Unzeitgemäße Betrachtungen - Friedrich Nietzsche - E-Book

Unzeitgemäße Betrachtungen E-Book

Friedrich Nietzsche

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Beschreibung

Nietzsches Unzeitgemässe Betrachtungen sind vor allem kulturkritische Schriften und thematisch nicht so weit gefächert wie die späteren, durchgängig philosophischen Werke Nietzsches. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben bildet hierbei keine Ausnahme. Nietzsche nähert sich dem Thema aber von unterschiedlichen Seiten. So berührt er, wenn er sich mit den Möglichkeiten der Geschichtswissenschaft auseinandersetzt, die Themen Geschichtsphilosophie und Wissenschaftstheorie. Friedrich Nietzsche (1844-1900) war ein deutscher klassischer Philologe. Den jungen Nietzsche beeindruckte besonders die Philosophie Schopenhauers. Später wandte er sich von dessen Pessimismus ab und stellte eine radikale Lebensbejahung in den Mittelpunkt seiner Philosophie. Sein Werk enthält scharfe Kritiken an Moral, Religion, Philosophie, Wissenschaft und Formen der Kunst. Die zeitgenössische Kultur war in seinen Augen lebensschwächer als die des antiken Griechenlands. Wiederkehrendes Ziel von Nietzsches Angriffen ist vor allem die christliche Moral sowie die christliche und platonistische Metaphysik. Er stellte den Wert der Wahrheit überhaupt in Frage und wurde damit Wegbereiter postmoderner philosophischer Ansätze. Auch Nietzsches Konzepte des "Übermenschen", des "Willens zur Macht" oder der "ewigen Wiederkunft" geben bis heute Anlass zu Deutungen und Diskussionen.

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Friedrich Nietzsche

Unzeitgemäße Betrachtungen

David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Schopenhauer als Erzieher, Richard Wagner in Bayreuth
e-artnow, 2018 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-268-5975-8

Inhaltsverzeichnis

Erstes Stück David Strauß. Der Bekenner und der Schriftsteller
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Zweites Stück Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben
Vorwort
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Drittes Stück Schopenhauer als Erzieher
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Viertes Stück Richard Wagner in Bayreuth
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Erstes Stück David Strauß. Der Bekenner und der Schriftsteller

Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

Die öffentliche Meinung in Deutschland scheint es fast zu verbieten, von den schlimmen und gefährlichen Folgen des Krieges, zumal eines siegreich beendeten Krieges zu reden: um so williger werden aber diejenigen Schriftsteller angehört, welche keine wichtigere Meinung als jene öffentliche kennen und deshalb wetteifernd beflissen sind, den Krieg zu preisen und den mächtigen Phänomenen seiner Einwirkung auf Sittlichkeit, Kultur und Kunst jubilierend nachzugehen. Trotzdem sei es gesagt: ein großer Sieg ist eine große Gefahr. Die menschliche Natur erträgt ihn schwerer als eine Niederlage; ja es scheint selbst leichter zu sein, einen solchen Sieg zu erringen, als ihn so zu ertragen, daß daraus keine schwerere Niederlage entsteht. Von allen schlimmen Folgen aber, die der letzte mit Frankreich geführte Krieg hinter sich dreinzieht, ist vielleicht die schlimmste ein weitverbreiteter, ja allgemeiner Irrtum: der Irrtum der öffentlichen Meinung und aller öffentlich Meinenden, daß auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe und deshalb jetzt mit den Kränzen geschmückt werden müsse, die so außerordentlichen Begebnissen und Erfolgen gemäß seien. Dieser Wahn ist höchst verderblich: nicht etwa weil er ein Wahn ist – denn es gibt die heilsamsten und segensreichsten Irrtümer – sondern weil er imstande ist, unseren Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des »deutschen Reiches«.

