Seit zwei Jahren verging kein einziger Tag, an dem ich sie nicht schrecklich vermisste.

»Ich versuche mal, noch ein paar Stunden zu schlafen«, meinte Bärbel und erhob sich. »Bleib ruhig hier. Nimm dir so viel Kuchen, wie du willst. Und zieh einfach die Tür hinter dir zu, wenn du nach oben gehst. Du kannst aber auch im Wohnzimmer auf der Couch schlafen.«

Ich lächelte dankbar.

Bärbel warf mir einen letzten Blick zu. Es sah aus, als wollte sie noch etwas sagen, doch dann nickte sie mir nur noch einmal zu und verschwand.

Obwohl sie sich so herzlich um mich kümmerte, wurde ich die Gänsehaut nicht los. Seit dieser Mann mich gepackt hatte, glühte eine unangenehm brennende Hitze in meinem Körper. Mir schwindelte immer noch, wenn ich die Augen schloss.

Ich saß noch lange da und blätterte in der letzten Ausgabe des Hamburger Abendblatts. Als ich die leere Tasse schließlich in die Spüle stellte, begann es zu dämmern. Doch heute fühlte sich das kommende Licht nicht wie Sicherheit an. Kein Funken von der warmen Friedlichkeit, in die die Sonne jedes Wiesenrennen mit meinen Schwestern, Mamas und Omas Gesichter, jeden Moment mit Papas Händen am Plattenspieler, jedes Vor-seinem-Tod tauchte.

Was ich in der Nacht erlebt hatte, was mir beinah angetan worden wäre, hatte tiefe Spuren in mir hinterlassen. Womöglich war es aber auch nur die Tatsache, dass wir Menschen über die Jahre an unseren Erinnerungen feilten, bis sie glänzten, ja, beinah übersinnlich flirrten.

Zum ersten Mal seit Jahren erlaubte ich mir den Gedanken an das Düstere, das meine Familiengeschichte in Wahrheit umgab. An all die unheimlichen Geschichten, die Großmutter meinen Schwestern und mir immer erzählt hatte. Allen voran die Legende von Linnea und Eskil, unserer Ahnin und dem Prinzen aus dem Meer. Sie verliebte sich in ihn, nachdem er sie aus den Fluten gerettet hatte. Und weil sie dem Ozean damit nicht nur einen Teil von ihm, sondern auch noch drei Kinder stahl, die zur einen Hälfte dieser Urgewalt gehörten, begann ein Fluch über Linneas Nachfahrinnen zu wirken. Seitdem wurden alle hundert Jahre drei Schwestern geboren, die Linnea gleich einmal im Leben die große Liebe finden sollten. Die Erste eine außergewöhnlich tiefe, die Zweite eine wahrhaft verbotene und die Dritte eine besonders leidenschaftliche. Sie alle würden ihren Liebsten für immer verlieren. Und am Ende würde nichts zurückbleiben, bis auf Unheil, Schmerz und Tod.

Obwohl ich mich weigerte, an diesen Fluch zu glauben, erschienen mir die dunklen Fäden von Linnea und Eskils Geschichte in diesem Augenblick seltsam real. Beinah fühlte sich das Erlebte wie der schreckliche Auftakt von etwas Größerem an. Vor den Fenstern ließ die Sonne, sonst stets Wächterin meines Schicksals, die Ränder des Himmels glühen und ich griff instinktiv nach dem Anhänger an meiner Kette, welcher ihr Ebenbild war.

Ich war die Sonnengeborene,

und wer Licht im Herzen trug, hatte keine Angst.

2   PRILBLUMEN UND FLIEDER

Wenige Stunden später warfen mir die Spiegel des Fahrstuhls mein Gesicht tausendfach entgegen. Die Wangen waren gerötet, die kurzen Locken standen wie immer wild vom Kopf ab und fielen mir vereinzelt in die Stirn oder kringelten sich um das Gestell der Hornbrille. Ich schenkte mir ein Mutmach-Lächeln, einen festen Du-bist-eine-Kämpferin-Blick.

So recht gelingen wollte es mir jedoch nicht. Sobald ich die Lider schloss, und sei es nur für einen kurzen Moment, spürte ich den groben Griff an Schultern und Beinen. Ich stürzte zu Boden, robbte über Asphalt und suchte einen Weg aus der Dunkelheit heraus. Auch jetzt stieg Übelkeit in mir hoch und zwang mich beinah, den Aufzug zu verlassen und umzukehren.

Auf keinen Fall aber wollte ich diesem Scheusal mit meinen Gedanken Macht über mich oder meine Entscheidungen geben, also erinnerte ich mich mit aller Kraft daran, weshalb ich hier war. An meinen großen Traum von Hamburg und meiner ersten richtigen Anstellung, die ich gleich antreten würde. Wegschieben, weitermachen.

All die Jahre hatte ich mich danach gesehnt, irgendwann beim Fernsehen zu arbeiten. Zusammen mit den anderen Kindern aus dem Ort hatte ich begierig auf das Fernsehgerät gestarrt, das im Schaufenster des Tante-Emma-Ladens in Niemstedt stand. Ich hatte begeistert gejauchzt, als meine ältere Schwester Kalliope uns eines Tages mit einem Fernseher im Wohnzimmer überrascht hatte. Als ich in die neunte Klasse kam, saßen Großmutter und ich spätabends vor der Flimmerkiste und wurden Zeuginnen dessen, wie mit Wibke Bruhns zum ersten Mal eine Frau die Nachrichten verlas.

