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Es ist die Chance ihres Lebens: Coordt und Franziska, junge Eltern in München, können mit ihrem kleinen Sohn in eine große, bezahlbare Altbauwohnung in bester Lage ziehen. Doch das Angebot hat einen Haken: Sie sind nicht allein. Verlockt von der Aussicht auf Immobilienbesitz, der jenseits ihrer finanziellen Möglichkeiten liegt, lassen sich Coordt und Franziska auf einen Pakt ein, der ihre Liebe auf eine harte Probe stellt. Das Leben in der neuen Wohnung beschleunigt und vertieft bereits vorhandene Risse in ihrer Beziehung. Die einmalige Gelegenheit entpuppt sich als Beziehungsfalle. Ausweg ungewiss.
Natalie Buchholz entwirft in klarer, rhythmischer Prosa ein Szenario, dem man sich nicht entziehen kann. Ein Roman, der die Fragilität von Beziehungen wie unter einem Brennglas offenlegt und zeigt, wie verbesserte Lebensumstände neue Energien freisetzen, materielle Zwänge gleichzeitig aber auch zerstörerisch wirken können.
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Seitenzahl: 233
Das Buch
Eigentlich ist Coordt zufrieden. Er ist verheiratet, hat einen kleinen Sohn und einen guten Job. Doch seine Frau Franziska kämpft mit sich, mit ihrer Rolle als Mutter, ihrer zu kleinen, schlecht gelegenen Wohnung. Coordt versucht alles, um seine kleine Familie glücklich zu machen. Doch es reicht nicht. Als er endlich eine Wohnung findet, die besser nicht sein könnte, scheint das Glück auf ihrer Seite zu sein. Allerdings gehört zu ihr ein Mitbewohner, der sich nicht zeigt. Im Gegensatz zu Coordt stört das seine Frau nicht. Sie sieht nur die neue Weite, die Vorteile des Viertels, die besseren Perspektiven. Coordt hingegen fühlt sich in seinem Familienalltag gehemmt und in seiner Rolle als Vater erschüttert. Die Situation spitzt sich zu, als sich der Mitbewohner seiner Frau und seinem Sohn nähert und Coordt entscheiden muss, welche Zukunft er seiner Familie bieten möchte.
Natalie Buchholz entwirft in klanghaft präziser Prosa ein Szenario, dem man sich nicht entziehen kann. Was macht es mit uns, wenn unser Zuhause zur Verhandlungssache wird? Ein Roman, der die Fragilität von Beziehungen wie unter einem Brennglas offenlegt und zeigt, wie verbesserte Lebensumstände neue Energien freisetzen, materielle Zwänge gleichzeitig aber auch zerstörerisch wirken können.
Die Autorin
NATALIE BUCHHOLZ, 1977 in Frankreich geboren, studierte Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim und an der Université Aix-Marseille. 2018 erschien ihr Romandebüt Der rote Swimmingpool. 2020 wurde sie mit dem Spiegelungen-Preis für Minimalprosa ausgezeichnet. Die Autorin lebt und arbeitet in München und im Inntal.
»Ein schönes Buch mit vielen sehr erinnerlichen Bildern.« Rainer Moritz, NDR Kultur, über Der rote Swimmingpool
»Ich habe es an einem Abend, in einer Nacht gelesen, weil ich einfach nicht aufhören wollte.« Christine Westermann, WDR, über Der rote Swimmingpool
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NATALIE BUCHHOLZ
UNSER GLÜCK
ROMAN
Der zitierte Vers stammt aus
»Versed« von Rae Armantrout,
Wesleyan University Press 2010, S. 103.
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Copyright © 2022 Penguin Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: Sabine Kwauka
Covermotiv: Stephan Balkenhol, Mann im Kronleuchter, 2019 Wawa wood, painted, 90 x 60 x 2 cm; VG Bildkunst 2021
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-27612-6V004
www.penguin-verlag.de
Für J.
Rekordhitze.
Endlich. Coordt hatte sie lange ersehnt. Nach einem Eiswinter und Dauerregen das ganze Frühjahr über. Die Luft war feucht und flimmerte, wenn er in die Ferne sah.
Normalerweise hätte Coordt sich freigenommen, wäre an den Starnberger See gefahren, an seine Lieblingsstelle, die er niemandem verriet außer Franziska. Doch es gab nur diesen einen Termin für die Besichtigung der Wohnung, deren Beschreibung wie ein Sprachfertigteil für Luxusimmobilien geklungen hatte. Also fuhr er nicht an den See, sondern erst die Isar entlang, dann durch den Englischen Garten in Richtung Schweinchenbau. Unweit dahinter befand sich die Wohnung.
