Unter Blendern - Udo W. Schulz - E-Book

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Udo W. Schulz

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Beschreibung

Eine Frau von damals.Ein Mord von heute.Ein Kommissar, der mit dem Feuer spielt ...Kriminalkommissar Daniel Peres zwängt sich durch die dichtgedrängte Meute von Reportern, Kameraleuten und Fotografen zur Ausgrabungsstelle. Das Medieninteresse an der Ermordung des Lübecker Werftbesitzers Tacklenburg und dem mysteriösen Verschwinden von dessen Frau Nane vor fünfzehn Jahren ist riesengroß. Peres' Rechnung, das Interesse der Medien auf den Hamburger Geschäftsmann Jörg Bergmann zu lenken, ist aufgegangen. Er ist felsenfest davon überzeugt, Bergmann als Täter dingfest machen zu können.Aber Peres stößt auf eine Allianz höchst merkwürdiger Verschwörer. Die Ermittlungen schieben ihn in einen trüben Morast aus Gefälligkeiten, Filz und Männerfreundschaften. Nur Nane Tacklenburg bleibt weiter spurlos verschwunden.

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Udo W. SchulzUNTER BLENDERN

In dieser Reihe bisher erschienen

3501 Thomas Ziegler Überdosis

3502 Renate Behr Tod am Dreiherrenstein

3503 Alfred Wallon Sprung in den Tod

3504 Ulli B. Entschärft

3505 Udo W. Schulz Unter Blendern

Udo W. Schulz

Unter Blendern

DER REGIONAL-KRIMILübeck

Diese Reihe erscheint als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2021 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannUmschlaggestaltung: Mario HeyerTitelbild: 123RFSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-994-2Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Prolog

Er hatte kurze dunkle Haare, einen Dreitagebart und trug ein leichtes Baumwollhemd, ausgewaschene Jeans und modische lederne Halbschuhe. Sein schlurfender Gang und die herunter gezogenen Mundwinkel schienen auf eine gewisse Verärgerung hinzudeuten. Er ächzte und war außer Atem. Das Medieninteresse war groß, und der Weg durch die dichtgedrängte Meute von Reportern, Kameraleuten und Fotografen, den leichten Hügel hinauf, hatte ihn angestrengt. Alle hatten versucht, ein Foto, eine kurze Stellungnahme oder gar ein Interview zu ergattern, um der medialen Konkurrenz einen Schritt voraus zu sein. Eine Vielzahl von Polizeibeamten hatte, mit dem Rücken zur sensationshungrigen Pressemeute, die Absperrung zusätzlich gesichert, sonst hätten die Medienvertreter die Absperrung wahrscheinlich schon längst über den Haufen gerannt oder sich bei Nacht und Nebel heimlich auf das Gelände geschlichen. Aber seine Rechnung war aufgegangen. Die Öffentlichkeit hatte sich auf Bergmann eingeschossen, und der Medienrummel hatte seine Vorgesetzten dazu bewogen, bei Sparmaßnahmen und Budgetkürzungen ein Auge zuzudrücken.

Nichtsdestotrotz musste er dringend etwas gegen sein Übergewicht tun und holte schnaufend Luft. Sein Arzt hatte ihm dezidiert auseinander gesetzt, dass es für seine Lunge und die Länge seines Lebens besser wäre, das Rauchen aufzugeben. Achselzuckend steckte er sich trotzdem eine Pablo Blue an. Diesem Tabak wurden keine ­Zusatzstoffe beigefügt, und der Tabak wurde von Indios unter naturbelassenen Bedingungen in Südamerika angebaut, versuchte er sich selbst zu rechtfertigen und ging weiter in das parkähnliche Gelände hinein. Die Grünanlage war 1907 als Gartenfriedhof mit dicht aneinander gepflanzten Bäumen angelegt worden. Der Verkehrslärm der nahe gelegenen Autobahn drang zu ihm durch, und aus dem weiter entfernt gelegenen Hafen hörte er schwach ein Schiffshorn.

Eine Gruppe von Männern war mit Schaufeln, Spaten und einem kleinen Bagger bereits beim Ausheben. Er ging mit gemischten Gefühlen auf den Trupp zu. Ein grauhaariger Mann mit einem schwarzen Schnauzer löste sich aus der Kolonne. Er kam O-beinig mit schnellen Schritten auf ihn zu und blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr.

„Guten Morgen, Daniel! Wurde auch langsam Zeit, dass du hier auftauchst“, murrte der Mann.

Doch er ließ es morgens gern etwas ruhiger angehen und gähnte entspannt. Er hatte eine alte hanseatische Sitte angenommen, nach der ehrbare Bürger in Ruhe frühstückten, bevor sie sich auf den Weg machten, um ihr Tagewerk zu erledigen.

Doch sein Kollege schien nicht locker zu lassen.

„Die Kollegen haben schon über einen Meter tief gegraben und noch nichts gefunden. Sie werden wohl noch eine Weile brauchen, da sie vorsichtig zu Werke gehen müssen, weil es keine Aufzeichnungen mehr dar­über gibt, wie tief das Loch vor über fünfzehn Jahren ausgehoben wurde. Ich bin ohnehin der Meinung, dass das nichts bringt. Du hast dich da in etwas verrannt. Wundert mich sowieso, wie du es geschafft hast, dass unsere Vorgesetzten der Buddelei zugestimmt haben.“

„Morgen Lennart“, entgegnete er muffelig. „Ein kluger Kopf weiß eben alles zu nutzen.“

Lennart Fries, sein Stellvertreter, sah ihn an wie ein seltenes Insekt an und fragte, wer das gesagt hätte.

