Unschuld - Calin Noell - E-Book

Unschuld E-Book

Calin Noell

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Beschreibung

Band 3 des fünfbändigen Urban-Fantasy-Epos um die Unendlichen Kriege in der Dunkelelben-Welt Sjeldor und die Magie der Gestaltwandlerin Talil. "Solange du die Lebensbahn eines Erwachsenen noch nicht erreicht hast, hüllt sich der Mantel der Unschuld um dich. Danach jedoch wartet Krieg und Tod!" Von den Ahnen gezeichnet, kehrt die Dunkelelbin Talil ausgerechnet in Begleitung von Menschen in ihre Welt zurück und zieht sich den Unmut ihres Clans zu. Als ein Angriff von Arel immer wahrscheinlicher wird, bereitet sie alles für die Flucht der Kleinen vor. Sie kennt den perfekten Ort, doch nur in Wolfsgestalt gewährt er ihnen Zutritt … Gelingt es ihnen rechtzeitig, oder endet alles in einem verheerenden Massaker, das ihren Untergang endgültig besiegelt?

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Seitenzahl: 479

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Calin Noell

Unschuld

Seelenschwingen – Band 3

Impressum:

1. Auflage 2018

© Calin Noell – alle Rechte vorbehalten.

Epyllion Verlag

Jochen G. Fuchs

Ludwigstraße 23

76709 Kronau

[email protected]

www.epyllion.de

www.calin-noell.com

Coverdesign: Saskia Lackner

www.saskia-illustration.de

Lektorat: Roland Blümel

www.rolandbluemel.de/lektorat

Über die Autorin

»Um Wunder zu erleben, musst Du an sie glauben.«

Nach diesem Motto lebt die 1977 in Hamburg geborene Schriftstellerin Calin Noell, trägt jedoch ihren Teil dazu bei, damit sie auch wahr werden. Sie glaubt nämlich ebenso daran, dass auch immer sehr viel Eigenarbeit dazugehört, weil Wunder selten von ganz allein geschehen.Seit 2015 veröffentlicht sie erfolgreich im Selfpublishing. Im Jahr 2019 wurden ihre Taschenbücher vom Epyllion Verlag übernommen. Im April 2021 erschien ihr erster SciFi-Roman im Plan9 Verlag.

Auf den folgenden Seiten gibt es weitere Infos, zu ihren Büchern, aber auch zu ihrer Person:

www.calin-noell.com

www.facebook.com/calin.noell.Autorin

www.instagram.com/calinnoell_autorin

Danksagung

Ich danke all jenen, die so sehr mit meinen Geschichten mitfiebern, vollkommen eintauchen und die Zeit um sich herum vergessen. Ohne euch wäre all das gar nicht möglich. Danke.

Von vielen oft verteufelt, entwickelte sich FB für mich zu einem wirklich ganz besonderen Ort. Hier fand ich so unendlich viele leidenschaftliche Leser, Gleichgesinnte und schließlich entwickelten sich reale Freundschaften.

Ich möchte niemanden vergessen, daher zähle ich euch nicht auf, sondern grenze es wie folgt ein:

Dies hier geht an diejenigen, die regelmäßig mit mir Nachrichten austauschen, mich unterstützen und mir zur Seite stehen. Ich danke euch allen so sehr, dass Worte niemals ausreichen werden, um meine Gefühle dafür zu beschreiben. Ich bin unglaublich froh, dass es euch gibt!

Doch auch meinen anderen Wegbegleitern danke ich von Herzen, euch allen.

Da ich inzwischen selbst weiß, wie unglaublich wichtig Werbung ist, hier nun ein einziger Name:

Danke, Saskia Lackner. Für Deine grenzenlose Geduld und Deine wundervollen Cover!

Seelenschwingen

Unschuld

Band 3

von

Für alle,

die wir schmerzlich vermissen.

Prolog

Es ist uns tatsächlich gelungen, sie zu halten, zu beschützen und ihre Seele zu erretten. Was nun folgt, liegt nicht länger in unserer Macht, sondern einzig und allein in den Händen von Talil. Wir können sie leiten, ihr die Richtung weisen, von nun an jedoch entscheidet sie selbst, welchen Weg sie beschreitet.

Unsere Hoffnung wächst, denn endlich scheint es möglich, die Kriege zu beenden und das Volk der Dunkelelben in die Unsterblichkeit zurückzuführen. Ich bete für sie und für uns in dem Wissen, dass wir nicht mehr lange in dieser Welt bestehen, sollte sich nichts verändern.

Wilton

Forderung

Hände packten und schüttelten sie leicht. »Talil, alles in Ordnung. Du bist hier, bei mir, in Sicherheit«, rief Kiljan drängend und sofort umschlang sie ihn mit den Armen. Ihr zitternder Körper beruhigte sich nur langsam. »Du warst auch da«, flüsterte sie leise.

Er hielt sie noch ein bisschen fester. »Ja, das war ich. Alles ist gut.«

Nichts ist gut, und sie wusste es, spürte es tief in ihrem Innern, nur verstehen konnte sie es nicht. »Halt mich, Kiljan. Halt mich fest, und lass mich nicht wieder los.« Ihre Stimme klang so verzweifelt und voller Angst.

»Was hat das zu bedeuten? Wovor fürchtest du dich so?«

Sie antwortete ihm nicht, versuchte, angestrengt das Chaos in ihrem Kopf zu sortieren. Draußen schien die Sonne, hell und klar. Sie hatten Stunden geschlafen, dennoch fühlte sie sich, als wären erst Minuten vergangen.

Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, erhob sie sich zögernd. »Wir sollten aufstehen und uns anziehen. Ich muss mit Ean sprechen.«

Kiljan nickte, betrachtete sie besorgt. »Was bedeutet dieser Traum?«, wiederholte er seine Frage und hielt ihre Hände fest.

»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie, schaffte es jedoch nicht, seinem Blick standzuhalten.

»Aber du besitzt eine Ahnung oder eine ungefähre Vorstellung.«

Sie sah auf ihre miteinander verschränkten Hände und drehte ihren Unterarm so, dass sie die Schwinge betrachten konnte. Plötzlich fiel eine einzelne Träne und Kiljan betrachtete sie bestürzt.

»Talil, rede mit mir.«

»Bitte, Kiljan. Ich muss erst mit Ean sprechen. Ich bitte dich darum.«

Sie klang so verzweifelt, dass er es nicht wagte, sie weiter zu bedrängen. »In Ordnung, wenn du mir versprichst, es mir danach zu erzählen, gleichgültig, was er dir offenbart.« Stockend nickte sie, doch noch immer ließ er sie nicht los.

»Ich verspreche es dir«, entgegnete sie niedergeschlagen und hob endlich ihren Blick.

»He, gemeinsam, schon vergessen? Damit meinte ich nicht nur dieses Bett hier, hörst du?«, betonte er leise, jedoch eindringlich. Er trat hinter sie und legte seinen Unterarm an ihren, vervollständigte ihr Bildnis.

Langsam nickte sie. »Gemeinsam«, flüsterte sie und holte tief Atem. »In Ordnung«, ergänzte sie, noch immer zitternd. »Doch vorher duschen und anziehen.«

»Und essen«, fügte Kiljan lächelnd hinzu. »Du machst ganz schön hungrig«, witzelte er und erzielte den erhofften Erfolg damit. Sie lächelte, während sie an ihm hinabsah.

»Wird sein Hunger jemals gestillt sein?«, fragte sie frech und er packte sie, zog sie näher zu sich heran.

Seine Hände wanderten ihren Körper hinunter, bis er schließlich mit seinen Fingern sachte in sie glitt und aufstöhnte. »Niemals, solange du so bereit für mich bist.«

Sie seufzte, eher wohlig und zufrieden, entzog sich jedoch und betrat das Badezimmer. »Duschen«, wies sie an und ergriff die Seife.

»Gemeinsam«, stieß er hervor und schob sie in das schneckenartige Gebilde hinein. Noch bevor sie den Wasserstrahl erreichten, wandte sie sich aber plötzlich um und griff in sein Haar. Fordernd zog sie ihn zu sich und küsste ihn, rieb sich an ihm und schließlich presste er sie an die Wand.

»Bei allen Geistern! Wenn das nicht nachlässt, kommen wir niemals wieder aus diesen Räumen heraus«, flüsterte er keuchend vor Erregung und packte ihre Beine, die sich wie von allein um seine Hüften schlossen.

Mit den Händen stützte sie sich an einem Vorsprung ab, während er in sie hineinglitt. Aufstöhnend vor Wonne stieß er zu. Seinen fordernden Stößen folgend kam sie ihm nicht weniger drängend entgegen.

»Du hast angefangen!« Sie lächelte. Er hielt inne, betrachtete sie liebevoll und küsste sie. Erneut krallte sie ihre Hände in seine Haare, küsste ihn leidenschaftlich.

Heißer Dampf stieg empor, als sie endlich ihre Erlösung fanden, sich noch immer aneinanderklammerten, zitternd vor Gefühl.