Einen Tag Urlaub hatte Coordt trotzdem eingereicht. Er wollte nicht hetzen müssen. Nicht bei dieser Hitze. Außerdem hielt es im Büro zurzeit sowieso niemand aus. Selbst für einfache Aufgaben wie Postfach aufräumen oder Ablage machen war es zu stickig. Eine Klimaanlage war im Gespräch. Seit einem Jahr. Es würde wieder nichts daraus werden, das hatte die Assistentin des Chefs schon ausgeplaudert. Deshalb gab die Geschäftsleitung einmal am Tag eine Runde Eis aus. Es lag in einem Karton, der von Büro zu Büro gereicht wurde. Capri oder Domino. Mehr Auswahl gab es nicht. Coordt war einer der wenigen, die sich nicht bei der Geschäftsleitung über die Arbeitsbedingungen beschwert hatten. Das wusste er vom Chef persönlich. Systemkonform – hatte der beim Mittagessen zu ihm gesagt, halb im Scherz, halb im Ernst. »Du bist eine wirklich gute Partie für einen Arbeitgeber.« Das Schulterklopfen, das daraufhin folgte, hatte Coordt wehgetan.
Ein paar Nackte auf der Liegewiese am Eisbach gaben sich die Blöße. Darunter auch der Mann, über den er schon als Student hatte lachen müssen, weil er mit durchgedrücktem Rücken am Ufer auf und ab stolzierte, damit auch alle auf ihn aufmerksam wurden.
Es roch nach Sonnencreme und Zigarettenrauch. Eine Prozession von Menschen schlängelte sich auf den Wegen. Hunde rannten übers Gras, manche so groß wie Kälber.
Coordt radelte langsam. Schweiß rann über seine Stirn und die Wirbelsäule hinunter. Der Fahrtwind war so warm wie das Gebläse eines Föhns.
Auf der Mitte der kleinen Brücke, die über den Schwabinger Bach und raus aus dem Grünen führte, blieb er einen Moment lang stehen, verfolgte eine Plastikflasche Sonnenschutzmittel in Familiengröße, die auf der Wasseroberfläche schwamm. Vater, Mutter, Kind strahlten ihn goldgebräunt vom Klebetikett an, bevor sie unter der Brücke verschwanden.
Coordt wischte sich über die Stirn, dachte an das schattige Plätzchen am Starnberger See. Vielleicht könnte er später doch noch hinfahren, zusammen mit Franziska und Frieder, falls es ihm gelänge, seine Frau davon zu überzeugen, die Wohnung zu verlassen.
Das Vibrieren des Smartphones holte ihn aus seinen Gedanken. Er hatte noch eine halbe Stunde bis zum Termin. Da konnte er den Rest des Wegs auch zu Fuß gehen und darauf hoffen, dass die Schweißflecke auf dem Hemd trockneten, ohne Ränder zu hinterlassen.
Es tat ihm gut, extra langsam zu sein und sich in der Hitze mit angemessener Geschwindigkeit zu bewegen. Ohne Kind. Endlich einmal durchschnaufen und nicht noch eine Aufgabe erledigen, bevor die nächste anstand.
Zeit für ihn selbst gab es kaum mehr. Im Büro war er gefordert, zu Hause sowieso. Franziska erwartete, dass er nach der Besichtigung sofort heimkäme und sich um Frieder kümmerte. »Ich brauche auch einmal Urlaub vom Alltag«, hatte sie gesagt und damit Frieder gemeint. Frieder, der Schreihals. Frieder, das Wutkind. Frieder, ihr Herzenswunsch.
An der Ampel hielt er die Luft an. Die Abgase der Autos stanken bei Hitze noch mehr als sonst. Da hatte Franziska schon recht. Er atmete erst wieder aus, als er in die nächste Seitenstraße einbog. Hier war es ruhiger. Die Läden, Bars und Cafés begannen weiter nördlich.
Coordt mochte es ruhig. Er brauchte das Quirlige der Stadt hauptsächlich als Idee, jederzeit darin eintauchen zu können, wenn ihm danach war. Was nur noch selten vorkam. Vor allem, seit Frieder auf der Welt war. Gab ein Kollege oder eine Kollegin ein Fest und lud ihn dazu ein, sagte er ab. In erster Linie wegen Franziska. Sie mochte es nicht, wenn er sie mit Frieder allein ließ. Tagsüber war es noch in Ordnung. Es ging ja auch nicht anders, schließlich verdiente er das Geld. Aber abends forderte sie seine Unterstützung ein, obwohl der Kleine jedes Mal lauter wurde, sobald Coordt vor seinem Bettchen stand und ihn trösten wollte. Frieder akzeptierte nur seine Mutter.