Einmal bliebe immer, selbst angenommen, daß zwei Kulturen miteinander gekämpft hätten, der Maßstab für den Wert der siegenden ein sehr relativer und würde unter Verhältnissen durchaus nicht zu einem Siegesjubel oder zu einer Selbstglorifikation berechtigen. Denn es käme darauf an, zu wissen, was jene unterjochte Kulturwert gewesen wäre: vielleicht sehr wenig: in welchem Falle auch der Sieg, selbst bei pomphaftestem Waffenerfolge, für die siegende Kultur keine Aufforderung zum Triumphe enthielte. Andererseits kann, in unserem Falle, von einem Siege der deutschen Kultur aus den einfachsten Gründen nicht die Rede sein: weil die französische Kultur fortbesteht wie vorher, und wir von ihr abhängen wie vorher. Nicht einmal an dem Waffenerfolge hat sie mitgeholfen. Strenge Kriegszucht, natürliche Tapferkeit und Ausdauer, Überlegenheit der Führer, Einheit und Gehorsam unter den Geführten, kurz Elemente, die nichts mit der Kultur zu tun haben, verhalfen uns zum Siege über Gegner, denen die wichtigsten dieser Elemente fehlten: nur darüber kann man sich wundern, daß das, was sich jetzt in Deutschland »Kultur« nennt, so wenig hemmend zwischen diese militärischen Erfordernisse zu einem großen Erfolge getreten ist, vielleicht nur, weil dieses Kultur sich nennende Etwas es für sich vorteilhafter erachtete, sich diesmal dienstfertig zu erweisen. Läßt man es heranwachsen und fortwuchern, verwöhnt man es durch den schmeichelnden Wahn, daß es siegreich gewesen sei, so hat es die Kraft, den deutschen Geist, wie ich sagte, zu exstirpieren – und wer weiß, ob dann noch etwas mit dem übrig bleibenden deutschen Körper anzufangen ist!

Sollte es möglich sein, jene gleichmütige und zähe Tapferkeit, welche der Deutsche dem pathetischen und plötzlichen Ungestüm des Franzosen entgegenstellte, gegen den inneren Feind, gegen jene höchst zweideutige und jedenfalls unnationale »Gebildetheit« wachzurufen, die jetzt in Deutschland, mit gefährlichem Mißverstande, Kultur genannt wird: so ist nicht alle Hoffnung auf eine wirkliche echte deutsche Bildung, den Gegensatz jener Gebildetheit, verloren: denn an den einsichtigsten und kühnsten Führern und Feldherrn hat es den Deutschen nie gemangelt – nur daß diesen oftmals die Deutschen fehlten. Aber ob es möglich ist, der deutschen Tapferkeit jene neue Richtung zu geben, wird mir immer zweifelhafter und, nach dem Kriege, täglich unwahrscheinlicher; denn ich sehe, wie jedermann überzeugt ist, daß es eines Kampfes und einer solchen Tapferkeit gar nicht mehr bedürfe, daß vielmehr das meiste so schön wie möglich geordnet und jedenfalls alles, was not tut, längst gefunden und getan sei, kurz daß die beste Saat der Kultur überall teils ausgesät sei, teils in frischem Grün und hier und da sogar in üppiger Blüte stehe. Auf diesem Gebiete gibt es nicht nur Zufriedenheit; hier gibt es Glück und Taumel. Ich empfinde diesen Taumel und dieses Glück in dem unvergleichlich zuversichtlichen Benehmen der deutschen Zeitungsschreiber und Roman-, Tragödien-, Lied- und Historienfabrikanten: denn dies ist doch ersichtlich eine zusammengehörige Gesellschaft, die sich verschworen zu haben scheint, sich der Muße- und Verdauungsstunden des modernen Menschen, das heißt seiner »Kulturmomente« zu bemächtigen und ihn in diesen durch bedrucktes Papier zu betäuben. An dieser Gesellschaft ist jetzt, seit dem Kriege, alles Glück, Würde und Selbstbewußtsein: sie fühlt sich, nach solchen »Erfolgen der deutschen Kultur«, nicht nur bestätigt und sanktioniert, sondern beinahe sakrosankt, spricht deshalb feierlicher, liebt die Anrede an das deutsche Volk, gibt nach Klassiker-Art gesammelte Werke heraus und proklamiert auch wirklich in den ihr zu Diensten stehenden Weltblättern einzelne aus ihrer Mitte als die neuen deutschen Klassiker und Musterschriftsteller. Man sollte vielleicht erwarten, daß die Gefahren eines derartigen Mißbrauchs des Erfolges von dem besonneneren und belehrteren Teile der deutschen Gebildeten erkannt, oder daß mindestens das Peinliche des gegebenen Schauspieles gefühlt werden müßte: denn was kann peinlicher sein, als zu sehen, daß der Mißgestaltete gespreizt wie ein Hahn vor dem Spiegel steht und mit seinem Bilde bewundernde Blicke austauscht. Aber die gelehrten Stände lassen gern geschehn, was geschieht, und haben selbst genug mit sich zu tun, als daß sie die Sorge für den deutschen Geist noch auf sich nehmen könnten. Dazu sind ihre Mitglieder mit dem höchsten Grade von Sicherheit überzeugt, daß ihre eigene Bildung die reifste und schönste Frucht der Zeit, ja aller Zeiten sei, und verstehn eine Sorge um die allgemeine deutsche Bildung deshalb gar nicht, weil sie bei sich selbst und den zahllosen Ihresgleichen über alle Sorgen dieser Art weit hinaus sind. Dem sorgsameren Betrachter, zumal wenn er Ausländer ist, kann es übrigens nicht entgehen, daß zwischen dem, was jetzt der deutsche Gelehrte seine Bildung nennt, und jener triumphierenden Bildung der neuen deutschen Klassiker ein Gegensatz nur in Hinsicht auf das Quantum des Wissens besteht: überall wo nicht das Wissen, sondern das Können, wo nicht die Kunde, sondern die Kunst in Frage kommt, also überall, wo das Leben von der Art der Bildung Zeugnis ablegen soll, gibt es jetzt nur eine deutsche Bildung – und diese sollte über Frankreich gesiegt haben?