»Was geschieht hier nur?«, fragte sie flüsternd und ließ ihn langsam los.

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete er ebenso leise und gab ihr einen flüchtigen Kuss. »Wasch dich, zieh dich an und dann geh schon mal nach unten. Ich komme gleich nach.«

Sie wusch sich hastig, während Kiljan ganz offensichtlich das Zimmer verließ. Sie spürte seine Abwesenheit als seltsames Zerren in ihrem Innern und zog sich an. Immer wieder fiel ihr Blick auf ihr Bildnis, sanft strich sie darüber und ihre böse Vorahnung verstärkte sich.

Sie bemerkte kaum, dass ihre Narben in ihrer wahren Gestalt verblasst waren, starrte immer wieder auf ihren Unterarm und dachte an ihren Traum zurück. Kiljan aber begegnete sie nicht mehr.

Seufzend wandelte sie sich in ihre menschliche Gestalt und ging die Flure entlang, die Stufen hinunter und unterdrückte das Gefühl, unbedingt umdrehen zu müssen.

Sie wusste genau, dass Kiljan sich in dem Zimmer neben ihrem befand, konnte ihn spüren, als hätte sie einen Kompass verschluckt und er wäre die magnetische Nordrichtung des Erdmagnetfelds.

Vor der Tür des Esszimmers blieb sie stehen, hörte die anderen und kämpfte gegen sich selbst. Jeder Schritt schmerzte und als sie die Tür öffnete, einen weiteren Schritt in den Raum trat, stöhnte sie qualvoll auf.

Talil

Im Esszimmer waren die anderen bereits versammelt und erhoben sich, als ich die Tür öffnete. Zitternd erreichte ich den ersten Stuhl und klammerte mich daran fest.

»Alles in Ordnung?« Bruce musterte mich beunruhigt.

»Nein«, stieß ich hervor und zwang mich dazu, mich hinzusetzen. »Ich sehe, ihr seid gerade alle beim Frühstück. Es tut mir leid, aber könnte ich kurz mit Ean sprechen, bitte.«

Überrascht sah er mich an und nickte. »Gehen wir doch in den Garten.«

Ich lächelte gezwungen. Inzwischen war ich mir sicher, dass ich keinen weiteren Schritt machen konnte, der die Distanz zwischen Kiljan und mir weiter vergrößern würde. »Tut mir leid, doch das geht nicht.« Nur stockend brachte ich die Worte hervor und ergriff zitternd die Wasserflasche. Für niemanden hier war mein Zustand noch zu übersehen.

Quinn nahm mir die Flasche aus den zitternden Händen und schenkte mir ein. »Danke«, flüsterte ich und schloss die Augen, spürte, wie Kiljan unser Schlafzimmer betrat, das einige Schritte weiter entfernt lag, als das vorherige. Mit beiden Händen fasste ich das Glas, führte es mühsam zu meinem Mund und trank schließlich gierig.

»Mädchen, verzeih mir diese direkte Frage, aber bist du auf Entzug?«

Ich verschluckte mich, hustete und lachte gleichzeitig. Umständlich erhob ich mich und wankte zur Tür, lehnte mich dort an die Wand. Diese paar Schritte halfen, machten das Elend erträglicher. Ich lächelte gequält. Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn auch vollkommen anders, als er dachte.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Quinn, keine Drogen. Ich erkläre es euch, doch erst muss ich mit Ean sprechen, allein, und zwar hier in diesem Raum. Wenn Kiljan hinunterkommt, lasst ihn bitte herein.« Er erhob sich und blickte auffordernd in die Runde.

»Entschuldige, Bruce. Ihr könnt gleich weiteressen. Doch ich kann wirklich nicht hinaus.« Er nickte und erhob sich ebenfalls.

»Ich würde gerne auch bleiben«, sagte Alasdair und betrachtete mich abwartend. Genervt von den zerrenden Schmerzen und seiner Frage, fuhr ich mir übers Gesicht, als mir Ean überraschend hilfreich zur Seite sprang.

»Nein, mein Sohn. Lass mich mit Talil kurz allein sprechen. Ich denke, es betrifft ihre Gabe.«

»Wir haben gesagt, wir haben keine Geheimnisse mehr voreinander.« Zwar sprach er leise, doch der Vorwurf war nicht zu überhören.

»Weißt du, du verzichtest seit zwölf Jahren freiwillig auf meine Gesellschaft, da werden fünf Minuten mehr oder weniger auch keinen Unterschied mehr machen, oder?« Ich hielt mir den Kopf und seufzte laut. Ich hatte das gar nicht sagen wollen, doch er provozierte mich ständig mit seinem Getue und gerade jetzt vertrug ich das besonders schlecht.

»Tut mir leid«, stieß ich angestrengt hervor, doch ehe er etwas erwidern konnte, zischte Bruce ihm irgendetwas zu, und er ließ sich widerstandslos hinausziehen.

Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, holte Ean tief Luft, doch ich hob eilig meine Hand. »Bevor wir uns der Familienzusammenführung widmen, sag mir, was du über die Seelenschwingen und die Wölfe weißt.«

Erschrocken betrachtete er mich, zögerte jedoch noch immer. »Ean, du musst mich nicht mögen, ich gebe zu, ich mag dich auch nicht gerade besonders und vertrauen tue ich dir schon gar nicht. Doch wie du siehst, geht es mir momentan nicht sehr gut und je weiter ich mich von Kiljan entferne, umso schlimmer wird es. Die Wölfe waren bei mir, also bei uns, denn diesmal teilte Kiljan den Traum mit mir. Sie sagten irgendwas, und seitdem wir aufgewacht sind, stimmt irgendetwas nicht.«

Ich betrachtete ihn und stockte. »Was weißt du?«, rief ich und erhob mich mühsam, war jedoch nicht in der Lage, einen weiteren Schritt vorzugehen. Kiljan befand sich noch immer im Bad, dem äußersten Punkt der Etage.

Kreidebleich blickte Ean mich an und machte einen Schritt auf mich zu. »Ich bin nicht sicher, Talil. Es liegt nicht daran, dass ich dir nicht helfen will. Bei allen Geistern, ich würde alles tun, um dir behilflich zu sein, doch ich bin einfach nicht sicher. Erinnerst du dich an die Worte aus deinem Traum?«, fragte er drängend, und ich überlegte fieberhaft, konzentrierte mich und rief die Erinnerungen zurück.

Erneut sah ich die Bilder, und obwohl ich die Antwort bereits kannte, wollte ich es nicht glauben.

Mein Herz raste und mir lief der Schweiß den Rücken hinunter. Kiljan ging wohl gerade zu dem Sitzpolster, auf dem seine Tasche mit seiner Kleidung lag, denn das Zerren ließ ein klein wenig nach, hörte auf, mir die Luft abzuschnüren.

»Zeigst du mir deinen Arm?«, vorsichtig erklangen die Worte, und ich lächelte, dankbar, dass er fragte, statt zu fordern.

Langsam krempelte ich meinen Ärmel hoch. »Krieg bitte keinen Infarkt, ja?«

Er lachte. »Ich werde es versuchen.«

»Ich meine es ernst. Flipp bitte nicht aus, oder tu es wenigstens leise.«

»Ich fall gleich um, nicht durch einen Infarkt, sondern vor Spannung, wenn du so weitermachst.«

Mit einem Ruck zog ich den Ärmel hoch und hielt ihm meinen Arm hin.

»Bei allen Geistern, Seelenschwingen!«, flüsterte er bestürzt und wurde kreidebleich.

»Kiljan ist mein Gegenstück. Und mit dem Wort Gegenstück meine ich es wörtlich. Sie verschmelzen miteinander.«

»Welche Worte hörtest du in deinem Traum?«, wiederholter er seine Frage drängender.

Unsicher sah ich ihn an. »Vollendet, was begonnen wurde«, flüsterte ich und fasste mir erneut an den Kopf. Kiljan war wieder im Bad, und ich konnte nur hoffen, dass er sich beeilte.

»Du hast ihn erwählt, nach den alten Bräuchen?«, wisperte er und wurde noch blasser.

»Ean, wenn es dir nichts ausmacht, wäre es gut, wenn du mir sagst, was du weißt, bevor ich in Ohnmacht falle, denn viel fehlt nicht mehr.«

Sein Blick fixierte mich, während er schließlich vor mir niederkniete. »Du kennst die Antwort bereits«, entgegnete er ruhig, doch ich schüttelte den Kopf.

»Das kann niemand von mir verlangen«, flüsterte ich entsetzt. »Ean, sag mir, dass ich mich irre. Sag mir, was ich tun muss«, flehte ich.

»Erzähl mir von dem Traum«, sagte er leise, und ich schloss die Augen.

