Unschuldsengel - Zoje Stage - E-Book
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Unschuldsengel E-Book

Zoje Stage

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Beschreibung

Die kleine Hanna will ihre Mutter tot sehen - ein Gänsehaut-Thriller, den man nicht mehr aus der Hand legen kann. In den Augen ihres Vaters Alex ist die achtjährige Hanna ein süßer Engel, der keiner Seele etwas zuleide tun würde. Doch in Mutter Suzette wächst die Sorge: Hanna spricht kein Wort und verhält sich immer aggressiver, vor allem ihr gegenüber. Eines Tages hält Suzette statt der erwarteten Hausaufgaben plötzlich Hass-Briefe in der Hand. Verstört flüchtet sie ins Badezimmer. Bis es an der Tür klopft, wieder und wieder. Als Suzette endlich öffnet, steht ihr kleines Mädchen im Türrahmen. Nur das Weiße ihrer Augen ist zu sehen, und sie spricht die ersten Worte ihres Lebens: »Ich bin nicht Hanna … « Wer Gänsehaut-Thriller à la Stephen King liebt, wird mit »Unschuldsengel« Hanna seine wahre Freude haben. In den USA hat Filmemacherin Zoje Stage mit ihrem Thriller-Debüt direkt einen Bestseller gelandet. »Vielleicht sollten Sie sich die Augen zuhalten.« Entertainment Weekly »Ein wunderbar gruseliger Thriller.« New York Post

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Seitenzahl: 563

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Zoje Stage

Unschuldsengel

Thriller

Knaur e-books

Über dieses Buch

In den Augen ihres Vaters Alex ist die achtjährige Hanna ein süßer Engel, der keiner Seele etwas zuleide tun würde. Doch in Mutter Suzette wächst die Sorge: Hanna spricht kein Wort und verhält sich immer aggressiver, vor allem ihr gegenüber. Eines Tages hält Suzette statt der erwarteten Hausaufgaben plötzlich Hass-Briefe in der Hand. Verstört flüchtet sie ins Badezimmer. Bis es an der Tür klopft, wieder und wieder. Als Suzette endlich öffnet, steht ihr kleines Mädchen im Türrahmen. Nur das Weiße ihrer Augen ist zu sehen, und sie spricht die ersten Worte ihres Lebens: »Ich bin nicht Hanna …«

Inhaltsübersicht

HANNASUZETTEHANNASUZETTEHANNASUZETTEHANNASUZETTEHANNASUZETTEHANNASUZETTEHANNASUZETTEHANNASUZETTEHANNASUZETTEHANNASUZETTEHANNASUZETTEHANNASUZETTEHANNASUZETTEHANNASUZETTEHANNASUZETTEHANNASUZETTEHANNASUZETTEHANNASUZETTEHANNASUZETTEHANNADanksagung
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Für meinen Dad, John Stage.

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HANNA

Vielleicht konnte die Maschine die Worte erkennen, die sie nie aussprach. Vielleicht brannten sie ja wie ein Feuer in ihren Knochen. Wenn die Menschen in den weißen Kitteln die Bilder vergrößerten, würden sie ihre Gedanken sehen, aufgezeichnet wie die Berge und Eisenbahnstrecken auf einer Landkarte, überall in ihrem geisterhaften Schädel.

Hanna wusste, dass mit ihr alles in Ordnung war. Aber Mommy wollte nachsehen. Schon wieder.

Der Raum in dem Kerker unter dem Krankenhaus drohte mit spitzen Nadeln und roch nach vergifteten Zitronenbonbons. Als sie noch klein gewesen war, hatte die Maschine ihr Angst gemacht. Aber jetzt, mit sieben, tat sie so, als wäre sie eine Astronautin. Die Rakete wirbelte herum und piepte wie wild, während sie die Koordinaten ablas und noch einmal ihren Kurs überprüfte. Hinter dem runden Fenster war die winzige Erdkugel bereits verschwunden, nur funkelnde Sterne durchbrachen die Dunkelheit, während sie davonraste. Niemand würde sie jemals fangen können. Sie lächelte.

»Bitte stillhalten. Wir sind fast fertig. Du machst das großartig.« Der Flugkoordinator beobachtete sie auf seinem Monitor.

Sie hasste die Leute von der Bodenkontrolle mit ihren weißen Kitteln und ihren süßlichen Stimmen, mit ihrem Knetgummilächeln, das auf ihren ernsten Gesichtern klebte. Sie waren alle gleich. Lügner.

Hanna sprach ihre Worte nicht aus, weil sie ihr Macht verliehen. In ihrem Inneren behielten sie ihre Reinheit. Sie beobachtete Mommy und die anderen Erwachsenen, studierte sie. Ihnen fielen die Wörter wie tote Käfer aus dem Mund. Außergewöhnliche Menschen wie Daddy sprachen in Schmetterlingen, deren zarte Farben ihr den Atem raubten. In ihr drin gab es ein wahres Kaleidoskop aus herumwirbelnden, hüpfenden, knallenden Ausrufen voller Staunen und Fragezeichen. Komplizierte Muster drehten sich wie Kreisel, und in jedem Geheimfach steckte ein Schatz – manche hatte sie gestohlen, andere gefunden. Als sie noch kleiner gewesen war, hatte sie versucht, alles in Worte zu fassen, was in ihrem Inneren vorging. Aber herausgekommen war nur wirres Zeug. Unsinn, unverständliches Gebrabbel. Selbst in ihren Ohren hatte es enttäuschend geklungen. Also hatte sie geübt, wenn sie allein in ihrem Zimmer gewesen war, aber dann waren gruselige, lebende Käfer aus ihrem Mund gekommen, die über ihre Haut und über ihre Decke krabbelten. Schnell hatte sie sie fortgewischt und zugesehen, wie sie unter der geschlossenen Zimmertür verschwanden.

Worte waren unzuverlässig. Sie waren keine Freunde.

Aber wenn sie ganz ehrlich war, gab es noch einen Grund. Einen Bonus, sozusagen. Ihr Schweigen machte Mommy wahnsinnig. Während der Jahre der Verzweiflung hatte Mommy mehr als deutlich gemacht, wie dringend sie sich wünschte, dass Hanna sprach. Früher hatte sie gebettelt. »Bitte, Baby. Ma-ma? Ma-ma?«

Daddy hingegen bettelte nie, und er regte sich auch nicht auf. Jedes Mal, wenn er sie in den Arm nahm, fingen seine Augen an zu strahlen, als würde er eine Supernova betrachten. Er war der Einzige, der sie wirklich sah, also lächelte sie ihn an und wurde dafür mit Küssen und Kitzelattacken belohnt.

»Okay, fertig«, verkündete der Flugkoordinator.

Die von der Bodenkontrolle drückten auf einen Schalter, und ihr Kopf glitt aus der riesigen mechanischen Röhre heraus. Mit einem Knall landete die Rakete wieder auf der Erde, wo sie sich in einem hässlichen Krater wiederfand. Wie Gummibälle tauchten von überall her Menschen auf. Eine Frau streckte ihr die Hand entgegen, um sie zu Mommy zurückzubringen. Als wäre das eine Art Belohnung.

»Das hast du wirklich toll gemacht!«

Was für eine Lüge. Sie hatte gar nichts gemacht, außer zu früh zur Erde zurückzukehren. Stillzuhalten war nicht schwer und nicht zu sprechen war für sie der Normalzustand.

Obwohl sie keine Lust hatte, zu Mommy und ihren Launen zurückzugehen und wieder in irgendeinem stickigen Zimmer zu sitzen, nahm sie die Hand der Frau. Viel lieber wollte sie die endlos langen Krankenhausflure erkunden. Dann könnte sie sich vorstellen, in den Eingeweiden eines riesigen Drachen herumzuspazieren. Und wenn er seinen feurigen Atem ausstieß, würde er sie in eine andere Welt katapultieren. In eine Welt, in der sie zu Hause war, wo sie mit ihrem zuverlässigen Schwert durch dunkle Wälder stürmen und mit einem lauten Schrei die anderen zu sich rufen konnte. Ihre Untergebenen würden sich hinter ihr versammeln, und sie würde sie in die Schlacht führen.

Hauen, schlagen, ächzen, stechen. Ihr Schwert würde Blut schmecken.

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SUZETTE

Sie strich Hanna glättend über die Haare am Hinterkopf, die während der Tests zerzaust worden waren. »Siehst du, war doch gar nicht schlimm. Und jetzt werden wir uns anhören, was der Doktor zu sagen hat.« Ihr Lächeln war so angespannt, dass der Tick an ihrem Auge sich bemerkbar machte. Schnell drückte sie ihren Zeigefinger in den Augenwinkel. Unter ihrer Haut hatte sich nackte Angst breitgemacht und bohrte feine Risse in ihre Nerven. Arztzimmer und Krankenhäuser aller Art waren Orte der Folter für sie. Hier hatte sie immer das Gefühl, von einer schweren Steinplatte niedergedrückt zu werden.

Hanna hatte die Ellbogen auf die Armlehnen ihres Stuhls gelegt und den Kopf in eine Hand gestützt. Ihr Gesicht war so ausdruckslos und entrückt wie sonst immer vor dem Fernseher.

Suzette musterte das Gemälde, das ihre Tochter so interessiert anstarrte. Rechtecke aus Wasserfarben. Anhand von Hannas Augenbewegungen versuchte sie herauszufinden, ob sie die Rechtecke einfach nur zusammenzählte oder in verschiedene Farbgruppen einteilte.