Diese Behauptung erscheint so völlig unbegreiflich: gerade in dem umfassenderen Wissen der deutschen Offiziere, in der größeren Belehrtheit der deutschen Mannschaften, in der wissenschaftlicheren Kriegführung ist von allen unbefangenen Richtern und schließlich von den Franzosen selbst der entscheidende Vorzug erkannt worden. In welchem Sinne kann aber noch die deutsche Bildung gesiegt haben wollen, wenn man von ihr die deutsche Belehrtheit sondern wollte? In keinem: denn die moralischen Qualitäten der strengeren Zucht, des ruhigeren Gehorsams haben mit der Bildung nichts zu tun und zeichneten zum Beispiel die mazedonischen Heere den unvergleichlich gebildeteren Griechenheeren gegenüber aus. Es kann nur eine Verwechslung sein, wenn man von dem Siege der deutschen Bildung und Kultur spricht, eine Verwechselung, die darauf beruht, daß in Deutschland der reine Begriff der Kultur verlorengegangen ist.

Kultur ist vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes. Vieles Wissen und Gelernthaben ist aber weder ein notwendiges Mittel der Kultur, noch ein Zeichen derselben und verträgt sich nötigenfalls auf das beste mit dem Gegensatze der Kultur, der Barbarei, das heißt: der Stillosigkeit oder dem chaotischen Durcheinander aller Stile.

In diesem chaotischen Durcheinander aller Stile lebt aber der Deutsche unserer Tage: und es bleibt ein ernstes Problem, wie es ihm doch möglich sein kann, dies bei aller seiner Belehrtheit nicht zu merken und sich noch dazu seiner gegenwärtigen »Bildung« recht von Herzen zu freuen. Alles sollte ihn doch belehren: ein jeder Blick auf seine Kleidung, seine Zimmer, sein Haus, ein jeder Gang durch die Straßen seiner Städte, eine jede Einkehr in den Magazinen der Kunstmodehändler; inmitten des geselligen Verkehrs sollte er sich des Ursprunges seiner Manieren und Bewegungen, inmitten unserer Kunstanstalten, Konzert-, Theater- und Musenfreuden sich des grotesken Neben- und Übereinander aller möglichen Stile bewußt werden. Die Formen, Farben, Produkte und Kuriositäten aller Zeiten und aller Zonen häuft der Deutsche um sich auf und bringt dadurch jene moderne Jahrmarkts-Buntheit hervor, die seine Gelehrten nun wiederum als das »Moderne an sich« zu betrachten und zu formulieren haben; er selbst bleibt ruhig in diesem Tumult aller Stile sitzen. Mit dieser Art von »Kultur«, die doch nur eine phlegmatische Gefühllosigkeit für die Kultur ist, kann man aber keine Feinde bezwingen, am wenigsten solche, die, wie die Franzosen, eine wirkliche, produktive Kultur, gleichviel von welchem Werte, haben, und denen wir bisher alles, meistens noch dazu ohne Geschick, nachgemacht haben.

Hätten wir wirklich aufgehört, sie nachzuahmen, so würden wir damit noch nicht über sie gesiegt, sondern uns nur von ihnen befreit haben: erst dann, wenn wir ihnen eine originale deutsche Kultur aufgezwungen hätten, dürfte auch von einem Triumphe der deutschen Kultur die Rede sein. Inzwischen beachten wir, daß wir von Paris nach wie vor in allen Angelegenheiten der Form abhängen – und abhängen müssen: denn bis jetzt gibt es keine deutsche originale Kultur.