„Shakespeare. Aber offensichtlich habe ich nichts verpasst“, warf er mit einem Blick auf die grabenden Arbeiter ein.

Fries schüttelte den Kopf.

Die Schaufelnden hatten rund um die Grube bereits mehrere Erdhügel aufgehäuft. Ob eine bestimmte Schaufeltechnik nötig war? Wenigstens war der Boden nicht hart, und für einen kurzen Moment bildete er sich ein, einen süßlich moschusartigen Geruch in der Nase zu haben. Aber das konnte nach so langer Zeit natürlich nicht sein. Er schüttelte den Kopf und genoss die Wärme der Sonne. Sein Blick wanderte über die stummen Zeugen der Endlichkeit. An einem wenige Schritte entfernten Zaun hielt eine Ratte ihre Nase witternd in den lauen Sommerwind. Pelzig, beinahe putzig, hochintelligent und nicht zu überbieten, wenn es darum ging, für zahlreiche Nachkommenschaft zu sorgen. Dazu eine ausgeprägte Neugier, gepaart mit berechnendem Kalkül, um riskante Zwischenfälle bei der Nahrungssuche zu vermeiden. Das neben der Menschheit erfolgreichste Modell der Evolution schien ihn respektlos anzublicken. Er machte mit dem Arm eine ausholende Bewegung, und das Tier verschwand blitzschnell. Bei Ratten konnte ein zutiefst menschliches Attribut allerdings noch nicht festgestellt werden. Sie logen nicht.

„In einem gebe ich dir recht. Das Wetter ist viel zu schön für so etwas“, brummte er und nickte in Richtung der Grube. Ihm kam das Bild von Nane Hilgersen in den Sinn, und er versuchte, sich ihre Stimme vorzustellen und wie sie wohl gelacht haben mochte. Ob das Wenige, was er über sie herausgefunden hatte, ausreichte, um sich ein vollständiges Bild von ihr zu machen?

Sie gingen ein paar Schritte und setzten sich schweigend auf eine verwaiste Bank, um dem Treiben zuzusehen. Nach einer Weile zog er eine weitere Pablo Blue aus der Tasche und fing an zu husten.

„Dein Husten“, seufzte Fries. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass ein Schäferhund neben mir sitzt. Ich würde das an deiner Stelle lassen. Du hast bis jetzt Glück gehabt, dass sich noch niemand die Werte deiner Fitnesstests genauer angesehen hat“.

„Jetzt fängst du auch noch an. Wer lange hustet, lebt auch lange“, unkte Peres. „Ein Leben dauert so lange, wie es eben dauert. Einer wird nur vierundvierzig, so wie ich, ein anderer neunzig und manche nur zwanzig. Die Hauptsache ist, dass man richtig gelebt hat, sein Leben genossen hat und glücklich war.“ Er inhalierte den Rauch tief ein.

Fries sah ihn mit großen Augen an.

Sie registrierten, dass die Gruppe der Schaufelnden ins Stocken gekommen war. Die Männer unterhielten sich, und einer aus dem Trupp winkte in ihre Richtung.

„Komm, lass uns nachsehen, was sie gefunden haben“, sagte er und erhob sich.

Als sie an den Rand der Grube gelangten, traten die Männer beiseite, und Fries konnte sich ein leicht triumphierendes Grinsen nicht verkneifen.

„Na bitte. Das war ja zu erwarten. Habe ich dir doch gleich gesagt.“

Peres verzog keine Miene und ordnete ungerührt an. „Weiter graben“.

Einer der Schaufelnden, offenbar der Anführer des Trupps, ging mit mürrischem Gesichtsausdruck ein paar Schritte auf ihn zu.

„Herr Kriminalhauptkommissar Peres. Muss das wirklich sein?“, fragte er mit oberlehrerhaften Nicken in Richtung der Grube und zündet sich eine Zigarette an. „Wir sind jetzt schon tiefer als six feet under, wo wollen Sie denn noch hin?“

Peres bewegte sich auf den Mann zu und warf einen Blick auf den Boden der Grube. „Wollen Sie mir etwa weismachen, dass Sie wegen schlechter Sicht aufhören müssen?“

Der Mann verzog keine Miene und drehte sich mit einem Schulterzucken zu den Schaufelnden um.

Peres und Fries setzten sich zurück auf die Bank, und Fries ergriff das Wort.

„Ich bin neun Jahre älter als du, seit Jahren dein Stellvertreter, und wir haben in den letzten Wochen gemeinsam jeden Stein umgedreht. Warum lässt du mich nicht an deinen Überlegungen teilhaben?“

„Mit fixen Ideen ist es ähnlich wie mit Flöhen. Sie springen von einem Menschen auf den anderen über, aber nicht jeder wird gebissen.“

Fries sah ihn mit einem Gesichtsausdruck an, der deutlich machte, dass er nicht viel verstanden hatte.