Das Kind tat so, als würde es Suzette gar nicht wahrnehmen, und wie immer fand sie einen stummen Vorwurf in dieser Weigerung, sie anzusehen. Nach all den Jahren hatte sie allerdings längst den Überblick verloren, für welchen Augenblick sie gerade genau bestraft wurde. Vielleicht war Hanna immer noch wütend, weil ihr die Bananen ausgegangen waren. Sie hatte mit beiden Fäusten auf den Tisch geschlagen und finster ihre Cornflakesschale angestarrt, in der die Früchte fehlten. Eventuell konnte Hanna ihr aber auch eine angebliche Kränkung vom Vorabend nicht verzeihen oder von letzter Woche oder aus dem letzten Monat. Hanna wusste nicht, dass Suzette dagegen gewesen war, sie noch einmal zum CT zu schicken – immerhin war die Strahlendosis fünfhundertmal so hoch wie bei einer einzigen Röntgenaufnahme –, sich dann aber Alex’ Wunsch gebeugt hatte. Ihr Mann klammerte sich in seiner Sorge noch immer an die pragmatische Überlegung, dass ein körperliches Problem die Ursache für Hannas verzögerte Sprachentwicklung sein könnte. Für sie selbst lag es ganz klar auf der Hand, aber da er es nicht sah, konnte sie ihm auch nicht sagen, was in Wahrheit nicht stimmte – dass alles ein Fehler gewesen war. Sie wusste einfach nicht, wie man eine gute Mutter war. Warum war sie nur je der Meinung gewesen, sie könnte es sein? Also spielte sie einfach mit. Natürlich würde sie Hanna noch einmal testen lassen. Natürlich mussten sie wissen, ob es ein physiologisches Problem gab.

Sie warf ihrer Tochter einen nachdenklichen Blick zu. Wie ähnlich sie sich sahen: die dunklen Haare, die großen braunen Augen. Wenn sie doch nur die hellen Farben von Alex geerbt hätte.

Heute hatte sie Hanna ein hübsches Kleid angezogen, nagelneue Kniestrümpfe und Riemchenschuhe. Suzette selbst trug ein Blusenkleid aus Seide mit einem lockeren Gürtel, der ihre Figur zur Geltung brachte, und sündhaft teure Schuhe. Ihr war klar, wie albern es war, sie beide für einen Arzttermin so herauszuputzen. Aber sie fürchtete sich vor allen Situationen, in denen eventuell ihre Fähigkeiten als Mutter beurteilt wurden, und so konnte zumindest niemand behaupten, ihr Kind wirke vernachlässigt oder krank. Außerdem hatte sie selten Gelegenheit, ihre hübscheren Sachen zu tragen, da sie sonst immer nur mit Hanna zu Hause hockte. Früher hatte sie sich für die Partys in Alex’ Büro schick gemacht und es genossen, wenn sie seinen bewundernden Blick auf sich spürte, während sie mit seinen Kollegen plauderte und an ihrem Wein nippte. Unter Erwachsenen zu sein war für sie eine Seltenheit, und so hatte sie immer viel Spaß an diesen Abenden gehabt. Aber keiner der Babysitter wollte ein zweites Mal zu ihnen kommen, deswegen gaben sie es schließlich auf. Alex war zwar mitfühlend genug, um die Feiern seltener zu veranstalten und auch wesentlich kürzer zu halten, aber trotzdem. Suzette vermisste die ungezwungene Normalität mit Fiona, Sasha und Ngozi. Sie fragte Alex aber auch nie danach, ob sie in der Firma noch über sie sprachen oder einfach alle so taten, als würde sie nicht mehr existieren.

Da sie der Gedanke, was der Arzt wohl sagen – oder wie er sie kritisieren – würde, nervös machte, trommelte sie mit den Fingern auf Hannas Unterarm herum.

Abrupt zog Hanna ihn weg und ließ ein wenig den Kopf hängen, starrte aber weiter wie gebannt auf die bunten Rechtecke.

Suzette spürte, dass ihr ganzer Körper verkrampft war: die übereinandergeschlagenen Beine, die hochgezogenen Schultern, die zu Fäusten geballten Hände. Prompt meldete sich die empfindliche Stelle in ihrem Unterleib und protestierte schmerzhaft. In dem Versuch, sich zu entspannen, spreizte sie die Finger.

Seit der OP acht Wochen zuvor war dies ihr erster größerer Ausflug. Diesmal hatten sie es lapraskopisch gemacht, damit die Heilung an der Oberfläche schneller vonstattenging. Bei dieser Gelegenheit hatte sie den Arzt auch gebeten, ihre schreckliche Narbe zu richten. Der diagonale, fünfzehn Zentimeter lange Krater rechts von ihrem Nabel hatte sie schon immer gestört. Alex hingegen bestand darauf, dass er Teil ihrer Schönheit sei, ihrer Stärke. Ein Ehrenmal der Überlebenden, Symbol für das Leid während ihrer Teenagerzeit. Aber sie brauchte keine Erinnerung an diese einsamen, widerwärtigen Jahre, an den Feind im eigenen Körper und die verletzende Gleichgültigkeit ihrer Mutter. Die erste Operation mit siebzehn hatte ihr so viel Angst eingejagt, dass sie Dr. Stefanskis Empfehlung, eine zweite Resektion durchzuführen, so lange aufschob, bis ihre Eingeweide zu platzen drohten. Anfangs waren die durch die Einschnürung verursachten Schmerzen nicht so schlimm gewesen, und Suzette hatte einfach weniger Ballaststoffe zu sich genommen. Eigentlich hatte sie gedacht, die monoklonalen Antikörper, die sie sich spritzte, würden die schlimmsten Symptome ihres Morbus Crohn lindern. Und das taten sie auch. Doch als die Entzündung zurückging, hatte sich Narbengewebe gebildet, das ihren Darm verengte.

»Nehmen Sie nicht zu viel!«, hatte sie den Chirurgen angefleht, als wollte er sie ausrauben, anstatt sie gesund zu machen.

Alex hatte ihre verkrampfte Hand geküsst. »Es wird alles gut, älskling, danach wirst du dich viel besser fühlen. Und du wirst wieder mehr essen können.«

Ja, sehr vernünftige Feststellungen. Wenn da nicht ihre unbezwingbare Angst davor gewesen wäre, so viel von ihrem Dünndarm zu verlieren, dass ihr auch das unverbrüchliche Recht genommen würde, sich wie jeder normale Mensch auf einer Toilette zu entleeren. Natürlich mussten viele Menschen so leben und bewältigten es auch Tag für Tag – mit künstlichen Darmausgängen und an den Bauch geklebten Beuteln. Aber sie konnte das nicht. Sie konnte es einfach nicht. Allein beim Gedanken daran schüttelte sie so heftig den Kopf, dass Hanna zusammenzuckte und ihr einen empörten Blick zuwarf – als würde sie jetzt schon alles vollstinken.

Suzette riss sich so weit zusammen, dass zumindest ihre Tochter nichts mehr bemerkte. Aber die düsteren Gedanken suchten sie auch weiter heim; wie schon in den vielen Wochen seit der OP waren sie auch jetzt resistent gegen jede tröstliche Ablenkung. Und wenn sie nun wieder eine Fistel bekam? Seit sie der Operation zugestimmt hatte, quälte sie dieser Gedanke jeden Tag. Beim letzten Mal hatte sie sich sechs Wochen nach der Notfallresektion gebildet. Eines Morgens war sie aufgewacht und es hatte sich angefühlt, als würde sie auf einem Ziegelstein liegen, nur dass sich die harte Masse in ihrem Bauch befunden hatte – eine Jauchegrube, die dringend geleert werden musste. Inzwischen waren seit der letzten OP acht Wochen vergangen, vielleicht war die Gefahr also gebannt.

Alex kam ihr immer nur mit seinen »Ein Schritt nach dem anderen«-Plattitüden. Dr. Stefanski meinte: Nein, keinesfalls, spritzen Sie sich einfach weiter Ihre Medikamente, die Entzündungswerte sind niedrig. Aber in ihrem Kopf lauerten der Eiter und der Kot nur auf einen weiteren Auftritt. Was, wenn Alex gezwungen würde, die Rolle zu übernehmen, die früher ihre Mutter gespielt hatte? Die der Krankenschwester, die beschmutzte Verbände an einer Wunde wechseln musste, die einfach nicht heilen wollte.

Ein kurzes Klopfen an der Tür des Behandlungsraums riss sie aus ihren Gedanken. Manchmal wurde ihr Trauma durch die Anwesenheit eines Arztes verschlimmert, aber diesmal ging es schließlich um Hanna, nicht um sie. Und sie war als besorgte Mutter hier, als gute Mutter, ganz anders als ihre eigene. Also drückte sie eine Hand auf ihren kribbelnden Unterleib und rang sich ein Lächeln ab, als der neue Arzt hereinkam. Sein Haar war wesentlich grauer als das seines letzten Kollegen, und seine Augenbrauen mussten gestutzt werden. Die deutlich sichtbaren Nasenhaare machten es Suzette schwer, sich auf seine Augen zu konzentrieren, um den Blickkontakt zu halten.

»Mrs. Jensen.« Er schüttelte ihr die Hand.

Wie alle hier sprach er ihren Namen falsch aus. Ihr machte das nicht so viel aus wie dem gebürtigen Schweden Alex, der auch nach neunzehn Jahren in den Vereinigten Staaten nicht akzeptieren wollte, dass die Amerikaner ein J nie so aussprachen wie ein weiches Y.

Der Arzt setzte sich auf den Drehstuhl und rief Hannas Akte im Computer auf. »Keine Veränderungen seit dem letzten Scan … Wann war der noch gleich? Vor zweieinhalb Jahren? Keine Auffälligkeiten in Schädel, Kiefer, Hals oder Mund. Weder bei der Untersuchung noch auf den Bildern. Das ist doch gut, oder? Hanna ist ein gesundes Mädchen.« Er lächelte Hanna zu, die jedoch den Kopf wegdrehte.