Und dann war da jener Winterabend zwei Jahre später.

Wieder hatte Großmutter den alten Ohrensessel am Fenster bezogen, während Mama, Erato und ich auf dem Sofa aufgereiht dasaßen. Es lief die fünfte Ausgabe von Sommer und Winter, einer neuen Kultur- und Politiksendung, und die Moderatorin thematisierte die harte Antiabtreibungspolitik der katholischen Kirche. Anni Winter fragte offen in die Kamera, wie man eine männliche Institution unterstützen und finanzieren könne, die Frauen absprach, Schwangerschaften mithilfe der Antibabypille selbstbestimmt vorzubeugen.

»Die traut sich aber was«, kommentierte Mama.

Sie meinte das ganz sicher nicht als Kompliment. Und doch löste dieser Satz etwas in mir aus. Für mich bedeutete er, dass da eine Frau vor der Kamera stand, die nicht viel auf die Meinung anderer gab und der Welt ein Stück Wahrheit schenkte. Genau das, was auch ich tun wollte.

Nun war ich diesem Traum so nah wie nie zuvor, denn ab heute würde ich für Anni Winter arbeiten. In diesem Fahrstuhl zu stehen, war der Anfang von etwas Neuem, Großem in meiner ganz persönlichen Heldenreise.

Alles an den vergangenen Minuten hatte sich unwirklich angefühlt – das weitläufige Gelände des Hansestadt Hamburg Rundfunk in Rotherbaum, auf der anderen Seite der Alster. Der Pförtner am Tor, das Eingangsfoyer des Fernsehgebäudes, in dem die Absätze meiner Stiefel hallten.

Ein letztes Mal holte ich tief Luft, dann drückte ich auf den Knopf, neben dem in goldenen Lettern Redaktion geschrieben stand. Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung, und endlose Sekunden später glitten die Türen wieder auseinander. Fünfte Etage. Ich wurde hineingesogen in eine laute und futuristische Welt voller Orangetöne und Prilblumen auf senfgelber Tapete. Weit dahinter, hinter Büros aus Glaswänden, lagen nur noch Fenster und Weite, Himmel und Wolken. Mir wurde fast schwindelig bei dem Gedanken an all die kleinen und großen Geschichten, die von hier aus in die Welt hinausgetragen wurden.

Blinzelnd löste ich meinen Blick von der Aussicht.

Direkt neben dem Fahrstuhl entdeckte ich einen halbrunden Tresen, hinter dem eine ältere Frau mit hochgestecktem blond-grauem Haar saß. Ein orangener Telefonhörer klemmte zwischen Ohr und Schulter. Sie lächelte zu mir auf und gab mir mit einem Fingerzeig zu verstehen, dass sie gleich für mich da wäre.

»Sie müssen Klio sein«, begrüßte sie mich einige Minuten später herzlich und wuchtete ihren fülligen Körper aus ihrem Stuhl. »Willkommen beim HHR!« Mit einer Geste zeigte sie um sich und stellte sich mir als Rosemarie vor.

»Anni verspätet sich leider«, erklärte sie mit einem entschuldigenden Lächeln. »Deshalb führe ich Sie in der Zwischenzeit einfach schon einmal herum.«

Rosemarie erzählte mir, dass sie die Sekretärin von Ernst Jensen, dem Redaktionsleiter, sei. Schnell aber traten ihre Ausführungen in den Hintergrund. Zu aufregend war es, meinen Traum Wirklichkeit werden zu sehen. Die Lebendigkeit, der Puls der Zeit, die Dringlichkeit neuer Nachrichten waren überall spürbar. Die Menschen, die hektisch die Gänge entlangeilten, Kaffeetassen in der einen, Stapel von Blättern in der anderen Hand, strahlten eine große Wichtigkeit und Weltgewandtheit aus. Alle waren sie gut gekleidet, in schicken Anzügen und Röcken. Das wiederkehrende Klackern von Schreibmaschinen lag ebenso in der Luft wie das Geräusch eintrudelnder Faxe und hoher Absätze.

Es fiel mir schwer, bei all den Eindrücken mit Rosemarie Schritt zu halten. Wir liefen an Glasfronten vorbei, hinter denen dunkles Holz und elegante Möbel schimmerten. Ein groß gewachsener Mann, in dem ich Anni Winters Co-Moderator Lothar Sommer erkannte, sprach in ein Diktiergerät, nebenan unterhielten sich zwei Herren in Tweed-Anzügen. Hinter dem letzten abgetrennten Büroraum aber fiel mir ein prächtiger Fliederstrauß ins Auge.

Ich erhaschte einen Blick in einen großen Besprechungsraum, danach in eine dunkle Kammer, in der zwischen deckenhohen Aktenschränken ein Kopierer stand. Ich steckte den Kopf zur Kaffeeküche hinein und saugte auch sonst jedes Detail auf. Nur den Mann, der Rosemarie und mich beinah umrannte, sah ich nicht kommen. Ein Aufblitzen von Bluejeans, Vokuhila und Oberlippenbart. Wir machten beide einen Satz zur Seite, dann verschwand er schon den Gang entlang Richtung Fahrstuhl.