„Auf der einen Seite bin ich mir sicher. Aber sollte sich meine Vermutung wider Erwarten nicht bestätigen, wollte ich zumindest dir ersparen, sich lächerlich gemacht zu haben.“

Erneut kam Unruhe in die schaufelnden Männer. Dieses Mal deutlich mehr als vor wenigen Minuten. Sie hatten mit dem Graben aufgehört und gestikulierten wild aufgeregt mit den Armen. Als Peres und Fries vom Rand einen Blick in die Grube warfen, zog Fries die Luft scharf durch die Nase ein.

„Das gibt es doch nicht“, entfuhr es ihm.

Daniel Peres zeigte keine Regung. „Das war‘s. Lass uns ein Bier trinken gehen. Den Rest erledigen die Kollegen.“

Kapitel 1: 2001: Der Bienenkorb

Ein leichter Wind pfiff durch die Takelagen. Es klackerte, klingelte, und das graue Brackwasser des Lübecker Altstadthafens klatschte an die Kaimauer. Eine vereinzelte Möwe übte Sturzflüge und versuchte, etwas Essbares zu ergattern. Durch den Lärm des vorbeirollenden Verkehrs erschien ihr Kreischen wie eine Mischung aus schrillem, anklagendem Gelächter, bei dem Nane Tacklenburg sich ihre schwarze Vuitton-Lederjacke fröstelnd enger zog. Sie hatte sich unweit des Holstentores auf eine Bank gesetzt und blickte in Richtung des alten Backstein-­Speichers, der in früheren Zeiten als Warenumschlagplatz genutzt wurde und heute den Bienenkorb beherbergte, eins von Lübecks angesagtesten Szene-Lokalen. Sie warf einen Blick auf ihre TAG Heuer Armbanduhr, die Roland ihr geschenkt hatte. Wo Fee und Maddie nur blieben?

Als eine Hafenbarkasse gemächlich hinter ihr vorbei tuckerte, drehte sie sich um. Kehrwedder stand auf dem Rumpf eines alten, etwa fünfzehn Meter langen Segelbootes, das zwischen anderen Booten älteren Datums an der Kaimauer lag. Der Rumpf war blau lackiert und von Roststreifen durchzogen. Das Deckshaus war nach hinten versetzt, und am Bug stapelte ein Schiffer morsch aussehende Holzkisten. Durch die wehenden, zerschlissenen Segel machte der Kahn einen maroden Eindruck, so als ob er den Hafen eigentlich gar nicht mehr hätte verlassen dürfen. Der König der Seelen-Verkäufer.

Nach Minuten scheinbar endlos langen Wartens fuhr endlich das Taxi mit Fee und Maddie vor. Sie begrüßten sich mit Luftküsschen links, Luftküsschen rechts, und die Spannung vor der Tür schien beinahe greifbar zu sein. Wer mochte heute alles da sein? War der Laden voll? Wie würde der Abend verlaufen? Maddie und Fee waren ihre besten Freundinnen. Beide hatten 1973, ein Jahr vor Nane Tacklenburg, das Licht der Welt erblickt und kannten sich seit ihrer Schulzeit. Maddie hatte ein ovales Gesicht mit leichten Sommersprossen, türkisfarbene Augen und mittellange rote Haare, während Fee aristokratische Züge bar jeder Kosmetik hatte. Ihre mausbraunen Haare wiesen keinerlei Anzeichen auf, schon mal mit einem Friseur Kontakt gehabt zu haben. Beide trugen dunkelgrüne Punk-Couture Jacken mit aufgenähten Patches und ausgefranste, löcherige Jeans.

Es war kurz nach halb sechs am Nachmittag, als sie den Bienenkorb betraten. Wolken von Tabaksqualm schlugen ihnen entgegen, und die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Schmieriges Mobiliar, dunkle Nischen und vergilbte Tapeten, die mit alten Bildern und allerlei Seemannskram behangen waren. Die Decken waren von dicken Eichenbalken durchzogen, und an einer in die Jahre gekommenen Musikbox standen zwei ältere Männer, die fehl am Platz wirkten. Die Tische auf beiden Etagen waren fast voll besetzt, und überall wurde eifrig geredet, getuschelt, gequatscht oder nur unverbindlich miteinander geplappert. Sämtliche Spezies an Konfektionsgrößen und Farben tragbarer Kleidung schienen vorhanden zu sein. Ein paar Studenten waren damit beschäftigt, ein Referat auszuarbeiten, und eine junge Frau, die aussah, als würde sie keinen Spaß verstehen, stritt sich mit einer Freundin. Dazwischen saßen normale Gäste, ein Bier trinkend oder lesend. Ein verklemmt wirkender Herr im Cordanzug hatte sich in ein Buch vertieft.

Sie fanden noch einen freien Tisch. Nane bestellte sich einen Caipirinha, während Maddie und Fee genüsslich an ihrem Tequila Sunrise nippten. Maddie erzählte von ihrem Besuch eines Konzerts der No Angels, und Fee schwärmte von der schauspielerischen Extra-Leistung Audrey ­Tautous in Die fabelhafte Welt der Amélie. Im Hintergrund sang Tom Jones Delilah, und Nanes Gedanken wanderten zu ihrem Vater, der, wie Tom Jones, ­Waliser war. Wie er ihr als Kind von Wales erzählt hatte, von seinem green, green gras of home. Von den Yew Trees, den jahrhundertealten, magischen Bäumen, die schon in Wales standen, als die Kelten noch durch das Land zogen. Wie sie sich gemütlich in ihre Decke eingemummelt hatte und ihm gespannt zuhörte, als er ihr mit warmherziger Stimme erzählte, dass die alten Bäume weinen und heulen konnten wie längst vergangene Wesen aus einer anderen Zeit. Wie sie nach Cardiff gefahren waren, um sich ein Rugby-Länderspiel gegen England anzusehen. Wie begeistert ihr Vater von dieser Sportart war. Wie im Stadion vor Beginn des Spiels die inoffizielle Hymne Delilah gespielt wurde und sie mit gesummt hatte. Erschrocken fuhr sie auf, als Fee ihr auf die Schulter tippte.