»Ich stehe im Dunkeln, gehe auf das Licht zu. Als ich den Lichtkreis betrete, muss ich meine Augen schließen, weil es so blendend hell ist. Erst jetzt sehe ich sie, fünfzehn Wölfe, die sich um mich herum aufstellen. Plötzlich spüre ich Kiljan neben mir und die Stimme erklingt: Vollendet, was begonnen wurde. Dann bin ich schreiend aufgewacht.«

Traurig betrachtete er mich und nickte schließlich. »Ich komme zu demselben Schluss wie du. Sie wollen, dass ihr euch hingebt, in deiner magischen Gestalt, um eure Vereinigung zu vollenden. Wofür das dient, weiß ich leider nicht, doch ich kann dir ansehen, dass du kaum die nächsten Stunden überstehst, wenn ihr es nicht tut.« Ich sah ihn an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank und er wusste, dass ich genau das dachte.

»Ich muss die Schriften studieren, Talil. Ich würde dir so gerne helfen, so jedoch kann ich dir nicht sagen, wozu das sein muss. Ich glaubte nie daran, daher habe ich mich auch nie damit beschäftigt.« Aufmunternd drückte er meine Hand und seufzte. »Es tut mir so leid.«

»Du sagst mir jetzt aber nicht, dass ich mich in meiner magischen Form, also als Wölfin, mit Kiljan in Wolfsgestalt paaren soll, während fünfzehn Wölfe, oder was auch immer sie in Wirklichkeit sind, dabei zusehen? Das kann nicht dein Ernst sein. Das kann nicht ihr Ernst sein. Das ist ... Ich bin eine Dunkelelbin, kein Tier!«, schrie ich bestürzt darüber, dass es tatsächlich wahr sein sollte. »O Gott, bitte mach, dass das nicht wahr ist.«

Betroffen sah Ean mich an und ich seufzte. Für ihn klang das sicherlich wie Gotteslästerung, da ich nicht unsere Ahnengeister angerufen hatte, sondern den Gott der Menschen. Doch ich hatte nun einmal zwölf Jahre bei ihnen gelebt, wenn man es denn so nennen wollte. Zwar glaubte ich nicht an diesen Gott, doch im Sprachgebrauch war er irgendwie allgegenwärtig.

Ich seufzte erneut, diesmal jedoch vor Erleichterung und lächelte. »Kiljan ist auf dem Weg. Je näher er kommt, desto besser fühle ich mich.« Gequält lächelte ich. »Zu nah ist allerdings auch nicht gut«, fügte ich hinzu und rieb mir übers Gesicht.

»All das hast du erlitten, weil er nicht bei dir war?«, fragte Ean unsicher und ich nickte.

»Wir haben das am weitesten entfernt liegende Zimmer von hier aus gesehen. Wenn er im Bad, also am entferntesten Punkt ist, schneidet es mir die Luft ab. Im Wohnraum, vielleicht zehn Schritte näher, ist es erträglich, doch noch immer wie ein Stachel in meinen Eingeweiden. Ich spüre genau, wo er ist. Er kommt gerade die Stufen herunter und mein Herz seufzt auf. Doch wenn er zu nah ist, bringt uns unser Verlangen fast um. Irgendwann wird es das wohl.«

»Das Zittern, die Schweißausbrüche, deine Blässe, alles nur, weil er zu weit von dir entfernt ist, im selben Haus?«, fragte er verunsichert. Ich nickte, während ich lächelnd zur Tür hinaufsah. Kiljan öffnete sie und trat ein. Erleichtert schloss er sie und ließ sich an Ort und Stelle niedersinken.

»Du hast es auch gespürt, oder nicht?«

Ich nickte, berührte seine Wange und augenblicklich wurde ich von unendlichem Verlangen durchströmt. Hastig erhob ich mich und ging langsam auf das Fenster zu, hatte Angst vor den Folgen seiner Berührung.

»Was geschieht, wenn wir dem nicht nachgeben?«, fragte ich langsam und kämpfte den Drang nieder, mich in seine Arme zu werfen.

»Das kann ich dir hoffentlich in ein bis zwei Tagen mit Gewissheit sagen.«

Kiljan trat an mich heran. Ich spürte ihn wie einen Feuerschein in meinem Rücken und lehnte mich erleichtert an ihn. »Du weißt ebenso wie ich, dass uns diese Zeit nicht zur Verfügung steht. Was also können wir sonst noch tun?«, erkundigte ich mich, hörbar resigniert, weil ich bereits wusste, dass auch er keinen Ausweg kannte.

»Bringst du Kiljan bitte auf den aktuellen Stand«, forderte ich seufzend und lehnte meine Stirn an die kühle Scheibe. »Kannst du dich an den Tisch setzen, bitte?«, fragte ich leise und spürte sein zögerliches Nachgeben.

Ich hörte ihnen nicht zu, sah immer wieder den Kreis der Wölfe vor mir und erschauderte angeekelt. Ich hatte mich jederzeit in meiner Wolfsgestalt wohlgefühlt, sicher und geborgen, hatte es sogar genossen, eine Wölfin zu sein, doch das konnte niemand von mir verlangen. Allein die Vorstellung war schon so widernatürlich, das Bild der gaffenden Wölfe so fest in mir verankert, dass es mich zurück in die Zelle von Dr. Simon katapultierte. Erneut hing ich an den Balken und statt elf Männern und einem heimlich gaffenden Dunkelelb, standen nun fünfzehn Wölfe am Rand und winselten. Ich kämpfte den Drang nieder, mich zu übergeben, überwältigt von der Angst vor den Folgen, vor den Schlägen von Dr. Simon und fing an zu zittern.

Plötzlich wurde ich gepackt, mein Gesicht gedreht und starrte in funkelnde moosgrüne Sternsaphire. Als seine Lippen mich trafen, sich vergewisserten, dass es mir gutging, kehrte ich lächelnd zurück in die Wirklichkeit.

»Ich bin hier«, flüsterte ich erleichtert, während sich seine Arme fest um mich schlossen, bis er spürte, dass ich vollständig zurückgekehrt war. Erst dann ließ er mich zögernd los, behielt jedoch meine Hand in seiner.

»Was machen wir jetzt?«, fragte er schließlich und ich blickte auf unsere Hände.

»Ich kann das nicht«, antwortete ich flüsternd. »Ihr könnt das vielleicht nicht verstehen, aber das kann niemand von mir verlangen.«

Er drückte meine Hand, doch ich spürte auch seine Begierde, sah seinen inneren Kampf, sich nicht einfach auf mich zu stürzen und wandte den Blick wieder auf unsere miteinander verschränkten Finger.

»Setzt euch erst einmal und esst. Ihr seht beide aus, als würdet ihr jeden Moment umkippen. Ich lass die anderen wieder hinein.«

Schweigend setzten sie sich an den Tisch. Kiljan hatte inzwischen ein Brot geschmiert und legte es auf meinen leeren Teller, den ich noch immer anstarrte.

»Also, was ist hier los?«, fragte Alasdair besorgt, und ich seufzte. Könnte er doch bloß aufhören, immer alles so darzustellen, als hätte er ein Anrecht auf alles und jeden.

Ich sah Kiljan an und mein Herz begann augenblicklich, zu rasen. Er nickte, doch ich musste erst einmal meine Augen schließen und das Verlangen niederkämpfen, das mich fest in seinem Griff hielt. Schließlich gelang es mir, und ich atmete tief durch, sah Bruce an, jeden im Raum, nur Alasdair nicht, schaffte es einfach nicht.

»Kiljan und ich haben uns nach den alten Bräuchen die Hand zum Bund des Lebens gereicht. Geheiratet, würdet ihr es wohl nennen«, erklärte ich Bruce lächelnd.

»Du bist noch nicht einmal volljährig. Ohne mein Einverständnis ist dieser Bund nichtig!«, rief Alasdair aufgebracht.

Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Wir wurden gezeichnet«, sagte ich scharf in seine Richtung. »Da ist deine Meinung dazu wohl irrelevant.«

»Aber das ist doch toll!«, rief Leo erst lächelnd, dann jedoch unsicher.

»Anscheinend nicht, oder warum seht ihr aus, als würde gleich die Welt untergehen?«, fragte Quinn, und ich erwiderte seinen Blick.

»Was wisst ihr über diesen Brauch?«, fragte ich, statt direkt zu antworten.

»Ihr habt keine Ringe, sondern bekommt so etwas Ähnliches wie eine Tätowierung auf den Arm. Und nicht immer ist jeder mit diesem Bild zufrieden, denn ihr könnt es nicht selbst wählen, sondern es wird irgendwie festgelegt«, antwortete Bruce und ich nickte.

»Es spiegelt unser Innerstes wider und ist absolut einzigartig, gleicht niemals einem anderen. In der Regel entspricht nur ein kleines Detail dem Bildnis des Erwählten«, sagte ich ernst.

Erneut blickte ich zu Kiljan und gemeinsam begannen wir, unsere Ärmel hochzuschieben. Wir zeigten ihnen unsere Schwingen, legten unsere Arme aneinander und das Bildnis verschmolz zu einer Einheit.

»Aber das ist doch der absolute Wahnsinn«, rief Leo begeistert und sah von mir zu Kiljan. »Oder nicht?«, fragte er leise.