Dies sollten wir alle von uns selbst wissen: zudem hat es einer von den wenigen, die ein Recht hatten, es im Tone des Vorwurfs den Deutschen zu sagen, auch öffentlich verraten. »Wir Deutsche sind von gestern« sagte Goethe einmal zu Eckermann, »wir haben zwar seit einem Jahrhundert ganz tüchtig kultiviert, allein es können noch ein paar Jahrhunderte hingehen, ehe bei unseren Landsleuten so viel Geist und höhere Kultur eindringe und allgemein werde, daß man von ihnen wird sagen können, es sei lange her, daß sie Barbaren gewesen.«

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Inhaltsverzeichnis

Wenn aber unser öffentliches und privates Leben so ersichtlich nicht mit dem Gepräge einer produktiven und stilvollen Kultur bezeichnet ist, wenn noch dazu unsere großen Künstler diese ungeheure und für ein begabtes Volk tief beschämende Tatsache mit dem ernstesten Nachdruck und mit der Ehrlichkeit, die der Größe zu eigen ist, eingestanden haben und eingestehen, wie ist es dann doch möglich, daß unter den deutschen Gebildeten trotzdem die größte Zufriedenheit herrscht: eine Zufriedenheit, die, seit dem letzten Kriege, sogar fortwährend sich bereit zeigt, in übermütiges Jauchzen auszubrechen und zum Triumphe zu werden. Man lebt jedenfalls in dem Glauben, eine echte Kultur zu haben: der ungeheure Kontrast dieses zufriedenen, ja triumphierenden Glaubens und eines offenkundigen Defektes scheint nur noch den Wenigsten und Seltensten überhaupt bemerkbar zu sein. Denn alles, was mit der öffentlichen Meinung meint, hat sich die Augen verbunden und die Ohren verstopft – jener Kontrast soll nun einmal nicht dasein. Wie ist dies möglich? Welche Kraft ist so mächtig, ein solches »soll nicht« vorzuschreiben? Welche Gattung von Menschen muß in Deutschland zur Herrschaft gekommen sein, um so starke und einfache Gefühle verbieten oder doch ihren Ausdruck verhindern zu können? Diese Macht, diese Gattung von Menschen will ich bei Namen nennen – es sind die Bildungsphilister.