»Also gibt es nichts …« Suzette versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Eigentlich sollte sie inzwischen die erste Klasse absolviert haben, aber wir können sie ja nicht einmal zur Schule schicken, solange sie nicht spricht. Eine Sonderschule braucht sie unserer Meinung nach nicht, sie ist intelligent. Ich unterrichte sie zu Hause. Sie hat eine sehr schnelle Auffassungsgabe. Sie kann lesen, rechnen …«

»Mrs. Jensen …«

»Es ist einfach nicht gut für sie, so isoliert zu sein. Sie hat keine Freunde, gibt sich nicht mit Gleichaltrigen ab. Wir haben es mit Verständnis versucht, wir unterstützen sie wirklich. Man muss doch irgendetwas tun können, ihr irgendwie helfen …«

»Ich kann Ihnen einen guten Sprachtherapeuten empfehlen, falls Hanna Schwierigkeiten hat …«

»Sprachtherapie haben wir bereits versucht.«

»Man könnte sie auch noch auf einige andere Dinge testen: Sprechapraxie, semantisch-pragmatische Störung …« Der Arzt scrollte durch die Akte, als würde er nach etwas suchen. »Eventuell ist es eine Fehlhörigkeit, obwohl sie eigentlich keine typischen Anzeichen dafür zeigt. Wurden diese Tests schon einmal bei ihr durchgeführt?«

»Wir haben sie auf alles testen lassen. Ihr Gehör ist einwandfrei, sie hat keine Muskelschwäche und keinerlei kognitive Probleme. Ich habe bei den vielen Tests irgendwann den Überblick verloren, aber sie macht sie alle mit. Sie scheint sogar Spaß daran zu haben. Trotzdem will sie einfach nicht sprechen.«

»Will nicht?« Der Arzt drehte sich zu Suzette um.

»Will nicht, kann nicht, ich weiß es nicht. Das ist … Wir versuchen, es herauszufinden.«

Suzette rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum, als der Arzt seine akademische Aufmerksamkeit zwischen ihr und ihrer Tochter aufteilte. Ihr war klar, was er sah: Tochter, verloren im eigenen Verstand. Mutter, sehr gepflegt, aber ein nervliches Wrack.

»Sie sagen also, sie kann lesen und schreiben? Können Sie auf die Art mit ihr kommunizieren?«

»Die Antworten in ihren Arbeitsbüchern schreibt sie, ja, damit scheint sie kein Problem zu haben. Und wir wissen, dass sie uns versteht. Aber wenn man sie bittet aufzuschreiben, was sie denkt oder was sie möchte – eben echte Kommunikation … Nein, sie spricht auch auf diese Art nicht mit uns.« Inzwischen hatte sie die Finger so fest verschränkt, dass es wehtat. Fast schon erstaunt blickte Suzette auf ihre Hände und wunderte sich, mit wie viel Kraft sie ihre Finger ineinander gekrallt hatte. Sie griff nach dem Riemen ihrer Handtasche und presste stattdessen ihn zusammen. »Sie kann Geräusche erzeugen, daher glauben wir, dass sie auch andere Laute bilden könnte. Sie grunzt. Und quiekt. Und summt Melodien.«

»Falls es daran liegt, dass sie sich weigert, ich meine, dass sie nicht sprechen will, braucht sie eine andere Art von Arzt, als wenn sie es tatsächlich nicht kann.«

Suzette spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. Als hätte ihr jemand die Hände um den Hals geschlungen und würde sie langsam erdrosseln. »Ich … Wir wissen einfach nicht, was wir noch machen sollen. So kann es doch nicht weitergehen.« Mühsam holte sie Luft.

Der Arzt verschränkte die Finger und schenkte ihr ein mitfühlendes, aber leicht schiefes Lächeln. »Verhaltensprobleme können ebenso problematisch sein wie körperliche Beschwerden, wenn nicht sogar noch problematischer.«

Sie nickte. »Ich frage mich nur immer … Mache ich irgendetwas falsch?«

»Dass so etwas für Spannungen in der Familie sorgt, ist verständlich. Vielleicht wäre es gut, einmal etwas anderes zu versuchen. Ich könnte Ihnen einen Kinderpsychologen empfehlen. Auf psychiatrischem Weg würde ich vorerst nicht vorgehen, zumindest nicht, solange es keine konkrete Diagnose gibt. In diesem Alter wird schnell zum Rezeptblock gegriffen, aber vielleicht ist es ja etwas, das sich auf andere Weise lösen lässt.«

»Ja, das wäre mir auch lieber, danke.«

»Ich werde eine entsprechende Überweisung an Ihre Versicherung schicken.« Damit wandte er sich wieder dem Computer zu.

Suzette strich ihren Handtaschenriemen glatt. Die Erleichterung war so groß, dass ihr fast schwindelig wurde. Sie strich Hanna eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Ich versuche, jegliche Giftstoffe zu vermeiden«, erklärte sie dem gebeugten Rücken des Arztes. »Natürlich sind Medikamente nicht grundsätzlich Gift, aber wie Sie schon sagten: Heutzutage ist man in unserer Gesellschaft immer schnell bemüht, eine Pille gegen alles zu finden, ohne dabei auf die Nebenwirkungen zu achten. Aber wenn es keine Behinderung … also kein körperliches Leiden ist, dann klingt das sehr gut.« Sie wandte sich an Hanna. »Wir schaffen das schon. Vielleicht finden wir ja so jemanden, mit dem du sprechen möchtest.«

Hanna schlug nach Suzettes Hand und fletschte die Zähne.

Suzette sah sie warnend an und spähte dann verstohlen zu dem Arzt hinüber, um herauszufinden, ob er etwas bemerkt hatte.

Hanna sprang auf, verschränkte die Arme vor der Brust und baute sich vor der geschlossenen Zimmertür auf.

»Eine Minute noch, wir sind fast fertig.« Suzette legte engelsgleiche Geduld in ihre Stimme.

Der Arzt drehte sich schwungvoll zu ihr herum und lachte leise. »Ich kann dir keinen Vorwurf machen, junge Dame. Bei diesem schönen Wetter will niemand in einer Arztpraxis eingesperrt sein.« Suzette stand auf, als er sich von seinem Drehstuhl erhob. »Es wird vermutlich ein paar Tage dauern, bis die Überweisung das System durchlaufen hat, aber danach können Sie direkt einen Termin mit Dr. Yamamoto vereinbaren. Sie ist eine pädiatrische Entwicklungspsychologin und hat ein wirklich tolles Händchen für Kinder. Und sie hat einen hervorragenden Ruf. Hoffentlich findet Hanna einen Draht zu ihr. Am Empfang wird man Ihnen die nötigen Informationen ausdrucken.«

»Vielen Dank.«

»Vielleicht kann sie Ihnen sogar ein paar Schulen empfehlen.«

»Perfekt.« Suzette sah zu ihrer Tochter hinüber, die – wenig überraschend – wütend das Gesicht verzog.

Wegen ihres schlechten Benehmens war Hanna bereits aus drei Vorschulen und zwei Kindergärten geworfen worden. Inzwischen war Suzette davon überzeugt, dass ihre Mutter-Tochter-Beziehung sich nur verbessern konnte, wenn sie ein wenig Abstand zueinander hatten – indem Hanna zur Schule ging. Und Suzette wollte so sehr, dass sich ihre Beziehung verbesserte. Sie war es leid, ständig zu brüllen: »Hanna, nein!« Vielleicht sollte sie nicht brüllen, sicher, aber Hanna lieferte ihr unzählige Gründe – große und kleine –, die es einfach unvermeidlich machten: indem sie den Zimmerpflanzen sämtliche Blätter ausriss; an jedem losen Faden zog, ganz egal, was dadurch aufgetrennt wurde; einen Cocktail aus Orangensaft und Nagellackentferner zusammenmischte; Bälle gegen die Glaswand im Haus warf; sie reglos anstarrte, ohne zu blinzeln oder von selbst wegzusehen; spitze Bleistifte durch den Raum schleuderte wie Wurfpfeile. Hanna fand sehr kreative Wege, um sich zu amüsieren, und die meisten davon waren einfach untragbar.

Nachdem ihnen nun auch dieser Arzt bestätigt hatte, dass mit Hanna körperlich alles in Ordnung war, wurde es endgültig Zeit, Alex davon zu überzeugen, dass sie eine Schule für ihre Tochter finden mussten – allein schon um ihrer eigenen körperlichen und geistigen Gesundheit willen. Vielleicht würde jemand anders mehr Erfolg mit der Erziehung des Mädchens haben, bei der sie ganz offensichtlich versagt hatte. Allerdings konnte sie ihm nicht sagen, wie dringend sie etwas Ruhe und Zeit nur für sich brauchte. Es durfte nicht so klingen, als ginge es dabei allein um sie. In seiner Gegenwart benahm sich Hanna meistens äußerst liebenswert, und oft sah er nur Albernheit, wo sie Böswilligkeit vermutete, während er die krasseren Eskapaden stets Hannas Intelligenz zuschrieb. Seiner eigenen Heuchelei gegenüber war er vollkommen blind, tat alles als ganz normal ab, freute sich sogar über ihre frühe Reife. Doch genau das konnte sie als Argument nutzen: Die begabte Hanna war gelangweilt, sie brauchte mehr Impulse, als sie zu Hause bekam. So oder so würde sie nicht zulassen, dass ihre Tochter ihr Leben weiterhin so aus der Bahn warf.

Kaum hatte sie die Hand ihrer Tochter ergriffen, begann der stillschweigende Wettkampf, wer fester zudrücken konnte. Suzette verabschiedete sich mit einem freundlichen Lächeln von den Arzthelferinnen und ging hinaus.