»Bei allen Ahnen! Seelenschwingen«, flüsterte Alasdair erschüttert und ließ sich auf seinen Stuhl sinken.

»Was bedeutet das?« Bruce betrachtete mich fragend.

»Wir wissen es nicht genau«, antwortete ich ausweichend.

»Aber jetzt geht es dir wieder gut? Du hast vorhin wirklich, entschuldige bitte, doch du hast echt furchtbar ausgesehen.«

Ich nickte und lächelte gequält. »Kiljan und ich, wir ertragen es nicht, voneinander getrennt zu sein«, sagte ich langsam und sie grinsten, nur Bruce sah mich ernsthaft an. »Es verursacht extreme körperliche Schmerzen, und ich glaube, sollte einer von uns einfach in einen Schnellzug einsteigen, vorausgesetzt er kommt überhaupt bis zum Bahnhof«, sagte ich lächelnd an Kiljan gewandt. »Und der Zug fährt davon, ohne Möglichkeit, von uns angehalten zu werden, würde uns das beide umbringen.«

Nur langsam begriffen sie, dass ich diese Worte vollkommen ernst meinte. Bestürzung machte sich breit. »Aber wieso?«, fragte Bruce schockiert.

Scheinbar gleichgültig zuckte ich mit den Achseln. »Ean müsste die alten Schriften studieren, doch ich vermute, dass uns diese Zeit nicht bleibt.«

»Was?«, riefen alle bis auf Alasdair im Chor.

»Was ist die Alternative?«, fragte er stattdessen ruhig, und betrachtete Ean, der seinen Blick mir zuwandte.

»Ehrlichkeit«, zischte Alasdair aufgebracht.

»Warst du früher eigentlich auch schon so ein Arsch, und ich nur zu klein, das zu begreifen?«, rief ich verächtlich. Unbeherrscht stürzte er auf mich zu, doch ehe irgendwer von uns reagieren konnte, erhob Kiljan sich und hielt ihn bereits an der Kehle gepackt. Er reagierte so ungewöhnlich rasch, dass ich mir einbildete, seine Bewegungen wären nur noch unscharf wahrzunehmen gewesen.

»Wow! Das nenne ich mal wirklich schnell«, begann ich ehrlich beeindruckt, legte ihm jedoch beschwichtigend meine Hand auf den Arm. »Du kannst ihn jetzt loslassen, bevor er noch blau anläuft. Ich denke, er hat die Botschaft verstanden.«

Ein Zittern durchlief Kiljans Körper, doch schließlich öffnete er ganz langsam seinen Griff. »Solltest du das noch einmal versuchen, töte ich dich!«, zischte er leise und jeder im Raum verstand, dass er das vollkommen ernst meinte.

Ich schluckte und fasste seine Hand. »Setz dich. Ich habe ihn provoziert. Es tut mir leid«, entschuldigte ich mich, an Alasdair gewandt und meinte es tatsächlich ehrlich, wie ich überrascht feststellte. Zwar ging mir sein Verhalten gewaltig gegen den Strich, doch noch immer schwelte die Hoffnung in mir, dass mein alter Vater, der, den ich früher so vergöttert hatte, irgendwo in ihm schlummerte.

Röchelnd rieb er sich den Hals.

»Aber es muss doch einen Ausweg geben«, durchbrach Quinn die Stille, und ich zuckte schweigend mit den Schultern.

»Die Ahnen verlangen, dass wir uns in unserer magischen Gestalt miteinander verbinden«, sagte ich leise und Kiljan drückte meine Hand.

»Und was genau bedeutet das? Verzeih mir, Talil, aber ich verstehe es nicht.«

Ich nickte, brachte die Worte jedoch nicht hervor.

»Sie sollen sich in Wolfsgestalt paaren«, erklärte Ean ruhig, und ich lehnte mich an Kiljan. Ich spürte ihre Blicke. Hastig erhob ich mich, befreite mich von seiner Hand und lief zur Tür. Die letzten Schritte jedoch gelangen nur noch mühsam und der Griff nach der Türklinke wurde zur Zerreißprobe. Meine Hand zitterte und mein gesamter Körper folgte. Frustriert schlug ich zu, traf die Zarge mit voller Wucht und heißer Schmerz fuhr durch meinen Arm. Niedergeschlagen sank ich zu Boden, wusste, dass ich niemals ohne Kiljans Begleitung in den Flur käme. Selbst jetzt noch, wo wir nur wenige Schritte voneinander entfernt saßen, war es die reinste Qual.

»Es wird schlimmer«, stieß Kiljan hervor und suchte flehend meinen Blick. Ich lächelte gequält, und er trat eilig auf mich zu. Wehrlos schlossen wir beide die Augen, der Drang, ihn hier und jetzt zu lieben, überwältigte mich beinahe, und erst als er nur noch meine Hand fasste, ließ es ein wenig nach.

»Selbst ich sehe, dass wir keine Zeit haben. Die einzige Möglichkeit ist, dass du mit unseren Ahnen in Kontakt trittst und versuchst, mehr herauszufinden, Talil«, sagte Ean ernst und ich nickte, hatte gerade dieselbe Idee und erhob mich wortlos, zog Kiljan mit mir.

»Quinn und ich begleiten euch«, rief Bruce hinterher. Dankbar warf ich ihm einen Blick zu, hoffte, ihre Anwesenheit würde ausreichen, damit wir nicht übereinander herfielen.

Schweigend gingen wir in unser Zimmer hinauf. Quinn und Bruce nahmen stumm auf dem Sofa Platz und griffen sich je eine Zeitschrift.

»Ich danke euch beiden«, begann ich leise. Sie lächelten sichtbar herzlich. »Ich meine es wirklich ernst. Wir kennen uns gar nicht und doch seid ihr mir näher als viele andere hier. Ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist, was ihr für mich tut, deswegen danke ich euch besonders.«

Sprachlos erwiderten sie meinen Blick, entgegneten jedoch nichts mehr. Also legten wir uns hin, und ich griff nach Kiljans Hand. Spürbar unwillig befreite er sich sofort und zog mich an sich. Wohlig seufzte ich auf und schmiegte mich eng in seine Arme.

»Bereit?«, fragte ich leise und er zwinkerte mir aufmunternd zu. Wir schlossen unsere Augen, Kiljan küsste meine Stirn und verschränkte seine Finger mit meinen.

»Gleichgültig was geschieht, lass mich nicht los«, flüsterte er.

»In Ordnung.«

Ich versuchte, meinen Atem zu beruhigen, mein flatterndes Herz, das seine Nähe ständig verursachte, und als ich dachte, ich hätte mich endlich unter Kontrolle, presste er plötzlich seine Lippen auf meine. Meine Hände schoben sich wie von selbst unter sein Hemd und strichen über seine Haut.

»Bei Gott, bitte lass mich so etwas auch noch einmal erleben.« Quinn lachte und durchbrach damit unseren Drang.

Ich ließ meine Hände, wo sie waren, schloss die Augen und atmete tief durch. Kiljan hielt mich fest umschlungen und ich spürte seinen rasenden Herzschlag, konzentrierte mich nur noch darauf, und das half mir endlich, zur Ruhe zu kommen.

»Kiljan?«, flüsterte ich.

Beruhigend drückte er meine Hand. »Ich stehe genau neben dir«, entgegnete er ebenso leise.

Hand in Hand gingen wir auf das Licht zu. Erneut zwang mich der blendende Schein, die Augen zu schließen. Ich bemerkte die Wölfe, die den Lichtkreis betraten und um uns herum Aufstellung nahmen.

»Vollendet, was begonnen wurde«, ertönte die Stimme und die Wölfe legten sich nieder.

»Warum? Warum ist das so wichtig?«, fragte ich und erwartete gar keine Antwort.

»Erst die Vollendung bringt dir die Macht, die ihr braucht, um dem Weg zu folgen, der dir bestimmt ist.«

»Welchem Weg?«, fragte ich misstrauisch und hielt den Atem an.

»Der Weg, der dir vorherbestimmt ist, den du jedoch selbst erwählst.«

Ich runzelte die Stirn. Was war das schon wieder für eine kryptische Antwort?

»Die Vollendung muss vollzogen werden oder ihr werdet beide zugrunde gehen.«

Ich drehte mich einmal langsam im Kreis, sah jedoch nichts und niemanden außer den Wölfen und Kiljan.

»Kiljan ist dein Gegenstück, ebenso wie du das Seine bist. Er lebt, um zu schützen, was er liebt. Er stirbt, wenn du stirbst. Du aber lebst, um zu schützen, wer sich nicht selber schützen kann. Doch du wirst leben, selbst wenn Kiljan nicht mehr ist. Du trägst die Gabe und die Bürde, aber der Bund hat erst Bestand, wenn ihr euch in magischer Gestalt vereinigt.«

»Aber was bedeuten die Seelenschwingen, wozu das alles?« Erneut sah ich in die Runde, doch die Wölfe verharrten vollkommen still.

»Kiljan lebt, um zu schützen, was er liebt. Du lebst, um zu schützen, wer sich nicht selber schützen kann. Vollendet die Vereinigung, damit deine Gabe sich entfalten kann«, erklang es erneut, doch diesmal leiser als zuvor.