Das Wort Philister ist bekanntlich dem Studentenleben entnommen und bezeichnet in seinem weiteren, doch ganz populären Sinne den Gegensatz des Musensohnes, des Künstlers, des echten Kulturmenschen. Der Bildungsphilister aber – dessen Typus zu studieren, dessen Bekenntnisse, wenn er sie macht, anzuhören jetzt zur leidigen Pflicht wird – unterscheidet sich von der allgemeinen Idee der Gattung »Philister« durch einen Aberglauben: er wähnt selber Musensohn und Kulturmensch zu sein; ein unbegreiflicher Wahn, aus dem hervorgeht, daß er gar nicht weiß, was der Philister und was sein Gegensatz ist: weshalb wir uns nicht wundern werden, wenn er meistens es feierlich verschwört, Philister zu sein. Er fühlt sich, bei diesem Mangel jeder Selbsterkenntnis, fest überzeugt, daß seine »Bildung« gerade der satte Ausdruck der rechten deutschen Kultur sei: und da er überall Gebildete seiner Art vorfindet und alle öffentlichen Institutionen, Schul-, Bildungs- und Kunstanstalten gemäß seiner Gebildetheit und nach seinen Bedürfnissen eingerichtet findet, so trägt er auch überallhin das siegreiche Gefühl mit sich herum, der würdige Vertreter der jetzigen deutschen Kultur zu sein, und macht dementsprechend seine Forderungen und Ansprüche. Wenn nun die wahre Kultur jedenfalls Einheit des Stiles voraussetzt, und selbst eine schlechte und entartete Kultur nicht ohne die zur Harmonie eines Stiles zusammenlaufende Mannigfaltigkeit gedacht werden darf, so mag wohl die Verwechslung in jenem Wahne des Bildungsphilisters daher rühren, daß er überall das gleichförmige Gepräge seiner selbst wiederfindet und nun aus diesem gleichförmigen Gepräge aller »Gebildeten« auf eine Stileinheit der deutschen Bildung, kurz auf eine Kultur schließt. Er nimmt um sich herum lauter gleiche Bedürfnisse und ähnliche Ansichten wahr; wohin er tritt, umfängt ihn auch sofort das Band einer stillschweigenden Konvention über viele Dinge, besonders in betreff der Religions- und der Kunstangelegenheiten: diese imponierende Gleichartigkeit, dieses nicht befohlene und doch sofort losbrechende tutti unisono verführt ihn zu dem Glauben, daß hier eine Kultur walten möge. Aber die systematische und zur Herrschaft gebrachte Philisterei ist deshalb, weil sie System hat, noch nicht Kultur und nicht einmal schlechte Kultur, sondern immer nur das Gegenstück derselben, nämlich dauerhaft begründete Barbarei. Denn alle jene Einheit des Gepräges, die uns bei jedem Gebildeten der deutschen Gegenwart so gleichmäßig in die Augen fällt, wird Einheit nur durch das bewußte oder unbewußte Ausschließen und Negieren aller künstlerisch produktiven Formen und Forderungen eines wahren Stils. Eine unglückliche Verdrehung muß im Gehirne des gebildeten Philisters vor sich gegangen sein: er hält gerade das, was die Kultur verneint, für die Kultur, und da er konsequent verfährt, so bekommt er endlich eine zusammenhängende Gruppe von solchen Verneinungen, ein System der Nicht-Kultur, der man selbst eine gewisse »Einheit des Stils« zugestehen dürfte, falls es nämlich noch einen Sinn hat, von einer stilisierten Barbarei zu reden. Ist ihm die Entscheidung freigegeben zwischen einer stilgemäßen Handlung und einer entgegengesetzten, so greift er immer nach der letzteren, und weil er immer nach ihr greift, so ist allen seinen Handlungen ein negativ gleichartiges Gepräge aufgedrückt. An diesem gerade erkennt er den Charakter der von ihm patentierten »deutschen Kultur«: an der Nichtübereinstimmung mit diesem Gepräge mißt er das ihm Feindselige und Widerstrebende. Der Bildungsphilister wehrt in solchem Falle nur ab, verneint, sekretiert, verstopft sich die Ohren, sieht nicht hin, er ist ein negatives Wesen, auch in seinem Hasse und seiner Feindschaft. Er haßt aber keinen mehr als den, der ihn als Philister behandelt und ihm sagt, was er ist: das Hindernis aller Kräftigen und Schaffenden, das Labyrinth aller Zweifelnden und Verirrten, der Morast aller Ermatteten, die Fußfessel aller nach hohen Zielen Laufenden, der giftige Nebel aller frischen Keime, die ausdorrende Sandwüste des suchenden und nach neuem Leben lechzenden deutschen Geistes. Denn er sucht, dieser deutsche Geist! und ihr haßt ihn deshalb, weil er sucht, und weil er euch nicht glauben will, daß ihr schon gefunden habt, wonach er sucht. Wie ist es nur möglich, daß ein solcher Typus, wie der des Bildungsphilisters, entstehen und, falls er entstand, zu der Macht eines obersten Richters über alle deutschen Kulturprobleme heranwachsen konnte; wie ist dies möglich, nachdem an uns eine Reihe von großen heroischen Gestalten vorübergegangen ist, die in allen ihren Bewegungen, ihrem ganzen Gesichtsausdrucke, ihrer fragenden Stimme, ihrem flammenden Auge nur eins verrieten: daß sie Suchende waren, und daß sie eben das inbrünstig und mit ernster Beharrlichkeit suchten, was der Bildungsphilister zu besitzen wähnt: die echte, ursprüngliche deutsche Kultur. Gibt es einen Boden, schienen sie zu fragen, der so rein, so unberührt, von so jungfräulicher Heiligkeit ist, daß auf ihm und auf keinem anderen der deutsche Geist sein Haus baue? So fragend zogen sie durch die Wildnis und das Gestrüpp elender Zeiten und enger Zustände, und als Suchende entschwanden sie unseren Blicken: so daß einer von ihnen, für alle, im hohen Alter sagen konnte: »ich habe es mir ein halbes Jahrhundert lang sauer genug werden lassen und mir keine Erholung gegönnt, sondern immer gestrebt und geforscht und getan, so gut und so viel ich konnte«.

Was urteilt aber unsere Philisterbildung über diese Suchenden? Sie nimmt sie einfach als Findende und scheint zu vergessen, daß jene selbst sich nur als Suchende fühlten. Wir haben ja unsere Kultur, heißt es dann, denn wir haben ja unsere »Klassiker«, das Fundament ist nicht nur da, nein auch der Bau steht schon auf ihm gegründet – wir selbst sind dieser Bau. Dabei greift der Philister an die eigene Stirn.

Um aber unsere Klassiker so falsch beurteilen und so beschimpfend ehren zu können, muß man sie gar nicht mehr kennen: und dies ist die allgemeine Tatsache. Denn sonst müßte man wissen, daß es nur eine Art gibt, sie zu ehren, nämlich dadurch, daß man fortfährt, in ihrem Geiste und mit ihrem Mute zu suchen, und dabei nicht müde wird. Dagegen ihnen das so nachdenkliche Wort »Klassiker« anzuhängen und sich von Zeit zu Zeit einmal an ihren Werken zu »erbauen«, das heißt, sich jenen matten und egoistischen Regungen überlassen, die unsere Konzertsäle und Theaterräume jedem Bezahlenden versprechen; auch wohl Bildsäulen stiften und mit ihrem Namen Feste und Vereine bezeichnen – das alles sind nur klingende Abzahlungen, durch die der Bildungsphilister sich mit ihnen auseinandersetzt, um im übrigen sie nicht mehr zu kennen, und um vor allem nicht nachfolgen und weiter suchen zu müssen. Denn: es darf nicht mehr gesucht werden; das ist die Philisterlosung.

