Wir sind das Feuer - Sophie Bichon - E-Book
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Wir sind das Feuer E-Book

Sophie Bichon

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Beschreibung

Seine Liebe wird sie verbrennen. Doch sie kann ihm nicht widerstehen.

Endlich vergessen, was vor fünf Jahren geschah. Die Flammen, den Lärm, und all das, was ihr Leben danach zerstörte. Das ist es, was Louisa sich wünscht, als sie ans Redstone College kommt. Und tatsächlich: Gleich zu Beginn ihres Studiums begegnet sie Paul und alles scheint plötzlich anders. Mit seinem unwiderstehlichen Lachen und seinen Bernsteinaugen weckt er Gefühle in ihr, die sie schon längst vergessen glaubte. Mit ihm ist sie wild und frei und endlich wieder glücklich. Sie ist dabei, sich unwiederbringlich in ihn zu verlieben. Doch was sie nicht ahnt: Paul hütet ein dunkles Geheimnis. Die Wahrheit könnte ihre Liebe in Flammen aufgehen lassen …

Der Auftakt zur Redstone Reihe von Sophie Bichon

»Eine unfassbar berührende Geschichte, die jedes Leserherz gleich mit der ersten Seite erobert.« zeilenverliebt

@wir_sind_redstone

#WirsindRedstone

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Seitenzahl: 601

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Zum Buch

Louisa Davis’ Haare sind so rot wie das Feuer, das ihr Leben vor fünf Jahren verschlungen hat. Mit dem Umzug von ihrer kalifornischen Heimat ans Redstone College im viele Meilen entfernten Montana will sie die schmerzhaften Erinnerungen endlich hinter sich lassen. Dort angekommen genießt Lou gemütliche Stunden im Café Firefly, wo sie sich in Liebesromanen verliert, bis ihr die Kellnerin unvermittelt einen Job anbietet. Noch in Gedanken läuft sie beim Verlassen des Cafés prompt in den attraktiven Paul Berger hinein. Sie kann sich seinen Blicken nicht entziehen. Da ist etwas, das ihr seltsam vertraut vorkommt.

Auch Paul ist fasziniert von dem »Feuermädchen«, das ihm seit dem Zusammenstoß nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Doch für Gefühle ist in seinem Leben eigentlich kein Platz. Zu groß ist die Schuld, die er auf sich geladen hat und von der niemand etwas wissen darf – am allerwenigsten Louisa.

Zur Autorin

Sophie Bichon wurde 1995 in Augsburg geboren und studiert Germanistik. Ihre Bachelorarbeit beschäftigt sich mit der Liebe in der Literatur, weil ihrer Meinung nach letztendlich jeder Roman von der Liebe handelt. Schon immer hat sie das Schreiben geliebt. Deswegen trägt sie auch stets ein Notizbuch bei sich, in dem sie ihre Ideen festhalten kann. Wenn sie nicht gerade schreibt, lässt sie sich von Musik und den Verrücktheiten des Lebens inspirieren, überlegt sich neue Tattoomotive und träumt von der Weltreise, die sie eines Tages machen möchte. Wir sind das Feuer ist ihr erster Roman.

Instagram: @sophiebichon.autorin

Pinterest: @sophiebichon

SOPHIEBICHON

Roman

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Dieses Buch ist ein Werk der Fiktion. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen sowie tatsächlich existierenden Einrichtungen oder Unternehmen ist rein zufällig und in keiner Weise beabsichtigt.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 03/2020

Copyright © 2020 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Steffi Korda, Büro für Kinder- & Erwachsenenliteratur, Hamburg

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München,

unter Verwendung von FinePic®, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-24978-6V004

www.heyne.de

Für Giorgio,

eine der schönsten Seelen,

denen ich in meinem Leben begegnet bin.

Danke für deine Gutmütigkeit,

deinen unerschütterlichen Glauben an mich, dein großes Herz. Und deine Liebe zur Literatur.

Ohne dich wäre ich nicht die Frau, die ich heute bin.

Mancher Mensch hat ein großes Feuer in seiner Seele,

und niemand kommt, um sich daran zu wärmen.

Vincent van Gogh

PLAYLIST

Ocean Eyesvon Billie Eilish  ·  Spanish Saharavon Foals  ·  Supermassive Black Holevon Muse  ·  Peanut Dreamsvon Grand National  ·  You would have to lose your Mindvon The Barr Brothers  ·  The Less I Know The Bettervon Tame Impala  ·  On Melancholy Hillvon Gorrilaz  ·  Fine Corinthian Leathervon Charlie Hunter  ·  Consequencevon The Notwist  ·  Summer Yearsvon Death Cab for Cutie  ·  Wonderwallvon Oasis  ·  Obstacles von Syd Matters  ·  Don’t Call my Namevon Skinshape  ·  Untoldvon RY X  ·  Come as You arevon Nirvana  ·  Shut me downvon Haute

VOR FÜNF JAHREN

Louisa

Dieser Tag hatte begonnen wie jeder andere. Der Morgen war sonnig gewesen, die Nacht war stürmisch. Ich erwartete nichts Besonderes. Vor allem nicht, als ich in der Dunkelheit mein Lieblingslied im Radio lauter drehte. Doch dann, als der Regen zunächst sanft, dann immer stärker auf das Autodach trommelte und gegen die Scheiben prasselte, passierte es: Ein Krachen – und meine Welt hielt den Atem an, war still und laut zugleich. Grelle Feuerflammen fraßen sich durch mein Leben, und das, was sie zurückließen, war schlimmer als Dantes Inferno.

Geschundenes Herz

1.  KAPITEL

Louisa

Gedankenverloren rührte ich unablässig den cremigen Schaum mit dem Löffel von rechts nach links, während ich auf meinen Mitbewohner Aiden wartete, den ich gerade einmal seit 48 Stunden kannte. Die Septembersonne strahlte so hell durch die Fensterfront, dass ich den Staub in der Luft tanzen sah. In Zeitlupe ließ er sich auf den Schwarz-Weiß-Aufnahmen an den rot gestrichenen Wänden nieder. Diesem Moment in der kleinen Nische im Fireflywohnte etwas Magisches inne. Die Magie des Neubeginns? Vor mir auf dem dunklen Holztisch lag meine zerfledderte Ausgabe von Alles Licht, das wir nicht sehen. Tausend Mal gelesen. Ein halbes Tausend Mal aus Versehen geknickt. Und ein Viertel davon mit Gedanken am Rand beschriftet, die mir wichtig erschienen und keinen Aufschub duldeten. Daneben mein ledernes Notizbuch, in dem alle besonderen Augenblicke und Wörter ihren Platz fanden, um zu meinen kleinen und großen Geschichten zu werden.

Während ich weiter in meiner Tasse rührte, schwappte der Kaffee von Tassenrand zu Tassenrand. Da gab es diesen einen Gedanken, der sich in meinem Kopf festgesetzt hatte. Als würde er sich dadurch vertreiben lassen, schüttelte ich aus einem Impuls heraus meine Locken und … griff ins Leere, jetzt, wo mich die Spitzen nur noch an den Schultern kitzelten.

»Hey, coole Haare! Gefällt mir!« Die Bedienung mit der bordeauxroten Schürze, die gerade an den Tisch gekommen war, platzierte den Schokoladenkuchen zwischen Roman und Kaffeetasse.

Meine Haare hatten die Farbe des Feuers, das mich vor zweitausend Tagen fast von innen und beinahe auch von außen verbrannt hätte. Keine trendige Farbe. Ich zuckte abwesend mit den Schultern und hatte schon im nächsten Moment ein schlechtes Gewissen wegen dieser ablehnenden Geste. Ich blickte der Bedienung ins Gesicht, und sie lächelte mich aufrichtig an. Wahrscheinlich hatte sie es nur nett gemeint. Für einen kurzen Moment sah sie sich in Richtung Theke um, nur um sich wenig später in den grünen Sessel mir gegenüber fallen zu lassen. Ihre blonden Haare waren zu einem nachlässigen Dutt gebunden. Ein paar Strähnen fielen seitlich heraus, was das freche Funkeln in ihren grauen Augen unterstrich. In aller Seelenruhe griff sie nach meinem Buch und las den Klappentext, während sie an dem goldenen Ring in ihrer Nase spielte. »Ist das nicht ein bisschen düster?« Sie sah mich ehrlich interessiert an.

Ich zuckte unmerklich zusammen. Es war mir unangenehm, wenn mir fremde Menschen zu nahe kamen. Nicht körperlich, sondern emotional. Aber dieses Mädchen wirkte … nett, auch wenn ich den Grund dafür nicht wirklich in Worte fassen konnte. Vielleicht war es die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich einfach so zu mir gesetzt hatte. Ohne mich zu fragen. Normalerweise hätte mich das ungemein gestört, doch etwas an ihr erinnerte mich an meine Schwester Mel, die ich schon jetzt vermisste, obwohl ich durch meinen Umzug nach Redstone nun endlich wieder in ihrer Nähe war.

»Inwiefern?«, kam es mir über die Lippen, und ich blickte von ihr zu dem Buch, das sie noch immer in der Hand hielt.

»Zu viel klischeehaftes Nazi-Gruselkabinett? Du weißt schon …«, sagte sie und zuckte entschuldigend mit den Schultern.

