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Unter dem Freiheitsbaum ist ein Roman der deutschen Schriftstellerin Clara Viebig. Hauptfiguren der Geschichte, die sich um 1800 im Rheinland zuträgt, sind die Räuber Johannes Bückler, genannt "Schinderhannes" und Hans Sebastian Nikolai, ein Schmied aus Krinkhof in der Eifel. Neben den Taten der beiden Räuber und ihrer Banden zeichnet Viebig die Verworrenheit der nachrevolutionären Verhältnisse nach, unter der die Bevölkerung leidet, die den Kriminellen hingegen gute Gelegenheit gibt, die Situation zu ihrem Vorteil auszunutzen.
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Seitenzahl: 438
Unter dem Freiheitsbaum
Clara Viebig
Ins Gäßchen »Sieh um dich« läuten die großen Glocken der Stadt. Von der Pellinger Höh' und dem Franzensknüppchen, von dem einst Franz von Sickingen die Stadt beschossen, vom Grünberg durch die traubenbehängten Reihen der Rebstöcke herab dröhnt Kanonieren. Die Trikolore weht. Wehe dem Bürger, aus dessen Fenster nicht Fahnentuch flaggt: blauweißrot! Die Männer tragen die dreifarbene Kokarde am Hut, die Frauen haben sie an die Haube gesteckt.
Auf dem Hauptmarkt, auf dem Domfreihof, vor dem Justizgebäude in der Dietrichsgasse ragt ein Freiheitsbaum – junge, schlanke Eichen von Eifelhöhen. Die unteren Äste sind ihnen abgestutzt, die oberen mit dreifarbenen Bändern umwunden, ihren Wipfel krönt eine Jakobinermütze.
Durchs Gäßchen »Sieh um dich« windet sich ein langer Zug; durch die Glockenstraße, über den Markt, durch die Fleisch- zur Nagelgasse. Munizipalität und Geistlichkeit, Professoren und Studenten, Vorsteher aller Ämter, Lehrer, Zünfte, Schulknaben und -mädchen, hervorragende Bürger und Stadtmusikanten, alle Beamte von Stadt und Umkreis ziehen hinter berittenen Chasseurs zum Dekadensaal. Trompeter blasen schmetternd, Tambours wirbeln dröhnend, Waisenkinder singen gellend. Soldaten zu Fuß, Soldaten zu Pferd; Jungfrauen, bekränzt und in weißen Kleidern, schwenken Rosengirlanden zwischen sich, hohe Herren in schwarzseidenen Mänteln lassen drei lange Federn vom Hute wehen. Viel neugieriges Volk rundherum: Bauern im blauleinenen Kittel der Eifel, Mädchen, im festgeflochtenen, wassergestrählten Haarnest den blanken Unschuldspfeil. Fremde Gaffer, von denen man nicht weiß, woher und wohin. Dazwischen Männer mit Ziegenbärten, denen man's ansieht, wie sie heißen: Herzchen Rosenblatt, Moyses Mohnsam, Mendel Löw, Afrom May, Itzig Nudel, Leib Süßkind. Und über allem ein Himmel tiefblau und schwer. –
Trier feierte am 1. Vendémiaire des Jahres V. (22. September 1796) das Fest der Gründung der französischen Republik: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!
Im Dekadensaal, dem einstigen Promotionssaal der Universität, war eine Pyramide errichtet, darauf stand eine weibliche Statue, das Symbol der Republik; sie hielt in der hängenden Rechten das Bündel Stäbe mit dem herausragenden Beil, ihre Linke hob einen Speer empor, an dem die Freiheitsmütze steckte. Huldigend verneigten sich die wie in Prozession an ihr Vorüberziehenden. Aber manch Trierer Auge blickte mit Schaudern. Da stand zur Seite der Republik noch so ein Weibsbild, mit Helm und Lanze, aber sonst nackt, und das streckte gegen einen Priester, der im Ornat zwischen kirchlichen Insignien und heiligen Gefäßen am Sockel der Pyramide zu sehen war, die Zunge heraus, und bacchantische Kinder, splinterfasernackig, trampelten auf dem Kurhut und auf dem erzbischöflichen Kreuz mit dem Pallium herum. O Clemens Wenzeslaus, Kurfürst von Trier, wenn du das sähest! Doch gut, daß du nicht mehr hier bist, dachte manch Trierer Herz.
Man hatte ihm manches verdacht, dem Clemens Wenzeslaus. Wenn der nicht versippt gewesen wäre mit dem französischen Königshaus, nicht allzu gastlich den emigrierten Adel und die verpönte Geistlichkeit Frankreichs im Kurfürstentum aufgenommen, es seinen Neffen, den Brüdern Ludwigs XVI., nicht erlaubt hätte, zu Koblenz einen Hofhalt einzurichten mit allem Trara, wer weiß, ob dann das Land nicht verschont geblieben wäre vom Mißtrauen und der Rache der Republik. Nun mußte man leiden, selber ganz unschuldig, aber Clemens Wenzeslaus, der dicke Hasenfuß, der war geflohen.
Und doch, es hatte sich lange Zeit fröhlich gelebt unterm Kurhut; der Krummstab war ein mildes Zepter gewesen. Weiß Gott, wenn der Clemens Wenzeslaus heute wiederkäme, man würde sich wiederum einspannen vor seinen Wagen anstatt der Pferde, wie im Jahre 93 des alten Kalenders zu Koblenz geschehen war, nach des Kurfürsten Rückkehr von seiner ersten Flucht. Und zärtlich würde man rufen: »Kommen Eure Kurfürstliche Durchlaucht doch wieder in den Schoß Ihrer treuen, nach Höchstihnen sich so innigst sehnenden Untertanen zurück, schenken Höchstsie uns den Segen Höchstihrer Nähe!« Das Volk hatte »Vivat!« geschrien und »noch fufzig Joahr!«
Doch nun war das erst drei Jahre her und alles, alles schon so ganz anders! Man wußte nicht, ob man lieben oder hassen sollte und wo und wen. Wie war auch den Bürgern mitgespielt worden seitdem! Es war nicht einmal im Jahre 92, als die Kaiserlichen mit den Franzosen sich um Trier herumbalgten und von der Pellinger Höh' aus die Stadt beschossen wurde, ganz so schlimm gewesen. Freilich harte Zeit auch da. Das Herz hatte sich dem anständigen Menschen, der sein Vaterland liebte, umgedreht, wenn er's erleben mußte, daß Soldaten, die wie Plundermätze aussahen: die einen in Hüten, die anderen in Kasketen, diese in Pelzmützen, jene in Bauernkappen, mancher im Leinenkittel und viele im Wollenkamisol, wenige nur in regelrechter Uniform, die meisten ohne Strümpfe in durchlöcherten Schuhen, daß die Sieger wurden. Sieger über die Truppen der Österreicher, Preußen und Landeskinder, die, wenig zuvor nur, schmuck wie zum Ball ausgezogen waren in die Champagne zum Spaziergang nach Paris.
Wehe, welche Tage in Triers Mauern! In Nächten, in denen man nicht schlafen konnte, sah man wiederum diese schmucken Truppen ausrücken und dann, wiederkehrend, die Stadt durchflüchten wie irre Träume. Von tausend waren Hunderte tot. Und abermals Hunderte in wenigen Wochen durch strömenden Regen ohn' Unterlaß, durch Hunger und Kot zu wankenden Schatten geworden, die aufs Pflaster hinsanken, nicht mehr aufstehen wollten. In »Kranen« schiffte man die Flüchtenden ein; was an Schiffen und Kähnen zu haben war, wurde requiriert. Die Mosel hinab, das war die Losung. Wer noch laufen konnte, lief auf eigene Faust – nur fort, fort! Aber viele Krümmungen macht die Mosel, in unendlichen Windungen umschlängelt der Fluß felssteile Berge von allen Seiten; wer weiß, wie viele, um abzukürzen, die Flußstraße verließen und sich auf unkenntlichen Höhenpfaden verstrickten ins Dickicht noch ungelichteter Wälder und, todmüde dahinstolpernd, verlorengingen in entlegenen Köhlerhütten. Geforscht wurde nach keinem Verlorengegangenen, ein einzelnes Menschenleben war heute so gut wie gar nichts. Blut war in der Mosel und Seuche und Hunger an beiden Ufern und wenig Barmherzigkeit.