„Was ist los mit dir? Geht es dir nicht gut?“

„Doch, doch“, sagte sie abwesend. „Ich war in Gedanken und habe nur halb zugehört. Worüber habt ihr gesprochen?“

Fee verdrehte ihre Augen.

„Über die No Angels und Die fabelhafte Welt der ­Amélie.“

„Ihr seid schon zwei fabelhafte Angels. Aber die, ich meine nicht euch, mochte ich nie besonders, und dem ins Kino gehen kann ich zurzeit nicht viel abgewinnen.“

„Bestimmt, weil George Harrison tot ist“, warf Maddie lästernd ein. „Als Beatles-Fan.“

„Ein Fan ihrer Musik“, hielt Nane dagegen. „Die Kohl und Beate Uhse sind auch tot, aber deswegen bin ja auch nicht traurig.“

Das Gespräch drehte sich eine Weile um Make-up, Styling und Shopping. Sie bestellten sich Weißwein, und Fee begann, die neuesten Doku-Soaps unter die Lupe zu nehmen.

„Von der Meier, das blaue Auge, haben Sie das gesehen? Sie behauptet ja steif und fest, sie hätte sich gestoßen. Am Kühlschrank“, versuchte sie mit schrill verstellter Stimme die Szenerie einer Soap zu parodieren.

Nane und Maddie kicherten, und Fee fühlte sich animiert, ihre Parodie fortzusetzen.

„Dabei hatten die vorgestern einen Riesenkrawall. Das Gebrülle konnte man noch drei Häuser weiter hören“, keifte sie.

„Ach, Sie meinen, das wäre Ihr Mann gewesen?“, beteiligte sich nun auch Nane an der Persiflage, und sie lachten aus vollem Hals.

„Warum schaust du dir eigentlich diese endlos bescheuerten XXL-Soaps überhaupt an? Bekommst du zu wenig Komplimente? Ich würde aufpassen, dass das nicht abfärbt“, versuchte Nane Fee, mehr im Spaß, zu provozieren.

Die schüttelte mit verständnisloser Miene den Kopf.

„Nur weil ich mehr als einmal am Tag im Internet nach Antiquitäten, Kunst oder alten Büchern suche, werde ich dadurch auch nicht gleich zum Archäologen. Die paar Serien machen mir schon keine viereckigen Augen“, konterte sie.

„Trotzdem muss ich Nane Recht geben. Das Niveau solcher Serien hat selbst im tiefsten Keller noch Höhenangst“, warf Maddie ein.

Die Unterhaltung plätscherte noch eine Weile weiter, und Fee starrte wiederholt auf ihr Handy.

„Das ist jetzt das dritte Mal in den letzten zwanzig Minuten, dass du auf dein Handy glotzt. Ist es mit deiner neuen Bekanntschaft überhaupt schon mal zu einem Date gekommen? Hat er heute Abend Zeit?“, fragte Maddie boshaft.

„Vielleicht will der gar nichts von dir. Du bist möglicherweise nur ein weiteres Opfer, in dem er seinen Ego-Push sucht, ein wenig Selbstbestätigung dafür, dass er dich ohne weiteres haben kann. Und wenn es ernst wird, lässt er dich fallen. Ein weiterer Unsympath aus dem Schattenreich der Beziehungsscheuen“, ergänzte Nane.

„Schau jetzt bloß nicht da hin“, murmelte Maddie aus dem Mundwinkel zu Nane, aber immer noch so laut, dass Fee es mithören konnte. „Der Typ am Tisch da hinten rechts stiert immer wieder zu dir rüber.“

„Der ist harmlos“, murmelte Nane, ohne den Blick von ihrem Weinglas abzuwenden.

„Du kennst den?“, krähten Maddie und Fee im Chor.

„Ja. Nielsen heißt der, glaube ich. Der arbeitet bei Roland auf der Werft“, gab Nane lakonisch zurück und machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Und der gut aussehende dunkelhaarige Typ neben ihm? Weißt du auch, wer das ist?“, säuselte Maddie.

„Hast du die Haare gesehen?“, fuhr Fee dazwischen und verzog ihren Mund. „Der sieht ja aus, als wäre er gerade eben erst aufgestanden. Und diese Klamotten. Was Erich wohl dazu sagen würde, wenn du fremden Männern hinterher schaust?“, entgegnete Fee.

„Das ist sein Bruder. Der hat, soweit ich weiß, eine Auto- oder Bootswerkstatt irgendwo auf der anderen Hafenseite“, antwortete Nane.

„Erstaunlich, wen du alles kennst“, flötete Fee.