»Weiß ich nicht«, sagte ich schlicht, noch immer etwas irritiert von ihrer Direktheit.

Dann begann sie von Romanen, von Geschichten über den Zweiten Weltkrieg und von Helden zu erzählen. Das weiß ich nur, weil ihr Mund sich durchgehend öffnete und dann wieder schloss. Denn ich zog mich mehr und mehr in mich zurück. Ich war die Protagonistin eines Films, in dem der Ton immer leiser gedreht wurde. Plötzlich war ich wieder vierzehn Jahre alt und hielt mir die Ohren zu, weil ich den Lärm da draußen nicht mehr ertrug – und meine eigenen Schreie.

Ein Fingerschnipsen direkt vor meinen Augen holte mich ins Hier und Jetzt zurück.

»Und? Was sagst du?«, fragte mich die Kellnerin, die ihre Ausführungen offensichtlich beendet hatte.

Was sagte ich wozu? Verständnislos blickte ich sie an. Mein rasendes Herz passte nicht zu der freudigen Erwartung in ihrem Gesicht.

»Na, wann kannst du anfangen?«

»Anfangen?«, echote ich, immer noch gefangen in meinen Gedanken.

»Na hier im Firefly! Du hattest schon diesen träumerischen Ausdruck auf deinem Gesicht, als du den Kaffee zum ersten Mal gerochen hast. Der ist hier natürlich ganz besonders fantastisch.« Sie zwinkerte und fragte erneut: »Und? Möchtest du jetzt gleich starten?«

Ich blickte in ihr erwartungsvolles Gesicht, und so langsam sickerte es zu mir durch: Sie hatte mir einen Job angeboten.

»Ähm … ich soll hier arbeiten?«

»Jap! Du liebst es hier doch jetzt schon.«

Da lag sie gar nicht so falsch. Diese Wie-aus-einer-anderen-Zeit-Atmosphäre hatte mich sofort für sich eingenommen, und mein Erspartes würde auch nicht sonderlich lange reichen. Früher oder später müsste ich mich sowieso nach einem Job umsehen, um mein WG-Zimmer bei Aiden auch künftig bezahlen zu können. Ich hatte sowieso schon großes Glück gehabt, dass ich so kurzfristig noch etwas auf dem Campus gefunden hatte. Die meisten Zimmer waren seit Wochen vergeben. Aber was einen Job als Kellnerin anging: Wenn ich ehrlich war, dann hatte ich mir für den Anfang doch eher etwas … nun ja, etwas Ruhigeres vorgestellt.

»Okay, wir brauchen hier echt dringend jemanden!« Sie beugte sich über den kleinen Tisch noch näher zu mir heran und senkte vertraulich die Stimme: »Hannah wurde nämlich vor ein paar Tagen gefeuert. Unser Chef hat sie hinten im Lager erwischt. Und zwar nicht mit irgendjemanden, sondern mit diesem neuen Dozenten für Literatur. Du kannst dir sicher vorstellen, was hier los war.« Sie verdrehte lachend die Augen.

Ich sah das Mädchen weiterhin verwundert an und wollte ihr Angebot schon ausschlagen, als ich mich an einen meiner Vorsätze erinnerte: Ich hatte mir fest vorgenommen, nicht mehr alles zu zerdenken. Ich wollte spontaner sein. Unwillkürlich griff ich an mein linkes Handgelenk, an dem gestern noch ein Armband mit bunten Perlen geleuchtet hatte. Sie hatten an mir geklebt wie letzte Erinnerungen. Aber ich war jetzt frei zu tun, was ich wollte.

Im Gegensatz zu Mel hatte ich vor fünf Jahren den Halt verloren. Egal, wie sehr ich strampelte, meine Zehenspitzen bekamen den Boden einfach nicht zu fassen. Ich merkte selbst, wie ich mich verändert hatte: Wie ich immer ernster, schweigsamer und verschlossener geworden war. Ich hatte mich immer weiter entfernt von der, die ich gewesen war.

»Okay«, sagte die Bedienung gedehnt, »ich muss dir etwas gestehen. Dein Mitbewohner, der rein zufällig mein bester Freund ist, hat mir erzählt, dass du hier auf ihn wartest und dass du dringend einen Job suchst. Eine Win-win-Situation also!«, fügte sie erwartungsvoll hinzu.

Ich seufzte. Die Kellnerin war dann also Trish, Aidens beste Freundin. Und plötzlich war ich mir sicher, dass mein Mitbewohner nicht mehr auftauchen würde. Offensichtlich hatte er mich hierher gelockt, um mir einen Job zu besorgen.

»Wieso wundert mich das jetzt gar nicht?«, murmelte ich vor mich hin.

»Glaub mir, so war er schon im Kindergarten. Seine Fürsorge hat …«, nachdenklich suchte Trish nach dem richtigen Wort, »etwas, sagen wir einmal, Übergriffiges.«

Ich nickte heftig und begann an meinen Fingern aufzuzählen: »In den vergangenen 24 Stunden hat er ungefragt meine Bücher ausgepackt und nach Farben sortiert ins Regal gestellt, mir Pizza mitgebracht und mir den Plan für die Mathekurse ausgedruckt.«

Trish lachte. »O Gott, das klingt wirklich zu hundert Prozent nach Aiden. Du Arme! Wenn man ihn nicht kennt, kann das ganz schön viel auf einmal sein. Aber man kann ihm nichts übel nehmen, weil …«

»… er dieses süße Grinsen hat«, vervollständigte ich den Satz und versuchte mich an einem Lächeln.

Als wir wegen Aidens Eigenarten lachten, wurde mir bewusst, dass ich dieses Mädchen mochte. Sie war ehrlich. Und sie schien kein Problem mit meiner verschlossenen Art zu haben. Vielleicht war es jetzt an der Zeit, endlich über meinen Schatten zu springen. Nach Jahren, in denen ich stets geplant und immer Nein gesagt hatte, beschloss ich, spontan zu sein.

»Okay, ich mach es!«, sagte ich möglichst euphorisch. Auch wenn mir dabei etwas mulmig zumute war.

Das war einer dieser Wendepunkte. Ein Zwischendrin. Mein altes Leben haftete noch an mir, aber ab heute wollte ich nicht mehr die tragische Heldin, sondern die Erzählerin meiner Geschichte sein.

Im Minutentakt schwang die Tür auf und wieder zu. Immer begleitet von einem leisen Bimmeln und noch mehr Gästen. Trish brauchte so dringend Hilfe im Firefly, dass sie mich bat, gleich dazubleiben. Und noch einmal sprang ich über meinen Schatten. Ein Game-of-Thrones-Abend war Aidens Friedensangebot, als ich ihm mit einem Augenrollen schrieb, dass sein Plan aufgegangen war. Er versprach mir sogar, dass wir meine Lieblingsstaffel sehen würden – er wusste zum Glück noch nicht, dass das alle waren.

So verbrachte ich also die nächsten Stunden mit dem Balancieren von Tabletts und dem Aufnehmen von Bestellungen. Das Gute daran: Ich hatte ständig etwas zu tun und somit gar keine Zeit, mich erneut in meinen Gedanken zu verlieren. Nur eine Nachricht meiner Schwester holte mich kurzzeitig in die Realität zurück. Neun Wörter:

Und du möchtest sie nicht doch noch kurz anrufen?

Da war sie wieder, die Frage, die mir Mel bereits vor wenigen Tagen gestellt hatte und deren Gewicht mich in den Sitz des kleinen Fiats gedrückt hatte, als ich vom Haus meiner großen Schwester Richtung Campus losgefahren war. Eine Antwort war ich ihr noch immer schuldig.

Mom, das war inzwischen ein Wort, das ich nicht einmal mehr denken wollte. Diese Nacht hatte unser aller Leben zerstört, aber ich war das Kind gewesen. Ich war die gewesen, die eine Mutter gebraucht hätte. Stattdessen hatte ich die Jahre damit verbracht, erwachsen zu sein.

Die gemütlich, aber chaotisch angeordneten Tische entpuppten sich als gefährliche Stolperfallen. Ohne den Plan des Cafés mit allen Tischen und Nummern über der Kasse wäre ich heillos überfordert gewesen. In den Atempausen erklärte Trish mir den Rest. Die Kaffeemaschine. Das Lager. Sie zeigte mir die Kommode neben der Theke, in der sich frische Tischdecken, Zuckerdosen und dunkelgrüne Karten stapelten. Danach führte sie mich in den hinteren Bereich, wo sich der kleine Mitarbeiterraum mit dem abgewetzten braunen Sofa befand. Direkt daneben war das Büro von Brian, dem das Fireflygehörte, ein riesiger Typ mittleren Alters mit kurzen, schwarzen Haaren und einem kleinen Wohlstandsbäuchlein. Durch die offene Tür nickte er mir nur abwesend zu, und Trish erwähnte, dass er ihr freie Hand ließ, wenn es um Personalfragen ging.

Als die Tür hinter dem letzten Gast ins Schloss fiel, drehten wir die Musik auf. Erst abends würde es hier weitergehen. Jetzt hieß es Einsammeln des dreckigen Geschirrs und Polieren der gespülten Gläser im Takt von Supermassive Black Hole von Muse. Währenddessen sog ich Trishs witzige Geschichten auf und lachte an den richtigen Stellen. Sie schaffte es, jede noch so kleine Banalität wie ein Abenteuer klingen zu lassen.