Wenn die Bürger Triers ihren Kindern, die dazumal noch am Gängelband geführt wurden, von jenen Tagen erzählten, dann schauten die auch jetzt noch verständnislos drein; sie begriffen gar nicht, warum die Mutter ein Kreuz schlug und ihre Wange sich bleichte. Sie hatten ja das Leben nie anders gekannt: Lärm auf den Straßen, Abteilungen französischer Soldaten, die an die Türen schlugen, auf Leiterwagen davonführten, was sich noch von Schuß- und Hiebwaffen in den Häusern befand, und auch das mit sich nahmen, was einzelne, die geflüchtet waren, bei Verwandten und Freunden von ihren Möbeln und Wertsachen zurückgelassen hatten. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – Todesstrafe für den, der etwas einbehielt von dem, was der Flüchtende ihm anvertraut hatte, auf Freundestreue und Redlichkeit bauend. In den Klöstern und bei den alteingesessenen Familien, da fand sich am meisten. In manchem Patrizierhaus nahm man der alten Mamsell, die treu wie die Hauskatze am Hause hing, ihr Bettzeug weg und dem Diener, der langsam die verschlossene Eingangstür öffnete, die Livree, die er viele Jahre im Dienst seiner Herrschaft getragen hatte. Die Kinder verstanden nicht, wie bitter es tut, vom Altgewohnten zu lassen. Warum weinte die Mutter so schmerzlich, daß sie nicht mehr im Dom in der Muttergotteskapelle ihre Andacht halten konnte? Sie sei es von Kindheit auf so gewohnt gewesen. Nun mußte sie anderswo beten gehen. Viel Auswahl war nicht; im Dom war jetzt ein Furagemagazin, auch Möbel aus dem kurfürstlichen Palast waren dort eingestellt, bis man sie abführte nach Frankreich. Im Palast selber lagen die Soldaten, die die Krätze hatten. Sankt Matthias war Lazarett geworden, seine schönen Glocken hatte man in Stücke geschlagen. In die Dreifaltigkeitskirche hatten die Kommissäre den Wein gelegt, den sie den Klöstern und den Kellern der Ausgewanderten entnommen; siebzig Fuder wurden in einem Monat drin abgestochen. In der Kirche der Karmeliter hatte man der Mutter Gottes ihr kostbares Kleid und den mit Silber bestickten Mantel ausgezogen, ihr statt dessen einen Sack übergestülpt. Im Kloster der adligen Nonnen zu St. Irminen hatten die Franzosen ihr Schlachthaus eingerichtet, in St. Simeon die bleiernen Platten des Daches abgedeckt und St. Martin ausgeplündert. In St. Maximin lagen die großen Statuen der Bischöfe mit der Nase an der Erde, die bunten Glasfenster, von Steinwürfen verletzt, verloren im Windstoß klirrend ein Scheibenstück nach dem anderen. In der Abtei Marien waren die Orgelpfeifen herausgerissen, und mit St. Paulin war's nicht viel besser bestellt. Nach Liebfrauen konnte die Mutter doch noch beten gehen; aber es stolperten immer etliche im hallenden Schiff herum, scharrten mit den Füßen, rauchten und sprachen ganz laut, und das störte sie.
Der Vater ballte die Faust: das war noch nicht das Schlimmste. Aber daß man der Jugend, schon den Kindern in der Schule, die Göttin der Vernunft, ein nackiges Weibsbild, vorsetzen wollte an Stelle »Unserer Lieben Frau«, das war Ärgernis ohnegleichen. Man sah's ja, wohin solcher Unglaube führte. Mägdlein, die sonst ganz sittsam gewesen, setzten ihre Kinder hinter Hecken und Zäunen ab, fahrendes Volk gaukelte auf allen Märkten, mit den Bänkelspielerinnen in kurzen Röcken trieben ehrsamer Bürger Söhne sich herum. Ein Volk ohne Religion ist ein Volk ohne Sitte; nichts auf der Welt kann dem simplen Herzen seinen Herrgott ersetzen.
Oh, und die Angst, die man ausgestanden hatte, vor den durchziehenden befreundeten Truppen nicht minder als dann vor den feindlichen! Der Krieg nimmt, wo er kann, und was er kann; man hatte gegeben, aber alles Geben hörte doch einmal auf. Ja, als die Emigrierten mit ihren geflüchteten Schätzen ins Land gekommen waren, die Marquis, die Marquisen, hohe Geistliche und adlige Nonnen, als die ihr Gold, Edelsteine, Perlen, Brillanten, eingelegte Waffen, kostbares Pelzwerk und Kleider zu Geld machten und für die Wohnung, die man ihnen einräumte, reichlich zahlten, da war jedermann gut bei Kasse gewesen. Man hatte ordentliche Preise genommen zu Trier. Aber seit die Patrioten, wie die Republikaner sich nannten, die Emigranten geächtet hatten, daß die nur in wenigen verborgenen Winkeln sich aufzuhalten getrauten, als Todesstrafe darauf stand, wer einen Emigrierten bei sich aufnahm, da war die beste Erwerbsquelle verlorengegangen. Denn die Assignaten, mit denen die Republikaner zahlten, waren nichts weiter als dreckiges Papier; nicht einmal echt waren die immer.
Und doch sollte man zahlen, mußte zahlen; die Kontribution von drei Millionen Livres, die Bourbotte, der Repräsentant des französischen Volkes, der Stadt und den besetzten benachbarten Ortschaften auferlegt hatte, wurde eingetrieben eins, zwei, drei. Klang es nicht wie Hohn, wenn es in der Proklamation von Bourbotte also hieß: »In Erwägung, daß die französische Republik, indem sie den Bewohnern der durch ihre Armeen eroberten Länder Schutz und Sicherheit gewährt, begründete Rechte hat, von ihnen den Zoll der Dankbarkeit zu fordern, den sie dem großmütigen Verfahren einer Nation schulden, die weit davon entfernt ist, die Rechte auszuüben, die der Krieg den Siegern anheimgibt – sie will ihre Macht nur gebrauchen, um die königlichen Unterdrücker zu zerschmettern, diese Geißeln der Welt – und in weiterer Erwägung, daß, wenn die französische Nation auf all die Vorteile Verzicht leistet, welche sie von ihrem Sieg in dem Kurfürstentum Trier ziehen könnte, so ist sie jedoch genötigt, sich wenigstens für ihre Kosten und Auslagen zu entschädigen, die die Unterhaltung der Armeen, deren sie bedarf, um die Frechheit der Tyrannen im Zaum zu halten, erfordert.«
Gnade, Gnade, woher soviel nehmen?! Es wurde in den Häusern zusammengeschrappt, was sich noch an Werten darin befand: Bargeld, Hypothekenbriefe, altes Familiensilber, eingemauerte Weine, Schmucksachen, Porzellane, Bilder, Samte, Uhren, Pelze, Seidenstoffe. Alles wurde hervorgeholt, und es reichte doch nicht. Trommler gingen durch die Stadt: binnen vierundzwanzig Stunden mußte die Kontribution bezahlt sein, die Munizipalität von Trier haftete mit dem Kopfe dafür. Der letzte Sparpfennig wurde hingegeben, die letzte Hosenschnalle. –
Aber das Schlimmste, das Unerträglichste, das kam doch jetzt: man mußte Feste mitfeiern, die einem nicht Feste waren. Man mußte mitjubeln und hätte doch fluchen mögen. Aber still, um Gottes willen still, daß keiner ein Murren hört! Das Gesicht in zufriedene Falten gelegt, daß niemand einem ansieht, wie es innen würgt! Vorsichtig schaute mancher ehrsame Mann sich um: überall lauerten jetzt Spione, es gab Leute genug, die sich nicht scheuten, den Angeber zu spielen, nur um ein Sündengeld vom Kommissär. Tiefer wurden die Diener vor den zwei nackenden Weibern.
Es wurde viel geredet heute im Dekadensaal, französisch, deutsch und wieder deutsch und französisch.