Coordt wusste, dass er die Zurückweisung seines Sohnes nicht persönlich nehmen durfte. Er war zu klein, kein Jahr alt, und dennoch verstand sie Coordt nicht. Von Anfang an hatte er sich um ihn gekümmert. Doch Frieder hatte immer erst dann aufgehört zu schreien, wenn Franziska ihn an sich nahm. Oft hatte er sich dumme Sprüche deswegen anhören müssen – kein Wunder, klassische Rollenverteilung, du arbeitest, ich zu Hause, was erwartest du? Aber das stimmte so nicht. Den ersten Monat nach der Geburt war er daheimgeblieben, hatte Franziska umsorgt, die nicht weniger selten weinte als Frieder, und natürlich seinen Sohn, der trotzdem nichts von ihm wissen wollte und seinem Vater mit den wenigen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, zeigte, dass er nicht erwünscht war: Mund auf, weinen; später dann drückte sich Frieder regelrecht von ihm weg, sobald er ihn auf den Arm nahm.
Coordt war sich hilflos vorgekommen. Auch heute fühlte er sich noch oft den Stimmungen seiner Familie ausgesetzt, auch wenn vieles besser geworden war. Franziska hatte ihre Schwangerschaftsdepression überwunden, Frieder benötigte zwar immer noch viel Aufmerksamkeit und ließ ihnen kaum Pausen zum Entspannen, aber wenigstens hatten sie inzwischen Routine und Erfahrung damit.
Coordt war sich sicher, der Wunsch nach Ruhe war mit seiner Familie gekommen. Wenn er für die Arbeit nicht so viel verreisen müsste, würde er am liebsten aufs Land ziehen. Weit raus. Doch das hatte Franziska nicht gewollt. »Ich würde eingehen«, hatte sie gesagt, als er ihr von seinen Gedanken erzählte. »Ich brauche die Stadt. Im Gegensatz zu dir erlebe ich nichts anderes mehr als Frieders Welt.«
Coordt durchschritt die Gegend hinter dem Schweinchenbau, die an den Leopoldpark grenzte. Er kannte das Viertel nicht gut, obwohl er schon lange in München lebte. Es hatte nie einen Grund gegeben, sich hier aufzuhalten. Er kannte auch niemanden, der hier wohnte. Terra incognita – absurderweise nur einen Steinwurf von der Leopoldstraße entfernt, wo er andauernd gewesen war, als er noch zur Uni ging und sich in Bars und Kneipen durchaus wohlgefühlt hatte.
Coordt blieb stehen, sah die Straße entlang: teure Autos, prächtige Wohnungen, einige mit Inschriften über den Hauseingängen, datiert auf das Ende des 19. Jahrhunderts. Alteingesessene Firmen hatten ihren Sitz hier. Die Namen graviert auf Messingschildern. Die Menschen, die ihm auf dem Gehweg entgegenkamen, sahen gepflegt aus. Gepflegter als er, trotz des frisch gebügelten Hemdes. Das war in Untergiesing anders.
Seit geraumer Zeit war er nicht mehr aus seinem Viertel hinausgekommen. Umso mehr verwunderte ihn die Anzeige, die er in der Zeitung entdeckt hatte, klein und unscheinbar – er setzte schon länger nicht mehr nur auf digitale Angebote: Altbauwohnung, dritter Stock ohne Aufzug. Parkett. Hohe Wände. Balkon. Komplett saniert. Inklusive Einbauküche. Hundertzwanzig Quadratmeter. Luxus, nicht nur, was den Platz betraf.
Die Miete war eigentlich zu hoch für Coordt, er würde um eine Gehaltserhöhung bitten müssen, sollte er den Zuschlag erhalten. Er hatte gute Chancen auf etwas mehr Geld, gerade jetzt, da er Vater geworden war. Sein Chef hatte ein Herz, wenn es um den Nachwuchs ging.
Andererseits war die Miete überraschend niedrig für eine Wohnung in dieser Lage. Den Englischen Garten vor der Haustür. Mitten in Schwabing und dennoch ruhig. Es konnte natürlich sein, dass es ein Fake-Inserat war, das gab es immer wieder. Perfekte Wohnungen zu günstigen Preisen, angeboten von Betrügern, deren Strategie Coordt nicht begriff. Trotzdem musste er der Anzeige nachgehen. Zu lange schon suchte er nach einer neuen Bleibe. Franziska behauptete, sie sei kurz vorm Durchdrehen in der kleinen Wohnung, in der sie jetzt lebten. Klaustrophobisch war eines ihrer Lieblingswörter, wenn die Suche mal wieder nicht erfolgreich gewesen war.