»Wie gefällt dir Redstone bis jetzt?«, wollte sie schließlich wissen, als wir uns mit zwei riesigen Kaffeebechern im Gilmore-Girls-Stil in die grünen Sessel fallen ließen.

Ich überlegte, wie ich es vermeiden konnte, etwas über mich als Menschen zu verraten. Trotzdem lächelte ich bei dieser Frage. Unwillkürlich musste ich an das Gefühl von Freiheit auf dem Highway denken: die Rocky Mountains im Rücken, die Sonne und den strahlend blauen Himmel vor mir. Meine Heimat Kalifornien war der bevölkerungsreichste Bundesstaat der USA. Hier in Montana hatte ich das Gefühl, endlich wieder richtig atmen zu können: Gerade einmal eine Million Einwohner zwischen Bergen, Flüssen und Seen. Zwischen endlosem Blau und unendlichen Weiten.

»Ich mag es«, sagte ich schlicht und ehrlich. Im Schneidersitz saß ich Trish gegenüber und leckte mir den Schaum von den Lippen. Der Kaffee war tatsächlich fantastisch.

Plötzlich befürchtete ich, dass sie nachhaken könnte. Fragen zu meinem Umzug. Meiner Heimat. Zu mir. Überall Risse und Splitter. Wo hätte ich da anfangen sollen? Ich hielt die Luft an.

»Lass dich von der Kleinstadtatmosphäre nicht täuschen«, meinte sie augenzwinkernd, und ich atmete erleichtert aus. »In Redstone gibt es so viele schöne Cafés und Bars. Einmal im Monat hat Aiden mit seiner Band Goodbye April in irgendeiner einen Auftritt, zu dem wir alle gehen. Irgendwas geht hier echt immer. Vor allem in den Wohnheimen steigt eigentlich jeden Tag irgendeine Party. Und dann gibt es noch die ganzen Clubs und Veranstaltungen auf dem Campus.« Trish schien kaum Luft holen zu müssen, denn sie redete schon weiter: »Aiden kennst du ja schon. Oh, und Paul musst du auch noch unbedingt kennenlernen. Wir drei waren in New Forreston zusammen auf der Highschool, und … eigentlich haben wir zusammen nur Mist gemacht.« Trish lachte und strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. »Wir wollten natürlich auf das gleiche College gehen, aber weil ich ein Jahr jünger bin, musste ich das letzte Jahr ohne meine Jungs verbringen. Und, glaub mir, das war auf jeden Fall nicht so lustig wie mit ihnen.«

Automatisch musste ich an Leah denken, meine eigentlich beste Freundin. Es gab Menschen, mit denen an der Seite einfach alles besser zu sein schien.

»Manchmal denke ich, dass die beiden das Negativ des jeweils anderen sind. Hell und Dunkel, wie zwei Schachfiguren. Aber ich bin echt froh, dass ich meine beiden Jungs hab. Sie sind wie zwei große Brüder, die mich beschützen.« Trish machte eine kurze Pause und zwinkerte mir zu. »Auch wenn ich das natürlich nicht nötig habe.«

»Das klingt schön«, murmelte ich und fuhr mir nachdenklich durch die Haare.

»Ist es auch«, sagte Trish mit einem breiten Lächeln. »Zum Glück sind sie einfach nur meine besten Freunde. Keine Ahnung, wie sie das machen, aber die zwei verdrehen hier echt allen den Kopf. Paul ist der Schlimmere. Wenn man mit ihm befreundet ist, dann tut er wirklich alles für einen, aber abgesehen davon, zieht er eine Spur aus gebrochenen Herzen hinter sich her, egal, wohin er geht.«

Nachdem sie einen Schluck von ihrem Kaffee genommen hatte, beugte Trish sich neugierig nach vorn. »Und bei dir? War es schwer für dich, so weit von zu Hause und deinen Freunden wegzuziehen?«

Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Schüttelte den Kopf.

Krieg dich wieder ein! Komm darüber hinweg! Willst du nicht langsam wieder normal werden? Das waren Sätze, die mich inzwischen übervorsichtig machten. Damit angefangen hatte ausgerechnet Leah.

Meine Freunde an der Highschool hatten nicht verstanden, dass das nichts war, worüber man einfach so hinwegkommen konnte. Als sie gemerkt hatten, dass ich nie mehr die Alte werden würde, schotteten sie sich von mir ab. Einer nach dem anderen. Irgendwann hatte nicht einmal mehr Leah angerufen. Und ich hatte mich zu sehr davor gefürchtet, mein Vertrauen erneut in andere Menschen zu setzen. Verliebt hatte ich mich auch nur ein einziges Mal. Aber im Nachhinein fragte ich mich, ob ich nicht einfach auf der Suche nach einer Ersatzfamilie gewesen war.

»Hey, Louisa, hast du mir zugehört?«

Schon wieder hatte ich mich in meinen Gedanken verloren, und als ich auf die Uhr sah, stellte ich erschrocken fest, wie spät es inzwischen schon geworden war.

»Sorry, aber ich muss los!«

Eilig packte ich meine Sachen zusammen, warf mir den Rucksack über die Schulter und winkte Trish im Gehen zu.

Gerade als ich durch die Tür wollte, prallte ich unerwartet mit jemandem zusammen.

Paul

Ich trat einen Schritt zurück und … 

Heilige Scheiße! Für Sekunden sah ich nichts als erschrockene eisblaue Augen und dunkle Wimpern. Ich dachte an die Tiefe von Seen und Ozeanen.

Das Mädchen, das gerade gegen mich gerannt war, murmelte eine Entschuldigung, doch bevor ich etwas erwidern konnte, war sie schon weg. Ich sah nur noch wehende Locken, die die Farbe von Feuer hatten, und einen perfekten, runden Hintern. Oh fuck! Grinsend blickte ich ihr viel zu lange nach, als mich plötzlich ein nasses Geschirrtuch am Kopf traf.

Trish stand kopfschüttelnd vor mir, konnte sich das Lachen aber nur schwer verkneifen. »Hör auf, meine Kollegin mit deinen Blicken auszuziehen!«

»Deine Kollegin?« Normalerweise kannte ich alle, die im Firefly arbeiteten. Wenn Trish ihre Schichten hatte, hingen Aiden und ich ständig abends hier rum, manchmal kamen auch Isaac und Taylor mit. Aber meistens waren meine beiden Mitbewohner sowieso mit Kiffen oder einem ihrer Games beschäftigt.

»Jap, seit heute.« Erleichtert sah sie mich an und strich ihre Schürze glatt. »Jetzt muss ich endlich keine Doppelschichten mehr schieben!«

Ein unaufmerksamer Augenblick von Trish, und ich stürzte mich auf sie, hob sie hoch, bis sie quietschte und bettelte, dass ich sie gefälligst sofort runterlassen sollte. Seit Jahren unser Begrüßungsritual. Leider gehörten dazu auch ihre winzigen Fäuste, die ich aber nicht wirklich spürte.

»Wollen wir anfangen?«, fragte ich, als sie wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte und mich atemlos anfunkelte.

Trish hatte Brian nach wochenlangen Überredungskünsten endlich davon überzeugen können, dass das Firefly neben der Website endlich auch auf Instagram und Facebook vertreten sein sollte. Und da sie wusste, wie froh ich über das zusätzliche Geld war, hatte sie mich als Fotografen vorgeschlagen. Ich scannte den Raum nach dem idealen Platz, nachdem Trish sich die Haare zurechtgezupft hatte. Beim Fotografieren kam es nicht nur auf den passenden Hintergrund an, das Wichtigste war immer das Licht. Und das gewisse Etwas. Etwas, das man nicht erwartete. Als ich die ideale Stelle vor einer der roten Wände gefunden hatte, forderte ich Trish auf, sich mit einem beladenen Tablett an einen der Tische zu stellen.

Schon nach den ersten Minuten raufte ich mir die Haare. »Summers, du siehst aus, als würdest du in einem Horrorfilm mitspielen!« Ich ließ mich entnervt in einen der grünen Sessel fallen, nachdem ich an der Theke zwei Bier geholt hatte, und machte uns beiden erst mal die beiden Flaschen auf. Jedes Mal, wenn Trish bemerkte, wie sich die Linse meiner Kamera auf sie richtete, wurde aus ihrem sonst so herzlichen Lachen eine Grimasse wie aus einer Stephen-King-Verfilmung. Die meisten Leute verkrampften, wenn sie möglichst natürlich wirken wollten. Und je mehr sie über ihre Pseudonatürlichkeit nachdachten, desto schlimmer wurde es.

»Bei deinem Charme, Berger, ist es kein Wunder, dass du keine Freundin hast!« Sie ließ sich neben mir in die Kissen fallen und schnappte sich ihr Bier.

Ich verdrehte die Augen. Das war kein Gespräch, das wir zum ersten Mal führten. »Ich bin Single«, sagte ich schließlich, »weil ich gerade echt genug zu tun habe. Meine Entscheidung!«

»Oder auch nur, weil du unausstehlich bist!« Trish lächelte.