»Despotismus, Knechtschaft, Unterdrückung, Finsternis hinter uns – Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte und Aufklärung vor uns!«
»Krieg den Palästen, Friede den Hütten!«
»Der Kampf zwischen Licht und Finsternis, zwischen Tugend und Laster, zwischen Freiheit und Knechtschaft ist zu Ende, hell strahlt die Zukunft der neuen Menschheit!«
Die neuen freiheitlichen Einrichtungen seien in der Tat ein unvergleichliches Glück, versicherte auch Triers Bürgermeister. Ein wenig ängstlich blickte der Herr, aber desto lauter erhob er die Stimme: ein unvergleichliches Glück! Und wem verdankte man das Glück dieser Befreiung? Den tapferen Truppen, die man den Vorzug hatte, in Triers Mauern zu beherbergen. Damit gab er den beiden Demoisellen, die er rechts und links neben sich stehen hatte, ein Zeichen, und diese schönsten Jungfrauen der Stadt, die eine mit nachtschwarzem Scheitel, die andere blond wie die Sonne, nahmen die Lorbeerkränze, die sie auf dem Haar trugen, ab und bekrönten damit zwei Soldaten, die man bereitgestellt hatte aus dem Militärhospital.
Die Musik setzte ein, schmetternde laute Musik. Aller Hände erhoben sich. Der Kommissär nahm den Eid ab: »Ich schwöre Treue der Republik.«
Dann Gesang eines Liedes:
»Heut jauchzet wonnetrunken Mein freies Vaterland. Es lag in Nacht versunken Am schweren Sklavenband. Da riß die schwarze Wolke: Des Thrones Pfeiler sank – Dem großen Frankenvolke Den wärmsten Kindesdank!«
Unter Absingung dieses Liedes, das ein Trierer Bürger gedichtet hatte, drängte alles aus dem stickigen Dekadensaal, in dem noch die ganze Septemberhitze brütete, hinaus ins Freie. Es ging durch die Neue Straße über die Weberbach gegen das Alttor.
Da war ein königlicher Thron aufgestellt, mit Purpur und Gold reich behängt. Soldaten zu Fuß, Soldaten zu Pferd stürmten gegen ihn und schossen und stürmten wieder an, bis vier im Gebüsch versteckte Mann, verborgene Seile in Händen, die dem goldenen Thronsessel um die Füße geschlungen waren, ihn umrissen. Er stürzte polternd zusammen – so soll es allen Thronen ergehen! Mit Bajonetten und Kolben schlugen die Soldaten auf die letzten Trümmer ein. Pauken- und Trompetengetöse. Alles Volk schrie: »Nieder mit den Tyrannen! Es lebe die Republik!«
Das Lärmen betäubte die Ohren. Heute gab's was zu sehen. Seit das Gepränge der Prozessionen mit blumenstreuenden Engelchen, mit Lämmchen tragenden Jungfrauen, mit teppichbelegten Straßen, mit Musik und Gesang, mit purpurnen Baldachinen, mit rauschenden Fahnen, mit süßen Marienbildern und segnenden Heiligen, mit Glöckchengeklingel und Weihrauchdüften nicht mehr stattfinden durfte im frommen Trier, hatte man soviel nicht zu sehen bekommen.
»Schad um's Thrönche, daß es is kapores,« wisperte leise Herz Rosenblatt aus Reil an der Mosel dem Moyses Mohnsam aus Bridel zu. »E schönes Stück!« Sie hatten beide dasselbe Geschäft: mit allem zu handeln.
»Nu«, wisperte Moyses Mohnsam ebenso leise, zog die Schultern hoch und wiegte den Kopf: »Lasse mir nur erst fort sein die Gojim. Wann mir werde sein hier tout seuls, werde mir schon noch eppes finde vom Thrönchen.«
Im Gebüsch am Tor niedergekauert, warteten die beiden Juden geduldig, bis auch der letzte von der Menge verschwunden war. Die verlief sich bald, gab's doch heute noch mehr zu sehen; am Nachmittag Tanz und Musik in allen Wirtshäusern, Konzert und Ball für die feinen Leute, am Abend Freudenfeuer auf der Eurener Höhe. Der Galgen, der bei Dorf Euren jenseits der Mosel stand, sollte verbrannt werden, zum Zeichen, daß es nun vorbei war mit der alten Herrschaft im Lande.
Auf der Eurener Flur reifte das Obst. Apfelbäume, Birnbäume in großer Zahl. Wie ein weiter Garten, von sanften Höhen schirmend beschützt, lag die Flur gegenüber der Stadt, Durch die Tore der alten Römerbrücke, Euren zu, strömten die Menschen. Sonst ging man hinüber, um Viez zu trinken – die Eurener machten einen vorzüglichen Most, in hohen Haufen geschichtet lag im Herbst das Obst, der Kelter harrend, am Straßenrand – heute wurden viel Äpfel zertreten, viel Birnen zerquetscht. Man rannte, man stürmte, um ja nichts zu versäumen. Es war ein Volksfest, der vornehmere Bürger hielt sich fern.
Aber die schwarze Suzette, des Bürgermeisters schöne Tochter, und ihre Freundin, die blonde Minette, ließen sich sehen auf der Eurener Flur. Sie hatten heute morgen eine Rolle gespielt im Dekadensaal, nun ließen sie sich am Nachmittag noch einmal bewundern. Sie gingen Arm in Arm, in denselben durchsichtig-weißen Kleidern vom Vormittag. Die schmiegten sich den schlanken Hüften eng und glatt an; hochgegürtet hob die kurze Taille den Busen, den ein zartes Flortuch bedeckte. Statt der Kränze, die sie am Morgen getragen, umwanden jetzt Bänder zweifach das Haar; süß lächelten die jungen Gesichter unter den Löckchen vor, die in die Schläfen hingen. Den Zipfel des langwallenden Rockes über dem Arm, den seidenen Beutel am Bändel, setzten sie behutsam die Füßchen in den schmalen, weit ausgeschnittenen Kreuzbänderschuhen.
Die beiden Freundinnen teilten sich in die Gunst des französischen Kapitäns, der, sporenklirrend, das schwarze Bärtchen als Fliege am Kinn, elegant in knapp anliegenden Reithosen, neben ihnen herschritt. Hauptmann d'Aubry hatte keinen Blick für die an ihm vorbeiströmende Menge; hochmütig streifte sein Auge flüchtig das Gerüst des Galgens, bei dem französische Soldaten Berge von Reisig schichteten. Das Gerüst sollte brennen. Ein Galgenarm war schon heruntergeschlagen, lachend hatte man ihn herabpoltern sehen, ein dreister Junge hatte ihn durchgesägt. Nun hing der Bube oben am Querbalken, bleckte die Zunge heraus wie einer, der gehängt worden, verdrehte die Augäpfel, daß man nur mehr das Weiße sah, und ließ den schlanken Körper hin und her schlenkern, wie der Wind manchesmal den entseelten Leib eines Gerichteten bewegt hatte. Die Zuschauer klatschten Beifall. Andere Zeiten! Dank der neuen Gesetze bedurfte man des Galgens nicht mehr; Gerechtigkeit und Frieden kamen von Frankreich herüber, sie würden herrschen, und niemand mehr würde sündigen. –
Die beiden Demoisellen kicherten: solch anmutig gedrechselte Komplimente hatte ihnen noch kein Trierer Jung' gesagt. Die schwarze Suzette wurde ganz elegisch, wenn sie dachte, daß sie doch eigentlich Herrn Friedrich Adami, dem Assessor beim Tribunal zu Koblenz, ihre Hand zugesagt hatte. Ach, der war so weit weg, eine ganze gewundene Moselstrecke lag zwischen ihm und ihr, Berge und Täler und wieder Berge, man fuhr mit dem Schiffchen drei Tage fast. Und gar mit der Diligence! Wer weiß, ob man sich überhaupt wiedersah, die Wege waren so unsicher, es trieb sich viel Gesindel herum, versprengte Marodeure – sie würde Herrn Adami gar nicht zuraten, so bald die Reise nach Trier zu wagen. Und wenn's etwa wahr wäre, daß er als Friedensrichter in den Kanton Lutzerath versetzt würde? Maria Josef, sie würde sich wohl hüten, da oben in Lutzerath, dem öden Eifelnest, ihre Jugend und Schönheit zu vertrauern.
Feuriger wurden die Blicke, die sie mit d'Aubry tauschte. Der war eigentlich ein Marquis, aber seinen hohen Titel hatte er fallen lassen, der paßte nicht in die Zeit, nur das »de« hatte er beibehalten.
Die blonde Minette mit den goldenen Locken wurde ganz eifersüchtig: sollte es nicht wahr sein, was der schöne Hauptmann ihr gestern am Gatter ihres Gärtchens zugeflüstert hatte, als er vorbeiritt und sie gerade Blumen schnitt? Sie hatte immer etwas zu tun im Garten, wenn er vorbeiritt in seine Kaserne im Kloster der Minoriten. Daß sie die Schönste der Schönen sei, eine blonde Sonne, hatte er geflüstert und ihre Hand geküßt mit einem solch saugenden Druck seiner Lippen, daß es sie durchschauerte wie nie zuvor.