Coordt setzte sich wieder in Bewegung. Es war nicht mehr weit. Als er um die Ecke bog, blieb er abrupt stehen. Die Schlange reichte bis zur nächsten Straßenkreuzung. Er hatte mit vielen Interessenten gerechnet. Aber nicht mit so vielen. Nicht bei einer Zeitungsannonce. Und nicht bei dreiunddreißig Grad Celsius. An einem normalen Arbeitstag. Die Sonne würde ihm die Glatze verbrennen, die er sich rasiert hatte, seit sie sich abzuzeichnen begann.
Coordt schloss sein Fahrrad an der Stange eines Straßenschilds an. Hinter ihm vernahm er Wortfetzen wie »Stuck« und »selten so ein Angebot« und »ultrahohe Räume«. Es waren überwiegend Erwartungen an die Wohnung, aber auch »Sonnenstich« und »keine Chance« hörte er.
Die Schlange war in Bewegung. Ein langsamer, aber stetiger Zug. Coordt stellte sich an, bedeckte mit der Hand seinen Schädel.
Im Schritttempo näherte er sich dem Eingangsbereich – einer hohen, zweiflügligen Holztür. Die Messingplatte mit den Klingelknöpfen glänzte.
Coordt beobachtete die Leute, die das Gebäude verließen. Sie wirkten nachdenklich, kniffen die Augen zusammen, setzten die Sonnenbrillen auf. Das verhieß nichts Gutes. Vermutlich hatte die Wohnung nichts mit ihrer Beschreibung gemein. Das war schon öfter vorgekommen. Andererseits wirkte das Gebäude vielversprechend und genau so, wie er es sich vorgestellt hatte.
Im Eingangsbereich parkten ein Kinderwagen und zwei Fahrräder. Briefkästen hingen an der Wand, die ebenfalls glänzten, als wären sie noch nie berührt worden.
Coordt atmete durch. Der Schatten war erholsam. Die steinernen Wände angenehm kühl. Er legte eine Hand an die Wand, blickte in den Innenhof, in dem weitere Fahrräder standen und ein junger Ahorn. Eine Amsel zwitscherte. Nirgends waren Tauben zu sehen. Oder Spieße zur Abwehr der Vögel an den Geländern der Balkone, die zum Innenhof führten. Seit seiner ersten Wohnung in München wusste er auch darauf zu achten.
Das Treppenhaus war großzügig geschnitten. Helle Holzstufen führten nach oben, von unzähligen Schritten glatt poliert. In jedem Stockwerk ließen hohe, schmale Fenster Licht herein.
Coordt besah sich die Konkurrenz. Es gab fast nur Pärchen. Die meisten lehnten am Geländer. Nur manche saßen auf den Stufen. Aber alle mieden die Lichtschneisen, durch die die Sonne brannte und in denen es Cordt gleich ein paar Grad wärmer vorkam als in den dunkleren Abschnitten zwischen ihnen.
Die Luft im Treppenhaus stand. Vom ersten bis zum dritten Stock wurde mit gedämpfter Stimme geredet. Es herrschte eine Atmosphäre wie in der Kirche.
Die Besichtigungen dauerten nicht lange. Kaum hörte Coordt, wie die Wohnungstür im dritten Stock geöffnet und die nächsten Interessenten begrüßt wurden, kamen sie auch schon wieder heraus, und er konnte zwei Stufen vorrücken.
Bald hatte er freien Blick auf die Etage. Eine Kugellampe hing von der Decke. Die Wohnungstür war weiß lackiert, nirgends eine Macke. Davor eine Fußmatte aus Sisal, eingefasst von Jugendstilformen aus dunklem Gummi.
Diesmal sah Coordt auch die Vermieterin. Als solche jedenfalls stellte sie sich dem Paar vor, das gerade die Wohnung betrat und sofort seine Begeisterung kundtat. »Was für ein Entrée! Gefällt uns auf Anhieb!«
Die Vermieterin musste um die fünfzig sein. Ihr Haar war blond. Sie trug es kurz. Passend zum Rock, der knapp oberhalb der Knie endete. Alles an ihr sah elegant aus. Und teuer. Die Art, wie sie sich bewegte und sich mit ihren beringten Fingern die Brille nach oben schob, bevor sie die Tür hinter den Interessenten schloss. Es war nicht überraschend für jemanden, der eine so luxuriöse Wohnung vermieten wollte. Trotzdem fiel Coordt auf, wie wohlhabend sie wirkte. Er fragte sich, wieso die Frau sich das antat. Warum dort keine Maklerin stand und alle auf einmal hereinließ? So wie sonst.