»Verdammt, Summers«, knurrte ich genervt, »ich sage dir das jetzt noch ein einziges Mal, damit du mich endlich mit diesem scheiß Thema in Ruhe lässt: Ich. Will. Keine. Freundin. Ich habe keine Zeit für so etwas!«

»Komisch, denn ausreichend Zeit für deine vielen Sexabenteuer scheinst du zu haben!« Der blonde Zwerg wusste genau, wie mich dieses Thema nervte. Als müsste sie sich verkneifen, was sie gerade noch hatte sagen wollen, biss Trish sich auf die Unterlippe und hob beide Hände. »Frieden!«

Die beschissene Wahrheit war: Wenn man die Schuld und den Schmerz für etwas derart Schreckliches und Unverzeihliches mit sich herumschleppte, wie ich es seit Jahren tat, dann war man verdammt noch mal nicht unbedingt ein geeigneter Kandidat für eine Beziehung. Oder irgendeine Form von Nähe.

Eine halbe Stunde später stürzten Trish und ich uns in den zweiten Versuch. Ich schloss mein Handy an der Anlage an und spielte grinsend den Soundtrack von High School Musical ab – ein dunkles Kapitel aus Trishs Vergangenheit, an das sie ziemlich ungern erinnert wurde: Nach Schulschluss hatten Aiden und ich die Nachmittage bei ihr zu Hause verbracht, und sie hatte uns Tag für Tag gezwungen, uns ihre nachgeahmten Tänze im Stil von Troy und Gabriella anzusehen.

Lachend forderte ich Trish also auf, ihren Lieblingssong zu performen, und tatsächlich: Sie entspannte sich immer mehr.

Nach einer weiteren Stunde waren um die fünfzig Bilder dabei, die verdammt gut waren. Einige zeigten sie an der Kaffeemaschine, dann mit einem vollen Tablett in der Hand und noch eins, auf dem sie sich mit zwei Gästen an einem Tisch im hinteren Bereich unterhielt. Das helle Blond ihrer Haare hob sich auf den Bildern extrem von der dunklen Wand ab, was eine hammer Wirkung hatte.

Danach schlängelte ich mich durch den mittlerweile wieder gut gefüllten Raum nach hinten zu Brian, um ihm die Aufnahmen zu zeigen. Wir luden die Bilder auf seinen Rechner, suchten zusammen die besten aus, und ich versprach, ihm die bearbeiteten Fotos in der kommenden Woche vorbeizubringen.

Und als ich loszog, um mich mit meinem Bruder Luca zu treffen, dachte ich plötzlich an ein Paar Augen aus arktikblauem Eis.

2.  KAPITEL

Louisa

»Sorry, dass ich zu spät bin. Ich zieh mich noch schnell um, dann können wir los!«, rief ich in die Wohnung, während ich meinen Schlüssel achtlos auf die Kommode im Flur schmiss.

Alles hier drin war winzig und beengt, aber ich mochte es, weil es mich an ein Haus am Waldrand und eine bessere Zeit erinnerte. Mein Zimmer lag am Ende des kleinen Flurs, links davon war Aidens Zimmer und rechts davon die Wohnküche, in der neben dem Esstisch sogar noch ein gemütliches Sofa Platz hatte.

Ich holte mir eine Coladose aus dem Kühlschrank und ließ mich in meinem Zimmer erschöpft auf mein Bett fallen. Noch in der ersten Nacht hatte ich es direkt unter das große Fenster an der Stirnseite des Raums geschoben, weil ich mir von dort einen guten Blick auf die Sterne erhoffte. Der Anblick beruhigte mich, wenn meine Gedanken zu stark kreisten. Und trotzdem hatte ich am Abend zuvor unter den Blicken eines kopfschüttelnden Aiden fünf verschiedene Lichterketten kreuz und quer an der Decke befestigt – mein eigener Sternenhimmel, falls der vor meinem Fenster nicht reichen sollte.

Außer dem Bett hatte ich für wenige Dollar auch den schmalen Schreibtisch, die dunkle Holzkommode mit den bunten Griffen an der gegenüberliegenden Wand und das Regal daneben ablösen können. Es standen immer noch jede Menge Kisten auf dem Boden, und mir fehlte ein weiteres Regal für all meine Bücher, die sich überall auf dem Boden stapelten, aber ein bisschen fühlte es sich schon wie ein Zuhause an.

»Hey!« Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte Aiden im Türrahmen meines Zimmers. Ein kurzer Blick auf das Handtuch in seiner rechten Hand und die zerzausten blonden Haare, die sein weißes Shirt mit dem Berglöwen im runden Redstone-College-Logo volltropften, und mir entfuhr ein Seufzen. Hätte ich vorher gewusst, dass Aiden sich nach seiner Bandprobe so viel Zeit beim Duschen lassen würde, hätte ich mich weniger beeilt und wäre im Firefly nicht in diesen Kerl hineingerannt.

Es war nur ein flüchtiger Blick gewesen: auf ein markantes Kinn mit einem dunklen Bart, der mich für Sekunden an meiner Schläfe gekitzelt, ein Mund, der sich unwillkürlich zu einem Grinsen verzogen, und ein intensiver Blick aus braunen Augen, der mich einen Moment zu lange festgehalten hatte – genau wie die raue Hand, die mich vor dem Stolpern bewahrt hatte. Ich hatte gespürt, wie der Typ mir hinterhergesehen hatte. Und ich hatte es tatsächlich genossen.

»Wie war dein erster Arbeitstag?«, wollte Aiden mit einem selbstzufriedenen Grinsen wissen, während er sich die nassen Haare mit dem Handtuch trocken rubbelte. Seine blauen Augen blitzten.

»Ehrlich gesagt«, erwiderte ich und blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an, »wusste ich erst nicht, ob ich dir an die Gurgel gehen oder dankbar sein sollte.«

Aiden musterte mich skeptisch, doch das Grinsen auf seinen Lippen verrutschte kein Stück.

Ich beugte mich über eine der unausgepackten Kisten, die noch immer am Fußende meines Bettes standen, und wühlte nach meiner Spardose, um das großzügige Trinkgeld von heute darin zu verstauen. Aiden kommentierte mein Schweigen mit erhobener Augenbraue.

Als die Dose im Regal stand, erbarmte ich mich schließlich. »Aber …« Ich zog das Wort mit Absicht in die Länge und drehte mich wieder zu ihm um. »Ich habe beschlossen, dankbar zu sein, weil ich wirklich dringend einen Job gebraucht habe.«

»Hab ich doch gerne gemacht!« Zufrieden stieß Aiden sich vom Türrahmen ab. »Du kannst mir später danken, Lou«, fügte er noch hinzu und steuerte sein Zimmer an.

»Bilde dir ja nichts darauf ein!«, rief ich ihm hinterher.

Aber er lachte nur.

»Was hältst du von dem hier?«, fragte Aiden mich eine Stunde später, als wir bei Harper & Bishop vor einem weiß lackierten Holzregal standen.

In einem seiner Räume verkaufte der Laden am Stadtrand gebrauchte Möbel. Und auch wenn ich seit heute einen Job hatte, wollte ich für ein neues Bücherregal nicht mehr Geld ausgeben als notwendig. Hier hinten standen Stühle, Regale, Tische und Kommoden wild durcheinander. Ich liebte gemütliches Chaos und trotzdem war ich bisher noch nicht fündig geworden.

»Hmm … ich weiß nicht.« Ich legte den Kopf schräg und ging einmal um das Regal herum. »Das sieht so leblos aus!«

»Wie kann ein Regal leblos aussehen?«, fragte Aiden mich und schob die Hände in die Hosentaschen seiner schwarzen Jeans.

Ich zuckte mit den Schultern. »Na ja, so wie das hier eben!«

Aiden lachte. »Das besteht aus toten Bäumen! Natürlich sieht das nicht gerade lebendig aus.«

Und genau in dem Moment, in dem ich ansetzte, etwas zu erwidern, entdeckte ich aus dem Augenwinkel ein großes Holzregal in der Farbe von Kaffeebohnen und mit verschnörkelten Ornamenten an den Rändern der einzelnen Bretter. Zielstrebig lief ich darauf zu und bedeutete Aiden, mir zu folgen. »Das hier zum Beispiel sieht lebendig aus«, sagte ich zufrieden und strich mit beiden Händen liebevoll über die dunkle Holzmaserung.

»Ich weiß ja nicht«, murmelte Aiden und beäugte kritisch die teilweise abgebrochenen Kanten der Ornamente und die Risse im Holz.

Die Skepsis in seinen blauen Augen entlockte mir ein leises Lachen. »Das ist ein bisschen so wie mit Büchern«, erklärte ich, während Aiden einmal um das Regal herumging. Dann sah er mich abwartend an. »Ich liebe es, wenn man sieht, dass sie nicht nur gelesen, sondern auch geliebt wurden. Mit Knicken und Notizen am Rand. Das macht sie für mich erst lebendig und einzigartig«, fügte ich nachdenklich hinzu und strich ein weiteres Mal über das dunkle Holz. »Und so ist es auch bei Möbeln. Ich mag es, wenn sie alt und unperfekt sind. Jede Unregelmäßigkeit erzählt eine eigene Geschichte. Diese abgebrochene Ecke hier zum Beispiel«, ich beugte mich nach vorn und deutete auf eine Stelle am untersten Regalbrett, »vielleicht hat eine betrogene Ehefrau im Streit ihre Lieblingsvase nach ihrem Mann geworfen und −«

Unwillkürlich biss ich mir auf die Unterlippe. Schweigen ist Gold, sagt man. Und das hat seinen Grund, denn Reden ist gefährlich. Gerade waren mir Aiden gegenüber mehr Wörter über die Lippen gekommen als in den letzten 53 Stunden zusammen.