D'Aubry teilte heute seine Gunst: Tag und Nacht taufte er scherzend die beiden Freundinnen – auf einen holden Tag eine süße Nacht. Sie verstanden recht gut Französisch. Der Kapitän bot beiden den Arm, es war nötig hier im Gedränge.
Einen Augenblick wallte es in Suzette auf: wenn Adami das erfuhr, daß sie einen anderen am Arm hing! Und Minette kam es plötzlich, daß es doch nicht recht sei, mit einem Franzos so zu spazieren. Aber das waren nur flüchtige Bedenken. Schon dämmerte es, der frühe Septemberabend begann sich zu senken.
Am Weg, unweit des Waldes, der an die Flur grenzte, hielt der Bursche auf seinem Gaul, mit dem Pferd des Hauptmanns am Zügel. Die Stute »Liberté« war unruhig, so lange zu stehen, das vertrug sie nicht. Auch Jean-Claude war ärgerlich, er riß die Stute im Maul, daß sie schäumte und auch sein Klepper unter ihm zu tänzeln begann. Er wollte zum Ball, er wollte sich auch amüsieren.
Da sagten sie »Freiheit und Gleichheit« – war das Freiheit, wenn er hier wie ein Sklave ausharren mußte? War das Gleichheit, wenn er nicht auch ein hübsches Mädchen in den Arm nehmen durfte? Brüderlichkeit – wenigstens eine von den zweien hätte der d'Aubry ihm überlassen können. Überhaupt der! Es wollte dem Burschen gar nicht so scheinen, als sei der Kapitän etwas Rechtes. Was der für Narben auf dem Rücken hatte! Er hütete sich zwar, sie zu zeigen, aber der Bursche hatte sie doch gesehen. Und Redensarten hatte der, Flüche, wie der gemeinste Fuhrknecht!
Jean-Claude – »Schankelödchen« hatte ihn seine Mutter genannt, er war von der Grenze zu Haus – ritt langsam auf und nieder. Vom Galgen her tönte lauter Gesang, Kreischen und Lachen; im Feuerschein sah er hüpfende Gestalten. Die tanzten wohl gar? Auf der Eurener Höhe krachte und knatterte es plötzlich, hoch bäumten die Pferde sich auf; droben wurde geschossen. Und jetzt flammte das Freudenfeuer eines mächtigen Holzstoßes.
» Sacré nom de dieu!« Der Bursche fluchte, beinahe hätte die Liberté einen Mann umgestoßen, der gebückt am Rain stand. Neben ihm tauchte jetzt noch ein zweiter auf. Unwillkürlich hielt der Bursche die Pferde fester: was wollen die? Scheu suchte er sie zu erkennen. Buschklepper? Aber dann lachte er. Die beiden Männlein in langen Röcken, abgegriffenen hohen Hüten und mit Ziegenbärten hatten nichts Erschreckendes an sich.
»Schöne Peerd,« sagte Moyses Mohnsam aus Bridel, und Herzchen Rosenblatt aus Reil streichelte unter leisem Schnalzen der Zunge die Liberté. »Gott der Gerechte, was kann der Mosjö reiten die wilden Peerd«, meinte Moyses bewundernd.
Der junge Mensch fühlte sich geschmeichelt; seine Reitkunst war nicht weit her, ehe die Franzosen ihn angeworben, hatte er nur auf dem Schneiderbock gesessen. Sein Hauptmann korrigierte immer an seinem Sitz. Aha, nun sah man's aber doch, daß er gut reiten konnte! Leute, die so flüchtig vorübergingen, sprachen ihn schon sogar darauf an. Er hatte keine Ahnung davon, daß die zwei ihn schon lange beäugten.
Hinterm ersten Waldbusch hatten sie niedergeduckt gesessen, sich leise wispernd einander mitgeteilt: wenn der Bückler vielleicht, oder ein anderer von jenen, so ein Pferd kriegen könnte! Dreißig Karolin und mehr wäre dran zu verdienen, der Bückler war nicht knauserig. Ob nichts zu machen war hier mit 'nem Handel? –
Jean-Claude war ein guter Junge, gefällig sprang er ab und ließ die beiden Juden die Pferde mustern. Sie taten's genau. Der eine behorchte Herz und Lunge und sah den Tieren ins Maul, der andere maß die Länge der Schweife und begutachtete dann besonders die Beine. Sie schienen Jean-Claude etwas von Pferden zu verstehen. Er hatte es ja immer gesagt, die Liberté war ein bißchen schwach auf der Vorderhand, und der Adonis hatte mit der Zeit einen Senkrücken gekriegt.
Ob die Pferdchen wohl zu verkaufen wären, fragten die Juden. – » Non, non.«
Sie verstanden sich ganz gut, lange Kriegsläufte und seit zwei Jahren französisch geworden, hatten auch den gemeinen Mann genug von der Sprache gelehrt. Und des Jean-Claude Mutter war von Geburt eine Deutsche, in großer Freude und in großem Schmerz vergaß sie 's Französisch, dann sprach sie Deutsch.
Wenn der Mosjö das Geschäft vermitteln wollte, würde es sein Schaden nicht sein. Die Landsleute brauchten Pferde, es waren ihnen alle abgenommen worden im Krieg – was sollte die Stute kosten?
Parbleu, sie hörten doch, daß die Pferde nicht zu verkaufen waren. Gleich würde der Kapitän kommen, dem sie gehörten; das heißt, sie gehörten der Republik, alles Eigentum war jetzt gemeinsam.
»Bei mein Gesund,« sagte Herz Rosenblatt und schlug klatschend der Liberté auf den Schenkel, »er spricht wie der weise Salomo!« Aber aufsitzen durfte man doch wohl einmal?
Dagegen hatte der Bursche nichts. Der Alte war dürr, ausgemergelt von Hunger, der würde die Liberté nicht drücken durch sein Schwergewicht. Verdutzt riß er die Augen auf: konnte der aber reiten! Wie angepicht saß der Händler, seine Rockschöße, zerschlissen und zerschlumpt, klatschten der Stute die Lenden, und sie, dadurch angeregt, schlug einen scharfen Galopp an. Ein paar Augenblicke sah es aus, als wollte die Liberté davonjagen auf Nimmerwiedersehen.
In Herz Rosenblatts Seele rangen Gewalten. Wenn er nun wegjagte? Einholen würde ihn niemand. Er hatte seine Gefreundte, da stellte er's Gäulchen unter. Und wenn alles still war davon, holte er's sich nach Reil – was würde viel Wesens jetzt sein um ein Pferd? Aber dann empörte er sich gegen sich selber: pfui, Herzchen Rosenblatt, du wirst doch nicht stehlen? So alt schon, fünfzig und drüber, und noch nicht redlich? Aber heißt das denn stehlen, wenn man einem was wegnimmt, was dem gar nicht gehört? Nicht gehört und doch gehört! Rosenblatt stieß dem Pferd die Hacken in die Seiten, es machte Sätze, hoch und höher, klatschender flatterten die Rockschöße, zerschlissen und zerschlumpt, der graue Ziegenbart wehte, eine wilde Leidenschaft kam Rosenblatt an. Wenn er den Gaul hätte, verkaufte, was für ein Geschäft! Er war ein gemachter Mann, sein Weib brauchte dann nicht mehr in Lumpen zu gehen, seine Kleinen nicht barfuß zu laufen – Herzchen Rosenblatt, Herzchen Rosenblatt, beim Gott deiner Väter, weh geschrien über deine Redlichkeit – ach, ach, und Moyses Mohnsam war ja auch dabei!
Mit einem gewaltigen Ruck hielt plötzlich der Jude das Pferd an, daß es sich beinahe auf die Hinterhand setzte. Er glitt herab, schweißüberströmt, totenblaß, hochatmend stand er vor dem verblüfften Burschen.
Der war heilfroh, sein Tier wiederzuhaben – dem Volk war ja nicht zu trauen.
» Allons« sagte er grob und schmitzte dem Alten mit den Lederriemen der Zügel ins Gesicht. »Pack' Er sich jetzt auf der Stelle!«
Moyses Mohnsam hatte sich schon zeitiger zurückgezogen, nun wankte der andere ihm nach; Blut schoß ihm aus der Nase und mischte sich mit dem Wasser, das ihm aus den Augen floß. Mit dem Geschäft war es nichts gewesen.