Mit tellerrunden Schweißflecken unter den Achseln betrat Coordt den großzügigen Vorraum. Die Vermieterin begrüßte ihn mit einem knappen Nicken. Es roch frisch in der Wohnung. Nach Farbe und Putzmitteln.
»Das Objekt ist bis in den kleinsten Winkel lichtdurchflutet. Hundertzwanzig Quadratmeter, vier große Zimmer, ein Bad, Keller, Ostbalkon. Gut erhaltenes Fischgrät-Eichenparkett, Stuckverzierungen in jedem Raum, Marmorboden im Bad und in der Küche, Kassettentüren mit Originalbeschlägen.«
Die Vermieterin redete schnell, ohne Coordt in die Augen zu sehen. Sie klang, als läse sie die Wohnungsbeschreibung von einem Zettel ab. Ihre Absätze klackerten auf dem Parkett, während sie vorausging und mal zur original Wagenfeld-Leuchte an der Decke, mal zu den Lichtschaltern aus Porzellan wies. Coordt kam mit dem Schauen kaum hinterher. Er hatte den Eindruck, als wollte sie ihn gleich wieder loswerden, als hätte sie bereits entschieden, dass er kein geeigneter Kandidat für die Wohnung sei. Sie führte ihn auch nicht in die Zimmer hinein, blieb jeweils an der Türschwelle stehen. Irgendwann meinte Coordt, er habe es nicht eilig und würde sich alles gerne noch einmal in Ruhe ansehen. Die Vermieterin nickte, sagte, das gefalle ihr, er sei der Erste, der sich nicht von ihr hetzen lasse. Sie sah ihm in die Augen, und Coordt durchschritt die Wohnung von vorne.
Zunächst besah er sich das Bad. Dusche, Wanne, Qualitätsarmaturen, großer, in die Wand eingelassener Spiegel mit Mosaikrahmen. Um die Toilettenspülung zu bedienen, musste er an einer Kordel ziehen. Ein weißer Keramikgriff war daran befestigt, von blauen Blumen berankt. Franziska würde es gefallen. »Endlich ein richtiges Bad«, hörte er sie sagen und warf einen Blick in den großen Wandspiegel, vor dem er sich schon mit ihr stehen sah, Zähne putzend.
Er bestaunte auch die Küche, die Arbeitsplatte aus schwarzem Granit, die Geräte, allesamt von renommierten Marken, sehr gepflegt und »high-end«, wie die Vermieterin kommentierte. Er öffnete den Dampfgarer, roch den Rinderschmorbraten, den er zubereiten würde, so wie Franziska es mochte, mit viel Rosmarin.
Das Wohnzimmer war großzügig geschnitten, die Wände makellos weiß. Sie könnten gleich einziehen. Der Boden glänzte wie frisch gebohnert. Vor einem offenen Kamin hing Kaminbesteck an einem Ständer aus Glas und Stahl. Er sah aus wie ein Kunstobjekt, nicht zur Benutzung geeignet.
Bis dahin war die Vermieterin Coordt gefolgt, hatte aufmerksam, aber überwiegend stumm seine Besichtigung beobachtet. Nun übernahm sie wieder die Führung, diesmal allerdings weniger gehetzt. Sie krümmte den Zeigefinger zum Zeichen, ihr nachzugehen. Dabei lächelte sie und wirkte sofort weniger offiziös. Als sie das Wohnzimmer verließ, ging Coordt durch den breiten Flur hinter ihr her.
Jetzt, da er sie von hinten betrachtete, fiel ihm erstmals ihr langer, schmaler Hals auf. Ihr Kopf schien darauf zu schweben, als hätte sie ihn mit Ringen gestreckt, so wie die Giraffenfrauen aus Myanmar, die ihn faszinierten, weshalb er sich immer wieder mal Fotos von ihnen in einem Bildband ansah.
Am Ende des Flurs gab es eine Tür. Es war die einzige Tür, die verschlossen war. Der Boden dahinter knarzte, als die Vermieterin stehen blieb, und mit ihr auch Coordt.
»Eine Sache sollten Sie wissen. Normalerweise sage ich das gleich zu Beginn, aber Sie wollten sich ja Zeit lassen.«
Coordt sah sie fragend an.