Er sah mich überrascht an, als spürte er, dass ich gerade fast meine selbst auferlegte Grenze überschritten hatte. Behutsam strich er dann über die abgebrochene Kante und lächelte mich an. »Du bist wirklich eine Träumerin, Lou. Aber auf eine gute Art.«

Du bist eine Träumerin, Louisa. Immer hast du den Kopf in den Wolken.

Und schon war da wieder dieses enge Band um meine Brust und machte mir das Atmen schwer. Ich war wie eine zerbrochene Vase, die man halbherzig zu kleben versucht hatte. Ich hatte erleben müssen, wie es war, sein Herz an die falschen Menschen zu hängen. Und seitdem verbarg ich meine Emotionen tief in meinem Innersten, wo mich nichts und niemand verletzten konnte. Instinktiv schien Aiden das zu spüren, denn er hatte meine persönliche Grenze in der kurzen Zeit, die wir uns kannten, bisher nicht überschritten – und das war ungewöhnlich, wo sie doch so extrem schnell erreicht war.

Ich wusste, dass Aiden Musik im Hauptfach studierte. Ich wusste, dass er zusammen mit seinem besten Freund nach Redstone gezogen war und dass Trish den beiden ein Jahr später gefolgt war. Ich wusste, dass er am liebsten Dr Pepper trank, seine Geschwister Ally, Andrew, Anthony und Alex hießen und er der Älteste war. Was Aiden über mich wusste? Dass ich keine Fragen mochte, Game of Thrones dafür umso mehr. Und dass ich ziemlich sarkastisch sein konnte. Sonst war da nichts.

»Lou?« Ein besorgter Ausdruck trat in Aidens Gesicht. Und für einen kurzen Moment lag seine Hand schwer auf meiner Schulter. »Sollen wir das Regal nehmen?«, fragte er.

Zwanzig Dollar stand auf dem kleinen handbeschrifteten Preisschild. Ich zwirbelte eine meiner Locken nachdenklich um den rechten Zeigefinger und nickte dann. Und war dankbar dafür, dass Aiden nicht wissen wollte, wieso ich gerade mal wieder so weggetreten gewesen war.

Auf der Rückfahrt sah ich immer wieder auf mein Handy. Schon wieder kreisten meine Gedanken um Mel.

Ich hasste Streit. Und vor allem hasste ich Streit mit meiner Schwester. Eigentlich war es gar keine richtige Auseinandersetzung, diese Funkstille fühlte sich trotzdem so an. Auch wenn wir so unterschiedlich waren wie Tag und Nacht, waren wir doch immer mehr gewesen als bloß Schwestern. Sie war immer auch meine beste Freundin gewesen, trotz oder gerade wegen der neun Jahre zwischen uns. Wir hatten über die gleichen Dinge gelacht, in denselben Momenten angefangen zu weinen und uns auch ohne Worte verstanden. Als ich acht gewesen war, hatten wir uns sogar unsere eigene Geheimsprache ausgedacht, eine Kombination aus Farben und Zahlen, die nur wir beide entziffern konnten.

Mehrere Minuten lang tat ich nichts anderes, als das Handy in meinen Händen anzustarren, während Aiden leise einen Song im Radio mitsang und dabei auf das Lenkrad trommelte.

Bin gut angekommen.

Ich wartete. Dann schrieb ich noch einmal.

Ist es okay, wenn ich das Auto nächste Woche vorbeibringe?

Das war meine Art zu sagen, dass ich sie liebte. Und dass mir mein überstürzter Aufbruch leidtat.

So viel Mel mir auch bedeutete, ich konnte nicht verstehen, dass sie den Kontakt zu Mom aufrechterhielt. In dem Moment, in dem ich durch die dünnen Wände gehört hatte, wie die beiden miteinander telefonierten, war bei mir eine Sicherung durchgebrannt. Es hatte sich angefühlt wie Verrat. Ich hatte Mel nach dem Schlüssel für ihren Fiat gefragt, meine wenigen Sachen und meine Lieblingsbücher auf die Rückbank geschmissen und war losgefahren. Eine Woche früher als geplant und ohne ein weiteres Wort.

Als wir vor dem Wohnheim parkten, vibrierte mein Handy. Endlich.

alles klar. ich hab dich lieb.

»Ich dich auch.«

Paul

Genervt blickte ich durch die Windschutzscheibe nach draußen. Natürlich hatte ich wieder so geparkt, dass mich vom Haus aus niemand sehen konnte. Hier nach zwei Stunden Fahrt herumzustehen war trotzdem unangenehm. Ich saß in meinem gebrauchten Pick-up, von dem der dunkelgrüne Lack abblätterte, sodass man den feinen Rost darunter erkennen konnte.

Mit dem Job in der Küche vom Luigi’s, den Aiden mir besorgt hatte, und den ganzen Fotoaufträgen, die ich hier und da bekam, arbeitete ich neben dem Studium mehr für meinen Unterhalt als andere. Fast mein ganzes Geld hatte ich in diese Karre gesteckt.

Ich hatte den Pick-up absichtlich so weit wie möglich vom Haus entfernt abgestellt, denn eine Begegnung mit meinem Vater war wirklich das Letzte, was ich wollte. Vor allem nicht nach diesem beschissenen Anruf vor zwei Tagen, der für meinen Geburtstag sowieso zu spät gekommen war.

Er war wieder ins Deutsche verfallen, wie immer, wenn er sich aufregte. »Hallo, Sohn!«, hatte er gesagt, als wäre die Tatsache des Sohn-Seins alles, was mich ausmachte. Verdammt!Was er mir zu sagen gehabt hatte, war das Gleiche wie sonst auch. Ob ich mit einem Jahr mehr Weisheit denn nun Vernunft angenommen hätte. Ob ich mein sinnloses Philosophiestudium jetzt endlich an den Nagel hängen würde, um meinen rechtmäßigen Platz bei Berger Industries einzunehmen. Dass ich doch nicht tatsächlich an meinen Erfolg glauben konnte. Jedes seiner Worte troff dabei vor Spott und Ablehnung, und mein Wunsch, auf irgendetwas einzuschlagen, war ins Unermessliche gestiegen.

Dabei wusste ich selbst nicht, ob es das Richtige war. Aber genau darum ging es doch: Ich musste einfach für mich herausfinden, wer ich war und was ich wollte. Dass ich von meinen Fotografien allein nicht leben konnte, war mir klar. Aber ich hatte etwas zu sagen. Keine Ahnung, ob das wirklich von Bedeutung war. Aber wenn ich mit meinen Bildern und den Gefühlen, die sie beim Betrachter im Idealfall auslösten, eine Handvoll Menschen zum Umdenken bringen konnte, dann war es mir das wert: mehr Weltoffenheit, mehr Toleranz, mehr Vertrauen, mehr Verzeihen. Ich war kein Optimist und kein Pessimist. Und auch wenn das wenig Sinn ergab, bewegte ich mich unablässig irgendwo zwischen Idealismus und Realismus.

Meine Mutter hingegen hatte es wenigstens geschafft, mir eine Karte zum zweiundzwanzigsten Geburtstag zu schicken. Höflich und distanziert. Nur zu gut sah ich sie vor mir, wie sie mit dem in perfekte Wellen gelegten Haar am Schreibtisch meines Vaters gesessen und die Zeilen verfasst hatte. Die Geburtstagswünsche lasen sich wie ein beschissenes Versicherungsschreiben: bedeutungsleere Floskeln, die nur aus irgendeinem lächerlichen Pflichtbewusstsein heraus niedergeschrieben worden waren.

Von der Seitenstraße aus hatte ich einen guten Blick auf das imposante Gebäude und das affige schmiedeeiserne Tor. Wer zum Teufel dachten sie, dass sie wären? Durch die Bäume mit den gefärbten Blättern konnte ich die rechte Fassade erkennen, deren helles Weiß in der Sonne glänzte. Um zu wissen, dass mein Zimmer in ein modern eingerichtetes Gästezimmer umfunktioniert worden war, musste ich das Haus nicht einmal betreten. Ich kannte noch jedes winzige Detail meines Elternhauses: die strahlenden Wände, den völlig lächerlichen Springbrunnen, in den ich im Suff einmal gepinkelt hatte. Die gestutzten Bäume und nicht zuletzt den Pool auf der Rückseite des Hauses, den wir nicht hatten benutzen dürfen. Weil das ja Dreck gemacht hätte. Eventuell. Und trotzdem hätte ich wetten können, dass genau in diesem Moment vereinzeltes Laub in dem so perfekten Blau trieb. In meiner Familie war der Schein von Perfektion schon immer das Wichtigste gewesen. Das Bröckeln unter der Oberfläche erkannte niemand. Aber hatte man es einmal wahrgenommen, dann sah man nichts anderes mehr.

Ein Klopfen an der Scheibe riss mich aus meinen Gedanken. Zwei Mal kurz. Zwei Mal lang. So wie früher.

Luca stöhnte. »Du parkst echt jedes Mal noch weiter weg vom Haus.«

Haus war wohl kaum die richtige Bezeichnung dafür. Villa traf es eher.