Den Rücken gekrümmt, demütigen Schrittes, verloren sich die beiden jetzt unter der Menge – vielleicht, daß es doch noch etwas zu handeln gab! –
Tiefer sank der Abend, es war schon ganz Nacht. Im huschenden Feuerschein tauchten Gesichter auf, die sich vordem nicht hatten sehen lassen. Wo das Gewühl am dichtesten war, drängten sich fremde Gestalten. Wer war der junge Mensch im dreieckigen hochgeschlagenen Hut, das Haar lang hängend auf den Bürgerrock aus blauem Tuch, das Kinn vergraben in hohe Halsbinde? Ein lustiger Geselle, er sprang wie ein Fohlen. Bald hatte er eine Frauensperson an der Hand.
War das nicht die Bänkelspielerin, die eine Woche zuvor sich hatte sehen lassen auf dem Trierer Markt im handbreiten Röcklein? Sie hatte getanzt auf dem Seil, das haushoch gespannt war über dem Pflaster, und hatte ein dreistes Stück aufgeführt mit einer Mannsperson, die verkleidet war als Hanswurst. Sie hatte auch gesungen zu Harfenspiel, war dann mit dem Teller sammeln gewesen von Haustür zu Haustür. Der Büttel hatte sie endlich verscheucht. Aber heut trug sie eine Haube wie andere Frauen aus dem Volke auch, hatte das Haar sittsam gescheitelt und das Kleid lang bis auf die Schuh. Aber doch war es dieselbe, denn – ein plötzliches Aufkreischen der Nächststehenden – sie schleuderte gewandt einem großen Mann mit der Spitze ihres Fußes den Hut vom Kopf. Hastig bückte sich der Erschrockene danach; es bückten sich viele, bald wälzte sich ein Knäuel von Menschen am Boden herum.
»Mein Hut, mein Hut!« Der Hut, der Hut – ja, wo war der? Und wo war die Châtelaine von Madame Mohr, wo das großblumige Taschentuch von Bürger Haas? Fischer Mathes vermißte seine Schnupftabaksdose, er klagte um sie wie um ein verlorenes Kind. Allgemeine Verwirrung, gewaltiges Entsetzen: was war nicht alles abhanden gekommen! Dieser hatte seine Uhr nicht mehr, jener suchte verzweifelt seine Börse. Diebe, Diebe – Zetermordio! An den Galgen mit den Halunken! Ach, der Galgen, der stand nicht mehr, ein Häuflein Asche nur war von ihm übriggeblieben. »Holt den Büttel! Haltet den Dieb!« Der mußte noch hier sein; da lief ja einer. »Haltet ihn, haltet ihn!«
Hinter Herz Rosenblatt setzten ihrer vier, fünfe drein. Die Seele im Leib zitterte ihm. Oh, wäre er nur nicht gelaufen! Er war sich keines Unrechts bewußt, nur nach einem Handelchen spürend war er umhergeschlichen; da kam der Lärm. Und nun wußte er aus Erfahrung: der Jud, der Jud, der hat's immer getan. Und angstvoll machte er sich auf die Beine. Er lief wie der Wind. Aber sie holten ihn rettungslos ein. Und sie visitierten ihm die Kleider, rissen die armen Plundern dabei vollends entzwei, durchsuchten ihn bis auf die nackte Haut und konnten nichts finden. »Er hat's fortgeworfen, rasch weggeschmissen!« Man hatte es ja gesehen. Sie bläuten auf den Herz Rosenblatt ein und zerschlugen ihm schier die Knochen. –
Das Fest der Galgenverbrennung hatte kein freundliches Ende genommen. Die Trierer drängten nach Haus, es war ihnen unheimlich geworden auf der Eurener Flur. So weit war es also schon gekommen mit der Unsicherheit, daß man nicht mehr geschützt war dicht vor Triers Toren? Es war bald ganz ruhig auf der Eurener Flur, still blinzelnd nur guckte der Mond über die schweigenden Höhen.
Der französische Kapitän mit den Demoisellen hatte auch den Heimweg angetreten, aber er ging nicht die Landstraße, die die anderen gingen. Er hatte sich seitab verloren, und seine Begleiterinnen hatten nichts dawider. Suzette fühlte sich sicherer vor neugierigen Augen im deckenden Busch, da konnte sie niemand an Adami verraten. Und auch Minette wurde freier, der Vater würde es doch nicht gern gesehen haben, daß sie am Arm des Franzosen ging. Im Wald war's ganz finster, der Pfad, der parallel mit der Landstraße auf die Stadt zulief, war schmal, sie mußten sich dicht aneinanderdrängen. Links die Blonde, rechts die Schwarze; die zarten Arme verliebt an sich drückend, verlangsamte d'Aubry immer mehr den Schritt. Hatte er sein Pferd, seinen Burschen denn ganz vergessen? »Setzen wir uns ein wenig, mes charmantes!«
*
Jean-Claude hatte lange gewartet. Erst in Geduld, dann in Ungeduld, zuletzt in Wut: kam der Kerl denn noch immer nicht? »Vermaledeites Cochon!« Er hatte ihn wohl mit den Mamsellen verschwinden sehen. Nun würde er sich auch nicht länger zum Narren halten lassen. Müde war er auch: morgens den Thron gestürmt, abends den Hanswurst von so einem gemacht, dazu die Langeweile des Wartens. Er band beide Pferde an; den Adonis drüben an die Buche, die Liberté hier an die Birke, er selber ließ sich an einen Tannenstamm nieder. Verträumt starrte Jean-Claude in das große Schweigen. Wie sich das Silber des Mondes immer mehr und mehr übers Feld ergoß! Nebel stiegen auf, leicht wehende, weißliche Schleier; eine Unke rief unter Steinen, das klang wie Glöckchen, und Grillen zirpten ihr Schlummerlied, ganz traulich, so wie abends bei Saarlouis in der Mutter Haus. Die gute Frau, ob sie wohl noch lebte? Seit die Franzosen ihn angeworben – wie verfluchte er das bereits –, hatte er nichts mehr von ihr gehört. Sie konnte nicht schreiben, und wenn sie auch hätte schreiben können, wo sollte ein Brief ihn finden? Bald hier, bald dort; hingeblasen bei der Trompete Ton, hingewirbelt bei Trommelschlag, ohne eigenen Willen, dem Kommando blind folgend, das war Soldatenlos. Wenn er sich Mühe gegeben, hätte er vielleicht ein Briefchen zustande gebracht, aber Dienst machen, Montur putzen, Pferde striegeln, essen, trinken, schlafen und wieder Dienst machen und Montur putzen und Pferde striegeln, das nahm die Lust. Und doch mußte Jean-Claude jetzt so sehr der Frau gedenken, an deren Herd er gesessen hatte, seit er sitzen konnte. Da hatten die Grillen gezirpt in der Hüttenmauer, geradeso wie jetzt, und die Mutter hatte ihm übers Gesicht gestrichen mit der Hand, die rauh war von Arbeit und doch so weich: »Schlafe, schlafe Schankelödchen!« Jean-Claude schlief ein.
Um die Pferde herum bewegte sich etwas – waren es Schatten? »Bei mein Gesund, e feines Peerdchen«, wisperte Mohnsam. »Was wird der Herr mir geben dafür, daß ich ihn hab' geführt her?«
Der Fremde im dreieckig aufgekrempten Hut, der vorhin am Galgen getanzt hatte, spuckte verächtlich aus: »Gor neist, du Hund!«
»Nichts, gar nichts? Ich schrei Zeter!«
Der Jude wollte schreien, aber er brachte nichts Lautes heraus, die Hand des Fremden preßte ihm die Gurgel zusammen. Ein Tritt – Moyses Mohnsam fiel um, lag am Boden. Er getraute nicht mehr sich zu rühren und auch nicht zu schreien.
Gewandt band der andere beide Pferde los, auf die Liberté schwang er sich, den Klepper nahm er an den Zügel. Heidi, fort, lautlos – ein Spuk.
An den Häusern von Euren vorbei stob der nächtliche Reiter. Plötzlich scheute das Handpferd.