»Also«, sie deutete auf die Tür, hinter der nun Vorhänge auf- und zugezogen wurden und jemand hustete, »dieses Zimmer hier bleibt untervermietet.«
Aus irgendeinem Grund zeigte nun auch Coordt auf die Tür mit den Geräuschen dahinter.
»Ja.« Die Vermieterin nickte. Ihr langer Hals warf feine Falten.
»Wer?«, sagte Coordt erstaunt.
»Mein Ex-Mann. Er will nicht ausziehen, obwohl er das müsste, da die Wohnung allein mir gehört. Ich habe jedoch keine Lust, ihm mit einer Räumungsklage zu drohen. Ich möchte die Wohnung lediglich vermieten. Wenn ich jemanden finde, der sie mit ihm nimmt, darf er bleiben. Ansonsten muss ich wohl meine Anwältin einschalten, worauf ich, wie gesagt, keine Lust habe.«
Coordt rief sich die Gesichter der Leute ins Gedächtnis, die aus dem Gebäude getreten waren. Gekräuselte Stirn, Enttäuschung eingeschrieben. Hatten sie deswegen so geschaut? Weil die Wohnung perfekt war, aber diesen einen Haken hatte, den keiner in Kauf nehmen wollte?
»Haben Sie das allen Interessenten gesagt?«, fragte Coordt. »Oder nur mir?«
»Selbstverständlich habe ich das allen gesagt. Man sollte schon wissen dürfen, worauf man sich einlässt, finden Sie nicht?« Die Vermieterin sah ihm durch grünlich getönte Brillengläser in die Augen, lächelte sanft.
Coordt hatte schon einiges bei Wohnungsbesichtigungen erlebt, was ihn irritiert hatte. Makler, die zu der veranschlagten Provision noch eine extra Provision bar auf die Hand haben wollten, damit man den Zuschlag bekam. Das war sogar öfter der Fall gewesen. Und einmal hatte ein Vermieter in den Vertrag aufnehmen wollen, gelegentlich vorbeikommen zu dürfen, um nach dem Rechten zu sehen. Aber das hier war schon sehr speziell.
»Mein Ex-Mann wird Sie nicht stören«, fuhr die Vermieterin fort. »Er war noch nie gesellig, jedenfalls nicht in der Zeit, als wir verheiratet waren. Abgesehen davon behauptet er, todkrank zu sein. Allerdings glaube ich … also, es könnte durchaus sein, dass er übertreibt, um mich milde zu stimmen, damit ich ihn nicht doch noch vor die Tür setze. Er hat schon immer alle Register gezogen, wenn es darum ging, etwas zu erreichen.«
Kaum hatte sie das gesagt, ging die Tür auf. Heraus trat ein Mann um die siebzig. Groß, schlank, gut gekleidet. Anzughose, Hemd. Er hielt ein dickes Buch ohne Schutzumschlag in der Hand, sodass nicht zu erkennen war, was er las.
Der Mann sah über den Rand der Lesebrille erst auf seine Ex-Frau, dann auf Coordt und schließlich ins Buch. »Ziehen Sie hier ein, mache ich Ihnen das Leben zur Hölle. Sie werden ihr Feuer zu spüren kriegen«, gab er unvermittelt von sich. Die Art, wie er es sagte, klang nach einem Scherz, und dennoch schwang etwas Bedrohliches mit.
Coordt fragte sich, ob der Mann gerade eine Stelle aus dem Buch vorgelesen hatte oder ob er ihm ernsthaft drohte, was allerdings, wenn er der Erzählung der Vermieterin Glauben schenkte, keinen Sinn ergab. Dann hätte der Mann keinen Grund, ihm die Wohnung madig zu machen. Im Gegenteil. Er müsste sich ein Bild von ihm machen, und wenn es für ihn passte, müsste er versuchen, Coordt für sich zu gewinnen. Offensichtlich war er der erste Interessent, der die Wohnung nicht gleich wieder verlassen hatte, sondern sich die Bedingung anhörte.