Ich beobachtete, wie Luca auf der Beifahrerseite einstieg. »Wie die Reise nach Jerusalem. Oder blinde Kuh. Oder …«

»Mann, du weißt, wieso«, murmelte ich.

Luca ließ sich in den Sitz fallen und legte seine Füße auf dem Armaturenbrett ab. Seine dunkelblonden Haare standen wieder in alle Richtungen ab, und er hatte dieses breite Lachen aufgesetzt, wegen dem er mit wirklich jeder Dummheit immer wieder durchkam.

»Ich hab’s kapiert. Entspann dich, Kleiner.« Ich wuschelte ihm durch die Haare.

Inzwischen war Luca fünfzehn Jahre alt und verlor mit jedem Tag mehr von seinen kindlichen Zügen. »Klappe, Paul. Nenn mich nicht so. Nicht wegen lächerlichen fünf Zentimetern!«

»Ach, doch so klein?«

Wir schwiegen eine Sekunde. Dann fingen wir gleichzeitig an zu lachen.

»Ich habe deine dummen Witze vermisst«, sagte Luca anschließend. Ich habe dich auch vermisst, dachte ich. Doch ich sagte nichts.

»Und wie läuft es mit den Mädchen?«, fragte ich ihn, als ich den Wagen auf die gewohnte Strecke Richtung Lake Superior lenkte. Noch war es warm genug für unseren üblichen Ausflug.

»Ach, keine Ahnung … weiß auch nicht«, sagte Luca und blickte etwas unsicher aus dem Fenster, während er sich auf die Unterlippe biss.

Hm. Normalerweise beantwortete er diese Frage immer mit einem genervten Nein.

»Na, komm schon! Wer ist es?« Ich grinste und boxte ihm spielerisch gegen die Schulter.

Nur langsam ließ er sich erweichen. »Da gibt es echt jemanden. Und …«, er zögerte und lehnte sich plötzlich mit einem finsteren Ausdruck in den grünen Augen zurück, »sie wäre der absolute Albtraum unserer Eltern.«

Ich lachte laut auf. Scheiße, ich hatte eine ziemlich gute Vorstellung von dem, was Luca meinte.

Lorena und Richard Berger war niemand gut genug. Als ich meine Ex Heather das erste Mal mit nach Hause gebracht hatte, hatten die beiden anschließend wirklich alles versucht, um uns auseinanderzubringen. Und als es dann wirklich vorbei gewesen war, hatte mein Vater diesen verfluchten Blick aufgesetzt, den er in der Firma immer an den Tag legte, wenn sich ein Problem von allein löste. Bei der Erinnerung trat ich bei der nächsten Ampel heftiger auf die Bremse, als notwendig gewesen wäre. »Sie gefällt mir jetzt schon. Also, erzähl mir von ihr!«, forderte ich Luca auf und vertrieb damit die düsteren Gedanken.

Doch Luca, der sonst nur Streiche und andere Dummheiten im Kopf hatte, der alles weglachte und dem das meiste irgendwie egal zu sein schien, verknotete verlegen seine Hände und schwieg.

»Komm schon. Woher kennt ihr euch?«

»Aus der Highschool.«

Mit einer Hand fuhr ich mir grinsend über den Bart. Dass Luca auf einen Schlag so unruhig war und nicht wirklich mit der Sprache rausrücken wollte, brachte mich zum Schmunzeln.

»Also, eigentlich kennen wir uns aus der Theater-AG«, fügte er schließlich hinzu.

»Moment! Was zur Hölle machst ausgerechnet du in der Theater-AG?«

»Ähm, du erinnerst dich doch noch an die Sache mit Miss Johnson?«

Laut lachte ich auf und nickte. Wie sollte ich den Moment vergessen, als Luca mir nur widerwillig erzählt hatte, wie er im Biounterricht die DVD über Zellteilung durch einen Porno ausgetauscht hatte – wo auch immer er und sein bester Kumpel den aufgetrieben hatten.

»Und jetzt hat Rektor Baker mich deswegen dazu verdonnert, bis zur Aufführung des Wintermusicals in der Theater-AG mitzumachen«, erzählte Luca mit einem genervten Augenrollen.

»Und dieses Mädchen ist zufällig auch in dieser AG«, kombinierte ich.

»Genau!«, sagte Luca mit einem breiten Grinsen. »Aber eigentlich kenne ich sie nicht wirklich.«

»Und was weißt du über sie?«, fragte ich nach.

»Sie liebt schlechte Witze und lacht viel zu laut. Ich weiß, dass ihrer Mom ein Friseurladen am Stadtrand gehört, aber ich hab keine Ahnung, was mit ihrem Dad ist. Oder ob sie Geschwister hat. Und sie trägt immer eine schwarze Lederjacke mit Nieten. Wenn sie alt genug ist, dann will sie ein Piercing haben und Schauspielerin werden. Ihr großes Vorbild ist Jennifer Lawrence. Katie ist …«, er zögerte und schien zu überlegen, »einfach cool. Es ist ihr egal, was andere über sie denken.« Für einen Moment verschwand das Grinsen aus Lucas Gesicht und machte Platz für einen Ausdruck in seinen grünen Augen, den ich noch nie darin gesehen hatte.

»Hey, sie hat es dir echt angetan, was?«, hakte ich vorsichtig nach. Luca blinzelte und sah schnell wieder aus dem Fenster. »Ja, schon.«

Ein Murmeln und der Versuch eines schiefen Lachens. Gott, in dem Moment wusste ich mit Sicherheit, dass er sich verliebt hatte. Mein kleiner Bruder stand also zum ersten Mal auf ein Mädchen, das war eine echt große Sache. »Und? Hast du sie schon geküsst?«, durchbrach ich die Stille.

»Alter, Paul!« Luca fuhr mit einem Ruck herum und schien sich nicht entscheiden zu können, ob er rot werden oder mir eine reinhauen sollte.

Entschuldigend hob ich die rechte Hand und startete einen zweiten Versuch. »Weiß Katie, dass du sie magst?«

Widerwillig schüttelte er den Kopf.

Eigentlich war ich viel zu kaputt und damit der absolut letzte Mensch, der Luca Tipps in Liebesdingen geben sollte. Ich schluckte schwer. Aber er war meine Familie. »Okay«, sagte ich gedehnt und zögerte, »ich denke, dass du die Gelegenheit nutzen und Katie um ein Date bitten solltest. Ich meine, was hast du schon zu verlieren? Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass sie nicht auf dich steht, was natürlich echt scheiße wäre. Aber dann ist es letztendlich genauso, wie es jetzt ist. Wenn sie aber Ja sagt, dann ist das deine Chance, um ihr Herz zu erobern.«

Nachdenklich furchte Luca die Stirn.

»Und mach dir keine Gedanken wegen Mom und Dad«, fügte ich hinzu. »Es ist dein Leben, und du musst glücklich mit deinen Entscheidungen sein!«

»Alter, aber es wäre einfach so unendlich peinlich, wenn sie Nein sagen würde. Ich müsste ihr aus dem Weg gehen, bis ich meinen Abschluss habe!«

»Wer nichts wagt, der darf nichts hoffen«, zitierte ich augenzwinkernd Friedrich Schiller.

»O Gott, und wenn sie Ja sagt?«

Ich musste über Lucas panischen Gesichtsausdruck laut lachen. Er schien mehr Angst vor einem Date als vor einer Abfuhr zu haben.

Es war komisch, wie Erinnerungen manchmal zu verschwommenen Bildern wurden. Gefühle zu einem Abklatsch von dem, was sie einmal waren. Ich wusste, dass ich verliebt gewesen war, aber nur vage erinnerte ich mich daran, wie es war, sich so zu fühlen. Die Nervosität, noch bevor man sich seiner Gefühle bewusst war. Die Anspannung, die einen überkam, bevor man sie sah. Aber das war schon lange vorbei. Ich traf mich nur mit Frauen, die wussten, worauf sie sich bei mir einließen. Zumindest stellte ich immer von Anfang an klar, was sie von mir zu erwarten hatten. Was sie mit dieser Information anfingen, war letztendlich ihre Sache. Bei mir gab es keine Nähe, keine Dates und schon gar keine Gefühle. Das waren die verdammten Regeln seit diesem einen schrecklichen Tag, der mein Leben für immer verändert hatte. Ich war siebzehn gewesen und naiv, hatte noch an Liebe geglaubt – bis ich den Tod eines Menschen verschuldet hatte und Heather meine Gegenwart nicht mehr hatte ertragen können. Es war der Bruchteil einer Sekunde gewesen, in dem ich auf mein Bauchgefühl gehört und eine Entscheidung getroffen hatte – ganz offensichtlich die falsche.

»Kleiner, entspann dich! Wenn sie dir wichtig ist und sie dich auch mag, dann läuft der Rest von allein. Gib dir einfach Mühe, wenn du mit ihr zusammen bist.« Ich kam mir vor wie ein mieser Betrüger. Der verkorksteste Typ vom College gab Ratschläge in Sachen Liebe. Dass ich nicht lachte.