»So kommste nit weit«, sagte eine Stimme. Keck stand das Weibsbild, mit dem er vorhin getanzt hatte, vor dem Reiter. »Nimm mich mit, laß mich aufsitzen!«
»Wohin willste denn?«
»Zum Hannes Bückler.« Die Bänkelspielerin lachte. »Hab' dich gleich erkannt. Hab' dein Bild angeschlagen gesehen. Jetzt hab' ich dich, Johannes Durchdenwald!« Sie lachte immer übermütiger.
»Schrei nit so!«
»Hab' auch deine Gesellen erkannt, drei waren bei dir. Hab ihnen geholfen beim Hut, bei der Uhr, beim Fazenetle Taschentuch., bei der Geldbörs und was sonst noch da war.«
»Sitz auf!«
Sie schürzte den Rock. An den Sattelknopf fassend, schwang sie sich leicht auf den Klepper. Sie setzte sich wie ein Mann.
»Du gefällst mir. Wo haste 's Reiten her?«
»Von mei'm Schatz, dem französischen Husarenoffizier. Bin mit dem gezogen en ganzes Jahr, auch als Husar.«
»Potz Teufel!« Er sah sie bewundernd an. Hatte sie ihm vorhin schon gefallen am Galgenplatz, daß er sie beim Tanz an sich preßte mit verliebter Glut, so gefiel sie ihm jetzt noch tausendmal mehr. »Wie heißt du?«
»Julie. Bin das Julchen aus Weyerbach. Aber der Hunsrück kann mir nit gefallen, 's zu armselig da. Und zu eintönig. Kennst ja auch die Elendsgegend.«
»Woher weißt du das?« fuhr er sie an.
»Ei je, dat weiß doch ein jeder, wo der Bücklerhannes her is. Frag' jedes Kind nach dem Hannes aus Rastätten – sie kennen dich all!«
Ein eitles Lächeln erschien auf seinem hübschen Gesicht. »Ei ja, sie kennen mich wohl. Der Johannes Durchdenwald schreibt ein klein Briefchen nur, und sie tragen ihm 't Geld in den Wald, wohin er sich 't hat bestellt. Aber weh dem, der ihn angibt!« Drohend sagte er's und sah sie scharf an.
»Ja, du bist fürchterlich!« Sie lachte schelmisch. Dann neigte sie sich zu ihm hinüber und legte den Arm um seinen Hals. »Nimmst du mich zu dir? Mein' Vatter hat man gehängt auf der rechten Rheinseit, meinen Bruder geköppt auf der linken Rheinseit, von meiner Mutter weiß ich nit, ist die auch tot, oder sitzt sie im Spinnhaus. Hannes, du Lieber, paß ich nit zu dir?« Sie schmeichelte sich an ihn.
Er küßte sie entbrannt. Ihre Pferde gingen dicht nebeneinander, so dicht, daß die Leiber sich aneinander rieben. So ritten sie, langsam, ohne Furcht, die ganze Nacht.
War das nicht unerhört, eine Frechheit ganz ohnegleichen? Ein französischer Bursche, der, auf seinen Herrn wartend, mit dessen Pferd an der Eurener Flur hielt, war heruntergerissen worden von dem Begleitpferd, geschlagen, malträtiert; betäubt hatten die Räuber den Armen liegenlassen am Weg, waren mit beiden Pferden entflohen.
Der Jude Moyses Mohnsam aus Bridel war der wichtigste Zeuge, der war in der Nähe vorbeigekommen, hatte die Räuber noch reiten sehen. Als er »zu Hilf« und »Diebe« schrie, hatte noch einer sich umgedreht, sein Pistol nach ihm abgeschossen. Der Schuß hatte des Juden Kopf dicht gestreift. Nun bekam Moyses Mohnsam die für jede Nachricht über den Täter ausgesetzte Belohnung.
Die Belohnung war hoch, der französische Präfekt war in Wut über den an französischem Gut und an einem französischen Soldaten begangenen Frevel. Auch die deutsche Justiz wurde aufgerüttelt, etwas weniger lässig war sie diesmal als sonst. Es wußte ja kein Beamter mehr, ob er lange noch auf seinem Posten verblieb oder kurz, nur ein Zwinkern, ein Wort, vielleicht an sich harmlos, genügte, um mißfällig zu machen; der Posten wurde anderweitig besetzt. Das machte lahm.
Jetzt erließ die Justiz ein Umschreiben. Alle Friedensrichter wurden ersucht, strengste Aufsicht zu führen in ihren Kantonen. Das herrenlose Gesindel witschte behend aus einem Kanton in den anderen, an der Grenze eines jeden hatte die Polizei bisher haltmachen müssen, das Wild nicht verfolgen dürfen auf fremden Jagdrevier. Nun aber sollte einheitlich vorgegangen werden, alle Kantone unter eine Polizeigewalt gestellt sein. Die Banden wurden zu frech, es konnte sich niemand mehr über Land getrauen. Marodeure, dem Heeresdienst entwischt, machten die Straßen unsicher mit ihrem Hunger; holten der Bäuerin die Eier aus dem Stall und die Hühner dazu. Sie tranken der Kuh auf der Weide das Euter leer, und wurde ihnen am einsamen Haus keine Gabe gespendet, so schreckten sie mit Drohungen die Bewohner.
Niemand durfte ohne Paß mehr beherbergt werden. Die Tag- und Nachtwächter waren zu verdoppeln. Die Polizei zu verstärken. Der Erlaß lautete ferner:
»Ein großer Streifzug wird unternommen. Die Teilnehmer haben sich zu versammeln am Duodi, dem 2. Brumaire des Jahres V. der Republik« – dahinter stand in Klammern für die, die den Kalender der Republik noch nicht innehatten: (am 23. Oktober 96 alter Rechnung) – »auf dem Domfreihof, morgens 7 Uhr. Wer sich beteiligen will, kann sich einfinden, Jäger und frühere Militärs sind besonders willkommen. Schießgewehr und Munition werden von der französischen Militäroberbehörde den dafür Haftbaren zur Verfügung gestellt.«
Acht Tage vor dem festgesetzten Termin war die Bekanntmachung des Streifzuges schon an der Domtür angeschlagen gewesen, auch noch am Roten Haus und an den Straßenecken. Aber es fanden sich außer der Polizei nur wenige dumme Jungen ein, die es nach Abenteuern gelüstete. Eine geheime Angst hielt den Bürger zurück.
Bürger Mohr sagte zu Bürger Rentenbach: »Ich holen kein Schießgewehr in die Hand. Denn wer is dat größte Übel? Der Finger könnt einem am Hahnen zucken, dat Gewehr einem losgehen am unrechten Platz.« Vergrämt sahen sich beide Männer verständnisinnig in die Augen. Ach ja, die Zeit war vorbei, in der der Wahlspruch des biederen Trierers zu seinem Recht kam: »Eich ässe gäre gut, eich drinke gäre gut, un dahingegen will ich mein Ruh han.« Man aß nicht mehr gut – es war alles zu teuer. Man trank nicht mehr gut – die Franzosen hatten allen Wein ausgeführt. Und Ruhe kannte man auch nicht mehr. Die Zeit war toll, es stand alles auf dem Kopf, man war selber mit aus den Fugen gegangen wie ein alter Schrank, der das Herumrücken nicht verträgt. – –
Aus der Eulenpütz, dem heimlichen Gäßchen hinter den gewaltigen Dommauern, kam eine geschlichen. Sie trug ein dunkles Tuch überm Haar und hatte das noch tief in die Stirn gezogen. Dem Anzug nach schien sie alt, dem Gang nach jung; der federnde Tritt ließ sich durch absichtliche Verlangsamung nicht verbergen. Sie stand an der Domtür still und studierte lange die Bekanntmachung. Dann ging sie wieder, wie ein geducktes Bettelweib an den Häusern entlang sich drückend.