»Es muss einen anderen Weg geben«, flüsterte ich bestürzt.

»Die Vereinigung muss nicht hier erfolgen, doch die Zeit vergeht. Das Letzte, das wir wollen, ist dich zu quälen, Talil. Gib dich der Führung deiner Wölfin hin«, wisperte die Stimme.

Blinzelnd öffnete ich die Augen und brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass ich mich wieder mit Kiljan im Schlafzimmer befand. Als ich mir seiner Nähe bewusst wurde, erzitterte ich.

»Raus hier!«, zischte Kiljan dunkel, und ich erschauerte. Quinn und Bruce erhoben sich zögernd. »Raus hier, aber lasst alle Türen offen, auch die, die in den Garten hinausführt.«

Überrascht sah ich ihn an, doch er küsste mich bereits, ungebändigt und wild.

»Talil, ich will dich, hier und jetzt, dennoch wissen wir beide, dass das niemals genug sein wird. Lauf in den Wald, du bekommst so viel Vorsprung, wie ich ertrage und jetzt los. Fliehe!«, flüsterte er an meinen Lippen, während er sich bereits an mir rieb. Ich griff in sein Haar und zwang ihn dazu, mich zu küssen.

Er streifte meine Brüste, reizte sie. »Und jetzt lauf!«, grollte seine Stimme plötzlich tief. Ich erhob mich, berauscht von dem Verlangen und rannte los. Noch bevor ich die Stufen erreichte, hatte ich mich bereits gewandelt und hetzte hinaus, verfolgt von den Augen der anderen.

Draußen angekommen stieß ich ein durchdringendes Heulen aus, dann lief ich, wusste, dass ich nichts davon mehr würde aufhalten können. Aufregung packte mich, während ein Kribbeln meinen gesamten Körper durchfuhr. Schon spürte ich ihn in meiner Nähe und ergab mich meinem Instinkt, überließ meiner Wölfin die Führung und ließ einfach los.

Vollendung

Als ich die Augen öffnete, kniete Kiljan vor mir und beugte sich zu mir herunter. »Alles in Ordnung?«, Seine Stimme klang vorsichtig, behutsam.

Verunsichert betrachtete ich ihn, nickte jedoch. »Ich kann mich kaum an irgendetwas erinnern«, flüsterte ich. Sein Lächeln wirkte bedrückt. »War es schlimm?«, fragte ich und richtete mich auf, fasste sein Gesicht. Ich spürte, dass er sich erinnerte, an alles.

»Schlimm ist nicht das Wort, das ich wählen würde. Ungewöhnlich, vielleicht ein wenig seltsam, wäre wohl treffender.«

Ich spürte seine Betroffenheit, auch wenn er krampfhaft versuchte, sie zu verbergen. Langsam zog ich ihn zu mir und küsste ihn. Behutsam, voller Gefühl, bis er seine Arme um mich schlang und mich hielt, sicher und fest. »Liebe mich, Kiljan.«

»Hier?«, fragte er entsetzt, und ich lachte.

»Ja, hier. Ich will, dass du dich hieran erinnerst, an nichts anderes.« Ich streifte sein Hemd über seinen Kopf und küsste ihn erneut, drängender diesmal. Sein Zögern verflüchtigte sich. Ungeduldig zog er meinen Pullover aus und öffnete meinen BH. Dieses Mal benötigte er nur einen winzigen Augenblick, und wir halfen uns gegenseitig aus den Hosen. Stürmisch küsste er mich, fuhr immer wieder mit seinen Händen über meinen Körper und löste sich schweratmend.

»Du bist dir sicher?«, fragte er leise, während ich mich bereits auf seinem Schoß niederließ und vor Erfüllung aufstöhnte, als er in mich hineinglitt. Lächelnd sah ich ihn an, fuhr mit den Händen durch sein Haar. Erneut nahm ich seine Betroffenheit wahr. Besorgt hielt ich inne und musterte ihn.

»Sag mir, was dich bedrückt.«

Lächelnd schüttelte er den Kopf, versuchte, mich zu küssen, doch ich fasste seine Handgelenke und ließ seinen Blick nicht los.

»Sag es mir. Ich kann deine Bestürzung nicht nur sehen, ich kann sie fühlen, Kiljan. Rede mit mir, bitte.« Plötzlich wirkte er ehrlich betroffen. »Bitte sei ehrlich, wenigstens du«, flüsterte ich und wusste, wie unfair das war.

»Wenn du stirbst, sterbe auch ich, doch du wirst leben, sollte ich sterben.«

Fassungslos sah ich ihn an, bis ich seine Worte, seine Unsicherheit, begriff. Ich nahm seine Hand, spürte seine Gegenwehr, doch ich gab nicht nach und legte sie auf mein Herz.

»Spürst du das? Mein Herz? Es schlägt nur für dich, ich lebe nur für dich. Es mag medizinisch oder was auch immer, möglich sein, dass ich weiterlebe, wenn du nicht mehr bist. Doch ich wäre nur noch eine leere Hülle. Ich liebe dich, Kiljan, mehr als ich jemals mit Worten beschreiben kann. Solltest du diese Welt verlassen, folge ich dir.«

»Sag das noch einmal«, forderte er. Ich spürte, wie er die Luft anhielt.

»Solltest du gehen, folge ich dir.«

»Nein!« Er verdrehte die Augen. »Das davor!«

In Gedanken ging ich die Worte noch einmal durch und lächelte schließlich. Zärtlich fasste ich sein Gesicht und küsste ihn, konnte das Grinsen kaum noch unterdrücken. Berauscht betrachtete ich ihn.

»Ich liebe dich, Kiljan, mehr als ich jemals für möglich gehalten habe. Ich liebe und brauche dich, zweifle niemals daran. Und jetzt küss mich endlich.«

Oh, das tat er und ließ mich alles um uns herum vergessen, liebte und erfüllte mich. Kurz vor der Erlösung fassten wir unsere Hände, als müsste es genauso sein. Alles in mir vibrierte, als er mich über den Gipfel trieb. Ich schrie vor Schreck auf, als mein Arm anfing zu brennen, musste jedoch erst einmal die Augen schließen, denn die Nachwehen beherrschten noch immer meinen Körper.

Plötzlich lachte Kiljan laut auf, ein so ungewohnter, fröhlicher Laut, dass ich träge meine Augen öffnete und nichts gegen mein Strahlen ausrichten konnte. »Und ich hatte schon befürchtet, unsere Lust aufeinander wäre nur gesteuert von diesem Drang, es zu vollenden. Doch, bei allen Geistern, ich begehre dich so sehr und bin total erleichtert, dass es sich nun nicht mehr so zwanghaft anfühlt. Und dennoch kann ich kaum die Hände von dir lassen.« Er fuhr sich übers Gesicht, um ein paar widerspenstige Strähnen zu vertreiben, und ich ergriff erschrocken seinen Arm, streckte meinen ebenfalls aus. Ich hatte mir das erneute Brennen also nicht eingebildet.

»Sieh dir das an, Kiljan. O mein Gott!«

Unsere reinen, schneeweißen Seelenschwingen waren bunt verfärbt und strahlten so wunderschön, sahen aus, als seien sie lebendig.

»Ich wusste immer, dass nur du die Meine bist.« Selbstgefällig lächelte er.

»Aber was bedeutet das?«, fragte ich leise und blickte erneut auf unsere Arme.

»Ich weiß es nicht, doch nun sollte Ean genügend Zeit haben, das herauszufinden.« Er zog mich mit sich hoch. »Wie wäre es mit einem heißen Bad und einem späten, ausgiebigen Frühstück? In dieser Reihenfolge.«

»Klingt gut. Vorher jedoch sollten wir uns anziehen.« Lachend suchte ich meine Kleidungsstücke zusammen.

Gemütlich schlenderten wir zum Haus zurück, und ich genoss das Gefühl der Geborgenheit, das seine Umarmung mir bescherte. Er hatte recht, der Zwang war fort und dennoch das Bedürfnis, ihn ständig anzufassen, in meiner unmittelbaren Nähe zu haben, unglaublich stark.

Ich erinnerte mich an die Szene zurück, in der Reed mir erklärte, woran man erkennt, dass man jemanden liebt. Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Was mir jedoch noch immer unbegreiflich erschien, waren die Unterschiede zu jetzt und damals. Wie war es möglich, dass ich mich selbst so sehr von der Dunkelelbin unterschied? Müsste ich jetzt nicht erst recht vollkommen verstört sein, mehr so wie die Talil aus meinem Traum?

»Woran denkst du?«, fragte Kiljan leise und betrachtete mich besorgt.

»An Erinnerungen oder Träume, ich bin mir nicht so sicher. Ich habe Angst davor, was kommt, weil ich so vieles nicht verstehe. All das schien zu beginnen, als ich Sam zurücknahm.«

Verständnislos betrachtete er mich. Wie sollte er das alles jemals begreifen können?