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HANNA

Manchmal war Mommy ein Oktopus mit einer scharfen Klinge an jedem Arm. Und Hanna schien es nur fair zu sein, Mommy ebenfalls zu verletzen, wenn die doch ständig dafür sorgte, dass ihr das Herz wehtat und sie sich innen drin ganz eklig und bröckelig fühlte.

Sie mochte den Arzt mit den Raupenaugenbrauen nicht, der sie mit seinem Röntgenblick anstarrte und herauszufinden versuchte, was mit ihr nicht stimmte. Und es gefiel ihr nicht, wie Mommy über sie sprach, so als wäre sie kaputt. Schlecht. Wertlos. Außerdem war das alles nur gespielt, was die Sache noch schlimmer machte. Eigentlich suchte Mommy nur nach einem Grund, um sie zurückzugeben. Wie damals, als sie in einem Laden gesagt hatte: »Es ist defekt. Kann ich das erstattet bekommen?«

Sie wusste, dass Mommy sie loswerden wollte. Ständig versuchte sie, Hanna irgendwo zurückzulassen. Auch bei der Schule ging es nur darum, obwohl Hanna sich auch aus anderen Gründen dagegen sträubte: die Geräusche, die alles antatschenden Kinder, die grelle Panik, wenn sie nicht genug Platz für sich hatte. Die meisten von Mommys anderen Tricks hatte sie bereits mit vier durchschaut, zum Beispiel die Babysitter. Das war inakzeptabel. Immer wieder unterzog sie Mommy verschiedenen Tests, bei denen sie ihre Mutterliebe unter Beweis stellen sollte, und immer wieder versagte sie. Und je öfter sie versagte, desto mehr Gelegenheiten gab ihr Hanna, sich zu bessern. Obwohl sie sich über die Regeln dieser Kriegsspiele nicht ganz im Klaren war. Und wie sehr sie sich auch das Hirn zermarterte, sie konnte sich einfach nicht daran erinnern, wer damit angefangen hatte.

Abha. So hatte die letzte Babysitterin geheißen. Hanna konnte sich ihren Namen merken, weil er sie an ABBA erinnerte, eine Popgruppe aus dem Land, in dem Daddy geboren worden war. Er sang ihr oft das Lied »Dancing Queen« vor, hielt sie dabei auf dem Arm und tanzte mit ihr durch das Zimmer.

Es war nicht Abhas Schuld gewesen. Hanna war schon wütend, bevor das Mädchen überhaupt an der Tür klingelte. Sie wollte sich hübsch machen und mit zu der Party gehen, damit Daddys Freunde sie anlächelten und nette Dinge zu ihr sagten, die bunte Seifenblasen in ihrem Inneren aufsteigen ließen, und nicht allein und vergessen mit irgendeiner Fremden zu Hause bleiben, deren Augen aussahen wie Käfer.

Sie erinnerte sich noch daran, wie sie ins große Schlafzimmer geschlichen war. Als sie Mommy im Badezimmer entdeckte, wo sie in einem ölig schimmernden Kleid vor dem Spiegel stand, ließ sie sich auf alle viere fallen und kroch zu Mommys Seite des Bettes. Das war nicht Hannas erste Spionagemission. Sie kannte Mommys Angewohnheiten in- und auswendig, eben auch, dass sie ihren Schmuck immer schon heraussuchte, bevor sie sich anzog, um ihn dann wie einen vergessenen Schatz auf dem Nachttisch liegen zu lassen. Diesmal wollte Mommy funkelnde runde Ohrringe und einen swimmingpoolblauen Edelstein an einer feinen Kette tragen.

Hanna nahm die Ohrringe vom Nachttisch und verschwand damit in ihrem Zimmer. Ihr blieb nicht viel Zeit – Mommy hatte so ausgesehen, als wäre sie fast fertig –, also stopfte sie die Ohrringe in das kleine Loch an Mungos Rücken. Mungo war ein sehr, sehr alter Plüschaffe, der Hanna immer gerne dabei half, Dinge zu verstecken. Dann zog sie sich schnell ihr glitzerndes lavendelfarbenes Kleid an. Sie hatte es lange nicht mehr angehabt, und es war inzwischen ein winziges bisschen zu klein, aber es war noch immer das Schönste, was sie in ihrem Schrank hatte.

Als sie zurück ins Schlafzimmer ihrer Eltern hüpfte, war Mommy noch immer im Bad, lehnte sich gegen den Waschtisch, der aussah wie eine Schneewehe mit funkelnden Eiszapfen, und trug Wimperntusche auf. Hanna tanzte herein, spreizte den gerüschten Rock ihres Kleides ab und drehte sich ein paarmal um sich selbst. Es war immer noch ein so hübsches Kleid, auch wenn es an den Schultern etwas spannte.

»Ich dachte, du würdest dir deinen Schlafanzug anziehen.« Mommys Spiegelbild warf ihr einen finsteren Blick zu; das eine Auge war weit aufgerissen.

Hanna hüpfte noch einmal und zeigte dann mit dem Finger auf Mommy. Geh, geh, geh, befahl sie ihr in ihrem Kopf.

Mommy schob das Bürstchen zurück in den Behälter und drehte sich zu ihr um. Jetzt würde sie bestimmt bemerken, wie hübsch Hanna aussah, so funkelnd und erwachsen, bereit für die Party.

Kichernd stellte Hanna sich vor, wie Daddy sie von einem Gast zum anderen tragen und ihnen allen sagen würde, wie wunderschön sein kleiner Wildfang aussah.

»Ich habe es dir doch erklärt, und Daddy hat es dir heute Morgen auch noch einmal gesagt. Die Feier ist nur für große Leute, es werden keine anderen Kinder da sein. Und das Essen und Trinken dort würdest du auch nicht mögen. Außerdem musst du bald ins Bett. Die Babysitterin sollte gleich hier sein …«

Hanna legte den Kopf in den Nacken und quiekte protestierend. Als Mommy an ihr vorbeiging, streckte sie die Hand aus und packte den Saum ihres schimmernden Kleides.

Das war nicht fair. Mommy war den ganzen Tag durchs Haus geschwebt – muss vor der Party noch dies erledigen, das machen; Mommy muss sich für die Party umziehen. Es war so durchschaubar. Richtig aufgekratzt hatte sie geklungen, als sie mit der Babysitter-Firma gesprochen und alles bestätigt hatte, nur um dann Daddy anzurufen: Brauchst du noch irgendetwas? Soll ich noch was mitbringen? Hanna musste ihr Abendessen ganz allein essen, während Mommy in dem kleinen Badezimmer im Erdgeschoss ihre Haare gemacht hatte. Genau das hatte Mommy schon den ganzen Tag gewollt: Nicht mehr an sie denken. Sie einfach zurücklassen.

Hanna streckte den Arm aus und ließ ihre Fingerspitzen sanft über Mommys nackten Arm gleiten, um ihrem Wunsch Ausdruck zu verleihen. Das war ihre Art, bitte zu sagen. Ein stummes Schluchzen drückte ihr die Kehle zu.

Aber es war zu spät. Mommy starrte auf ihren Nachttisch. »Wo sind meine Ohrringe?« Während sie die Halskette umlegte, sah sie sich suchend um. Dann zog sie ihren Rock hoch, ließ sich auf die Knie sinken und suchte auf dem Boden weiter, tastete sogar mit den Händen herum, als wären die Ohrringe plötzlich unsichtbar geworden. Als Mommy sie wieder ansah, waren sie genau auf Augenhöhe. »Hast du meine Ohrringe genommen?«

Hanna rührte sich nicht. Sie blinzelte nicht einmal.

»Das waren echte Diamanten. Ein teures Geschenk von … Hast du sie genommen?«

Da klingelte es an der Tür.

Mommy stand auf. Ihr Bauch wölbte sich vor und verschwand wieder, als sie tief durchatmete. Finster blickte sie auf Hanna hinunter.

»Bitte, Hanna. Beim letzten Mal waren es nur … Die hatten keinen echten Wert, aber … Bitte.«

Nicht bewegen. Nicht blinzeln.

Wieder ging unten die Klingel.

Mommy stieß den Atem aus und stampfte hinaus.

Hanna blieb ihr dicht auf den Fersen. Vielleicht würde Mommy ja jetzt wütend werden und den Babysitter wegschicken, um dann auf der Suche nach den Ohrringen das ganze Haus auf den Kopf zu stellen. Es wäre bestimmt lustig, Mommy dabei zuzusehen, wie sie Unordnung machte. Irgendwann würde Hanna sie dann »finden« und ihr zurückgeben. Und dann wäre Mommy so glücklich, dass sie Hanna mit auf die Party nehmen würde.

Wie eine Sturzwelle wogte Mommy in dem dunklen, glänzenden Kleid die Treppe hinunter und glitt unten auf die Haustür zu.

»Hallo. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Ich bin Suzette, und das ist Hanna.«

»Hallo, Hanna, ich bin Abha.« Sie hatte glatte schwarze Haare, die ihr über die Schultern fielen, als sie sich lächelnd zu Hanna herunterbeugte.

»Kommen Sie rein. Sie spricht noch nicht …«

»Aber sauber ist sie schon?«, erkundigte sich Abha, während sie über die Schwelle trat.

»Oh ja.«

Hanna brüllte wie ein Löwe, der sich einen Dorn eingetreten hat. Die dumme Abha würde es noch bereuen, sie für ein Baby gehalten zu haben. Immerhin war sie schon vier.

Mommy zeigte dem Mädchen die Küche – bedienen Sie sich einfach – und erklärte ihr die Fernbedienung vom Fernseher – falls Sie sich etwas ansehen möchten.