In der Eulenpütz standen nur ein paar armselige Häuschen, Leute von gutem Ruf wohnten nicht hier. Die Gasse war verrufen, die Wache, die durchpatroullierte, hatte vor nicht allzu lange drin einen Bürgersohn aus gutem Haus gestochen gefunden. Wie das gekommen, das war niemals recht laut geworden, man munkelte nur allerlei; die Untersuchung war niedergeschlagen worden auf Wunsch der einflußreichen Familie, und der junge Mann hatte, kaum genesen, die Stadt verlassen. Ob es wirklich die Franzosen gewesen waren, die ihn überfallen hatten? Es wurde etwas verbreitet von einem Zusammenstoß. –
In der Eulenpütz, in dem niedrigsten Haus ganz im Schatten des Domes, wohnte ein altes Weib mit ihrer Tochter. Das Haus hatte jahrelang leer gestanden, Mäuse und Ratten nur hatten darin herumgefegt und Fledermäuse wie welke Lappen im Sparrenwerk des Dachs gehangen. Die Alte schien nicht sehr wählerisch, war wohl froh, eine Wohnung gefunden zu haben. Die Buzliese war schon viel umhergezogen, hatte zuletzt in Faid an der Mosel gewohnt. Ob sie lange hier geduldet werden würde? Sie verhielt sich ganz still, man sah sie nie, zuweilen nur das Mädchen, das sie für ihre Tochter ausgab, die Buzliesen-Amie. Und dann war noch die Dienstmagd im Haus. Die ging alle Morgen einkaufen und holte das Wasser vom Brunnen, aber wenn die Leute auch freundlich zu ihr reden wollten, denn sie hatte ein hübsches Gesicht und traurige Augen, blieb sie einsilbig.
Heut nacht war's in der Eulenpütz sehr dunkel, nur das rote Laternchen über der Buzliese Tür flimmerte. Herbstregen klatschte nieder, und der Wind trieb noch immer mehr Wolken zusammen. In dem einzigen Raum des Untergeschosses – Hausflur und Stube zugleich – saß die Buzliese in einem Winkel und nickte. Wie Spinnweben hing es über ihr Gesicht, einzelne Haare, lang und grau, hatten sich aus der Haube gestohlen und verschleierten Stirn und Wangen. Die rot geränderten Augen pliierten wie die eines Nachtvogels. Nichts stand von Möbeln in der Leere des Raums als ein Tisch mit zwei Bänken längsseits und an der anderen Wand das Bett der Alten, eine Lagerstätte, die nicht gerade lockte. Das einzig Wohnliche war ein Ohrenstuhl, mit zerschlissener Seide bezogen; drin saß, wie ein Kätzchen zusammengekuschelt, die junge Amie. Am Herd stand die Magd, die Hände ineinandergeschlungen und starrte ins Feuer. In der dunkelsten Ecke der Hinterwand ging eine Falltür hinab in den Keller; nie traf ein Lichtstrahl dorthin. Eine Leiter in der anderen Ecke führte zum Eingang des Obergeschosses; den verschloß eine Falltür.
Die schöne Amie gähnte: heut war wohl niemand zu erwarten, keiner aus der Stadt und auch sonst keiner – konnte sie jetzt nicht zu Bette gehen?
Die Buzliese gab keine Antwort, sie horchte nach außen; verstohlene Tritte, nur dem geübten Ohr vernehmbar, schlichen durch die Eulenpütz. Alle Verschlafenheit war plötzlich von ihr gewichen, durch das Spinnweb des Haares funkelten ihre Augen. Jetzt ein Kratzen an der Tür, wie ein Hündchen kratzt.
»Die Jule! Mach' auf!« fuhr Buzliese die Magd an. Diese schob die schweren Riegel zurück und legte sie dann sogleich wieder vor.
Die Bänkelspielerin stand in der Stube. Jetzt warf sie das verbergende Tuch vom Kopf, richtete sich schlank auf und sagte hastig: »Sie kommen. Placken-Klas, Schmu-Balzer, Schnallen-Joseph, Petronellen-Michel und Husaren-Philipp. Der schwarze Peter und Iltis-Jakob sind auch mit unterwegs.«
»Ist der Hannes auch dabei?« Buzliesen-Amie fragte es hastig. Sie war aus dem Sessel aufgesprungen und strich sich mit beiden Händen das verworrene Gelock hinter die Ohren.
Die Julie blitzte sie zornig an: was ging dieses grüne Ding der Hannes an? Sie würdigte das Mädchen keiner Antwort. »Beim Krämer Kutzbach zu Conz haben sie den Laden geleert. Mehl, Zucker, Würste, Wachslichter, Leinwand, schwere Packen von fein Aachener Tuch und 'ne Masse Schnaps. Sie werden gleich hier sein.«
Buzliese hopste vor Freuden. »Da fällt für mich Hemd und Kleid ab! Feine Masematten! Ist's gut gegangen?«
Julie lachte: »Am Vormittag hab ich im Laden gebettelt. Der Krämer schläft im oberen Stock, nur der Hund unten. Dem hab' ich zu Mittag ein Stück Fleisch geschenkt; heut nacht, als sie den Laden aufbrachen, lag der schon tot. Gemächlich haben sie ausräumen können. Ich hab' Schmiere gestanden.«
»Und is keiner zu Schaden gekommen?«
»Ist der Hannes blessiert?« fuhr Amie dazwischen.
Julie schlug ihr grob ins Gesicht: »Hast dich nit zu kümmern. Der Hannes is mein!« Sie fuhren gegeneinander los.
Buzliese warf sich dazwischen: »Seid ihr ganz toll?«
Amie weinte: »Sie hat mich geschlagen.«
Julie höhnte: »Dir Katz schneidt mer die Krallen!« Wieder packten sie sich.
Da ertönte draußen ein Eulenschrei – das »Kochemloschen« Gauner-Erkennungszeichen..
Die Weiber stießen vereint die Riegel zurück, sie waren alle in Aufregung; nur die Magd verharrte regungslos auf ihrem Platz am Herd. Düsteren Blickes sah sie nach den Männern hin, die jetzt, einer nach dem anderen, schwer bepackt sich durch die halb geöffnete Tür zwängten.
Buzliese war wie von Sinnen, kichernd hopste sie um die Beladenen herum. Sie klatschte in die Hände: »Gut gemacht, gut gemacht, seid brave Jungs!«
Der schwarze Peter, ein Hüne von Kerl, der die langen pechschwarzen Haare in einem Ring unterm Kinn zusammengezogen trug, schmiß mit einem Fluch seinen schweren Packen hin: »Verdammich, dat 's schwer!« Er zog Amie an sich.
Die aber entzog sich ihm, sie hängte ihre Blicke an den jungen Schlanken, der die anderen kommandierte, die ihm willig folgten. Also der Bückler war doch dabei, obgleich die Julie ihn nicht genannt hatte!
Buzliese zündete eine Laterne an und leuchtete den Männern voran in die Ecke. Dort wurde die schwere Falltür gehoben, in den gähnenden Schacht, der sich auftat, wurden die Waren verstaut.
Wenn sie die Falltür nun zuwarf, die Räuber drunten gefangennähme – Buzliese und Julie waren auch mit hinuntergestiegen – wenn sie dann liefe und die Wache holte? Für einen Augenblick schoß das der Magd am Herd durch den Kopf. Mit der Amie hier würde sie schon fertig werden, die zu überwältigen war nicht schwer. Es riß die Magd förmlich zur Falltür hin, ihre Nägel bohrten sich in die Innenfläche der geballten Hände, sie stöhnte laut auf: nur sich losmachen, fliehen aus diesem Haus, nicht mehr wissen von dem Stehlen und Hehlen hier! Mit einem schweren Blick sah sie an sich herunter: war sie nicht auch schon schmutzig geworden? Wenn sie doch fliehen könnte! Aber sie hatte kein Geld, und der Weg war weit, und die Buzliese gab Obacht allezeit. Und wenn sie nachts schlief in dem Speicherloch, oben im Giebel, schloß die Alte sie ein, und die Leiter, die von der Falltür nach unten führte, wurde weggezogen.
Die Männer waren wieder heraufgestiegen. Buzliesen-Amie saß jedem derselben einmal auf dem Schoß und schlang ihm den Arm um den Nacken. Sie saßen alle am Tisch; ihre Gesichter waren noch geschwärzt und dadurch unkenntlich gemacht; die Halsbinden hatten sie bis übers Kinn heraufgezogen. Sie tranken von dem gestohlenen Schnaps.
»Komm her!« sagte der junge Anführer zu der Magd am Herd und hielt, ihr lachend zunickend, sein Glas hin. »Trinke auch emal!«
»Ich trink keinen Schnaps.«
Die anderen schlugen ein Hohngelächter auf. Das Julchen, das dicht beim Hannes saß, nahm das volle Glas und schüttete es sich herunter auf einen Guß.