»Als all das damals begann, bei Dr. Simon, verkroch ich mich in besonders schlimmen Momenten irgendwie in mich selbst. Es war, als hätte ich diesen unschuldigen, reinen Teil von mir abgespalten. Auch wenn dies ein Teil von mir selbst war, nannte ich sie Sam, als wäre sie eine andere Dunkelelbin. Sie trug alles Gute von mir in sich und schützte es. Von dem Augenblick an, als ich Sam erschuf, hörten die Träume auf. Nur die Wölfe gelangten immer wieder in mein Bewusstsein, doch es war anders, nur Begegnungen, keine Visionen. Dann durchlebte ich hier diesen Traum und obwohl ich versuchte, es zu verhindern, verband Sam sich wieder mit mir. Ich hatte große Angst, doch meine Befürchtungen, dass ich all das Gute in mir damit zerstören würde, bewahrheiteten sich nicht. Ich stehe hier, mit dir an meiner Seite und fühle mich ganz gut.«

Irritiert betrachtete mich Kiljan und ich seufzte. »Ich meine nicht das mit uns. Ich war beim ersten Mal vollkommen zerstört. Ich war seelisch am Ende, ertrug keine Nähe, keine Emotionen, musste mich selbst verletzen, mir Schmerzen zufügen, um es ertragen zu können. Doch es scheint kaum etwas davon übrig zu sein, und das verstehe ich nicht.«

»Aber das ist doch gut, oder nicht?«, fragte er zögernd und ich lächelte.

»Ja, natürlich. Trotzdem ist es merkwürdig. Müsste ich mich nicht anders aufführen, mich anders fühlen?« Frustriert rieb ich mir übers Gesicht. Irgendwie schien ich nicht in der Lage zu sein, das zu sagen, was ich sagen wollte.

»Talil, wovor hast du Angst?«

Nachdenklich sah ich ihm in die Augen, strich ihm zärtlich über seine Wange. »Was ist, wenn das hier auch wieder nur eine Vision, ein Traum ist?«

Ich sah seine Bestürzung, obwohl er versuchte, sie vor mir zu verbergen. Fest schloss er mich in seine Arme und hielt mich. »Nein, Talil, glaube daran, dass das hier wirklich ist.«

Nur flüchtig küsste er mich und ich maulte leise, während er mich lachend weiterzog. Im Haus angekommen, führte er mich an der offenen Tür zum Esszimmer vorbei zur Treppe. »Wir nehmen ein Bad und dann kommen wir runter zum Essen«, rief er, als Bruce in den Flur trat.

»Wie lange sollen wir noch warten? Was bilden die sich eigentlich ein? Dass wir hier sitzen und ständig wie dumme Schuljungen nur auf sie warten?«, rief Alasdair aufgebracht und setzte sich wieder.

»Talil hat recht. Du hast dich verändert. Was ist los mit dir? Immer wenn es um deine Tochter geht, reagierst du vollkommen übertrieben und irgendwie unpassend. Sie hat allen Grund wütend, verwirrt und enttäuscht zu sein, du jedoch nicht«, sagte Reed warnend.

Alasdair fuhr sich durchs Haar und blickte in die Runde. »Ich weiß es nicht. Ihr Verhalten provoziert mich einfach. Sie lässt mich gar nicht an sich heran. Ich habe mich so sehr auf dieses Wiedersehen gefreut, darauf, sie endlich wieder in meine Arme schließen zu können, doch sie tut, als wäre ich überhaupt nicht da.« Erstaunt richteten sich alle Blicke auf ihn.

»Sie führt sich auf, als wäre sie das einzige Opfer. Aber das ist sie nicht, verdammt.«

»Das stimmt. Du bist ebenso ein Opfer wie sie, doch sie kann es nicht wissen. Und mit einem hat sie recht. Du hättest mit ihr fortgehen können, du hättest dich anders entscheiden können, als du es getan hast. Wie sie sehr treffend sagte, waren Male und Isobel bereits tot, sie jedoch hat gelebt.«

Betroffen hob Alasdair seinen Blick. »Ich dachte, du bist mein Freund, Reed.«

»Das bin ich auch. Doch das bedeutet noch lange nicht, dass ich dir deswegen blinden Gehorsam schulde. Gerade Freunden sagt man die Meinung, selbst wenn sie die nicht hören wollen. Du benimmst dich ihr gegenüber unmöglich, und wenn du nicht willst, dass sie dich für immer hasst, dann solltest du dir deine nächsten Worte sehr genau überlegen. Sie ist erwachsen und wird sich von dir nichts mehr vorschreiben lassen. Dass sie keine sechsundzwanzig ist und somit die Lebensbahn der Erwachsenen noch nicht erreicht hat, mag für dich eine Bedeutung besitzen, für sie jedoch tut es das nicht. Und du weißt selbst, dass die Ahnen bisher nie bei Jüngeren auf den Bund reagierten. Doch bei Talil taten sie es, das solltest du niemals vergessen.«

Talil und Kiljan betraten den Essraum und setzten sich zögernd. »Ihr hättet nicht auf uns warten müssen«, sagte Talil, als sie die Warmhalteplatten für das Mittagessen sah. »Es duftet herrlich. Ich falle wirklich gleich um vor Hunger.«

Kiljan lächelte und blickte in die Runde. »Können wir oder warten wir noch auf jemanden?«, fragte er niemand Bestimmten.

»Nein, greift zu«, entgegnete Bruce und ließ sich auf der anderen Seite von Talil nieder. »Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich leise und sie wandte sich ihm zu.

»Ja, danke. Jetzt scheint alles zur Zufriedenheit unserer Ahnen zu sein.«

Er zwinkerte und warf einen Blick zu Alasdair. Talil folgte dieser Geste und seufzte leise. Dort saß ihr Vater, mürrisch und sichtbar unzufrieden. In ihr arbeitete es. Warum nur verhielt er sich die ganze Zeit so?

Sie ließ sich die letzten Tage noch einmal in Gedanken durch den Kopf gehen und blieb bei den Worten von Sam hängen.

»Hattest du oft Kontakt mit Nell?«, fragte sie zögernd und sah Alasdair direkt an. Er runzelte die Stirn, und noch bevor er zu sprechen begann, wusste sie, dass sie niemals eine vernünftige Antwort von ihm bekommen würde.

»Ich wüsste nicht, was dich das angeht«, rief er auch sogleich empört.

Mühsam unterdrückte sie den Seufzer, der unbedingt hinauswollte. »Ean, was weißt du über Nells Gabe?«, fragte sie, wandte den Blick jedoch nicht von Alasdair, der nur noch stur auf seinen Teller starrte.

»Sie besitzt ein außergewöhnliches Gespür für Empfindungen, aber ob ich es als Gabe bezeichnen würde, weiß ich nicht. Warum fragst du?«

Talil

Neugierig betrachtete er mich und ich fragte mich erneut, ob ich ihm wirklich vertrauen konnte. »Nell trägt die Gabe in sich, unsere Empfindungen zu beeinflussen. Kannst du mir also sagen, ob sie und Alasdair, oder vielleicht auch andere von hier, ungewöhnlich oft Kontakt mit ihr hatten, möglicherweise ja bereits über einen viel längeren Zeitraum, als ich bisher vermute?«, erklärte ich rundheraus und wie erwartet sprang Alasdair aufgebracht von seinem Stuhl.

»Ich bin dein Ahn, dein Vater, und du hast mich nicht mit meinem Namen anzusprechen! Das ist ungehörig und respektlos«, zischte er wütend.

Kiljan hatte sich gemeinsam mit mir erhoben und ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus. Ich ergriff seine Hand, und unsere Finger verschränkten sich ineinander, während ich ihm einen Kuss auf die Wange drückte. Auch Bruce und Reed, ebenso wie Quinn und Konrad waren aufgestanden und stellten sich vor mich hin.

»Das ist lächerlich«, rief ich aufgebracht, doch niemand beachtete mich.

»Mein Sohn, lässt du mich vernünftig mit dir reden?«

Er fuhr herum und fixierte Ean. »Was soll das? Du glaubst ihr doch nicht etwa.«

Ean nickte in unsere Richtung und plötzlich zog Kiljan mich zurück, während die vier sich auf Alasdair stürzten.

Genervt verdrehte ich die Augen, als ein Gerangel entstand, und setzte mich wieder. Es gab Schweinebraten, Soße, Kartoffelgratin mit Rotkohl, alles Zutaten, die ich kannte, und es roch herrlich. Mir war inzwischen schon übel vor lauter Hunger, daher füllte ich meinen Teller und begann zu essen.

»Deine Ruhe möchte ich haben«, sagte Ean belustigt, doch ich zuckte mit den Schultern.

»Er wird sich erst ergeben, wenn sie ihn bewusstlos schlagen. Da zurzeit genau das aber niemand von ihnen tun will, wird es dauern. Ich habe die letzten Tage kaum etwas gegessen und mir ist wirklich schon schlecht vor Hunger.«

Zögernd setzte sich Kiljan neben mich, warf jedoch immer wieder einen Blick zu Alasdair, der sich weiterhin gegen die anderen wehrte.