»Matthias!«, rief jemand ein paar Schritte hinter ihm. Der junge Mann schob einen Rollwagen vor sich her, auf dem sich Filmbänder stapelten. »Jetzt renn doch nicht so!«

Und erneut wichen Rosemarie und ich zur Seite.

»Ist es hier immer so hektisch?«, wollte ich wissen.

Rosemaries Gesichtsausdruck verfinsterte sich.

»Es ist immer viel los, aber heute herrscht definitiv Ausnahmezustand. In der Früh ist ein Brief der Roten Armee Fraktion bei der dpa und damit den größten deutschen Redaktionen eingegangen. Sie bekennen sich zum Mord an Siegfried Buback. Haben sogar den Mietvertrag von diesem Motorrad, von dem aus sie geschossen haben, als Beweis beigefügt.«

Eiskalt lief es mir den Rücken hinunter.

Sonnenberg, Klar, Folkerts.

Es war nur eine Vermutung gewesen, eine von der Polizei verfolgte Spur, doch nun war es Gewissheit, dass die Terrororganisation wieder zugeschlagen hatte, obwohl deren Köpfe hinter Gitter saßen. Vor meinen Augen tauchte das Fahndungsplakat auf, welches die drei Männer zeigte. Und eine andere gefährliche Gestalt in der Dunkelheit, deren Anblick sich wie ein enges Band um meine Brust legte. Wie ein ferner Albtraum, den ich mit all den Geschichten um mich herum zu vergessen suchte.

»Sie nennen es das Kommando Ulrike Meinhof.«

Ich erinnerte mich an die Schlagzeilen. An die schlechten Haftbedingungen der Baader-Meinhof-Gruppe, die den Prozess mit diesem Argument immer weiter in die Länge zog. An die Beschwerden, die von den Anwälten der Gruppierung vorgetragen wurden.

»Also ging es um Rache.«

Rosemarie nickte. »Sie machen Buback für den Tod an Ulrike Meinhof und zwei weiteren RAF-Mitgliedern verantwortlich.«

»Kann ich den Brief sehen?«, fragte ich viel zu forsch.

Rosemarie lachte.

»Das ist ein wichtiges Dokument. Er wird hier nicht einfach so herumgereicht. Der Brief ist ohnehin bei Herrn Jensen.« Sie blickte kurz auf ihre Armbanduhr. »In wenigen Stunden müssen wir einen fertigen Beitrag zu den Vorkommnissen und dem aktuellen Ermittlungsstand der Polizei senden.«

Mit diesen Worten kamen wir fast wieder vorn am Empfangstresen an. Wir waren einen perfekten, weitfassenden Kreis gelaufen, und mir gefiel, wie der breite Gang um eine offene Lounge herumführte. Sie bildete das warme, glühende Zentrum der Redaktion. Dort luden mehrere senffarbene Sessel und polierte Tischchen zum Austausch mit Kollegen oder Gesprächen mit Gästen des Hauses ein.

Die Gestaltung gab mir schon jetzt das Gefühl, jederzeit mittendrin zu sein, von überall einen Blick auf das große Ganze haben zu können.

Auch hier im vorderen Bereich, wo mehrere dunkle Schreibtische in Viererreihen hintereinanderstanden. Auf allen entdeckte ich eine Schreibmaschine, Kleinigkeiten wie Stempeldrehscheiben, eine dieser Pilzlampen, wie sie gerade modern waren, und einen Aschenbecher. Sie alle bogen sich unter einer Last von Mappen und zusammengehefteten Blättern. Nur der Platz ganz hinten wirkte blank und frisch poliert.

Meine Finger kribbelten erwartungsvoll.

»Das ist Ihrer«, bestätigte Rosemarie meine Gedanken.

Sie warf erneut einen Blick auf ihre Uhr, ehe sie mir ein entschuldigendes Lächeln schenkte. »Richten Sie sich doch schon einmal etwas ein.«

Es gab so viele Dinge, die ich gern gefragt hätte. Wie mein Tag heute aussehen oder was ich zu tun haben würde. Wann sie mit Anni Winters Ankunft rechnete. Doch ich nickte verständnisvoll. Die Geschichten hatten immer Vorrang, denn sie fragten nicht nach richtigen Zeitpunkten oder Befindlichkeiten. So hatte ich es im Studium gelernt, so funktionierte Journalismus.

»Danke, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben«, sagte ich noch, doch Rosemarie hörte mich schon gar nicht mehr.

Ein Blinzeln und sie saß wieder mit dem Hörer zwischen Schulter und Ohr am Empfang, als hätte sie ihn nie verlassen.

Unschlüssig blieb ich neben meinem neuen Arbeitsplatz stehen.

Der Stuhl am Schreibtisch neben mir war leer, sonst waren nahezu alle Plätze besetzt. Direkt vor mir saßen zwei Herren und sahen sehr wichtig aus, wie sie mit ernstem Blick auf ihren Schreibmaschinen tippten. Einem von beiden klemmte ein dicker Zigarrenstummel zwischen den Lippen, der andere folgte mit den Augen einer Frau, die wohl nur wenige Jahre älter war als ich. Sie trug die blonden Haare wie Farah Fawcett in Drei Engel für Charlie in großen Wellen nach außen geföhnt. Mit einem riesigen Berg an Unterlagen lief sie von Schreibtisch zu Schreibtisch, um sie mit Papier und Wissen zu überhäufen.