Coordt betrachtete den Mann. Gütige Augen, kein Stechen im Blick. Er wirkte wie einer, der Pfeife stopfte, viel Rotwein trank und den ganzen Tag über Gedichte las. Er erinnerte Coordt ein wenig an seinen Großvater. Genauer gesagt: an ein Foto seines Großvaters. Es hing bei seinen Eltern im Wohnzimmer. Über dem Sessel, in dem er immer gesessen hatte. An guten Tagen hatte der Großvater in dem Sessel dem Großvater auf dem Foto geglichen. An schlechten hatte Coordt der Vergleich von Anblick und Abbild geschmerzt, weil nichts mehr übrig war von dem humorvollen Mann, dessen Mundwinkel stets nach oben gezeigt hatten. Nur noch ein dementes, wächsernes Gesicht, das nach unten auszufließen schien. Trotzdem hatten sie ihren Sohn nach ihm benannt. Franziska war sofort einverstanden gewesen.
»Hören Sie nicht auf ihn!«, bat die Frau. »Sie werden ihn kaum zu Gesicht kriegen. Er hat ein eigenes Bad. Auch eine Küchenzeile. Er liebt die Nacht mehr als den Tag. Da schläft er meistens. Und wie gesagt: Er ist nicht sehr gesellig. Er meidet Menschen.«
Coordt sah die Vermieterin an. »Ehrlich gesagt spricht die Situation dagegen. Ihr Ex-Mann steht vor uns, es ist Vormittag, und ich bin mir nicht sicher, ob er mir gerade gedroht oder lediglich eine Stelle aus seinem Buch zitiert hat, was, offen gesagt, auch nicht viel besser wäre.« Es störte ihn, dass er jetzt genauso wie sie über den Mann redete, als stünde er nicht vor ihnen.
Der Mann lachte laut los. Das Lachen ging in ein Husten über. Als er sich einigermaßen gefangen hatte, sagte er: »Ich mag ihn, Hilde.« Dann drehte er sich um und verschwand im Zimmer.
Wenigstens sind wir quitt, dachte Coordt. Jetzt hatte der Mann über ihn geredet, als sei er nicht anwesend.
Die Vermieterin wartete ab, bis die Tür zu war. Schließlich wandte sie sich ihm zu: »Er mag Sie. Haben Sie gehört?«
Coordt hob die Schultern.
»Das ist doch ein guter Anfang, finden Sie nicht?«, fragte sie weiter.
Sie war viel jünger als ihr Ex-Mann. Coordt stellte sich vor, wie sie sich kennengelernt hatten. Am See. Er, ein Professor, der Spaziergänge liebte und Vögel. Sie, eine begeisterte Triathletin, die längere Strecken im See trainierte. Coordt waren ihre muskulösen Oberarme nicht entgangen, auch nicht das Schwimmerinnenkreuz unter der luftigen Bluse. Der Professor war wegen ihres perfekten Armzugs auf sie aufmerksam geworden, den er selbst nicht hinbekam. Irgendwann hatte er am Ufer auf sie gewartet. Er sprach sie an, während sie sich aus dem Neoprenanzug schälte, lud sie auf ein Getränk im Seecafé ein. Schwach schien die Sonne durch die schmutzige Panoramascheibe. Es war Spätherbst, und außer ihr gab es schon länger keinen mehr, der ins Wasser ging. Nur noch vereinzelt hing trockenes Laub an den Bäumen, deren Äste wie gigantische Krähenfüße aussahen. Sie legte die Hand auf sein Knie. Jahrelang behauptete er, er hätte seine auf ihres gelegt. Weil ihr kalt gewesen sei.
»Wir haben einen Sohn. Er ist zehn Monate alt«, sagte Coordt. Es hörte sich an, als müsste er etwas klarstellen.
»Das ist perfekt«, sagte die Vermieterin. »Mein Ex-Mann mag keine Kinder. Dann wird er sein Zimmer erst recht nicht verlassen.« Coordt gefiel der milde Ton, den sie anschlug, obwohl das, was sie über ihren Ex-Mann sagte, nicht nett war.
Sie ging ein paar Schritte in Richtung Wohnzimmer. Wieder krümmte sie den Zeigefinger und gab Coordt das Zeichen, ihr zu folgen. Im Wohnzimmer blieb sie stehen und wartete, bis er ihr gegenüberstand.
»Ich möchte, dass Sie die Wohnung nehmen«, sagte sie.
»Warum ich?«
»Sie sind mir sympathisch. Und er mag sie.« Ihr langer Hals neigte sich beim letzten Satz in Richtung Flur.
»Ganz verstehe ich das nicht«, antwortete Coordt. »Sie finden es gut, wenn Ihr Ex-Mann das Zimmer nicht verlässt, aber es ist von Bedeutung, dass er mich mag?«
»Das ist leicht zu erklären«, sagte sie. »Wenn der Eremit in seinem Zimmer bleibt und Sie auch noch leiden kann, wird er Sie nicht stören. Also ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass Sie nicht gleich wieder ausziehen. Und ich muss keine neuen Mieter suchen.« Da war es wieder, dieses Lächeln.