»Ich werde wohl ein wenig lernen, wenn Hanna im Bett ist.«

»Studieren Sie an der Pittsburgh University?«

»Ja, im dritten Jahr.«

Hanna folgte ihnen, während Mommy die Besichtigung oben fortsetzte. Ihre Enttäuschung wurde immer größer und ihre Laune schlechter. Mommy hatte eindeutig vor, sie mit dem Babysitter hier zurückzulassen, auch wenn sie ihre kostbaren Diamantohrringe nicht wiederfand.

»Es kann sein, dass Hanna wütend wird, wenn sie nicht in unserem Zimmer schlafen darf – das hat sie bei anderen Babysittern auch schon versucht –, aber sie weiß, dass sie in ihrem eigenen Bett schlafen muss.« Mommy schaltete das Licht in Hannas Zimmer an. »Wenn ich weg bin, darf sie noch ungefähr eine Viertelstunde fernsehen, aber anschließend sollte sie ins Bett gehen. Sie können ihr dann noch etwas vorlesen.«

»Anscheinend hat Hanna sich als Prinzessin verkleidet. Bist du eine Prinzessin, Hanna?«

Das ist ein Partykleid, du Blödkopf.

»Unter dem Kopfkissen liegt ein sauberer Schlafanzug.«

Abha streckte Hanna die Hand hin. »Möchtest du ein bisschen fernsehen? Was siehst du dir denn gerne an?«

Mommy führte sie wieder nach unten.

Hanna nahm nicht Abhas Hand.

»Sie weiß, welche Sender sie einschalten darf. Unsere Handynummern hängen am Kühlschrank …«

Hanna lief voraus und sprang auf die Couch. Dabei hörte sie, wie ihr Kleid riss, aber es war ihr egal. Sie würde es einfach Daddy zeigen, und der würde sagen, dass es Zeit für ein neues sei. Sie drückte auf die kleinen Knöpfe, die das große Fernsehgerät steuerten.

Mommy redete immer noch mit Abha.

»Äh … Ich hatte bei der Agentur darum gebeten, dass man mir jemanden mit möglichst viel Erfahrung schickt. Hanna«, sie warf ihr einen kurzen Blick zu, »kann ziemlich schwierig sein. Ich möchte nur sichergehen, dass Sie wirklich …«

»Keine Sorge, ich bin in Erster Hilfe ausgebildet und weiß, was man bei Erstickungsgefahr tut. Ich habe als Kindermädchen zweijährige Zwillinge betreut, habe selbst sowohl jüngere als auch ältere Geschwister und bin inzwischen Tante. Eigentlich habe ich schon mein ganzes Leben lang mit Kindern zu tun.«

»Okay, ich möchte nur nicht, dass Sie … Manchmal ist es schwierig, weil sie nicht spricht. Also rufen Sie uns bitte an, wenn … Sie können uns jederzeit anrufen.«

»Das mache ich, keine Sorge.«

»Gute Nacht, Liebling. Sei schön brav.« Mommy hauchte ihr ein Küsschen zu, das sich in Luft auflöste, bevor es die Couch erreichte. »Warum ziehst du dir nicht deinen Schlafanzug an, bevor du dich vor den Fernseher setzt? Und bist du ganz sicher, dass du nicht weißt, wo meine Ohrringe sind?«

Hanna stellte den Fernsehton lauter, konnte aber trotzdem noch hören, wie Mommy die Tür hinter sich zuzog.

Abha setzte sich zu ihr.

Am liebsten hätte Hanna ihre langen Haare als Schaukel benutzt. Die Babysitterin lächelte, was Hanna aber nur mit einem finsteren Blick quittierte. Zumindest, bis sie ein Zwicken im Bauch auf eine herrliche Idee brachte.

Sie sprang auf, hechtete über die Sofalehne und rannte zur Treppe.

»Ziehst du jetzt deinen Schlafanzug an?«, fragte Abha.

Hanna nickte grinsend, voller Vorfreude darauf, ihren Plan in die Tat umzusetzen.

Das Kleid hatte sie schon halb ausgezogen, als sie in ihrem Zimmer ankam. Sie warf es auf den Boden.

Eine Minute später stand sie mit heruntergelassener Unterhose auf der Schwelle zu ihrem Badezimmer und fing an zu heulen. Vorsichtshalber fügte sie noch ein, zwei kleine Schreie hinzu, falls Abha sie wegen des Fernsehers nicht hören konnte.

Während die verwirrte Babysitterin die Treppe hinaufbummelte, heulte Hanna immer weiter, obwohl sie am liebsten laut gelacht hätte, als Abha das Problem erkannte – die gelbe Pfütze und den braunen Haufen, die sie auf dem Boden hinterlassen hatte.

»Oh nein, ist dir ein Missgeschick passiert?«

Hanna nickte unter Tränen.

»Das machen wir schnell wieder sauber, ist nicht schlimm.« Aber während Abha das sagte, rümpfte sie die Nase, und Hanna wusste, wie ekelhaft die Schweinerei war. Nichts anderes hatte Abha verdient, weil sie gedacht hatte, Hanna wäre noch nicht sauber.

Sie ließ sich von Abha waschen und bettfertig machen, obwohl sie das auch allein geschafft hätte. Dann lehnte sie sich mit gekreuzten Füßen an das Geländer im Flur, um gespannt zu beobachten, mit welcher Technik Abha Pipi und Kacka wegmachen würde. Sie wusste, wie Mommy es gemacht hätte, war sogar dabei gewesen, als sie es mit zwei tatsächlich einmal nicht rechtzeitig auf die Toilette geschafft hatte. Mommy hatte Putzhandschuhe und Reinigungsmittel unter jedem Waschbecken deponiert, aber das konnte Abha ja nicht wissen.

Die stand kurz mit in die Hüften gestemmten Händen da und überlegte. »Hat deine Mommy Putzmittel und Schwämme in der Küche?«

Hanna nickte und sog an ihren Lippen, um nicht breit zu grinsen. Dieser Abend lief weniger schlecht, als sie zuerst befürchtet hatte. Begeistert hüpfte sie hinter der Babysitterin her.

Abha nahm ihre vielen Silberringe ab und legte sie auf den Küchentresen.

Hanna fand den Schmuck so spannend, dass sie Abha kaum noch wahrnahm. Ohne ihre nächste Frage wirklich gehört zu haben, nickte sie abwesend und ließ die Babysitterin dann mit Küchentüchern, Handschuhen und Putzmitteln allein nach oben gehen.

Es waren vier Ringe, jeder auf seine Art faszinierend. Aber am Ende nahm Hanna den kleinsten, ein geflochtenes Silberband mit einem roten Stein in der Mitte. Sie wusste, dass Abha später fragen würde: »Was ist mit meinem Ring passiert?«, und sie wollte nicht noch eine Runde Reglos-nicht-blinzeln spielen, also entschied sie sich dafür, ins Bett zu gehen. Vorher versteckte sie allerdings noch die Fernbedienung, damit Abha den Rest des Abends nur noch dröhnend laute Zeichentrickfilme anschauen konnte.

Als sie oben ankam, war die Schweinerei verschwunden und Abha schrubbte auf allen vieren den Boden.

Hanna gähnte laut und ging zu ihrem Zimmer.

»Bereit fürs Bett?«

Ja.

»Ich mache das hier noch fertig und sage dir dann Gute Nacht.«

Bevor Hanna unter die Decke kroch, vertraute sie Mungo noch ihren neuesten Schatz an.

Nebenan lief Wasser, anscheinend wusch sich Abha gerade die Hände. Als sie wenige Minuten später auftauchte und ihren Handrücken auf Hannas Stirn legte, war er noch feucht.

»Geht es dir gut?«, fragte sie. Hanna nickte. »Okay. Soll ich dir eine Geschichte vorlesen?«

Hanna schüttelte den Kopf. Ihr gefiel es nur, wenn Daddy vorlas. Aber sie deutete nacheinander auf beide Wangen, um anzudeuten, dass Abha ihr zwei Gutenachtküsse geben sollte.

Schmatz. »Träum schön.« Schmatz.

Abha wollte sich wieder aufrichten, doch Hanna packte eine dicke Strähne von ihrem langen Haar. Vielleicht war es ja wirklich fest genug, um es als Schaukel zu benutzen. Prüfend zog sie an der Strähne.

»Hey.«

Vorsichtig versuchte Abha, sich zu befreien, aber Hanna ließ nicht los; im Gegenteil, sie klammerte sich nun sogar mit beiden Händen an den Haaren fest.

»Was machst du denn da?«

Hanna starrte sie stumm an und grinste zufrieden.

»Ich muss jetzt aufstehen.«

Aber Hanna ließ die Haare nicht los.

»Hanna …« Nun versuchte Abha, ihre Finger aufzubiegen, was allerdings nur dafür sorgte, dass Hanna mit noch mehr Kraft zupackte. Dann riss sie wieder an der Haarsträhne, bis das Gesicht der Babysitterin ganz dicht vor ihr schwebte.

Abha wirkte etwas beunruhigt. »Hör auf damit, das ist nicht lustig.«

Zerr.

»Aua! Hanna!«

Hanna zog weiter. Ganz langsam, immer näher und näher heran. Sie wusste, dass Abha den Kopf nicht wegziehen konnte, ohne die Schmerzen zu verschlimmern.

Als ihre Nasen sich fast berührten, begann das Wettstarren.

»Das werde ich deiner Mutter sagen.«

Hanna zuckte mit den Schultern. Allerdings hatte Abha schlechten Atem. Sie wollte das Gesicht der Babysitterin also nicht ewig so dicht vor ihrer Nase haben. Es wurde Zeit für einen neuen Zug.

Wuff! Hanna bellte. Ihrer Meinung nach klang es sehr echt.