»Mein Name ist Klio Faeth«, ergriff ich die Gelegenheit und stellte mich meinen neuen Kollegen nach einem beherzten Räuspern vor. Ich hätte ihnen gern die Hand gereicht, doch allein der Gedanke von fremder Haut an meiner hielt mich davon ab. Stattdessen schenkte ich den beiden ein freundliches Lächeln. »Ich bin ab heute die Assistenz von Anni Winter.«

»Volker Strobel«, murmelte der Mann mit der Zigarre.

»Gerd Mayer«, sagte der andere, ohne seinen Blick von den Beinen des Farah-Verschnitts zu lösen.

»Sie sind hier Reporter?«, versuchte ich es weiter.

»Im Politikressort«, antwortete Volker für beide.

Es herrschte ein Moment Stille, in dem mir auf seinem Tisch ein wichtig aussehendes Schreiben auffiel. Ob es sich dabei etwa um den Bekennerbrief der RAF handelte? Ein Kribbeln schoss durch meinen Körper.

»Das heißt, Sie machen sicherlich auch den einen oder anderen Beitrag für Sommer und Winter«, versuchte ich das Gespräch in Gang zu halten und eine Vorlage zu bieten.

»Gerade arbeiten wir an der Abendschau, die heute gesendet wird«, sagte Volker mit geschwellter Brust, woraufhin Gerd seinen Stuhl zurückschob und mich zum ersten Mal ansah.

»Hören Sie …« Er ließ seinen Blick langsam über mich gleiten, von den Zehenspitzen bis zum Scheitel. Instinktiv verschränkte ich die Arme vor meinen Brüsten. »Wir sitzen an der Berichterstattung über Buback. Hier ist keine Zeit für Konversation. Lassen Sie uns also bitte unsere Arbeit erledigen, Fräulein …«

Hilflos sah er seinen Kollegen an, dem mein Name offenbar ebenfalls entfallen war.

»Faeth«, sprang die junge Blondine mit einem höflichen Lächeln ein, ehe sie mit wenigen langen Schritten auf mich zukam und mir die Hand reichte. »Ich bin Karin, Lothar Sommers Assistentin.«

Sofort spürte ich meine Mundwinkel nach oben wandern. »Schön, Sie kennenzulernen.«

»Sie unterstützen Anni Winter ab heute?«, vermutete Karin, woraufhin ich nickte.

Wir tauschten weitere Worte aus, während wir an unseren Schreibtischen Platz nahmen. Sie standen direkt nebeneinander. Womöglich konnten wir ja so etwas wie Freundinnen werden, dachte ich mir. Wünschte es mir sogar. Doch so wie Volker und Gerd, gab auch Karin mir schnell zu verstehen, dass sie sich in aller Dringlichkeit um ihre Aufgaben zu kümmern hatte.

Sogleich schob sie den Schreibwagen ihrer Schreibmaschine nach links, und kurz darauf verwob sich das Klackern ihrer Tastatur mit der restlichen Geräuschkulisse.

Ich versuchte noch ein paar Mal, meine neuen Kollegen, insbesondere Karin, in ein Gespräch zu verwickeln, oder aus meiner Rolle hier schlau zu werden, doch vergeblich.

Jeder hatte seine eigenen Geschichten, an denen er arbeitete, seinen Aufgabenbereich. Es war wie eine Fete, auf der ich niemanden kannte. Weil ich aber unmöglich untätig herumsitzen und auf Anni Winter warten wollte, musste ich eben so tun als ob, bis es wahr wurde.

Niemand achtete auf mich, als ich den Gang Richtung Besprechungsraum entlanglief und die Treppe eine Ebene tiefer nahm. Hier arbeiteten die Rechercheurinnen, in der Regel Frauen, die den Reportern zuarbeiteten. Wenn es oben laut zugegangen war, dann herrschte hier noch einmal eine ganz neue Betriebsamkeit. Wie inmitten eines Bienenstocks, in dem um Informationen und Wahrheiten gerungen wurde. Mithilfe einer freundlichen Frau, die ich etwas anflunkerte, fand ich dort einiges zu Siegfried Buback, das für vergangene Beiträge genutzt worden war.

Zurück an meinem Schreibtisch blätterte ich mich durch die Unterlagen. Buback war ehemaliges Parteimitglied der NSDAP gewesen. Nach seiner Rückkehr aus französischer Kriegsgefangenschaft nahm eine Beurteilung der Stadt Meißen jedoch an, dass Buback kein Nationalsozialist gewesen und damit politisch unbelastet sei. Seit 1971 war er erst Bundesanwalt, dann Generalbundesanwalt gewesen. Buback war maßgeblich an der Auflösung der Guillaume-Affäre, dem politisch bedeutsamsten Spionagefall der deutsch-deutschen Geschichte, und der Ahndung der Taten der ersten RAF-Generation beteiligt.

Während ich mich durch die Seiten las, den Schmerz und die Last meines Landes begriff, tönte immer wieder Volkers Stimme an meinen Platz. Zeit zu reden hatte er offenbar, nur eben nicht mit mir.