»Übertreib es nicht mit meinem Schutz.«

Lächelnd ergriff er meine Hand, küsste sie. Zischend stieß Ean die Luft aus. »Was, bei allen Geistern, ist das?«, rief er und deutete auf Kiljans Arm. Aus seinem Ärmel, der ein wenig nach oben gerutscht war, lugten die bunten Enden der Schwingen hervor.

»Das ist das Rätsel, das wir dich bitten, aufzuklären. Wir stehen jetzt sozusagen nicht mehr unter Zeitdruck. Bringe alles in Erfahrung, was du über die Seelenschwingen findest. Doch vorher müssen wir herausfinden, ob Nell ihn oder andere wirklich manipuliert hat.«

»Und wie wir verhindern, dass sie es zukünftig wieder tut.«

»Du glaubst mir? Einfach so?«, fragte ich und konnte den sarkastischen Ton nicht ganz heraushalten.

»Talil, bitte. Ich bin hier, um dir die Dinge zu erklären, so gut ich es vermag. Ich verstehe dein Misstrauen sogar. Doch dass du hier mit mir sitzt und mit mir redest, lässt mein Herz fast zerspringen.«

Ich muss wohl ziemlich gequält ausgesehen haben, denn plötzlich lachte Ean und das veränderte sein Aussehen so vollständig, dass ich ihn kurzzeitig anstarrte. »Gut, ich höre dir jetzt zu«, entgegnete ich schließlich auffordernd.

Er seufzte. »Als du damals mit Reed und Kiljan zu mir gekommen bist, habe ich dich bereits erwartet. Tage vorher konnte ich nicht mehr schlafen, befragte alle Ahnen, immer wieder, doch gleichgültig wie ich mich auch entschied, ich sah nichts anderes als deinen Tod. Erst verstand ich nichts davon, da ich keine Ahnung hatte, in welchem Bezug du eigentlich zu mir stehst. Nur dass du sterben würdest, sollte ich irgendetwas unternehmen, wurde jedes Mal ganz deutlich. Dann erhielt ich den Brief von Alasdair, den er mir durch Mael überbringen ließ. Darin teilte er mir mit, dass du meine Enkeltochter bist. Daraufhin befragte ich erneut die Ahnen. Doch noch immer sah ich deinen Tod, egal welche Möglichkeiten ich durchspielte. Nur wenn ich den Dingen ihren Lauf ließ, warst du noch am Leben. Als du mich dann berührt hast, wusste ich plötzlich, dass ich dir die Erinnerungen nehmen musste. Es tut mir leid Talil, wirklich, denn ich handelte aus einem Impuls heraus und hatte keine Ahnung, weshalb ich es tat. Als ihr dann fort wart, suchte ich unablässig den Rat unserer Ahnen, sie schwiegen jedoch oder zeigten mir deinen Tod, immer wieder aufs Neue. Es war furchtbar, doch ich konnte einfach nichts unternehmen. Wirklich nicht. Erst als Arel plötzlich verschwand und Alasdair zurückkehrte, änderte sich das und wir begannen sofort mit der Suche, und schließlich mit der Planung, dich zu befreien.«

Ich seufzte. »Ean, es ist ja nicht so, dass ich dir nicht glauben möchte.« Hilflos zuckte ich mit den Achseln, denn genauso fühlte ich mich. Vollkommen hilflos.

»Weißt du, nach deinem Eingreifen wusste ich nicht mehr, was als Nächstes geschehen würde. Nur dass ich ohne dein Einschreiten niemals den Mut aufgebracht hätte, mich erneut von Arel und Sgrios dort hinbringen zu lassen, dessen war ich mir sicher. Ich wusste sonst alles, und obwohl ich erst sechs Jahre alt war, kannte ich mein Schicksal bereits. Alasdair war fort, meine einzige Hoffnung, dem noch zu entkommen, und so ließ ich mich absichtlich einfangen. Sie hätten mich so oder so geschnappt, und ich war dankbar, dass ich keine Erinnerungen mehr an die folgenden Geschehnisse besaß. Das Wissen jedoch, überlebt zu haben, half mir. Dann kehrten plötzlich alle fehlenden Erinnerungsstücke zurück, und ich ertrug den Gedanken nicht, weitere zwei Jahre in dieser Hölle verbringen zu müssen, also änderte ich mein Verhalten Dr. Simon gegenüber. Zur Strafe wäre ich beinahe gestorben. Ich selbst verachte mich für mein Handeln, dennoch sorgte es letztendlich dafür, dass die Dinge sich beschleunigten. Ich hätte euch erst in vier Jahren begegnen sollen, doch nun sitzen wir hier.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Was mich jedoch so verwirrt, ist, dass meine Erinnerungen so real sind, die Erlebnisse, es sind keine Träume, sondern ich war wirklich dort, in dieser verdammten Zelle, zweimal. All die Jahre. Ich war mit Bruce schon mal in diesem Haus. Es fühlt sich nicht an wie ein Traum, verstehst du? Ich verspüre kein Bedürfnis mehr danach, meine Peiniger zu töten, weil ich es bereits getan habe. Ich begreife das alles nicht. Wie kann das sein? Und warum sind so viele Dinge anders? Shar trug kein Kind unter ihrem Herzen, sie sorgte mit Arel für den Untergang. Sie hielt Kiljan gefangen und versuchte, ihn zu brechen, ihn zu ihrem Gefährten zu machen. Sie schlachteten unzählige Dunkelelben einfach ab und niemand griff ein. Arel präsentierte ihr deinen abgeschlagenen Kopf, ich war wirklich dabei. Es tut mir leid, Ean, aufrichtig. Niemandem wünsche ich so etwas, schon gar nicht von dem eigenen Kind, doch ich steige nicht mehr durch. Ist sie jetzt gut oder böse? Ist sie das verzogene Gör vom ersten Mal oder hat auch sie sich so sehr verändert, dass Arel keine Macht mehr über sie besitzt? Ist das hier vielleicht auch wieder nur eine Station, und ich erwache irgendwann und stelle fest, dass ich erneut sechs Jahre alt bin und wieder in diesem Loch sitze?«

Ich fuhr mir übers Gesicht und bemerkte die Stille im Raum. Alle Blicke waren auf mich gerichtet und ich betrachtete Alasdair. »Du magst vieles fordern und verlangen, doch ich kann dir nicht geben, was du willst. Ich werfe dir tatsächlich vor, dass du mich nicht einfach geschnappt hast und mit mir weggelaufen bist. Doch selbst mir ist inzwischen klar, dass du all das nicht wissen konntest. Dass ich noch so jung war, spricht eher für dich, statt dagegen. Ich bin nicht einmal sicher, ob meine Mutter mir wirklich geglaubt hätte, denn niemand konnte ahnen, dass ich eine besondere Gabe besitze. Ich begreife, dass du nichts unternommen hast, weil Ean meinen Tod sah, das akzeptiere ich, wirklich. Dennoch gibt es einen kleinen Teil in mir, der noch immer sechs Jahre alt ist und in dieser Zelle erwachte, und der wirft dir eben trotzdem genau diese Dinge vor. Ich weiß, dass es unfair ist, doch ich wünschte mir, trotz allen Wissens, trotz aller Logik, dass du mir geglaubt hättest.«

Mir liefen die Tränen und Alasdair trat einen Schritt auf mich zu, doch ich wich kopfschüttelnd vor ihm zurück. Ich wollte ihn in den Arm nehmen, hatte jedoch Angst, dass ich dann zusammenbrechen würde.

Kiljan trat an mich heran und schob mich ein Stück nach vorne. »Tu es, Talil. Erst danach könnt ihr beiden mit dieser ganzen Sache euren Frieden schließen. Tu es, wir haben wirklich andere Sorgen, und es ist gut für dich«, flüsterte er so leise, dass niemand sonst ihn hörte. Ich aber zögerte noch immer.

Kiljan, der direkt hinter mir stand, machte einen weiteren Schritt, und schob mich mit. »Sieh ihn dir an. Es hat nichts mit Nell zu tun, sieh hin. Es ist pure Verzweiflung, weil er sich genau das alles selbst vorwirft.«

Ich trat allein einen Schritt nach vorne und mehr Aufforderung brauchte Alasdair nicht. Die anderen hatten ihn inzwischen losgelassen, und er überbrückte die Distanz mit wenigen Schritten, blieb direkt vor mir jedoch unschlüssig stehen. Ich sah ihn an, und als meine erste Träne lief, schloss er mich in die Arme. Sofort stieg mir der vertraute und so langersehnte Geruch in die Nase, und während er mich fest an seine Brust drückte, atmete ich tief ein.

»Es tut mir so leid, Talil. Das musst du mir einfach glauben. Du hattest recht. Ich habe mich verrannt und hätte dich einfach mitnehmen sollen. Doch bei allen Geistern, ich konnte all das doch nicht ahnen.«

Es war ein seltsames Gefühl, von ihm gehalten zu werden, und plötzlich fühlte ich mich unwohl. Als könnte Kiljan das spüren, trat er vor und legte eine Hand auf Alasdairs Arm. Behutsam versuchte ich, mich aus seiner Umarmung zu lösen, bis er mich schließlich widerstrebend freigab.