Das war eine! So muß des freien Mannes freie Braut sein! Im Wald, in der Finsternis verlassener Köhlerhütten, in den Erdlöchern, in denen man zuweilen hauste, brauchte man eine, in deren Schoß man sein Haupt betten konnte. Sie war auch nicht bang, und schlau wie ein Fuchs und flink wie ein Wiesel! Es richteten sich begehrliche Blicke auf Julie Bläsius aus Weyerbach. Wäre der Hannes nicht der Hauptmann gewesen, sie hätten ihm das Weibsbild streitig gemacht.
Nur Iltis-Jakob prahlte: er hatte daheim eine so schöne Frau, daß der Richter, der ihn letzthin einmal eingelocht hatte wegen Diebstahl, ihn laufen ließ, als die Anne zu ihm gegangen war.
Die Augen des schwarzen Peters, die so schwarz waren wie seine Mähne, funkelten. Er kannte des Iltis-Jakob Weib, aber er schwieg. Hatte sie doch zu ihm gesagt, als sie ihn besuchte in seiner Köhlerhütte: »Schweig aber, er schlägt dich sonst tot!«
Schnallen-Joseph war nicht so klug, der Junge war eitel; er schob Amie von sich, die auf seinen Knien saß. Auch er kannte die schöne Anne, und er tat noch groß in der Erinnerung: »Hei, die war schön, schöner als jede andere, die ich je im Arm gehabt! Hei, die –«
Ein furchtbarer Schlag traf ihn ins Gesicht. Das Wasser schoß ihm aus den Augen, er konnte nichts mehr sehen, er stürzte hintenüber.
Mit einem Brüllen hatte sich Iltis-Jakob auf ihn geworfen, er kniete schwer auf der Brust des am Boden Liegenden. Schon hatte Schnallen-Joseph des Eifersüchtigen Messer in der Kehle.
Gellend schrien die Weiber auf. Vergebens befahl der Hauptmann Ruhe. Allgemeiner Tumult. Die Bänke stürzten um, der Tisch, die Gläser klirrten zu Boden.
Entsetzt und doch von Genugtuung erfüllt, beugte sich die junge Amie über den Hingestreckten. Sie starrte in sein gänzlich verändertes, stieres Gesicht und schüttelte sich: der war wohl tot? Ihre Fußspitze stieß ihn in die Seite: geschah ihm ganz recht, warum hatte er des Iltis-Jakob Weib schöner gefunden!
Die Buzliese jammerte: Weh, das gab Lärm! Wohin mit dem Toten? Sie schlug ein Kreuz. Man mußte ihn vor die Türe tragen, weiter weg in einen Winkel legen. Kam die Wache etwa schon? Maria Joseph!
Man hörte das Tuten des Nachtwächters. Ein anderer antwortete ihm. Seit die Zeiten unsicher waren, ging die Wache immer verstärkt und gut bewaffnet. Horch, Tritte auf dem holprigen Pflaster! Sie waren in die Eulenpütz eingebogen. Man hatte den Todesschrei draußen gehört.
Geschwind pustete Buzliese das Licht auf dem Tisch aus, nur die Flammen auf dem Herd gaben noch gespenstischen Schein, sie waren so rasch nicht zu verlöschen. Die Alte drängte Amie und Julie zur Leiter: nach oben! Die Leiter wurde weggenommen. Die Männer zogen die Pistolen heraus. Die Augen des schwarzen Peters funkelten wild, er schmeckte schon Blut auf der Zunge. Die sollten nur kommen! Niedergeknallt, niedergestochen, über den Haufen gerannt. Man würde sich schon durchschlagen in die nächtlichen Gärten.
Tritte hielten an vorm Haus, man hörte Stimmen. Eine Faust pochte an: »Aufgemacht!«
Bückler fühlte sich plötzlich an der Hand gefaßt, das Mädchen vom Herd riß ihn mit sich fort. Er fühlte sich in die dunkle Ecke zur Falltür gezogen, und er ließ sich ziehen. Er war der einzige, in dem nicht Kampflust brannte; noch war er benommen vom Tod des Schnallen-Joseph. Der arme Jung'! Verdammte Herberge, nie wieder so zwischen die Mauern!
Die Magd stieß ihn vor sich die Leiter hinab; nun schloß sie von innen die Falltür. Finsternis, Totenstille. Von oben nichts mehr zu hören. Eilends kletterten sie weiter die Leiter hinab. Jetzt stolperten sie zwischen den vorhin hier abgeworfenen Packen, aber das Mädchen verweilte sich nicht, es hatte die Hand des Mannes gefaßt, zog ihn immer weiter.
»Wohin führst du mich?« Sie antwortete nicht. Für einen Augenblick stieg Argwohn in Bückler auf: die konnte sich Fanggeld verdienen wollen, ihn irgendwo hinunterstoßen in ein tiefes Loch. Aber dann lächelte er: ach, Mädchen sind sich alle gleich, er brauchte sich nicht zu fürchten. Schmeichelnd zog er sie an sich; er fühlte ein Widerstreben, aber ihr Atem ging rasch. Mit der einen Hand wehrte sie ihm, mit der anderen führte sie ihn. Jetzt rannte er den Kopf gegen Mauerwerk, die Luft wurde eng.
»Bückt Euch,« sprach endlich das Mädchen, »hier ist der Gang halb verschütt'.«
Er wäre mehr als einmal gestürzt, hätte die starke Hand der Führerin ihn nicht gehalten. Ein Strom von Wärme ging von der Hand aus, eine Wärme, die ihm Sicherheit verhieß. Wo er war, konnt er nicht sehen – sie stolperten über allerlei Hindernisse – aber er fühlte nasses Mauerwerk, Mörtel, Steinbrocken. Bald ging es sich leichter, aber immer war ein modriger Dunst. Wie lange sie schon so tappten, wußte er nicht, willenlos ließ er sich führen.
»Ich bin hier noch nie bis zu End gegangen, hab' mich immer gefürcht – heut fürcht ich mich nit.« Sie sagte offen, was sie empfand. In Maria Nikolai war etwas von stolzer Freude: was hatten die beiden anderen vermocht, die Julie und die Amie? Sie allein war die, die ihn rettete. Sie wußte wohl, hinter dem Bückler war man scharf her, schon seit Jahresfrist wurde er das Haupt aller Banden genannt, aber so schlimm war der gar nicht, er hatte ein hübsches Gesicht und ein so freundliches Lächeln.
»Hast dich gestoßen?« fragte er zärtlich. Er fühlte ein Zucken in ihrer Hand.
Es tat ihr wohl, daß er so fragte, lange hatte sich niemand um sie gekümmert. Zärtlichkeit war sie nicht gewohnt; unbewußt drückte sie seine Hand fester. Und dann wies sie vorwärts mit einem frohen und lauten Lachen – bisher hatten sie nur zu flüstern gewagt –: »Kuckt da!« Zwischen Schutt und Geröll dämmerte eine kleine matte Helle. Wie ein bleicher Stern schimmerte es ihnen in der Finsternis. »Eweil müssen mir bald eraus sein!«
Neu belebt tappten sie weiter, zuletzt mußten sie noch auf allen vieren kriechen, dann aber war es mit einemmal weit und hoch. Sie standen draußen, aber nicht unter freiem Himmel, über ihnen wölbte sich hoch eine Kuppel. Sie standen im Dom. Hinterm Altar einer Seitenkapelle traten sie hervor. Es ging gegen den Morgen. Durch das bunte Glas eines uralten Fensters fiel mattes Dämmern.
Sie sahen sich an; sie waren blaß und verstaubt. Aber das Mädchen lachte glücklich: »Diesmal seid Ihr davongekommen. Mir verstecken uns da im Beichtstuhl. Und wenn die Franzosen aufschließen, sie holen alle Morgen Futter für ihre Peerd im Dom, dann witscht Ihr eraus.«
Er mußte auch lachen; es klang übermütig in der hallenden Kirche, einen gelungeneren Spaß hatte selbst er kaum erlebt. Aber dann fiel ihm ein: wo waren die anderen, waren sie auch glücklich davongekommen? Und Julie Bläsius?
»Ihr seid gerettet!« Sie stand ihm gegenüber, die Arme über dem Mieder gekreuzt, jung, stark, gesund; ein schönes Landmädchen. Ein Begehren kam ihm. Sie waren allein, zwischen den strebenden Pfeilern von Stein, so allein wie zwischen den Bäumen im Wald – er streckte die Hand nach ihr. Er war sich seiner Siege bei den Weibern bewußt; nun packte er sie. Da gab sie ihm einen so starken Stoß, daß er rückwärts taumelte. Ganz verdutzt sah er drein: die wollte ihn nicht.