Er gab sich wichtig mit dem Brief in der Hand. Mit großem Gebären begann er zu lesen:

»Für Akteure des Systems selbst findet die Geschichte immer einen Weg«, und sofort überzog eine Gänsehaut meine Arme.

Dieses Schreiben war eine Kriegserklärung, die gemischte Gefühle in mir hervorrief. Sie hatten ein Exempel für ihre Sache statuiert, hatten Selbstjustiz ausgeübt, sich über alle erhoben.

»In diesen Zeilen wird eine ziemlich unangenehme Frage nach Recht und Gerechtigkeit aufgeworfen, die ich auf keinen Fall beantworten will«, schaltete auch ich mich ein. »Ich denke, niemand möchte das.«

»Machen Sie sich nicht lächerlich.« Gerd lachte auf. »Politik ist nun wirklich nichts, bei dem Sie mitreden sollten.«

»Und wie kommen Sie zu dieser Meinung?«, entgegnete ich.

Volker und sein Kollege Gerd warfen sich einen Blick zu, ehe sie dröhnend lachten. Als auch noch Karin hinter vorgehaltener Hand kicherte, schoss mir das Blut in den Kopf.

»Mein liebes Fräulein Faeth, ich befürchte, dass dies nicht in Ihrem Kompetenzbereich liegt«, meinte Volker und drehte sich wieder um. Für ihn war das Gespräch offenbar beendet, trotzdem sagte ich zu seinem Rücken:

»Für Sie immer noch Frau Faeth.«

Die Anrede Fräulein war schon vor Jahren abgeschafft worden, weil es nun einmal niemanden etwas anging, ob man verheiratet war oder nicht. Mich hatte das schon immer irritiert, gab es doch bei Männern keine entsprechende Unterscheidung.

»Nehmen Sie sich ein Beispiel an unserer Karin«, äußerte Gerd sich großspurig, ehe auch er sich abwandte. »Sie weiß, wo ihr Platz ist.«

Mein Magen krampfte sich zusammen, ganz offensichtlich war es hier genauso wie an der Universität: Frauen bildeten die Minderheit und hatten sich keine Gedanken über die wirklich wichtigen Dinge zu machen. Doch ich kam nicht mehr dazu, meinen männlichen Kollegen etwas entgegenzusetzen, denn plötzlich veränderte sich die Energie im Raum.

Da war ein kaum wahrnehmbares Flirren in der Luft, und kurz darauf schwebte Anni Winter in die Redaktion.

Sofort setzte mein Herz einen Schlag aus.

Licht verfing sich in der beigen Bundfaltenhose und dem dazu passenden Blazer, der an den Schultern nach der neuesten Mode gepolstert war. Alles Ton in Ton und helle Nuancen, wie ich es schon von den Fernsehaufnahmen kannte. Im Gegenlicht war ihre ganze Erscheinung so hell, dass ich die Lider für einen kurzen Moment zusammenkneifen musste. Eine Sonne aus Eis.

Sie blieb nicht stehen, war vollkommen umgeben von einer Aura des Unantastbaren. Von allen Seiten wurden ihr Unterlagen in die Hand gedrückt, Rosemarie redete im Gehen auf sie ein und deutete dabei in meine Richtung, während auf Annis anderer Seite der Mann mit dem Vokuhila, den ich bereits in einem der Büros gesehen hatte, schritt. Er erzählte wohl einen Witz und legte dabei eine Hand vertraulich auf Annis Arm, als sie auflachte.

Die Gruppe näherte sich den Schreibtischen.

Immer wieder war ich diesen Moment in Gedanken durchgegangen, in dem ich zum ersten Mal auf mein großes Vorbild treffen würde. Hatte mir ausgemalt, was wohl meine ersten Worte wären.

Anni Winter lief direkt auf mich zu. Mit langen Beinen, selbstsicher und zielgerichtet. Ihr Haar war heller, als es die Kamera einfing. In sanften Wellen fiel es ihr bis auf die Schultern.

Ohne darüber nachzudenken, erhob ich mich von meinem Stuhl. Als sie fast bei mir war, schoss mir durch den Kopf, dass ich sie mir immer viel größer vorgestellt hatte. Fast glaubte ich den Stoff ihrer weiten Hose zu hören, der sich bei jedem Schritt leicht aufbauschte. Mein Herz klopfte, denn mit diesem Moment fing alles an.

Dann aber rauschte meine künftige Chefin an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Mir entfuhr die Luft, die ich unbewusst angehalten hatte, und ich verfolgte mit den Augen, wie sie das letzte gläserne Büro auf der gegenüberliegenden Seite betrat. Das mit dem Blumenstrauß.

3   SCHNEEKÖNIGIN

Mit einem dumpfen Laut ließ ich mich wieder auf meinen Stuhl fallen und schob den Stempelhalter und die Stifte unentschlossen umher. Dieser Tag lief bei Weitem nicht so, wie ich es mir erhofft hatte. Ich langweilte mich, und die Stille in meinem Kopf verwandelte sich im Nu in Momentaufnahmen der vergangenen Nacht. Mit jedem Einatmen verstärkte sich der Druck auf meiner Brust, das Gefühl widerlicher Phantomberührungen. Menschen wie uns wird nicht geholfen, hallten Bärbels Worte, die ich nicht glauben wollte, in meinem Kopf.