Das jagte Abha einen solchen Schrecken ein, dass sie automatisch zurückwich, nur um sofort vor Schmerz aufzuschreien. Mit Tränen in den Augen drückte sie eine Hand an den Kopf, während sie mit der anderen die ausgerissenen Haare festhielt.

Lachend ließ Hanna los.

Abha warf ihr einen verstörten Blick zu, bevor sie aufsprang, das Licht ausschaltete und schließlich die Tür hinter sich zuzog.

Hanna wusste, dass sie nicht noch einmal hereinkommen würde, nicht mal, um nach dem fehlenden Ring zu fragen. Vermutlich würde Abha alles Mommy und Daddy erzählen, aber das war gut. Mommy würde sich fragen, ob sie Abhas Ring gestohlen und absichtlich auf den Boden gekackt hatte. Aber Daddy würde nur feststellen, dass sich seine arme lilla gumma bei Fremden einfach nicht wohlfühlte.

Als Hanna mehrere Stunden später aufwachte, war es dunkel und still im Haus. Für den letzten Racheakt des Tages fischte sie den Schmuck aus Mungos weichem Rücken. Dann überlegte sie es sich anders und schob den Ring wieder hinein. Vielleicht würde sie ihn ja eines Tages tragen wollen, wenn sie größer war.

Platsch. Platsch. Zwei Diamantohrringe landeten in der Toilette. Als Zugabe pinkelte sie noch kurz darauf, bevor sie alles runterspülte.

Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie die glitzernden Kugeln in der Schüssel Karussell gefahren waren, bevor die Flutwelle sie für immer verschwinden ließ. Mommy hatte danach nie wieder ihren Schmuck auf dem Nachttisch zurechtgelegt. Und nie wieder einen Babysitter bestellt.

Die Erinnerung an diesen Abend entlockte Hanna ein Grinsen, aber es war heiß im Auto und sie hatte Hunger. Ein Teil von ihr wollte wieder in diese Röhre zurück, wo sie wie eine Rakete durch das All sausen konnte.

Manchmal konnte sie sich einfach nicht entscheiden, wo sie am liebsten sein wollte. Weit weg im Weltall? Oder ganz, ganz nah? In manchen Momenten wünschte sie sich, sie könnte sich daran erinnern, wie es in Mommys Bauch gewesen war. Waren sie da beide glücklich gewesen? Als ihr Blut miteinander vermischt gewesen war und sie ein großes Geheimnis geteilt hatten?

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SUZETTE

Bevor sie den Sicherheitsgurt anlegte, schob sie das kleine Reisekissen vor ihren Bauch. Eigentlich brauchte es keine solchen Vorsichtsmaßnahmen mehr, aber wenn sie durch ein Schlagloch fuhr, tat es manchmal noch weh. Einmal hatte sie Alex beschrieben, was für ein Gefühl es war, als könnte sie spüren, wie ihr Inneres wieder zusammenwuchs.

In den ersten Monaten ihrer Beziehung waren sie an einem faulen Tag gemächlich durch die Abteilungen des Phipps Conservatory geschlendert und vor jeder Pflanze stehen geblieben, die ihnen interessant vorkam. Schulter an Schulter standen sie in dem von Sonne durchfluteten Gewächshaus, und ihnen tropfte der Schweiß von der Stirn, während sie fasziniert ein grasartiges Gewächs betrachteten, das üppig vor sich hin wucherte. Es war das Geräusch, das sie hatte anhalten lassen – sie konnten der Pflanze beim Wachsen zuhören.

»So fühlt es sich manchmal in mir drin an. Als würde alles in explosionsartigen Schüben zusammenwachsen. Als könnte ich spüren, wie sich die Fasern strecken und zu dichtem Gewebe verknüpfen. Wie diese Pflanze, die wir damals im Phipps gesehen haben.«

»Ist bestimmt komisch«, hatte Alex gemeint und sanft über ihr empfindliches Fleisch gestrichen.

»Es tut nicht richtig weh, aber irgendwie ist es erschreckend.«

Gleichzeitig war es beruhigend, dass ihr Körper wusste, wie er sich wieder zusammensetzen musste. Obwohl sie nun ihre ganze Willenskraft darauf ausrichtete, dass er es auch richtig machte, ohne Anomalien wie eine weitere Fistel auszubilden.

Suzette konzentrierte sich auf den Verkehr. Um die Mittagszeit war in Oakland immer die Hölle los. Jetzt bereute sie es, nicht den anderen Weg genommen zu haben. Dann hätte sie kurz bei Alex im Büro anhalten können.

Seiner Firma gehörte ein Gebäude am McKee Place, das früher einmal eine Kirche gewesen war. Zusammen mit seinem Partner Matt hatte er es komplett umgebaut und nur den offenen, luftigen Hauptraum als Konferenzraum erhalten – ausgestattet mit einem riesigen Tisch, der aus recyceltem Papier hergestellt war. Sie wusste, wie sehr Hanna das Atrium liebte, das früher den Altarraum beherbergt hatte. Dort hatten sie mehrere Dachfenster eingebaut, damit die Bäume genügend Licht bekamen.

Ein Besuch bei Daddy wäre eine Belohnung gewesen; er hätte Hanna mit liebevollen Küssen und Zärtlichkeit überhäuft. Manchmal bereitete es Suzette Sorge, wie sehr Hanna in seiner Gegenwart aufblühte und sich ihm gegenüber ebenso liebevoll zeigte, wie er zu ihr war. Natürlich hatte Suzette auch immer wieder versucht, Hanna gegenüber liebevoller zu sein, aber ihre Bemühungen hatten mehr und mehr nachgelassen, da Hanna sie jedes Mal zurückwies. Trotzdem war sie bei dem Arzttermin brav gewesen und hatte sich eine kleine Belohnung verdient.

»Also, Hanna, ich möchte dir dafür danken, dass du heute so brav warst.« Sie warf einen Blick in den Rückspiegel, aber Hanna sah sie nicht an. »Warum halten wir nicht kurz bei Trader Joe’s und du suchst dir eine Kleinigkeit …«

Hanna fing an, begeistert in die Hände zu klatschen.

Mit einem zufriedenen Lächeln fuhr Suzette fort: »Du bist ja schon ein großes Mädchen. Und der Arzt hatte gute Neuigkeiten: Du bist vollkommen gesund. Deshalb wäre jetzt vielleicht der richtige Zeitpunkt, um sich nach einer Schule für dich umzusehen. Es ist einige Zeit vergangen, und wahrscheinlich gefällt es dir jetzt besser …«

Hanna schlug mit beiden Händen gegen das Autofenster und fing an zu kreischen, als wäre sie gerade in einem Sarg erwacht.

»Hör auf!« Zwar glaubte Suzette nicht, dass Hanna stark genug war, um die Scheibe zu zertrümmern, aber offenbar wollte sie es unbedingt versuchen. Sofort bereute sie, den schönen Moment zerstört zu haben. »Okay! Du würdest ja nicht sofort zur Schule gehen, nicht jetzt gleich. Wir würden etwas für den Herbst …«

Immer wieder schlug Hanna gegen die Scheibe und stieß dabei spitze Wutschreie aus.

Am liebsten hätte Suzette sich umgedreht und ihr einen Klaps aufs Knie gegeben, aber die Autos krochen Stoßstange an Stoßstange dahin, es war einfach zu riskant, den Blick von der Straße zu wenden. Warum hatte sie bloß davon angefangen? Wieder einer ihrer dummen Fehler als Mutter.

Gott sei Dank schaltete in diesem Moment die Ampel vor ihnen auf Rot und sie konnte anhalten. Schnell löste sie ihren Sicherheitsgurt und drehte sich nach hinten um. »Hör sofort damit auf! Wir werden nicht zu Trader Joe’s fahren, wenn du dich wie ein verzogenes Gör aufführst!«

Sofort beendete Hanna ihren Wutanfall. Stattdessen begann wieder einmal ein Wettstarren, das Suzette verlor, als sie sich nach der Ampel umsah.

Schnell wandte sie sich wieder ihrer Tochter zu. »Findest du das vielleicht lustig? Diese ständigen Spielchen? Eines Tages wirst du dir damit einen Riesenärger einhandeln. Es wird nicht immer nach deinem Kopf gehen.«

Hanna lächelte. Und sie nickte.

Hinter ihnen wurde gehupt.

»Schon gut!« Suzette drückte so heftig aufs Gaspedal, dass das Auto einen Satz machte. Einhändig schnallte sie sich wieder an. »Ich erwarte von dir, dass du dich im Laden anständig benimmst. Wenn du das tust, darfst du dir auch etwas aussuchen.«

Suzette registrierte das selbstzufriedene Grinsen ihrer Tochter. Vermutlich glaubte Hanna, sie habe gewonnen, aber das Thema Schule war damit noch lange nicht erledigt. Doch bevor sie es das nächste Mal anschnitt, würde sie Alex auf ihre Seite holen. Und in der Zwischenzeit konnte sie Hanna mit etwas Glück mit einer Tüte Schoko-Blaubeeren besänftigen und hoffen, dass der Friede für den Rest des Tages anhielt.

 

Im Laden warf Hanna all ihre Lieblingssachen in den Einkaufswagen, während Suzette ihn gedankenversunken durch die Gänge schob.

Alex. Nackt. Seine Lippen. Seine tröstenden Umarmungen. Alex’ Oberkörper, der sich so perfekt an ihren schmiegte. Sein modischer Bart entsprach eigentlich nicht ganz ihrem Geschmack, aber er sah gut damit aus. Er war etwas rötlicher als das Haupthaar, das die Farbe von Maisfasern hatte, und er trimmte ihn immer sehr ordentlich.