„Das sieht man doch, dass die Brüder sind“, entrüstete sich Nane. In einem Tonfall, als sei sie auf frischer Tat beim Stehlen ertappt worden, fügte sie hinzu: „Ich war irgendwann an einem Nachmittag bei Roland in der Firma, und die Belegschaft hatte wohl gerade Feierabend, als der besser Angezogene von den beiden zu dem anderen in einen alten, verrosteten Lieferwagen eingestiegen ist, auf dem kaum noch lesbar Auto- und Bootsdock oder so etwas stand. Die Karre hat bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen, weil sie eher wie ein verrosteter Schrotthaufen aussah.“

„Ah ja“, entgegnete Maddie mit erhobenen Augenbrauen. Sie schaute kurz an die Decke. „Wie geht es dir eigentlich? Ich meine, wie es dir geht mit deinem Leben als Frau eines schwerreichen Industriellen? Hast du dich an das Eheleben gewöhnt?“

Nane legte ihren ausgestreckten Zeigefinger mit der Spitze zur Nase auf ihre Lippen. „Kein Gerede über mein Leben mit Roland, und schon gar nicht hier. Vom Geschwätz im Café zum Geschwätz in der Stadt ist es nur ein kurzer Weg.“

Gut zwei Stunden und drei Weingläser später stand Nane Tacklenburg am Ende einer Schlange von rund einem Dutzend Frauen, die ungeduldig darauf warteten, in die Damentoilette zu gelangen.

Plötzlich tippte ihr jemand von hinten auf die Schulter und sagte: „Hallo Nane.“

Sie drehte sich um und sah Frank Nielsen lauernd an.

„Für dich immer noch Frau Tacklenburg. Ich hoffe für dich, dass du mir nicht nachstellst. Roland setzt dich an die frische Luft, und möglicherweise nicht nur das“, entgegnete sie kühl.

Nielsen zeigte mit einen Wink auf die wartenden Frauen. „Die Schlange ist nicht gerade kurz, und ich dachte, ein paar Worte mit dir wechseln zu können“, entgegnete er leichthin.

„Ja, ja“, entgegnete Nane ungerührt. „Männer haben durch die biologischen Unterschiede bei den externen Harnorganen einen logistischen Pluspunkt, was das Erledigen kleiner Geschäfte angeht.“

Nielsen strich ihr mit der Hand über die Schulter, und für einen Sekundenbruchteil zeigte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht.

„Vergiss es“, fauchte sie ihn an.

Er wich erschrocken ein paar Zentimeter zurück.

Doch Nielsen hatte im Laufe des Abends, durch den Genuss des einen oder anderen Biers, Mut gefasst. „Man merkt, dass du in die besseren Kreise aufgestiegen bist. Wie lebt es sich eigentlich in der schnöseligen Welt? Gehst du schmerzfrei durchs Leben, schaust stets nach vorne und achtest darauf, immer gut auszusehen? Bloß nicht die gute Laune verderben lassen durch Gefühle oder Krankheit“, giftete er.

„Ich glaube kaum, dass du das beurteilen kannst.“

„Auf einem fremden Hintern reitet es sich leicht durchs Feuer.“

Sie sah ihn schmallippig an.

„Wie lange bist du damals eigentlich schon der Meinung gewesen, dass es besser gewesen wäre, eigene Wege zu gehen? Dass es Dinge gegeben hat, die ich hätte besser machen können?“

„Ach, Frank. Was soll das?“

„Kommen deine dickköpfigen, walisischen Wurzeln wieder zum Vorschein? Früher hast du dich warmherziger gezeigt“, sagte er mit einem traurigen Unterton. „Hast du den Löffel noch, den ich dir geschnitzt habe?“

Erneut zeigte sich für einen kurzen Moment ein Lächeln, doch dann fasste sie sich wieder und sah ihm direkt in die Augen.

„Den Lovespoon. Ein lustiger walisischer Brauch, aber heute schnitzt niemand mehr diese Dinger. Hör mir zu. Es gibt erfüllbare Wünsche und Wünsche, die man sich nicht erfüllen kann. Ich hätte gedacht, dass du das verstanden hast. Es war nett, dich getroffen zu haben, aber ich muss jetzt wirklich“, erwiderte sie in gelangweiltem Tonfall und ließ ihn einfach stehen.

Kurz nach zweiundzwanzig Uhr machte sich Nane zu Fuß auf den Heimweg. Ihr Füße fanden beinahe ­selbständig den Weg durch die historische Altstadt vorbei an alten Gängen und riesigen Kirchen, deren Türme in den Nachthimmel ragten. Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf, während der aufgestiegene Nebel das Echo ihrer Schritte auf dem Pflaster dämpfte. Um wieder zu Kräften zu kommen hatte sie ein paar Wochen gebraucht. Nach ihrer Hochzeit mit Roland hatten viele Dinge an ihr gezerrt. Gemeinsam hatten sie einen Termin nach dem anderen durchgehechelt, bis sie in seinen Kreisen soweit bekannt war, um wenigstens halbwegs akzeptiert und angenommen zu werden.

In der Wahmstraße brachte ein in einen dunklen Umhang gekleideter Mann mit schweren Stiefeln, Lampe und Schaufel als Leichensager Klaus interessierten Touristen das Gruseln bei. Sie verlangsamte ihre Schritte.