Hektisch atmete ich aus.

Ich musste mich irgendwie beschäftigen. Nacheinander zog ich die Schubladen meines Schreibtisches auf, bis ich in einer leeres Papier fand. Ich klemmte eine Seite in die Schreibmaschine und begann zu tippen. Sofort wurde es ruhiger in mir. Beängstigende Stille verwandelte sich in Ruhe. Und hatten meine Gedanken erst einmal Feuer gefangen, gab es kein Halten mehr. Mord, Tod, Gerechtigkeit, Polizei. Einzelne Wörter setzten sich zu etwas Großem zusammen, zu neuen Fragen. Das emsige Treiben um mich herum trat mehr und mehr in den Hintergrund.

Meine Finger flogen über die Tasten der Schreibmaschine, begleitet von dem Klacken jedes Buchstabens oder Satzzeichens. Immer schneller flossen die Gedanken von meinem Kopf aufs Papier. Träumen, Erzählen, Geschichten begreiflich machen – das war meine Welt. Und ich versank in ihr, schwamm auf Fakten aus Tinte, bis ein Räuspern mich aufsehen ließ.

»Anni hat jetzt Zeit für Sie«, verkündete Rosemarie mit einem nachsichtigen Lächeln. Sie versuchte offenbar nicht zum ersten Mal, meine Aufmerksamkeit zu erregen.

Augenblicklich verschwanden die Rote Armee Fraktion, all die Handlungen, die zu Bubacks Tod geführt hatten. Mit klopfendem Herzen zog ich die Seite aus der Schreibmaschine und legte sie sorgfältig auf die anderen bereits beschriebenen, ehe ich sie mir unter den Arm klemmte und Rosemarie folgte.

Die Tür stand offen.

Mit überschlagenen Beinen saß Anni Winter hinter ihrem Schreibtisch. Sie hatte die hellen Brauen konzentriert zusammengezogen und markierte auf einem Dokument einzelne Passagen. Rosemarie klopfte gegen den Türrahmen, woraufhin sich Annis Blick von den Unterlagen löste.

»Danke, Rosemarie.«

Mit wenigen eleganten Schritten umrundete sie ihren Arbeitsplatz und kam auf mich zu. Sie hatte ihren Blazer über den Stuhl geworfen. Das Trägerhemdchen darunter betonte ihre markanten Schlüsselbeine, die zuvor bedeckt gewesen waren. Ich konnte nicht wegsehen, obwohl ich wusste, ich sollte sie nicht so anstarren. Aber Anni Winter war nun einmal einer dieser Menschen, welche die Blicke ganz automatisch auf sich zogen. Nicht etwa, weil sie schön war. Das war sie, aber es lag an ihrem Selbstbewusstsein. An ihrer Ausstrahlung, ihrer puren Präsenz.

Und noch dazu war sie jemand, zu dem ich aufsah. Sie hatte das geschafft, was Wibke Bruhns begonnen hatte und auch ich beim Rundfunk erreichen wollte. Trotz der vergangenen Stunden schien es mir noch unwirklich, dass ich nicht nur für das deutsche Fernsehen arbeiten würde, sondern auch für Anni Winter.

Ihre Augen sind gar nicht grün, schoss es mir durch den Kopf. Sie schimmerten blau, hell wie Aquamarin.

»Sie müssen Klio sein.« Mit einem höflichen Lächeln schüttelte sie mir die Hand, ehe sie mich hereinbat.

»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.« Ich räusperte mich. »Ich bin wirklich eine große Bewunderin Ihrer Arbeit. Aber das hören Sie wahrscheinlich nicht zum ersten Mal, nehme ich an?«

Begleitet von meinem nervösen Auflachen zog Anni die Tür zu. »Setzen Sie sich.« Mit ihrer schlanken Hand deutete sie auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Sofort setzte ich mich und rutschte unruhig darauf umher. Zu der kurzen Bluse trug ich meine Bluejeans mit dem weiten Schlag. Mein liebstes Kleidungsstück, nur dass der raue Stoff heute unangenehm hart über meine aufgeschürften Knie glitt. Dunkelheit berührte den Rand meines Bewusstseins, doch sofort schob ich sie vehement weg.

Anni Winter hob kaum merklich eine Augenbraue, ehe sie in etwas blätterte, das ich als meine Bewerbungsunterlagen erkannte.

»In Ihrem Lebenslauf steht, dass Sie zwanzig Jahre alt sind. Und trotzdem haben Sie bereits ein Studium absolviert?«

Ich nickte.

Die Frage war zu erwarten gewesen.

»Ich habe zwei Klassen übersprungen und mein Abitur deshalb schon mit siebzehn gemacht. Danach habe ich Publizistik und Germanistik studiert. In beidem habe ich ein Diplom mit summa cum laude.«

»Beachtlich«, sagte Anni, und ich wusste nicht, wie sie das meinte.

Sie war nicht zu lesen. Nicht in der Art, wie sie ihre Sätze betonte, sich das schulterlange Haar hinter das Ohr steckte oder ihre Hände übereinanderlegte. Alles wirkte wohlüberlegt, ohne erkennbare Emotionen. Wie von Eis überzogen.