Alex stand auf Beauty-Produkte. Eigentlich wusste er Schönheit im Allgemeinen zu schätzen – Suzettes ebenso wie die ihrer Tochter. Er kleidete sich gut und hielt sich in Form, auch wenn er nicht im klassischen Sinn gut aussehend war. Dafür waren seine Züge zu sehr in der Mitte seines Gesichts konzentriert. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie den Impuls verspürt, seine Wangen zu packen und alles auseinanderzuziehen, damit Augen, Nase und Mund etwas mehr Platz bekamen. Aber bei ihrem ersten Gespräch – in der Kaffeeküche der Firma, in der sie ihren ersten und einzigen Job nach der Ausbildung gehabt hatte – hatte er eine unglaubliche Wärme ausgestrahlt und ihr konzentriert und voller Interesse zugehört. Seine freundliche Art verwandelte ihn sozusagen, und sie machte es leicht, sich mit ihm zu unterhalten. Danach hatte sie ihn absolut umwerfend gefunden.

Erst als sie die Abteilung für Tiefkühlwaren erreichten, fiel Suzette auf, dass sie die Bananen vergessen hatte. Als sie einen prüfenden Blick in den Wagen warf, stellte sie angenehm überrascht fest, dass Hanna nichts Merkwürdiges hineingelegt hatte, sondern nur ihre Cornflakes, ein Glas mit Pfirsichen, eine Tüte Bio-Tortillachips und eine Tiefkühlpizza mit Spinat.

Suzette durchlebte einen seltenen Moment des Stolzes. Vielleicht war es ihr ja doch gelungen, Hanna etwas über gesunde Ernährung beizubringen.

»Möchtest du dir noch deine Blaubeeren holen?«, fragte sie deshalb, während sie zurückgingen zu Trockenobst, Nüssen und Schokolade.

Hanna nahm sich gleich mehrere Tüten mit verschiedenen in Schokolade gehüllten Früchten.

»Hey, wie wäre es mit einer Tüte pro Sorte?« Das war immer noch mehr, als sie ihr normalerweise erlaubte, aber sie wollte Alex beweisen können, dass sie Hanna belohnt hatte. Schließlich wusste sie, wie seine Familie in seiner Vorstellung aussah: brave Tochter, perfekte Ehefrau. Die liebevolle, besorgte Mutter, die es erfolgreich geschafft hatte, ihrer Tochter die Angst vor der Furcht einflößenden Diagnosemaschine zu nehmen, und bei ihrer Aufgabe, für die Gesundheit und das Glück ihres süßen Mädchens zu sorgen, mal wieder einen neuen Pfad eingeschlagen hatte. (Die perfekte, ergebene Ehefrau, die ständig in Sorge war, ihre Familie könnte ihr entgleiten. Vor Alex hatte sie viele Jahre in einem dunklen Abgrund verbracht, und sie würde es nicht überleben, wieder in die Tiefe zu stürzen.)

Als Hanna nicht auf sie hörte, nahm Suzette die zusätzlichen Tüten wieder aus dem Wagen.

Hanna quengelte ein wenig und stampfte halbherzig mit dem Fuß auf.

»Das ist immer noch viermal so viel, wie du normalerweise bekommst.«

Mit einem triumphierenden Grinsen hüpfte Hanna Richtung Obstabteilung.

Irgendwo im Laden heulte ein Kleinkind. Als sie die lang gezogenen, schrillen Töne eines Trotzanfalls erkannte, bekam Suzette automatisch Mitleid mit den Eltern. In der Obstabteilung wurden die Schreie lauter, und tatsächlich kämpfte dort eine Mutter darum, mit einer Hand ihren tobenden Sohn festzuhalten, während sie mit der anderen den Einkaufswagen schob. Der kleine Junge schrie immer lauter und wütender, und Suzette konnte einzelne Worte aus dem Gebrüll heraushören: »Will haben! Nein!«

Gerade als sie Hanna ermahnen wollte, nicht die Zitronen abzulecken, ließ diese die Früchte liegen, um sich das Spektakel anzusehen.

Suzette behielt sie wachsam im Auge, während sie schnell ein paar Bananen und Äpfel holte, außerdem Rosenkohl und Zutaten für einen Salat.

»Hanna, komm jetzt.«

Der rotgesichtige Trotzkopf versuchte, sich aus dem Griff seiner Mutter zu befreien. Als ihm klar wurde, dass er das nicht schaffen würde, machte er sich ganz steif und heulte zur Decke hinauf.

Die anderen Kunden machten einen weiten Bogen um das kleine Drama und verzogen herablassend das Gesicht. Hanna jedoch baute sich direkt vor dem kleinen Schreihals auf, beugte sich vor und legte einen Finger an die Lippen. Schhhhh.

Das verblüffte den Kleinen für einen Moment so sehr, dass er verstummte.

»Hanna, komm jetzt! Wir wollen gehen.«

»Was für ein liebes Mädchen«, sagte die Mutter des Jungen.

»Danke.« Da Suzette Hannas Freundlichkeit nicht traute, streckte sie fordernd die Hand aus. Zwar wusste sie, dass Hanna sie nicht nehmen würde, aber vielleicht ging sie wenigstens mit.

Nun explodierte der kleine Junge erneut, und diesmal richtete sich seine Wut gegen Hanna. Er schlug ungeschickt nach ihr und brüllte weiter.

»Brandon, du weißt doch, dass …«, begann seine Mutter.

Bevor Suzette sie aufhalten konnte, holte Hanna entschlossen aus und schlug dem Jungen mit der Faust gegen den Kopf.

Der schnappte fassungslos nach Luft und landete auf dem Hintern.

»Nein!« Suzette stürzte sich auf Hanna und zerrte sie von ihm weg. »Das tut mir so leid … Uns tut es leid!«

Völlig schockiert nahm die Mutter ihren Brandon auf den Arm. Er brach in Tränen aus und presste atemlose Schmerzensschreie hervor.

»Ist er okay? Es tut mir so leid!« Mit einem wütenden Blick wandte sie sich an Hanna: »Man darf nicht schlagen!«

Hanna zeigte auf den Jungen und brandmarkte ihn so stumm als Verursacher.

Die Mutter hielt ihn so weit weg von ihnen wie möglich, während sie sein Auge untersuchte, sein Ohr und die empfindliche Schläfe. Um ihn zu trösten, schaukelte sie ihn auf der Hüfte. Dann warf sie Suzette einen hasserfüllten Blick zu, der deutlich sagte: Wie können Sie es wagen, meinen Tag noch schlimmer zu machen?

Hastig packte Suzette Hannas Hand und flüchtete Richtung Kasse. Am liebsten hätte sie einfach ihren Einkaufswagen stehen gelassen und wäre rausgelaufen, so sehr schämte sie sich. Aber wenn Hanna den Laden ohne ihre Belohnung verlassen musste, würde alles nur noch schlimmer werden.

Mit zitternden Händen räumte Suzette ihren Wagen aus und redete auf Hanna ein, während der Kassierer die Waren einscannte. »Hanna, du weißt sehr gut, dass man niemanden schlagen darf. Er ist doch nur ein kleiner … Das ist jetzt auch egal, du darfst niemanden schlagen, unter keinen Umständen. Es ist absolut nicht in Ordnung, und das weißt du auch.«

Hanna seufzte gelangweilt.

Mit eingezogenem Kopf verließ Suzette das Geschäft. Sicher wussten schon alle, dass sie die Mutter war, die ihr gewalttätiges Kind nicht im Griff hatte. Ein Kleinkind zu schlagen …

»Ich kann nicht fassen, dass du das getan hast.«

Nachdem sie sich in ihrem Kindersitz angeschnallt hatte, starrte Hanna ihre Mutter erwartungsvoll an, bevor sie leicht den Kopf neigte und die Lippen spitzte.

Suzette wusste genau, welche Art von Drohung dahinterstand. Falls sie ihr nicht sofort die Süßigkeiten gab, würde ihr ebenfalls ein Trotzanfall ins Haus stehen.

Sie stellte die Einkaufstüten auf den Beifahrersitz, sodass Hanna sie nicht erreichen konnte, und kramte eine Tüte mit Blaubeeren daraus hervor. »Das ist keine Belohnung für dein Verhalten gerade eben«, betonte sie, bevor sie ihr die Tüte gab. »Die hast du dir verdient, weil du beim Arzt brav warst. Aber Daddy und ich werden uns noch über diese Sache unterhalten. Schlagen ist vollkommen inakzeptabel. Verstanden?«

Grinsend riss Hanna die Tüte auf.

Gott mochte ihr vergeben – Suzette konnte im Gesicht ihrer Tochter nichts anderes entdecken als diebischen Stolz. Am liebsten hätte sie ihr die Süßigkeiten wieder aus der Hand gerissen. Aber sie war zu müde dafür. So müde, dass sie nur noch nach Hause wollte. Offenbar hatte es einfach keinen Sinn, darauf zu hoffen, dass ein ganzer Tag friedlich verlief.

Während der Fahrt knabberte Hanna ihre Blaubeeren und summte ein nasales Liedchen vor sich hin, das sie beinahe fröhlich klingen ließ. Normal.

Suzette hoffte inständig, dass die Schokolade ausreichen würde, um sie zufriedenzustellen, bis Alex nach Hause kam. Denn dann konnte sie sich darauf verlassen, dass Hanna wie eine Maske ihr Engelsgesicht aufsetzte und zu Daddys liebem kleinem Mädchen wurde.

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HANNA

Ihr Haus war ganz anders als die anderen Häuser in ihrer engen Straße, fast so, als käme es aus der Zukunft. Sie liebte es, denn es war sicher, vertraut, und Daddy hatte es entworfen. Zwar betonte er immer, dass Mommy ihm bei der Inneneinrichtung geholfen habe, aber Hanna wusste, dass sie nur die Möbel ausgesucht hatte – Sachen, die ganz ähnlich waren wie das, was sie auch schon im IKEA-Katalog gesehen hatte. Alles war weiß oder aus Holz. Aber die Magie hatte Daddy gewirkt: die gläserne Wand, durch die man – sogar noch aus dem Obergeschoss – den großen Garten sehen konnte; die Treppe, die aussah wie aus einem Raumschiff; die kühle Klarheit im Inneren, besser als in einem Ufo.