Diese Losung hatte einst einen gewissen Sinn: damals als in dem ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts in Deutschland ein so mannigfaches und verwirrendes Suchen, Experimentieren, Zerstören, Verheißen, Ahnen, Hoffen begann und durcheinanderwogte, daß dem geistigen Mittelstande mit Recht bange um sich selbst werden mußte. Mit Recht lehnte er damals das Gebräu phantastischer und sprachverrenkender Philosophien und schwärmerisch-zweckbewußter Geschichtsbetrachtung, den Karneval aller Götter und Mythen, den die Romantiker zusammenbrachten, und die im Rausch ersonnenen dichterischen Moden und Tollheiten achselzuckend ab, mit Recht, weil der Philister nicht einmal zu einer Ausschweifung das Recht hat. Er benutzte aber die Gelegenheit, mit jener Verschmitztheit geringerer Naturen, das Suchen überhaupt zu verdächtigen und zum bequemen Finden aufzufordern. Sein Auge erschloß sich für das Philisterglück: aus all dem wilden Experimentieren rettete er sich ins Idyllische und setzte dem unruhig schaffenden Trieb des Künstlers ein gewisses Behagen entgegen, ein Behagen an der eigenen Enge, der eigenen Ungestörtheit, ja an der eigenen Beschränktheit. Sein langgestreckter Finger wies, ohne jede unnütze Verschämtheit, auf alle verborgenen und heimlichen Winkel seines Lebens, auf die vielen rührenden und naiven Freuden, welche in der kümmerlichsten Tiefe der unkultivierten Existenz und gleichsam auf dem Moorgrunde des Philisterdaseins als bescheidene Blumen aufwuchsen.

Es fanden sich eigene darstellende Talente, welche das Glück, die Heimlichkeit, die Alltäglichkeit, die bäuerische Gesundheit und alles Behagen, welches über Kinder-, Gelehrten- und Bauernstuben ausgebreitet ist, mit zierlichem Pinsel nachmalten. Mit solchen Bilderbüchern der Wirklichkeit in den Händen suchten die Behaglichen nun auch ein für allemal ein Abkommen mit den bedenklichen Klassikern und den von ihnen ausgehenden Aufforderungen zum Weitersuchen zu finden; sie erdachten den Begriff des Epigonen-Zeitalters, nur um Ruhe zu haben und bei allem unbequemen Neueren sofort mit dem ablehnenden Verdikt »Epigonenwerk« bereit sein zu können. Eben diese Behaglichen bemächtigten sich zu demselben Zwecke, um ihre Ruhe zu garantieren, der Geschichte und suchten alle Wissenschaften, von denen etwa noch Störungen der Behaglichkeit zu erwarten waren, in historische Disziplinen umzuwandeln, zumal die Philosophie und die klassische Philologie. Durch das historische Bewußtsein retteten sie sich vor dem Enthusiasmus, – denn nicht mehr diesen sollte die Geschichte erzeugen, wie doch Goethe vermeinen durfte: sondern gerade die Abstumpfung ist jetzt das Ziel dieser unphilosophischen Bewunderer des nil admirari, wenn sie alles historisch zu begreifen suchen. Während man vorgab, den Fanatismus und die Intoleranz in jeder Form zu hassen, haßte man im Grunde den dominierenden Genius und die Tyrannis wirklicher Kulturforderungen; und deshalb wandte man alle Kräfte darauf hin, überall dort zu lähmen, abzustumpfen oder aufzulösen, wo etwa frische und mächtige Bewegungen zu erwarten standen. Eine Philosophie, die unter krausen Schnörkeln das Philisterbekenntnis ihres Urhebers koïsch verhüllte, erfand noch dazu eine Formel für die Vergötterung der Alltäglichkeit: sie sprach von der Vernünftigkeit alles Wirklichen und schmeichelte sich damit bei dem Bildungsphilister ein, der auch krause Schnörkeleien liebt, vor allem aber sich allein als wirklich begreift und seine Wirklichkeit als das Maß der Vernunft in der Welt behandelt. Er erlaubte jetzt jedem und sich selbst, etwas nachzudenken, zu forschen, zu ästhetisieren, vor allem zu dichten und zu musizieren, auch Bilder zu machen, sowie ganze Philosophien: nur mußte um Gotteswillen bei uns alles beim alten bleiben, nur durfte um keinen Preis an dem »Vernünftigen« und an dem »Wirklichen«, das heißt an dem Philister gerüttelt werden. Dieser hat es zwar ganz gern, von Zeit zu Zeit sich den anmutigen und verwegenen Ausschreitungen der Kunst und einer skeptischen Historiographie zu überlassen, und schätzt den Reiz solcher Zerstreuungs- und Unterhaltungsobjekte nicht gering; aber er trennt streng den »Ernst des Lebens«, soll heißen den Beruf, das Geschäft, samt Weib und Kind, ab von dem Spaß: und zu letzterem gehört ungefähr alles, was die Kultur betrifft. Daher wehe einer Kunst, die selbst ernst zu machen anfängt und Forderungen stellt, die seinen Erwerb, sein Geschäft und seine Gewohnheiten, das heißt also seinen Philisterernst antasten – von einer solchen Kunst wendet er die Augen ab, als ob er etwas Unzüchtiges sähe, und warnt mit der Miene eines Keuschheitswächters jede schutzbedürftige Tugend, nur ja nicht hinzusehen.