Luca schien über meine Worte nachzudenken. Und dann fragte er plötzlich mit einem ernsten Blick: »Was ist eigentlich mit dir?«

»Was soll mit mir sein? Willst du mir etwa Tipps geben?«, fragte ich sarkastisch. Und noch im selben Augenblick wusste ich, wie unfair es war, ihn so aufzuziehen. Sein Gesichtsausdruck verdunkelte sich, und er beschloss offensichtlich, nicht weiter nachzubohren. Gott, das war wirklich fies! Aber es gab Dinge, die mein kleiner Bruder echt nicht wissen musste. Zum Beispiel die Tatsache, dass ich zu irgendeinem beschissenen Zeitpunkt die falsche Abzweigung genommen hatte. Die Richtung Arschloch.

Kurz vor Redstone bog ich links ab. Das Blau des Sees glitzerte zwischen den Bäumen hindurch, und je näher wir an den Lake Superior heranfuhren, desto deutlicher sah man die Bergkette mit den schneebedeckten Spitzen im Sonnenlicht schimmern.

Ich parkte den Pick-up an unserem üblichen Platz unter den Tannen. »Wer zuerst da ist!«, rief ich noch im Wagen und drehte mich nicht um, als ich ausstieg und losrannte. Ich wusste, dass Luca mich innerhalb von Sekunden einholen würde.

Zurück auf dem Campus, ging ich nicht in die Wohnung, sondern schnappte mir sofort die Laufschuhe aus dem Wagen. Als ich mich in Bewegung setzte, ging es mir gleich besser – die zwei Stunden Autofahrt waren für mich ein lebensnotwendiger Abstand, um nicht auszurasten. Im Takt meines Herzens schlugen meine Füße auf den Asphalt. Meine Lungen füllten sich mit frischer Luft. Ein und aus. Je mehr meine Muskeln brannten, desto mehr schien meine Wut in sich zusammenzufallen. Dennoch hämmerte es unablässig in meinem Kopf.

Ich ließ den Campus auf geschlängelten Wegen hinter mir und lief weiter, bis ich den Wald erreichte und damit die Lichtung, die ich so liebte. In der Stille zwischen Himmel und Bäumen hatte ich heute zum ersten Mal das Gefühl, tatsächlich atmen zu können.

Als ich mich eine Stunde später auf mein ungemachtes Bett schmiss, schlichen sich jedoch erneut Erinnerungsfetzen vom Tag zuvor in meine Gedanken. Bei jedem Gespräch mit meinem Vater fühlte es sich an, als müsste ich durch einen winzigen Strohhalm atmen. Ja, ich war alles andere als perfekt, aber ich war bei Weitem keine Schande für die Familie.

Trotzdem hatte ich ein Menschenleben auf dem Gewissen und spürte diese Schuld jeden Tag und jeden Augenblick wie ein schweres Gewicht auf meinen Schultern.

3.  KAPITEL

Louisa

Heute war der Herbst golden und der Himmel blau. Indian Summer in seinen schönsten Farben. Im Morgengrauen war ich eine Stunde laufen gewesen und hatte danach noch einmal meine Mathegrundlagen aufgefrischt. Ich fühlte mich erholt und bereit für einen Tag in meinem neuen Leben, als ich mich auf den Weg machte und mich nicht sattsehen konnte an den bunten Farben der Blätter.

Trish hatte angeboten, mich auf dem Campus herumzuführen und mir die wichtigsten Orte zu zeigen. Zwar hatte ich ihr gesagt, dass das nicht nötig sei, aber sie hatte sich beim besten Willen nicht davon abbringen lassen.

Auf dem Weg unterschrieb ich im Firefly bei Brian noch schnell meinen Vertrag und trug mich in den Schichtplan für Oktober ein. Den restlichen September sollte ich einfach die alten Schichten von Hannah übernehmen.

Ich sah Trish schon von Weitem unter der großen Eiche vor einem der Verwaltungsgebäude stehen. Dass ich mich dort für das Studium eingeschrieben hatte, schien eine halbe Ewigkeit her zu sein, dabei waren nicht einmal zwei Wochen vergangen.

Dankbar griff Trish nach dem zweiten Kaffeebecher, den ich in der Hand hielt. »Du bist ein Schatz, wundertollste, beste neue Frollegin!«

»Frollegin?« Skeptisch musterte ich sie von der Seite.

Trish zog eine Augenbraue hoch. »Na, Freunde. Kollegen. Zusammen Frollegen. Und wir, meine Süße, sind ab jetzt Frolleginnen.« Fröhlich hakte sie sich bei mir unter und zog mich mit sich.

Bei dem Gedanken, jemanden außer Mel an mich heranzulassen, spürte ich einen Moment lang wieder dieses enge Band um meine Brust, das mir die Luft abzuschnüren drohte. Atme, Louisa! Atme! Wenn ich nicht für immer allein sein wollte, musste ich meine Angst überwinden.

Der Campus war wirklich riesig, sogar noch größer als in meiner Vorstellung. Die Wohnheimgebäude im Süden der Anlage nahmen nur rund ein Viertel der Fläche ein. Am nächsten lagen die Verwaltungsgebäude, und auf einer kleinen Anhöhe begannen dann die einzelnen Fakultäten und die Bibliothek. Überall, wo keine Gebäude standen, saßen Studenten im Gras oder unter den Blätterdächern der Bäume und genossen die letzten wärmenden Sonnenstrahlen des Jahres. Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus, weil das viele Grün mich an meine Kindheit und das Haus am Waldrand erinnerte. Ich hatte im Wald nie etwas Bedrohliches, sondern immer etwas Behütendes gesehen. Egal, was passierte – zwischen Sonne und Bäumen fand ich immer wieder zu mir.

»Hab ich dir schon erzählt, dass ich nur studiere, weil ich nicht weiß, was ich sonst machen soll?«, sagte Trish aus dem Nichts heraus. Sie hatte sich für Literatur im Hauptfach entschieden.

Ich schwieg und dachte über ihre Worte nach. Ich war mir manchmal selbst nicht so sicher, ob mein Fach wirklich das war, was ich wollte. Ich mochte keine Überraschungen, vor allem keine bösen. Deswegen hatte ich mich für Mathematik entschieden: das Jonglieren mit Zahlen, feste Regeln und Strukturen und die Sicherheit, dass es keine Überraschungen gab. Etwas, worauf ich mich verlassen konnte. Ich hatte mich bewusst gegen Literaturwissenschaften entschieden, denn Literatur war mein Zufluchtsort, wenn die Welt um mich zu zerbrechen drohte.

Am meisten mochte ich Liebesromane, weil an die Liebe zu glauben alles irgendwie ein bisschen besser machte. Ich hatte Ein ganzes halbes Jahr erst mit einem Lächeln und dann mit viel Tränen verschlungen, hatte mich mit Claire und Jamie in allen Büchern der Highland-Saga verloren, war in Wasser für die Elefanten in das letzte Jahrhundert gereist. Mit Hazel und Gus in Das Schicksal ist ein mieser Verräter hatte ich die erste Liebe erlebt und in Die Frau des Zeitreisenden zusammen mit Clare zutiefst gelitten. Um mein kaputtes Herz zu erreichen, brauchte ich Tragik und Leid, sonst nahm ich den Protagonisten ihre Gefühle nicht ab. Ich wollte von schmerzhaftem Verlangen und bittersüßer Liebe lesen, von Drama und Melancholie. Die schönsten Wörter, die mir dabei begegneten, die außergewöhnlichsten Sätze, über die ich stolperte, schrieb ich auf und bewahrte sie in meinem Notizbuch auf, das ich immer bei mir trug. Ein so wichtiger Teil meines Lebens sollte nur mir allein gehören.

»Tun wir das nicht alle irgendwie? So als Aufschub vor dem richtigen Leben?«, antwortete ich Trish schließlich.

Paul

Aiden?

Die Antwort kam sofort.

Ja?

Wie ist sie? Also deine neue Mitbewohnerin?

Sie ist echt heiß.

Uuuund?

Sie liebt Star Wars und Game of Thrones!!!!!

Jackpot, Bro!

Grinsend legte ich mein Handy beiseite.

Aiden war mein bester Freund, und er hatte die schlimmste Zeit meines Lebens mit mir durchgestanden. Auch als ich den Blick in den Spiegel nicht mehr hatte ertragen können, war er regelmäßig bei mir aufgetaucht und hatte versucht, mich aufzubauen – und ich war in dieser Zeit nicht gerade umgänglich gewesen. Genau genommen war ich ein ziemliches Arschloch gewesen. Aber manchmal fragte ich mich, ob Aiden es mit seiner Selbstlosigkeit nicht übertrieb. Vor drei Jahren hatte es dieses eine Mädchen gegeben, das ihm das Herz gebrochen hatte. Und auch im vergangenen Jahr hatten Trish und ich immer wieder mit ansehen müssen, wie eine Frau nach der anderen ihn ausgenutzt hatte. Aiden war für sie nur ein One-Night-Stand, dabei hatte er sich dahingehend schon mindestens so ausgiebig ausgetobt wie ich und sehnte sich im Gegensatz zu mir inzwischen nach etwas Festem. Auch wenn es nicht unbedingt die beste Idee wäre: Sollte sich da etwas zwischen Aiden und seiner Mitbewohnerin entwickeln, würde ich mich wirklich für ihn freuen.