Die L-förmige Couch im Wohnzimmer war eine Spezialanfertigung. Hanna sprang besonders gerne von den kleinen eingebauten Brettchen, die an beiden Enden hervorragten. Dann schrie Mommy immer: »Stell dich nicht auf die Tischchen!«, aber für Hanna sahen sie mehr aus wie Sprungbretter. Sie steckte auch gerne einen Finger in die Blumentöpfe, um zu sehen, ob die Pflanzen Wasser brauchten, aber dann beschwerte sich Mommy darüber, dass sie den Boden schmutzig machte.

Mommy gefiel es, wenn alles hübsch sauber war. Und es gefiel ihr herumzuschreien, wenn Daddy nicht da war. Hanna aber gefiel es, draußen im Garten zu spielen, dessen hoher Zaun und dichte Hecken sie perfekt von den anderen Häusern abschirmten und den neugierigen Blicken der Nachbarn entzogen. Dort störte sie niemand, wenn sie herumrannte und Passagiere von einem sinkenden Schiff rettete. Bevor sie sie ins Rettungsboot schubste, klaute sie ihnen das Geld aus den Taschen und den Schmuck vom Hals. Manchmal galoppierte sie auch wild auf ihrem großartigen grauen Pferd herum.

Doch in diesem Augenblick stand sie vor dem riesigen Fernseher und schaltete durch die Kanäle.

»Hanna! Jetzt ist keine Fernsehzeit, du hast deine Hausaufgaben noch nicht gemacht.«

Mommy räumte gerade die Einkäufe in die Küchenschränke, die für Hanna immer aussahen wie Nebelschwaden. Als sie noch kleiner gewesen war, war sie einmal auf die Arbeitsfläche geklettert und hatte sorgfältig alle Teller und Schüsseln aus dem Schrank genommen. Sie wollte hineinkriechen und nachsehen, ob der Nebelschrank von innen so aussah, wie sie es ich vorstellte – wie das Innere einer Wolke. Doch im letzten Moment kam Daddy und nahm sie auf den Arm. »Was machst du denn da, mein Äffchen?« Er war überhaupt nicht böse gewesen, und so hatte sie fröhlich gekichert.

Obwohl sie spürte, wie klebrig ihre Finger waren, drückte sie weiter auf den Knöpfen herum. In ihrem Kopf sah sie bereits vor sich, was nun passieren würde, und tatsächlich: Mommy kam anmarschiert und nahm ihr die Fernbedienung weg. Mit angewiderter Miene sagte sie: »Du hast Schokolade an den …« Ein mahnendes Zungenschnalzen, dann schaltete sie den Fernseher aus. Sie nahm die Fernbedienung mit in die Küche, holte ein Papiertuch und eine ihrer schicken Sprühflaschen hervor und wischte Hannas Tapser ab.

Hanna grinste hinter der erhobenen Hand, während sie sich die Finger ableckte.

»Komm, wir fangen mit ein paar Buchstabierübungen an, das wird lustig. Da kannst du mich mit den vielen schwierigen Wörtern beeindrucken, die du schon kennst.« Mommy holte die Schulsachen aus dem Schrank.

Lustlos schlich Hanna zu ihr hinüber. Kniend hockte sie sich auf einen Stuhl an dem großen aus einem Stück Baumstamm gefertigten Tisch, der zwischen Küche und Wohnzimmer stand.

Mommy schob einen Bleistift in den elektrischen Anspitzer und ließ ihn summen, bis der Stift spitz genug war, um damit Augen auszustechen. Dieser Teil gefiel Hanna immer, und so sah sie aufmerksam zu, als Mommy einen zweiten Stift vorbereitete. Anschließend reichte Mommy ihr beide Stifte, zusammen mit einem Stück Papier.

»Heute dauert der Unterricht nicht lang, wir machen nur ein paar Wörter. Erstes Wort: lieben. Ich liebe es, zu schlafen. Du liebst die Farbe Gelb. Lieben.«

Während Hanna schrieb, schob sich Mommy das Lesebuch unter den Arm, damit sie nicht abschauen konnte. Dabei ging sie zurück in die Küche und holte sich ein Glas Wasser und zwei weiße Tabletten. Auf dem Rückweg zum Tisch schluckte sie beide Tabletten hinunter.

»Fertig?« Mommy setzte sich gegenüber von Hanna an den Tisch und rieb sich die Schläfen, wodurch sie irgendwie wabbelig aussah.

Hanna hob ihr Blatt an, damit Mommy sehen konnte, was sie geschrieben hatte.

HASS

»Netter Versuch. Aber heute geht es nicht um Assoziationsketten. Möchtest du mir das Wort ›lieben‹ vielleicht buchstabieren?«

Hanna schüttelte den Kopf. Sie wusste, dass Mommy bei den Schulsachen immer besonders geduldig war, weil die wichtig waren. Zumindest sagte Daddy das ständig, also gab Hanna normalerweise ihr Bestes, damit Daddy sich darüber freuen konnte, wie schlau sie doch war. Aber jetzt musste Mommy begreifen, wie es sein würde, wenn sie sie zwingen wollte, zur Schule zu gehen. Mommy hätte niemals davon anfangen dürfen.

»Okay, nehmen wir ein anderes Wort. Wie wäre es mit … ›Sommer‹. In ein paar Monaten beginnt der Sommer. Hannas farmor und farfar kommen uns jeden Sommer besuchen.«

Babyleicht. Hanna schrieb etwas auf, drehte das Blatt um und präsentierte es Mommy.

MISTSTÜCK

Mommys tiefer Seufzer schien sie beinahe schmelzen zu lassen. Es fiel ihr schwer, ihren schlaffen Körper aufrecht zu halten. »Das ist kein schönes Wort. Allerdings bin ich nicht einmal sonderlich überrascht, dass du weißt, wie man es schreibt. Könntest du bitte die Wörter schreiben, die ich dir vorgebe? Je schneller wir hiermit fertig werden, desto schneller können wir uns anderen Dingen widmen.«

Hanna sah sie aufmerksam an, bereit für das nächste Wort.

»Erdbeere. Erd-bee-re. Sie schaffte es nie, nur eine einzige Erdbeere zu essen.«

Hanna legte eine Hand über das Blatt, damit Mommy nicht sehen konnte, was sie schrieb.

»Für ein einzelnes Wort dauert das aber ziemlich lange. Was schreibst du denn da?«

Kichernd schrieb Hanna weiter. Als sie so weit war, hielt sie ihr Meisterwerk hoch.

SCHEISS AUF MOMMY. SIE IST SCHWAHCH UND DUMM.

Neben Mommys Auge begann eine Ader zu zucken, und sie biss krampfhaft die Zähne zusammen. »Okay, das reicht. Du arbeitest jetzt eine Weile allein weiter.« Während sie aufstand, griff sie nach dem Blatt mit den Schreibübungen.

Aber Hanna war vorbereitet: Sie zerriss das Papier in winzige Fetzen, die sie über den ganzen Tisch verteilte.

»Natürlich wieder mal keine Beweise für Daddy. Hanna, ich habe jetzt keine Lust auf diese Spielchen. Mir ist klar, dass das CT und der Besuch bei dem neuen Arzt nicht schön für dich waren, aber könntest du nicht einfach für den Rest des Tages brav sein?« Sie schob die Papierfetzen zusammen und über die Tischkante in ihre ausgestreckte Hand.

Es war nicht nur babyleicht, sondern auch lustig. Schon verlor Mommy die Geduld. Böse, böse Mommy. Vielleicht würde sie ihr ein Zeugnis schreiben und es Daddy zeigen. Mit einer dicken, fetten Sechs darauf.

Aber noch war Mommy nicht bereit aufzugeben. Sie schlug ein anderes Schulbuch auf und schob es Hanna hin. »Du kannst diesen Abschnitt hier lesen. Es geht um das alte Ägypten: die Pyramiden und die Pharaonen. Das waren Könige und Königinnen. Es wird dir gefallen. Und hier, auf der nächsten Seite, schau: Da sollst du etwas in Hieroglyphen schreiben, das ist wie eine Geheimsprache. Du könntest Daddy eine geheime Nachricht schreiben. Okay? Schreib ihm einfach, was dir gerade einfällt. Berichte ihm, wie du im Laden ein Baby geschlagen hast. Oder wie gut du Schimpfwörter buchstabieren kannst.« Sie ging in die Küche. Nachdem sie die Fetzen von dem Übungsblatt ins Altpapier geworfen hatte, griff sie zu ihren Putzsachen und den üblichen Gummihandschuhen. »Übrigens hast du einen Fehler gemacht. Man buchstabiert das Wort s-c-h-w-a-c-h. Du hattest ein h zu viel drin.«

Hanna wusste nicht, ob sie lachen oder wütend werden sollte. Es gefiel ihr nicht, wenn man sie verbesserte. Andererseits war es immer schön, Mommy so zu sehen: voller Hass und Resignation. Ihr Normalzustand. Wenn Daddy sie so sehen könnte, würde er verstehen, dass Mommy eine hinterhältige Schwindlerin war. War er dabei, tat Mommy immer ganz lieb und hilfsbereit. Aber das war nur gespielt und hielt nie lange an. Hanna musste es nur oft genug versuchen, dann würde Mommy irgendwann ihr wahres Gesicht zeigen und Daddy würde sie schreiend aus dem Haus jagen.