Zeigt er sich so beredt im Abraten, so ist er dankbar gegen den Künstler, der auf ihn hört und sich abraten läßt; ihm gibt er zu verstehen, daß man es mit ihm leichter und lässiger nehmen wolle, und daß man von ihm, dem bewährten Gesinnungsfreunde, gar keine sublimen Meisterwerke fordere, sondern nur zweierlei: entweder Nachahmung der Wirklichkeit bis zum Äffischen, in Idyllen oder sanftmütigen humoristischen Satiren, oder freie Kopien der anerkanntesten und berühmtesten Werke der Klassiker, doch mit verschämten Indulgenzen an den Zeitgeschmack. Wenn er nämlich nur die epigonenhafte Nachahmung oder die ikonische Porträttreue des Gegenwärtigen schätzt, so weiß er, daß die letztere ihn selbst verherrlicht und das Behagen am »Wirklichen« mehrt, die erstere ihm nicht schadet, sogar seinem Ruf als dem eines klassischen Geschmacksrichters förderlich ist, und im übrigen keine neue Mühe macht, weil er sich bereits mit den Klassikern selbst ein für allemal abgefunden hat. Zuletzt erfindet er noch für seine Gewöhnungen, Betrachtungsarten, Ablehnungen und Begünstigungen die allgemein wirksame Formel »Gesundheit« und beseitigt mit der Verdächtigung, krank und überspannt zu sein, jeden unbequemen Störenfried. So redet David Strauß, ein rechter satisfait unsrer Bildungszustände und typischer Philister, einmal mit charakteristischer Redewendung von »Arthur Schopenhauers zwar durchweg geistvollem, doch vielfach ungesundem und unersprießlichem Philosophieren«. Es ist nämlich eine fatale Tatsache, daß sich »der Geist« mit besonderer Sympathie auf die »Ungesunden und Unersprießlichen« niederzulassen pflegt, und daß selbst der Philister, wenn er einmal ehrlich gegen sich ist, bei den Philosophemen, die seinesgleichen zur Welt und zu Markte bringt, so etwas empfindet von vielfach geistlosem, doch durchweg gesundem und ersprießlichem Philosophieren.

Hier und da werden nämlich die Philister, vorausgesetzt, daß sie unter sich sind, des Weines pflegen und der großen Kriegstaten gedenken, ehrlich, redselig und naiv; dann kommt mancherlei ans Licht, was sonst ängstlich verborgen wird, und gelegentlich plaudert selbst einer die Grundgeheimnisse der ganzen Brüderschaft aus. Einen solchen Moment hat ganz neuerdings einmal ein namhafter Ästhetiker aus der Hegelschen Vernünftigkeits-Schule gehabt. Der Anlaß war freilich ungewöhnlich genug: man feierte im lauten Philisterkreise das Andenken eines wahren und echten Nicht-Philisters, noch dazu eines solchen, der im allerstrengsten Sinne des Wortes an den Philistern zugrunde gegangen ist: das Andenken des herrlichen Hölderlin, und der bekannte Ästhetiker hatte deshalb ein Recht, bei dieser Gelegenheit von den tragischen Seelen zu reden, die an der »Wirklichkeit« zugrunde gehen, das Wort Wirklichkeit nämlich in jenem erwähnten Sinne als Philister-Vernunft verstanden. Aber die »Wirklichkeit« ist eine andere geworden: die Frage mag gestellt werden, ob sich Hölderlin wohl in der gegenwärtigen großen Zeit zurechtfinden würde. »Ich weiß nicht«, sagte Fr. Vischer, »ob seine weiche Seele so viel Rauhes, das an jedem Kriege ist, ob sie soviel des Verdorbenen ausgehalten hätte, das wir nach dem Kriege auf den verschiedensten Gebieten fortschreiten sehen. Vielleicht wäre er wieder in die Trostlosigkeit zurückgesunken. Er war eine der unbewaffneten Seelen, er war der Werther Griechenlands, ein hoffnungslos Verliebter; es war ein Leben voll Weichheit und Sehnsucht, aber auch Kraft und Inhalt war in seinem Willen, und Größe, Fülle und Leben in seinem Stil, der da und dort sogar an Äschylus gemahnt. Nur hatte sein Geist zu wenig vom Harten; es fehlte ihm als Waffe der Humor; er konnte es nicht ertragen, daß man noch kein Barbar ist, wenn man ein Philister ist.« Dieses letzte Bekenntnis, nicht die süßliche Beileidsbezeigung des Tischredners geht uns etwas an. Ja, man gibt zu, Philister zu sein, – aber Barbar! Um keinen Preis. Der arme Hölderlin hat leider nicht so fein unterscheiden können. Wenn man freilich bei dem Worte Barbarei an den Gegensatz der Zivilisation und vielleicht gar an Seeräuberei und Menschenfresser denkt, so ist jene Unterscheidung mit Recht gemacht; aber ersichtlich will der Ästhetiker uns sagen: man kann Philister sein und doch Kulturmensch – darin liegt der Humor, der dem armen Hölderlin fehlte, an dessen Mangel er zugrunde ging.