Bei mir war es genau das Gegenteil: Ich hatte absolut nichts gegen One-Night-Stands, wollte auch gar nicht mehr als Sex ohne jegliche Verpflichtung. Mein verdammtes Problem bestand eher darin, den Frauen danach begreiflich zu machen, dass ich nicht der Kerl für Dates war und sich die ganze Sache nicht wiederholen würde. Aber irgendwie schien keine von ihnen zu kapieren, dass sie mich nicht wieder ganz machen konnten. Keine Ahnung, wieso Frauen immer dachten, sie könnten mich ändern, verdammt, vielleicht sogar retten.

Ich war kaputt. Und das würde sich niemals ändern.

Louisa

Mit Die Frau des Zeitreisenden auf den Knien lehnte ich mich gegen die raue Rinde der Eiche. Nach drei Stunden Erkundungstour hatte ich Trish zum Beginn ihrer Schicht ins Fireflybegleitet. Danach war ich ziellos umhergelaufen und hatte alles in mich aufgenommen. Früher hätte ich den Moment genutzt, um mich mit Leah über die Erlebnisse der letzten Tage auszutauschen. Doch ihr war alles zu kompliziert geworden. Und so hatten wir aufgehört, miteinander zu sprechen. Bei der Zeugnisübergabe hatte ich sie das letzte Mal gesehen. Ihr reumütiges Alles Gute war da bereits zu spät gekommen.

In der Sonne zu lesen erschien mir das Beste, was ich mit dem angefangenen Tag tun konnte. Meinem Stundenplan würde ich heute Abend den letzten Feinschliff verpassen, bevor es nach dem Wochenende mit den Vorlesungen losging.

Auch dieses Buch war voller Markierungen. Für mich existierten nur zwei Arten von Menschen: die Kritzler und die Nicht-Kritzler. Ich bekannte mich schuldig. Mel aber war bekennende Verehrerin jungfräulicher Bücher, was ich nicht verstehen konnte. Ich blätterte das Buch an der Stelle auf, an der ich das letzte Mal aufgehört hatte. In der Ferne hörte ich das Plätschern eines Brunnens, das sich mit den Stimmen um mich herum vermischte. Die Herbstsonne strahlte durch das Blätterdach und kitzelte mein Gesicht, meine Gedanken aber waren schon längst bei Henry und Clare.

Eine Stunde später schlug ich seufzend das Buch zu und ließ die letzten Worte nachklingen. Ich dachte an Mel, ihren Verlobten Robbie und den Blick, mit dem er sie ansah. Officer Brown war Beschützer durch und durch.

Fröstelnd zog ich meinen schwarzen Wollschal aus meinem Rucksack, den ich für den Fall der Fälle eingepackt hatte. Ich stand auf und sammelte meine restlichen Sachen ein, um mich auf den Weg zurück ins Wohnheim zu machen. Da sah ich …

Paul

… den perfektesten Hintern der Welt in einer knallengen Jeans. Klein und rund. Ich sog scharf die Luft ein, und auch wenn ich keiner war, der Frauen so offensichtlich anstarrte, konnte ich nicht wegsehen. Oh shit! Langsam ließ ich meinen Blick nach oben wandern und sah orangefarbene Locken, die in der Sonne glänzten.

Moment! Das war das Mädchen mit den Eisaugen, das im Firefly in mich hineingerannt war. Gerade beugte sie sich über ihre Sachen, um etwas aus ihrem Rucksack zu kramen und präsentierte mir ihren Po dabei wirklich offensichtlich. Fast hätte man meinen können, dass es Absicht war. Ob gewollt oder nicht, ich grinste und genoss die Aussicht in vollen Zügen.

Eigentlich war ich schon ziemlich spät dran, aber meine Füße schienen von selbst zu entscheiden, und bewegten sich auf sie zu. Sie richtete sich gedankenverloren auf und blickte in meine Richtung. Über die Entfernung hinweg sah sie mir plötzlich direkt in die Augen. Scheiße! Während der restlichen zehn Meter zwischen uns ließ ihr intensiver Blick mich kein einziges Mal los. Sie stand da, als würde sie auf mich warten, während die Sonne sie wie ein Heiligenschein umgab. Mein Blick fiel auf das Buch in ihrer Hand.

»So so. Die Frau des Zeitreisenden also«, begrüßte ich sie.

Fragend sah sie mich an. Ihr Eisaugenblick bohrte sich in meinen. Sie war offenbar keine, die blinzelte und wegsah.

»Es gibt da doch diesen Spruch: Zeig mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist«, sagte ich.

Ich hatte wirklich keine Ahnung, ob es diesen Spruch wirklich gab. Aber das Glück schien auf meiner Seite zu sein. Ihre grellen Locken wirkten im Licht der Sonne, als wären sie aus Feuer. Sie zwirbelte eine Strähne nachdenklich um ihren rechten Zeigefinger und strich sie sich dann langsam hinters Ohr. »Und wer bin ich?«

Das würde ich zu gerne wissen. Allein durch den Unterton in ihrer Stimme forderte sie mich mit diesem Satz heraus. Süß und klug zugleich.

»Hey, das ist nicht fair. Ich kenne nur ein einziges Buch, das du liest.«

Das Buch wanderte von einer Hand in die andere, während sie mich weiterhin unbeirrt ansah. »Ist das ein Anmachspruch?« Aus diesen Wahnsinnsaugen sah sie mich misstrauisch an. Unwillkürlich musste ich lachen. Sie ging mir gerade mal bis zur Nasenspitze, streckte mir aber ihr Kinn kampflustig entgegen. Das süße Ding!

»Wieso denn nicht? Ihr sucht doch alle euren Mr. Darcy.«

Spöttisch zog sie eine ihrer dunklen Brauen nach oben. Der Kontrast zu ihren grellen Locken gefiel mir. »Ach ja?«

Ich ging noch einen Schritt auf sie zu. Dabei fiel mir auf, dass ihre Nase und die Wangen von winzigen Sommersprossen übersät waren. Ihre Augen standen ein bisschen zu weit auseinander, verliehen ihr aber mit der kleinen Nase und dem sinnlichen Mund etwas, dem man sich kaum entziehen konnte. Sie war keine klassische Schönheit und trotzdem faszinierend und schön auf ihre Art.

»Es ist nicht immer Darcy, manchmal ist es auch Bingley!« Ihre Augen funkelten belustigt.

»Du stehst also auf die guten Jungs?«, fragte ich und war in dem Moment verflucht froh, dass Trish mich stundenlang über Stolz und Vorurteil zugetextet hatte.

Ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem Grinsen: »Ich steh auf Männer.«

Heilige Scheiße. Sie war gut.

Louisa

O Gott, was war da gerade in mich gefahren? Aber dann sah ich das anerkennende Blitzen in seinen dunklen Augen, als er einen weiteren Schritt in meine Richtung machte. Langsam stieß ich die Luft aus, die ich unbemerkt angehalten hatte. Während ich mein Buch nun endgültig in meinem Rucksack verstaute und meine Finger plötzlich Schwierigkeiten mit dem Reißverschluss zu haben schienen, ließ ich mir die Locken vor das Gesicht fallen, um ihn mustern zu können.

Ich spürte seinen Blick, und auch als ich mir den Riemen über die linke Schulter schob, taxierte er mich noch. Seine Augen waren eine Mischung aus Bernstein und Braun, wie ich jetzt erkannte. Wie flüssiges Karamell. Sie hinterließen eine Gänsehaut auf meinem ganzen Körper. Es war nicht zu leugnen, dass er wirklich attraktiv war. Groß und breit gebaut. Hohe Wangenknochen und ein ausgeprägtes, markantes Kinn, bedeckt von einem dunklen Bart, was ihm etwas Düsteres verlieh, ganz im Gegensatz zu der strahlenden und warmen Farbe seiner Augen.

»Du siehst nicht aus, als wärst du einer von den Guten.« Schon wieder war mein Mund schneller gewesen als meine Gedanken. In mir war eine Nervosität, die ich mir nicht erklären konnte.

Sein Lachen war rau und laut. Und es klang irgendwie ehrlich. Sofort entspannte ich mich etwas. Dieser Typ war keiner, bei dem sich die Mundwinkel beim Lachen nur minimal nach oben zogen. Sein ganzer Mund lachte mit. So sehr, dass ich seine Zähne blitzen sah und das Vibrieren seiner Brust beinahe spüren konnte. Das war jemand, der aus ganzem Herzen lachte. Und trotzdem war ich misstrauisch.

»Ach ja, und wieso das?« Amüsiert kniff er die Augen zusammen.

Ich biss mir auf die Unterlippe, um mir das Grinsen zu verkneifen. »Hmm …« Ich begann an meinen Fingern aufzuzählen: »Du hast diesen Look. Verwaschene Jeans, dunkles Shirt. Bist trainiert, machst eindeutig viel Sport.«

Unwillkürlich wanderte mein Blick weiter nach unten an die Stelle, an der sein graues Shirt sich über seine Bauchmuskeln spannte. Als er sich mit der linken Hand das dunkle Haar, das ihm immer wieder in die Stirn fiel, aus dem Gesicht strich, sah ich auf der Innenseite seines Oberarmes die verschlungenen Linien eines Tattoos aufblitzen. Es wand sich in immer größeren Wellen nach oben, bis es schließlich vom Grau seines Shirts verschluckt wurde.

Der selbstvergessene Ausdruck in seinem Gesicht, mit dem er mich bedachte, sagte mir, dass er sehr wohl bemerkt hatte, wie ich ihn taxiert hatte.