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Von einem Rand zum anderen durchquert die Untergrundbahn eine große Stadt. Die ab- und zunehmenden Entfernungen zwischen den Stationen verleihen ihrer Fahrt den Rhythmus. In einem der Waggons attackiert »ein wilder Mann« die wechselnden Fahrgäste mit Worten: »Und schon wieder ihr. Und schon wieder muß ich mit euch zusammensein. Halleluja. Miserere. Ebbe ohne Flut. Ihr verdammten Unvermeidlichen ...« Niemand antwortet. Erst als »eine wilde Frau« erscheint, verändert sich das Spiel.
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Seitenzahl: 66
Peter Handke
Untertagblues
Ein Stationendrama
Suhrkamp Verlag
Personen
EIN WILDER MANN
EINE WILDEFRAU
ETLICHEZU- UNDAUSSTEIGENDE
Die Zahl der Stationen ist keineswegs obligatorisch. Es können auch mehr ‒ oder weniger ‒ Stationen bzw. Szenen werden. Zu beachten vielleicht, daß die Abstände zwischen den Einzelstationen am Anfang und am Ende länger sind als im Mittelteil, wie das beim Durchqueren einer Metropole von einer Peripherie zur andern eben die Regel ist.
Die Anfangsstation. Jede der Stationen hat mindestens zwei Namen; manche haben drei oder vier. Diese heißt zum BeispielOUHABIA‒TERUEL ‒ELALAMEIN. Die Metro oder die Untergrundbahn steht schon da und wartet, leer, hell, mit offenen Türen. Zu sehen ist nur einer der Waggons oder auch bloß ein Teil von diesem, welcher die ganze vordere Szene einnimmt. Die Waggonwand hin zum Zuschauerraum fehlt, oder verläuft unsichtbar in dessen ersten Reihen? Die Waggonhinterwand, mit offenen Türen, ist nah an der Rampe. Zwischen dieser und der Waggonhinterwand ist gerade Platz für eine von den zwei, drei Ein- und Ausstiegstüren unterbrochene Sitzreihe und vielleicht ein paar Haltestangen. Als erster betritt den Waggon ‒ das muß nicht durch eine der Türen, kann auch irgendwie von der Seite geschehen ‒ derVOLKSREDNERoderWILDE MANNoderSPIELVERDERBERoderVOLKSFEIND, oder was auch immer er darstellt. Er setzt sich nicht, geht vielmehr wie zur Probe auf der unterirdischen Szene auf und ab, bewegt lautlos und zugleich deutlich rhythmisch die Lippen, summt und stimmt sich ein. Schließlich bleibt er an einer der Haltestangen stehen und lehnt sich da an, verschränkt die Arme: auch das wie zur Probe. Bald schon haben auch andere Passagiere den Schauplatz betreten. Es sind zunächst wenige. Die Anfangsstation liegt ‒ wie die Endstation später ‒ weit draußen irgendwo. Die paar Leute haben sich gesetzt, stumm, mit den Gesichtern zu uns Zuschauern. Das Abfahrtssignal. Türenschließen, wie in Stereo. Die Fahrt geht los. Die Bewegung nur angedeutet und umso spürbarer. Die Fahrtgeräusche so minimal wie intensiv, ein zwischendurch leicht variierter Unterton. Einzig das überhelle Wagenlicht, mit dessen Widerschein an den Schachtwänden. Nach einer langen Pause unvermittelt ‒
DER WILDEMANN
Und schon wieder ihr. Und schon wieder muß ich mit euch zusammen sein. Halleluja. Miserere. Ebbe ohne Flut. Ihr verdammten Unvermeidlichen. Wärt ihr wenigstens Übeltäter. Nichts da: ohne eine spezielle Übeltat seid ihr das Übel der Übel. Erlöse mich von eurem Übel. Mach mich die Leute da meiden. Einmal wenigstens, wenigstens für einen Augenblick. Himmlisch stelle ich mir den vor, himmlisch. Kaum aus dem Zimmer, muß ich schon mitten unter euch sein. Kaum aus der Tür getreten, bin ich gezwungen, mich in eurer Gesellschaft zu bewegen. In eurer Gesellschaft? In eurer Unnatur. Warum bin ich nicht hoch auf dem Anapurna oder wenigstens auf dem Mount McKinley statt mit euch in dieser stickigen Tiefe? Andrerseits tretet ihr ja auf dem Himalaya und in Alaska inzwischen noch geballter auf als hier im Untergrund. Auf Schritt und Tritt kreuzt ihr meine Wege. Ihr durchkreuzt sie, mit eurer gottsjämmerlichen und von allen guten und insbesondere schönen Geistern verlassenen Unnatur. Augenblicklich, mit meinem ersten Schritt draußen im sogenannten Freien, schneidet ihr mir auf Teufel komm raus den Weg ab. Und das nicht einmal in böser Absicht: ihr Zeitgenossen könnt gar nicht mehr anders. Einem die Wege abzuschneiden, ihm den Vortritt zu rauben, ihm die Vorfahrt zu stehlen, das