Zaghaft lächelnd blickte er von Kiljan zu mir. »Ich muss mich wohl daran gewöhnen, dass ich schon lange nicht mehr deine Nummer eins bin.« Sanft fuhr er mit seinen Daumen über meine Wangen und strich die Tränen fort. »Wenn es dir recht ist, begleite ich deinen Großvater, also Ean und helfe ihm bei der Suche. Er wird einige Bücher lesen müssen, und es geht schneller, wenn er Hilfe bekommt.«

Ich nickte und wollte mich gerade auf meinen Stuhl setzen, als ich innehielt.

»Was ist los?« Kiljan blickte besorgt von mir zu Bruce.

»Wo ist die Tasche, die ich von Dr. Simon mitgenommen habe?«, fragte ich langsam.

Er runzelte die Stirn. »In meinem Arbeitszimmer, warum?«

»Ich muss sie holen«, erklärte ich, doch Kiljan hielt mich fest.

»Erst isst du etwas, Talil.«

Wütend schaute ich ihn an, dennoch starrte er ungerührt zurück. Laut seufzend setzte ich mich laut wieder auf den Stuhl.

»Ich hole sie«, schlichtete Quinn und erhob sich, während Kiljan meinen Teller austauschte und mir warmes Essen hinstellte. Tatsächlich hungrig begann ich augenblicklich zu essen, als Quinn das Zimmer wieder betrat. Kiljan ergriff meinen Arm, weil ich mich erheben wollte.

»Noch einen Vater ertrage ich nicht«, fuhr ich ihn wütend an, ließ meinen Blick jedoch hastig zu Alasdair wandern. »Entschuldige«, beschwichtigte ich, doch er grinste.

»Ich finde, Kiljan macht seine Sache bisher ziemlich gut.«

Ich schnaubte. »War ja klar. Ich hatte eigentlich auch nichts anderes erwartet.« Erneut sah ich zu Kiljan. »Nur damit du es weißt, solltest du es übertreiben und ich wirklich sauer sein, werde ich dich zukünftig mit: Ja, Vater ansprechen.« Allgemeines Gelächter erklang, und sie begannen ebenfalls, zu essen. »Spätestens dann solltest du dich vorsehen.« Er grinste, nickte jedoch.

»Was ist in der Tasche, das plötzlich so wichtig ist?«, fragte Konrad und wirkte ehrlich neugierig.

»Bücher«, antwortete ich. »Über klassischen Schamanismus. Sie sind teilweise sehr alt und selten zu bekommen«, ergänzte ich.

Ean lachte leise. »Talil, du musst dich von der Vorstellung verabschieden, dass unsere Gabe etwas mit den Schamanen der Menschen gemeinsam hat.«

Ich sah ihn an und zuckte mit den Schultern. »Es schien mir der einzige Weg, irgendetwas in Erfahrung zu bringen, das mir vielleicht hilfreich sein könnte.«

»Und hast du was herausgefunden?«, fragte Ean, noch immer sichtbar belustigt.

»Nein, bisher waren die meisten Bücher eher unbrauchbar. Doch diese sind anders, viel älter und mit Sicherheit einiges wert. Daher nahm ich sie mit in der Hoffnung, etwas Sinnvolles darin zu finden.«

Skeptisch betrachtete er mich und zuckte schließlich mit den Achseln. »Mach dir nur nicht zu viele Hoffnungen«, schloss er und widmete sich wieder seinem Teller.

»Weshalb sollte Dr. Simon dir so wertvolle Bücher beschaffen?«, fragte Leo interessiert, stockte dann jedoch. »Vergiss die Frage einfach, entschuldige.«

Ich sah ihn an und lächelte kalt. »Nein, wieso? Es ist immerhin eine berechtigte Frage. Es war ein Deal, den ich mit ihm einging ...«

Kiljan legte seine Hand auf meinen Arm. »Du musst das nicht tun«, flüsterte er flehend.

»Ich sagte dir bereits, dass meine Seele schwarz ist, du erinnerst dich? Es können ruhig alle wissen. Wir wollten doch ehrlich sein«, entgegnete ich leise und verstand selbst nicht so recht, weshalb ich eigentlich plötzlich solche Wut empfand.

»All die Jahre habe ich mich ihm nicht ergeben, niemanden von ihnen. Doch dann kehrten die Erinnerungen zurück und das Wissen, dass ich noch weitere zwei Jahre in dieser Hölle verbringen muss, sollte ich nichts unternehmen. Ean hatte mir nichts gegeben, mit dem ich etwas anfangen konnte. Ich aber benötigte Wissen, um irgendetwas mit meiner ach so tollen Gabe anzufangen. Ich wollte sein Vertrauen, also reizte ich ihn, versprach, mich ihm allein hinzugeben, wenn ich im Gegenzug diese Bücher erhalte, und er willigte ein. Es war das erste Mal, dass er es nicht mehr schaffte, seine Erregung zu verbergen. Ich sah seine Gier, sein Verlangen so deutlich und dachte nur noch daran, ihm zu entkommen ...«

»Talil, du musst uns das nicht erzählen«, sagte Bruce leise, doch ich nahm es nicht mehr wahr, wusste jetzt, weshalb ich so wütend reagierte.

Leo hatte meinen wunden Punkt getroffen, ohne es selbst zu ahnen. Ich schämte mich für mich selbst und diese Scham fraß mich auf.

»Talil«, versuchte es Cadan, aber auch ihn ignorierte ich.

»Er willigte also in unseren Deal ein. Er beorderte mich in ein Schlafzimmer, vollständig eingerichtet, und ich war so überwältigt. Es wirkte so, so gemütlich, so unglaublich schön! Ich gab mich ihm hin, vollkommen.« Erneut zuckte ich mit den Schultern. Würden sie das überhaupt verstehen können?

»Meine Zelle war kalt, nackter Beton überall, Gitterstäbe und dann komme ich plötzlich in diesen Raum. Er will mich unbedingt küssen, ich weigere mich jedoch. Ihn aber reizt das nur noch mehr und ich dachte, ich hätte ihn genau da, wo ich ihn haben wollte. Doch er war nicht so dumm, glaubte mir nicht, dass ich mich wirklich hingab, und ich wusste, ich würde keine weitere Chance bekommen. Also ließ ich die Gefühle zu. Es war das erste Mal, dass er mich zärtlich berührte, und er war so vorsichtig, hingebungsvoll, dass ich mich ihm ergab. Schlimmer noch. Nicht nur, dass ich mich ihm hingab, freiwillig, es gefiel mir. Er verschaffte mir meinen ersten Höhepunkt, ohne ihn für sich selbst zu fordern, und zeigte mir eine vollkommen neue Seite von sich und von dem Akt. Er war ...«, aufgewühlt blickte ich in die Runde und sah von Schock bis Bestürzung alles in ihren Gesichtern. Hastig erhob ich mich und trat zu dem Fenster, sah hinaus, ohne irgendetwas wirklich wahrzunehmen.

»Plötzlich war er einfühlsam, beinahe liebevoll, und ich verlor tatsächlich die Kontrolle über mich, über das Geschehen. Es sollte die Dinge beschleunigen, mir helfen, ihm früher zu entrinnen, schneller auf Bruce zu treffen, stattdessen riss er mich mit. Als ich seinen Kuss zuließ, wusste ich bereits, dass ich verloren bin, denn die Gefühle überwältigten mich und wir verführten uns gegenseitig. Ich brachte ihn tatsächlich zum Betteln, doch er mich ebenfalls. Ich ließ mich von ihm zur willigen Hure machen und das Wissen, dass es mir ebenso gefiel wie ihm, bringt mich fast um, ist sogar schlimmer als das, was folgte. Nur wenige Stunden später bekam ich die Quittung für sein Verlangen, dafür, dass er es nicht mehr vor mir hatte verbergen können. Ich wusste, wie sehr er es genossen hatte, und er war sich dessen ebenfalls bewusst. Also bestrafte er mich dafür. Erst überließ er mich den Wärtern. Ich nahm es schweigend und regungslos hin, doch das ärgerte ihn nur noch mehr. Letztendlich wäre es wohl gleichgültig gewesen, selbst wenn ich gebettelt und getobt hätte. Er musste mir zeigen, dass er allein die Macht besaß und nicht ich. Erneut fixierten sie mich in der Zelle, doch diesmal ließ er seinen ganzen Frust vollkommen unbeherrscht an mir aus, so brutal wie noch niemals zuvor. Dennoch sorgte es dafür, dass ich Bruce früher kennenlernte, als beim ersten Mal. Sein Arzt redete ihm ins Gewissen, dass mein Körper so kaum den Anforderungen gewachsen sei.«

Ich lachte bitter. »Er nannte es tatsächlich Anforderungen.