»Berufserfahrung?«

»Ich war Mitglied der Schülerzeitung und habe für das Campusmagazin geschrieben«, sagte ich, weil das besser als Nein klang.

Der erste Tag an der Universität hätte die große Freiheit bedeuten sollen, aber dann ging es Großmutter immer schlechter. Kalliope hatte längst ihr eigenes Leben und sang ihr Wildblumenfeldlied auf den Bühnen dieser Welt, Erato war immer noch ein Kind, und ich konnte Mama unmöglich allein mit Omas Pflege lassen. Also wurde es am Ende die kleine Universität in der nächstgrößeren Stadt und damit weniger Möglichkeiten als geplant. Ich war stolz darauf, dass ich meiner Familie vor und nach Großmutters Tod eine Stütze sein und trotzdem studieren konnte.

»Dann ist dies also Ihre erste richtige Arbeitsstelle?«

»Ja«, sagte ich selbstbewusst. »Ich bin ehrgeizig und arbeite hart, wenn ich ein Ziel vor Augen habe. Ich mag vielleicht keine Berufserfahrung in dem Sinn haben, den Sie meinen. Aber deshalb bin ich hier: um zu lernen und genau diese Erfahrungen zu sammeln.«

Anni warf einen letzten Blick in meine Unterlagen, schloss die Mappe dann und schob sie zur Seite. Das war meine Gelegenheit, um fehlende Erfahrung mit Können wettzumachen.

»Ich habe die letzten Stunden genutzt und einen Text zu den tragischen Ereignissen rund um Siegfried Bubacks Ermordung geschrieben.« Ich reichte meiner Chefin die Seiten, die ich getippt hatte. »Ich möchte Ihnen einfach einen Eindruck von meiner Arbeit vermitteln und denke, in der Praxis geht das besser als in der Theorie.«

Sie blätterte durch die Seiten, und ich sah, wie ihr Blick immer wieder an ein paar Sätzen hängen blieb. Gebannt starrte ich auf ihr Gesicht und wartete auf irgendeine Regung, ein Anzeichen, wie sie meinen Text fand. Nach einer Weile ließ Anni die Seiten mit einem schweren Seufzen sinken. Schon wieder irritierte mich die Intensität ihres Blicks.

»Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein«, sie legte die Finger unter ihr Kinn. »Bisher bin ich wirklich bestens allein zurechtgekommen. Das habe ich Herrn Jensen eigentlich auch deutlich zu verstehen gegeben. Andererseits begrüße ich es natürlich, wenn mir der gleiche Respekt wie meinen männlichen Kollegen zukommt. Sie werden aber sicher verstehen, dass ich mir meine Assistentin gern selbst ausgesucht hätte.«

Dass Anni das offenbar nicht getan hatte, verwirrte mich, und ich brauchte einen Moment, um das Gehörte zu verdauen. Wir hatten keinen persönlichen Kontakt gehabt, aber ich war davon ausgegangen, dass alles mit ihr abgesprochen war. Immerhin war sie von nun an meine direkte Vorgesetzte.

»Es scheint so, als hätte Herr Jensen Sie für diese Stelle vorgesehen«, fuhr Anni fort und musterte mich eingehend. Zu welchem Schluss auch immer sie kam, er ließ sie erneut geräuschvoll Luft ausstoßen. »Wenn der HHR etwas will, dann bekommt er es auch. Wir müssen uns also beide mit dieser … neuen Situation arrangieren. Tun Sie uns also einen Gefallen, und machen Sie es uns so leicht wie möglich. Und«, sie hob die Seiten in die Höhe, die ich getippt hatte, »erschlagen Sie mich nicht gleich jetzt schon mit Ihren Ideen. Sie sind hier, um mir zuzuarbeiten.«

Mir war klar, dass mein Verhalten vielleicht ein bisschen forsch gewesen war. Aber das war noch lange kein Grund, meine Arbeit so abzutun. Es hatte mir schließlich niemand eine Aufgabe gegeben.

Und bei alldem behielt Anni für sich, was genau an mir offenbar nicht ihren Vorstellungen entsprach. Leider kannte ich das Gefühl, nicht das zu sein, was die Menschen erwarteten, viel zu gut. Ich war zu intelligent, aber kein Genie oder Wunderkind, wie die Menschen es bei jemandem mit Hochbegabung erwarteten. Ich war gut in Dingen, aber nicht in allen. Konnte mir jedes noch so kleine Detail eines Buches oder eine Unterhaltung merken, aber schlecht räumlich denken. War nie richtig Kind gewesen, aber so richtig erwachsen auch wieder nicht. Manchmal glaubte ich, ich stünde auf ewig zwischen den Stühlen – auf der Suche nach einem Platz, an den ich gehörte.

Ich war stolz, viel zu stolz, um das Gesagte einfach hinzunehmen, und reckte das Kinn nach vorn.

»Sie könnten versuchen, mich kennenzulernen«, schlug ich vor, denn ich würde nicht zulassen, dass mein Traum Risse bekam. »Führen Sie ein Vorstellungsgespräch mit mir.«

Schon wieder dieser abschätzende Blick, aber zum ersten Mal regte sich etwas in Annis Zügen. War das ein Aufblitzen in ihren blauen Augen?