„Es ist 1865. Als Gesinde muss ich hier leben und wenn jemand stirbt, die trübseligen Botschaften des Todes übermitteln, während Ordensbrüder um alte Kapellen geistern“, raunte der Mann und lehnte sich auf seine Schaufel. „Es geht darum, jemanden vom Leben zum Tode zu befördern, um den schwarzen Tod. Soldaten erdolchen ihre Kurtisanen.“

Auf der Rehderbrücke, blieb sie abrupt stehen, weil sie meinte, Schritte hinter ihrem Rücken gehört zu haben. Eine leichte Gänsehaut kroch ihr den Rücken hoch, und sie drehte sich auf den Hacken um. Nichts. Spielte die Gruselgeschichte des Leichensagers ihren Nerven einen Streich?

Doch als sie über die Moltkebrücke ging und wenig später nach links abbog, hatte sie den Spuk bereits vergessen und freute sich darauf, endlich in die Federn sinken zu können. Vielleicht war es doch ein Glas zu viel gewesen.

Wenige Meter vor Rolands Villa trat eine dunkle Gestalt hinter einer Hecke hervor. Abrupt blieb sie stehen und versuchte, im Halbdunkel der Straßenlaterne das Gesicht zu erkennen.

„Du? Was willst du denn hier?“

Die Gestalt nahm abwehrend die Hände in die Höhe und trat ihr entgegen.

Kapitel 2: Der Alemannische Medien Verlag

Seine langjährige Freundschaft mit Erich Kuhla hatte sich bei ihrem riskanten Vorhaben als vorteilhaft erwiesen. Klaus Mielke war, wie Erich Kuhla, gebürtiger Rostocker, gelernter Straßenbauer, ledig und angestellt bei Reko-Tec, einer Tief- und Straßenbaufirma. Kuhla als Bauleiter und Mielke als dessen Stellvertreter.

Mielke dachte an seine Zeit in der DDR zurück. Den Klassenkampf-Parolen waren sie längst entwachsen, doch die politischen Ungerechtigkeiten und gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre waren bedrückend geworden.

Er erinnerte sich, wie es angefangen und Kuhla ihn mit blutunterlaufenen Augen angesehen hatte, als sie in der Bazille saßen, einem Kneipen-Relikt vergangener Tage.

„Politiker rufen händeringend nach Veränderungen. Dabei sind sie es selbst, die Ungerechtigkeiten schaffen. Als wenn die wüssten, was acht Euro fuffzig sind. Reicht hinten und vorne nicht. Niedriglöhne, Zeitarbeit, Minijobs. Überhaupt Begrenzung der Zeitarbeit.“ Er trank einen großen Schluck Bier. „Ab einem bestimmten Zeitpunkt muss ein Zeitarbeiter dauerhaft übernommen werden. Der wird vorher natürlich nicht entlassen und dann flugs wieder eingestellt, um zu verhindern, dass er fest übernommen werden muss“, höhnte Kuhla und machte eine abfällige Handbewegung.

„Geh zur Wahl oder tritt in eine Partei ein“, hatte Mielke, müde an seinem Bier riechend, geantwortet.

Doch Kuhla ließ sich nicht beirren und fletsche die Zähne. „Das ist nur Scheiße in verschiedenen Geschmacksrichtungen. Sieh dir die Renten an. ­Politiker sprechen von einer Unverschämtheit, wenn du ein Leben lang arbeitest und im Alter kein Auskommen hast. Ich dachte immer, wenn ich lebenslang einzahle, bekomme ich das am Ende auch wieder raus.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber nichts da. Die klauen mir meine Rente.“

Im Laufe vieler Wochen und bierseliger Gespräche hatte er sich Kuhlas Argumenten immer weniger verschließen können.

„Das Hinterlistigste ist die kalte Progression. Wenn du eine Gehaltserhöhung bekommst, verdient Vater Staat durch höhere Steuereinnahme kräftig mit, spricht aber andererseits davon, sich nicht in die Tarifautonomie einmischen zu wollen. Ein perverses Hamsterrad. Und wenn dir nach zwanzig Berufsjahren gekündigt wird, bekommst du maximal anderthalb Jahre Arbeitslosengeld. Genauso lange wie jemand, der sehr viel weniger Arbeitslosenbeiträge eingezahlt hat als du oder ich“, ließ Kuhla nicht locker. Er sah sich verstohlen um. „Wir werden nur noch verarscht. Und in den Medien? Nichts. Rein gar nichts. Die stecken mit den Politikern unter einer Decke. Am besten beide in einen Sack stecken und kräftig mit dem Knüppel drauf hauen.“

Mielke hatte Kuhlas aufgestaute Wut gespürt, dass es in ihm brodelte. Auch seine Stimmungslage hatte sich kaum gebessert. Und durch die in den letzten Jahren für ihn häufig drohende Arbeitslosigkeit bekam der Gedanke, etwas zu tun, um seinen durch die endlosen Diskussionen hochgeschaukelten Ärger nicht weiter mit sich herum tragen zu müssen, etwas Verlockendes.

Trotzdem waren das für Mielke lange Zeit Absichten auf Lausbuben-Niveau, bis Kuhla eines Tages in der Bazille aufgetaucht war und ihn triumphierend angesehen hatte.

„Jetzt reicht es.“

Er erzählte Mielke von einem Auftrag, den Reko-Tec zur Sanierung eines Teilstückes der Autobahn in der Nähe Kreuzes Lübeck erhalten hatte. Als Mielke ihn fragte, was denn sei, schlug Kuhla eine mitgebrachte Mappe auf und tippte auf ein offiziell aussehendes und glaubwürdig erscheinendes Schreiben der Bundesanstalt für Arbeit.