ist euch inzwischen im Blut. Ihr seid die Wegelagerer. Mir? Der Bevölkerung. Oder dem, was davon übrig ist. Verstanden? Geht das in eure schandbar häßlichen Schädel? Herrje: Warum bloß bin ich nicht zuhause geblieben, in meinem Zimmer, allein? Was für eine Fernsicht dort, auch wenn der Blick nur auf eine Dachrinne geht. Was für eine Perspektive von meinem Sessel aus, auch wenn sie in ein Astloch mündet. Andrerseits: Allein im Zimmer ‒ noch eins schlimmer. Zuhausebleiben, ich? Ich? Nein, ihr gehört nachhause, ihr. Warum bleibt ihr nicht endlich einmal vollzählig und ganztägig in euren Löchern und Unterschlupfen? In die toten Winkel mit euch. Die toten Winkel sind euch angemessen, und man müßte euch so auch endlich nicht mehr vor Augen haben, nimmermehr, ah, nimmermehr. Erlöst mich von eurem Anblick. ‒ Habe ich Anblick gesagt? ‒ Unterwegs habt ihr doch nichts mehr zu suchen, nichts über der Erde, und unter der Erde genauso nichts. Im Freien unterwegs zu sein, dazu habt ihr jedes Recht verloren. Fernsichtverhinderer, Perspektivenverdränger, Zwischenraumersticker: Weg mit euch von den Straßen und Plätzen. Macht euch ungeschehen. Was hast du, und du, und du da, auf der Erde denn noch zu suchen? Auf einen anderen Planeten mit euch. Planeten? Auf den Unstern mit euch, wo ihr hingehört. Oder wenigstens weg mit euch auf die Malediven, die Seychellen, die Antillen, die Aleuten, nach Hawaii, nach Las Vegas, nach Kenia, nach L. A., nach Marrakesch, Tanger, New Orleans und zu den Victoria- und den Niagara-Fällen, ohne Wiederkehr. Zieht euch aus dem Verkehr, besonders du da mit deinem Rundschädel, und genauso du da mit deinen angewachsenen Ohrläppchen, und du mit deinem Kettenraucherröcheln, und du dort mit deinem speziellen getesteten Undergroundparfum. Zieht euch aus dem Verkehr. Macht euch ungeschehen und ungeboren. Oder macht euch um des Himmels und der Erde willen wenigstens unsichtbar. Laßt euch nicht mehr hören und nicht riechen. Mir aus den Augen, den Ohren und aus den Nasenlöchern. Ich zittere? Ja, ich zittere. Ich zittere vor euch? Ja, ich zittere vor euch. Zittere ich vor euch aus Ehrfurcht und Hochachtung? Schön wär's. So zittern würde ich vor euch, wenn ihr Könige, Bauern und Arbeiter wärt. Aber nichts mehr an euch erinnert an Arbeiter, an Bauer, an König. Zittere ich vor euch aus Mitgefühl? Gut wär's, und es war einmal. Ich zittere, ich bebe, ich erbebe, und es schüttelt mich. Es rüttelt mich, aber das kommt nicht vom Fahren. Es schaudert mich vor euch. Aber dieser Schauder ist nicht mehr, wie einst einmal, mein bester Teil. Ich stehe hier und kann nicht anders als mich vor eurer Gesellschaft de profundis zu ekeln, von der Station Alpha bis zur Station Omega. Purer Widerwille vor eurer aufgeplusterten Leibhaftigkeit. Pur? Vorher aussteigen? Kommt nicht in Frage. Ich bleibe mit euch Rauchkringelbläsern und Klickmausgestalten bis ans Ende der Linie, bis Barnet, Tetuan, Kumanovo, bis zur Via Flaminia, bis Jasnaja Poljana, bis Mar Girgis und Heluan, oder wie die Stationen auch heißen. Ich bleibe bei euch bis Mitternacht, Ostern, zur Baumwollernte, zum letzten Schnee. Denn immerhin keiner hier unten, den ich kenne. Immerhin kein bekanntes Gesicht. Wenigstens Unbekannte. Ich freue mich auf unsere Fahrt.
DER WILDEMANNhat das fast durchgehend in einem Tonfall von Heiterkeit geäußert, in einem klaren Singsang. Seine Mitpassagiere waren dabei, wie sie waren; saßen, wie sie saßen; taten, was sie eben taten: Lesen, Kopfwenden, Mobiltelefonabhören, usw. Vielleicht nahmen sie den Redner zwischendurch auch wahr, blickten kurz zu ihm auf, usw. Aber sie schienen ihn höchstens momentweise zu hören. Und so wird es auch auf den folgenden Fahr- und Redestationen bleiben, bei ihnen wie auch bei den später dazukommenden Passagieren. Angedeutete Ankunft jetzt in der Zweiten Station. Ein Fahrgast steigt vielleicht aus, zwei, drei neue kommen in der Szene dazu, setzen sich. Name der Station etwa:PORT ROYAL IN DEN FELDERN / VEN-SAM-DIM?
Nächste Fahrtstrecke, leicht variiert. Nach einer Blick-, Atem- und Einstimmpause (durch Summen) gehtDER WILDEMANNweiter im Text:
DER WILDEMANN