»Kein Höllenfeuer?«
»Piff, paff. Das hat er nicht ernst gemeint.«
»Sagen Sie!«
»Ich kenne ihn.«
Coordt sah aus dem Wohnzimmerfenster. Die Luft flirrte hinter dem Glas. Er konnte die Hitze sehen. Sie bewegte die Blätter der Bäume, warf feine Schlieren in das dunstige Blau des Himmels.
Ein Luftballon flog durch sein Sichtfeld. Gelb, zwei schwarze Augen, Nase, breit grinsender Mund. Der Ballon verfing sich in einem der Bäume, suchte sich zitternd einen Weg nach oben.
»Zu Beginn«, sagte Coordt, »hatte ich nicht den Eindruck, dass Sie die Wohnung ernsthaft vermieten wollen.«
»Wie kommen Sie denn da drauf?«
»Sie waren so schnell mit allem.«
Die Vermieterin seufzte. »Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele Interessenten bereits hier waren und mir im Eingangsbereich sagten, sie würden die Miete freiwillig erhöhen, nur damit sie die Wohnung bekämen? Und kaum erwähne ich meinen Ex-Mann, der dann prompt aus der Tür kommt und diesen lächerlichen Satz von sich gibt, ist nichts mehr übrig von der Begeisterung. Jedenfalls bislang nicht. Ich habe allerdings keinen Zweifel daran, dass da draußen«, sie streckte den Arm zum Vorraum aus, »jemand ist, dem mein Ex-Mann egal ist, Hauptsache Wohnung, da gibt es ja die krudesten Beweggründe. Aber ich habe schlichtweg keine Lust, den ganzen Tag Leute durch die Wohnung zu führen. Es langweilt mich.«
Der Luftballon platzte. Kein Laut war zu hören. Die Fenster mussten gut gedämmt sein, obwohl sie nach Denkmalschutz aussahen. Doppelverglasung, mindestens. Schlaff hing die Gummihaut über einem kleinen Ast. Die Schnur baumelte herab. An ihrem Ende flatterte ein kleiner zusammengefalteter Zettel.
»Sie hätten es sich einfacher machen können«, sagte Coordt. »Ein Hinweis in der Anzeige zum Beispiel. Es wären bestimmt nicht so viele gekommen. Ich wäre wohl auch nicht hier.«
»Ja, ja«, wiegelte sie ab. »Aber jetzt sind Sie da.«
Aus dem Augenwinkel nahm Coordt eine Bewegung wahr. Er sah auf den flatternden Zettel am Ende der Schnur. Eine Elster pickte danach, dann flog sie los, lautlos und ohne Beute.
»Ich brauche Bedenkzeit«, sagte er nach einer Weile. »Ich möchte das nicht alleine entscheiden, sondern gemeinsam mit meiner Frau.«
Die Vermieterin nickte, drehte dabei ihren Oberkörper in Richtung Haustür. »Rufen Sie mich an. Bald!«
Franziskawilligteein, nachdem Coordt ihr erst von allen Räumen vorgeschwärmt und dann noch einmal die Höhe der Miete betont hatte. Sie zahlten zweihundert Euro mehr als jetzt für mehr als dreimal so viele Quadratmeter in bester Lage. Zwar waren die Betriebskosten fast so hoch wie die Miete selbst, aber Coordt hatte bereits ein Gespräch mit seinem Chef vereinbart. Und den Mitbewohner, den Coordt seiner Frau als schwer einschätzbar, aber nicht unsympathisch beschrieb, weil er fand, dass das am besten auf ihn zutraf und weil er ihr nichts von seinem ersten Eindruck verheimlichen wollte, nahm Franziska gelassen auf.
»Den können wir immer noch vergraulen, wenn er uns auf die Nerven geht«, sagte sie und war ganz aufgeregt bei der Vorstellung, in eine Wohnung zu ziehen, die sie sich unter normalen Umständen niemals leisten könnten. Eine Wohnung, in der Frieder ein Kinderzimmer hätte, »sein eigenes Reich!«, in der es eine Küche gäbe, nicht nur eine einfache Kochzeile, in der sie endlich einmal Platz hätten für sich und für ein paar großformatige Gemälde noch unbekannter Künstlerinnen, die irgendwann im Wert steigen würden, eine Wohnung, in der sie keine Lastwagen hörten, vielleicht ein paar Autos, aber kein Vergleich zu dem, was auf dem Mittleren Ring los war.