„Du weißt, dass im Baugewerbe Aufträge zu lausigen Konditionen vergeben werden. Einfache Arbeiter sind wegen der unterirdischen Bezahlung kaum noch zu bekommen“, antwortete Kuhla und bestellte sich ein weiteres Bier.

Mielke nickte. „Asphalt verarbeitendes Geister-­Personal wird aus Polen, Bulgarien, Albanien oder sonst woher angeheuert. Aber was hat das damit zu tun, und wo hast du das her?“, hakte er nach und zeigte auf das Schreiben.

Kuhla holte Luft. „Straßenbau-Unternehmen versuchen ständig, die Kosten zu senken. Mit legalem Anstrich natürlich. Arbeits-Agenturen aus Osteuropa bieten, selbstverständlich in akzentfreiem Hochdeutsch, ­Firmen wie Reko-Tec bosnische, lettische oder rumänische Interims-Arbeitnehmer an. Das Prinzip ist einfach. Ein Lette ist günstiger, weil die Sozialabgaben in Lettland viel niedriger sind als hier. Nebenbei bekommt er seinen Mindestlohn ohnehin nicht, weil davon noch Essen und Unterkunft abgezogen werden, obwohl er nur in einer Baracke oder einem Fahrradschuppen unter­gebracht wird.“

„Ja. Bei Lohn- und Sozialabgaben wird heutzutage kräftig gespart“, stimmte Mielke mit vor Verachtung triefender Stimme zu.

„Und es gibt noch mehr Tricksereien. Eine deutsche Firma fragt bei einer polnischen Vermittlung an, ob sie Bauarbeiter bekommen kann. Die gibt die Anfrage weiter an eine litauische Baufirma, die ihrerseits eine rumänische Agentur einschaltet, welche die Arbeiter schließlich von einem bulgarischen Kompagnon holt. Da geht zweifelsohne alles mit rechten Dingen zu. Und sollte doch mal jemand genauer hinsehen, gibt es dieses Empfehlungsschreiben“, höhnte Kuhla und tippte mit dem Finger auf das Schreiben. „Darin wird osteuropäischen Arbeits­vermittlern nach dem deutschen Arbeitslosen-Überlassungsgesetz offiziell die Erlaubnis zur Überlassung von Arbeitnehmern erteilt.“

Mielke bekam große Augen. „Vater Staat betreibt aktiv Sozialdumping. Auf unsere Kosten.“

Kuhla nickte grimmig. „In den Medien ist ständig zu vernehmen, Deutschland müsse wegen seiner ­Vergangenheit sensibel mit Menschen mit Migrationshintergrund umgehen.“ Er stieß einen verächtlichen Zischlaut aus. „Und wenn die dann nach Deutschland kommen, um ihre hungernden Familien zu ernähren, werden sie mit falschen Versprechungen und staatlicher Hilfe unverfroren ausgebeutet. Weißt du, was das ist?“, stierte ihn Kuhla mit großen Augen an.

„Menschenverachtend“, stimmte Mielke abfällig lächelnd zu.

Kuhla nickte eifrig. „Ich sage dir, Vater Staat verkohlt uns von vorne bis hinten. Höchste Zeit, dass etwas passiert.“

„Willst du einen Anschlag verüben?“, fragte Mielke halb belustigt.

„Willst du deine Wut weiter mit dir herum tragen?“, insistierte Kuhla und sah Mielke eindringlich an.

Der bekam große Augen und schüttelte den Kopf, als Kuhla ihm erklärte, was er vorhatte. „Erich, das kann nichts werden. Wenn die uns erwischen, verschwinden wir für lange Zeit von der Bildfläche“, hielt Mielke dagegen. Dennoch war ihm ein gewisses Wohlgefallen für Kuhlas Idee anzusehen, und im Laufe der Zeit konnte Kuhla seine Bedenken zerstreuen.

Wochenlang tüftelten sie einen Plan aus. Während dieser Zeit hielt sich in Mielke beständig das Gefühl, es würde sich nur um ein Sandkastenspiel handeln. Irgendwann würden er und Kuhla diese fixe Idee wieder aufgeben. Und nach der Sache mit Dimitar stieg in Mielke mehr und mehr das Gefühl auf, sich in etwas verrannt zu haben. Er konnte sich nicht mehr an den Wochentag erinnern, als das mit Dimitar passierte. Nur noch, dass es bereits dunkel war. Er war mit Kuhla länger auf der Baustelle geblieben, und plötzlich stand Dimitar, einer der vier von Valdis angeheuerten Bulgaren, in der Tür ihrer Hütte.

Valdis war lettischer Vorarbeiter bei Reko-Tec und hatte die Bulgaren organisiert. Allerdings hatte sein Gesicht einen leicht ratlosen Ausdruck angenommen, als Kuhla ihm deutlich gemacht hatte, dass die Bulgaren auch mal nachts ran müssten. Auf Valdis Frage, warum das ausgerechnet an ihrem letzten Arbeitstag sein müsste, hatte Kuhla ihm ein paar Scheine zugesteckt. Valdis versicherte daraufhin eifrig, dass das kein Problem sein würde. Er hätte die Bulgaren fest im Griff, und sie würden bereits am darauf folgenden Morgen auf der Heimreise außer Landes sein.