»Nun gut«, sie lehnte sich zurück. »Was hat Sie dazu bewegt, sich für diese Stelle zu bewerben? Wieso nicht Radio oder Zeitung?«

»Weil das Fernsehen beides längst abgelöst hat. Vor allem das Radio steckt mitten in einer Krise, und das ist auch kein Wunder. Das Fernsehen ist ein Medium, mit dem wir viel mehr Menschen erreichen und Emotionen wecken können. Bild und Ton vereint.« Ich beschwor die Magie herauf, die das Fernsehen immer schon auf mich ausgeübt hatte. »Wir können die Welt verändern«, schloss ich schließlich. »Großes bewirken. Wir können Beweise sammeln und Dinge ans Licht bringen. Die Wahrheit sprechen und darauf aufmerksam machen, wenn Unrecht geschieht.«

Anni sagte lange nichts, dann fragte sie: »Und was bedeutet Journalismus für Sie?«

Ich dachte einen Moment nach, dann sagte ich: »Als Journalistin ist es meine Aufgabe, die Menschen mit relevanten Informationen zu versorgen.«

»Gut.« Anni lehnte sich nach vorn und legte die Fingerspitzen aneinander. »Als Sie gerade Ihre Beweggründe geschildert haben, klang das nämlich nicht nach Journalismus, sondern eher so, als würden Sie einen Pappkarton beschriften und damit durch die Straßen ziehen.«

Ich blinzelte.

»Und Sie finden, meine Beweggründe und eine gute Arbeitsweise schließen einander aus?«

Mein Herz klopfte schnell. Dieses Mal jedoch längst nicht mehr aus Nervosität, sondern weil dieses Gespräch ganz anders lief als erhofft.

»Ich möchte nur sichergehen, dass Sie sich im Klaren darüber sind, was ich von Ihnen erwarte, Klio.«

»Ich bin der Meinung, dass guter Journalismus die Welt verändern kann«, beharrte ich. Objektiv zu sein bedeutete nicht, dass man die Augen vor all dem Schlimmen auf dieser Welt verschließen durfte.

»Nun«, erwiderte Anni kühl. »Hier geht es nicht darum, die Welt zu verändern, sondern sie so zu zeigen, wie sie ist. Das ist manchmal ein feiner, aber bedeutender Unterschied. Sie können Ihre persönliche Meinung haben, aber es geht immer um Fakten, die richtigen Quellen und vor allem um die Wahrheit.«

Sie neigte den Kopf und sah mich ernst an. Ihre Augen waren blau wie der Frühlingshimmel, doch dem Blick darin fehlte es an Wärme.

»Sie sind jung.«

»Das erwähnten Sie bereits.« Ich biss die Zähne zusammen. »Mein Alter hat aber nichts damit zu tun, was ich kann. Sie waren schließlich auch jung, als Sie beim Fernsehen angefangen haben.« Anni Winter war nur wenig älter als Kalliope. Sie tat ja förmlich so, als würden uns Jahrzehnte trennen. »Sie waren vierundzwanzig, als Sommer und Winter zum ersten Mal auf Sendung gegangen ist.« Ich holte Luft. »Ich glaube also nicht, dass man zu jung sein kann, wenn man etwas wirklich möchte.«

Anni hob eine Augenbraue. »Sie scheinen sich ja gründlich informiert zu haben.«

»Wie ich schon am Anfang gesagt habe: Ich bin ehrgeizig und bestens auf diese Stelle vorbereitet.«

Ein kurzer Moment der Stille. Es war, als würden wir mit Blicken kämpfen. Nur wusste ich nicht genau, worum.

»Sie haben recht«, nahm Anni den Faden wieder auf. »Ich war kaum älter, als Sie es jetzt sind, als ich hier angefangen habe. Aber genau aus diesem Grund weiß ich auch, wie das Fernsehen am Anfang auf einen wirkt. Leider ist nun einmal nicht alles Gold, was glänzt, und deshalb möchte ich Ihnen folgenden Rat geben: Ihre Emotionen müssen an zweiter Stelle stehen. Und das hier …« Anni hob die Seiten hoch, die ich in den vergangenen Stunden geschrieben hatte. »Ich verstehe, was Sie mit diesem Text meinen. Bei dem Attentat geht es um etwas Großes. Es bedeutet, dass jemand das Land, den Staat und damit uns alle angreift. Und es geht um Angst. Das, was Sie geschrieben haben, ist gut. Sie besitzen einen scharfen Blick, aber zwischen die Zeilen schleicht sich immer wieder eine zu persönliche Note ein. Ein zu emotionaler Unterton. Arbeiten Sie daran, und Sie können daraus vielleicht etwas machen.«

Vielleicht.

Anni räusperte sich und ging dann dazu über, mir ein paar grobe Abläufe in der Redaktion zu erklären. Danach gab es nichts mehr zu sagen.

Wir erhoben uns. Dabei stieg mir der Duft nach etwas Herbem in die Nase, eine wilde Süße. Es roch wie Männerparfüm, aber irgendwie passte es zu ihr.

»Auf eine gute Zusammenarbeit«, sagte ich mit einem Lächeln, das sich weniger echt als noch beim Betreten des Büros anfühlte.