Mielke und Kuhla sahen sich kurz an, und Kuhla fragte den Bulgaren ungehalten auf Deutsch, was er wolle.

Dimitar setzte eine ungeduldige Miene auf.

„Ne razbiram Germanija. As iskam pari“, entgegnete er.

Mielke sah Kuhla fragend an.

„Nula. Dowischdane“, knurrte Kuhla den Bulgaren an und machte eine wedelnde Handbewegung, die deutlich zeigte, dass er aus der Hütte verschwinden solle. „Der will nur Geld“, raunte Kuhla Mielke zu, der kein Wort bulgarisch verstand.

Der Leiharbeiter wich erschrocken einen Schritt zurück, und Kuhla folgte ihm auf dem Fuß, mit Mielke im Schlepptau. Vor der Bauhütte ging das Wortgefecht auf Bulgarisch weiter. Seschto Petek konnte Mielke ein paar Mal heraushören, und sein Blick wanderte abwechselnd von einem Kontrahenten zum anderen. Beide redeten gedämpft, aber eindringlich, mit Händen und Füßen aufeinander ein. Kuhla war auf 180, und Handgreiflichkeiten schienen nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Doch bei den diffusen Lichtverhältnissen konnte Mielke nicht viel erkennen. Kuhla antwortete wütend mit einem rechten Haken, als er zurück wankte, weil Dimitar ihn von sich weg gestoßen hatte. Der Bulgare kam ins Stolpern, fiel rückwärts mit dem Kopf auf die Kante einer mit Bordsteinen beladenen Palette, und es gab ein knackendes Geräusch. Mielke erstarrte. Kuhla keuchte und hielt sich seine rechte Hand. Sie sahen sich einige Augen­blicke lang an.

„Wir müssen das melden. Es war ein Unfall“, sagte Mielke zitternd. Er stand kurz davor, die Nerven zu verlieren.

„Bist du verrückt“, bellte Kuhla. „Reiß dich gefälligst zusammen und hilf mir, ihn in meinen Wagen zu laden. Ich werde mich um ihn kümmern.“

Wie in Trance half Mielke, den Bulgaren in Kuhlas Mercedes Kombi zu verfrachten. Die folgenden Tage waren für Mielke die Hölle, und er zuckte bei jeder Kleinigkeit zusammen. Dennoch wagte er es nicht, Kuhla zu fragen, wo der mit dem Bulgaren abgeblieben war.

Ein paar Tage später war es dann soweit. Kuhla und Mielke besprachen gegen zehn Uhr mit den Bagger­fahrern den Materialbedarf für den nächsten Abschnitt und sahen verstohlen zu den Baracken hinüber. Die nächsten Stunden entschieden über Erfolg oder Misserfolg der Aktion. Es durfte kein größeres Durcheinander oder gar Kontrollen auf der Baustelle geben. In den Buden am Rand der Baustelle saßen Bosnier, Letten, Türken und die drei verbliebenen Bulgaren.

Brote, Wurst, Cola und Senf machten die Runde. Ein Lette im grauen Overall stand auf und trottete zum Ausgang. Sein Gesicht war mit Kies und grauen Flecken gesprenkelt. Die Tür ging auf, und ein Trupp polnischer Isolierer schob sich mit Morast und kühler Luft in die Baracke.

Kuhla und Mielke konnten zwar mit Betonfertigern und schwerem Baugerät umgehen, wollten bei der Operation aber selbst nicht mit Hand anlegen.

Am nächsten Morgen machten sie sich wie jeden Tag auf den Weg zu ihrer Baustelle, die bereits weiträumig abgesperrt war. Sie wurden von der Polizei vernommen und nach einem Gespräch mit der Geschäftsleitung zu einer anderen Reko-Tec-Baustelle beordert.

Wenige Stunden später saßen die beiden in der Bazille und grinsten sich siegessicher hinter ihren Bieren an.

Das Medieninteresse war riesengroß. Unbekannte habenwährend einer baustellenbedingten, nächtlichen Vollsperrung der A 1 in der Nähe des Kreuzes Lübeck Richtung Hamburg quer durch beide Fahrbahnen einen mehrere Meter tiefen und breiten Graben ausgebaggert, den anschließend mit Asphalt-Beton gefüllt und zu guter Letzt schweres Gerät darin versenkt, das knapp zwei Meter aus den mittlerweile gehärtetem Beton herausragte. Bizarr, wie die verblichenen Knochen auf einem Elefanten-Friedhof. Die Aufräumarbeiten werden Wochen, wenn nicht Monate in Anspruch nehmen. Eine Sprengung kommt wegen nahe liegender Wohnhäuser und der Querung der Bundesstraße 75 aus Sicherheitsgründen nicht in Frage. Die Baubehörden sprechen von einem volkswirtschaftlichen Schaden in Millionenhöhe. Die Nerven vieler Autofahrer stehen vor einer harten Belastungsprobe.

Die bundesweite Berichterstattung hinterließ kein heiteres Echo. Aber weil niemand verletzt worden war, sprachen einige Blätter von einer moralisch ­gelungenen Aktion, da die anschließenden Ermittlungen eine nicht von der Hand zu weisende staatliche Doppelmoral bewiesen hatten.