Bei dieser Gelegenheit entfiel dem Redner noch ein zweites Geständnis: »Es ist nicht immer Willenskraft, sondern Schwachheit, was uns über die von den tragischen Seelen so tiefgefühlte Begierde zum Schönen hinüberbringt« – so ungefähr lautete das Bekenntnis, abgelegt im Namen der versammelten »Wir«, das heißt der »Hinübergebrachten«, der »durch Schwachheit Hinübergebrachten«! Begnügen wir uns mit diesen Geständnissen! Jetzt wissen wir ja zweierlei durch den Mund eines Eingeweihten: einmal, daß diese »Wir« über die Sehnsucht zum Schönen wirklich hinweg-, ja sogar hinübergebracht sind, und zweitens: durch Schwachheit! Eben diese Schwachheit hatte sonst in weniger indiskreten Momenten einen schöneren Namen: es war die berühmte »Gesundheit« der Bildungsphilister. Nach dieser allerneuesten Belehrung möchte es sich aber empfehlen, nicht mehr von ihnen als den »Gesunden« zu reden, sondern von den Schwächlichen oder, mit Steigerung, von den Schwachen. Wenn diese Schwachen nur nicht die Macht hätten! Was kann es sie angehen, wie man sie nennt! Denn sie sind die Herrschenden, und das ist kein echter Herrscher, der nicht einen Spottnamen vertragen kann. Ja, wenn man nur die Macht hat, lernt man wohl gar über sich selbst zu spotten. Es kam dann nicht viel darauf an, ob man sich eine Blöße gibt: denn was bedeckt nicht der Purpur! was nicht der Triumphmantel! Die Stärke des Bildungsphilisters kommt ans Licht, wenn er seine Schwachheit eingesteht: und je mehr und je zynischer er eingesteht, um so deutlicher verrät sich, wie wichtig er sich nimmt und wie überlegen er sich fühlt. Es ist die Periode der zynischen Philisterbekenntnisse. Wie Friedrich Vischer mit einem Worte, so hat David Strauß mit einem Buche Bekenntnisse gemacht: und zynisch ist jenes Wort und dieses Bekenntnisbuch.

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Inhaltsverzeichnis

Auf doppelte Weise macht David Strauß über jene Philister-Bildung Bekenntnisse, durch das Wort und durch die Tat, nämlich durch das Wort des Bekenners und die Tat des Schriftstellers. Sein Buch mit dem Titel »der alte und der neue Glaube« ist einmal durch seinen Inhalt und sodann als Buch und schriftstellerisches Produkt eine ununterbrochene Konfession; und schon darin, daß er sich erlaubt, öffentlich Konfessionen über seinen Glauben zu machen, liegt eine Konfession. – Das Recht, nach seinem vierzigsten Jahre seine Biographie zu schreiben, mag jeder haben, denn auch der Geringste kann etwas erlebt und in größerer Nähe gesehen haben, was dem Denker wertvoll und beachtenswert ist. Aber ein Bekenntnis über seinen Glauben abzulegen, muß als unvergleichlich anspruchsvoller gelten: weil es voraussetzt, daß der Bekennende nicht nur auf das, was er während seines Daseins erlebt oder erforscht oder gesehen hat, Wert legt, sondern sogar auf das, was er geglaubt hat. Nun wird der eigentliche Denker zu allerletzt zu wissen wünschen, was alles solche Straußennaturen als ihren Glauben vertragen, und was sie über Dinge in sich »halbträumerisch zusammengedacht haben« (S. 10), über die nur der zu reden ein Recht hat, der von ihnen aus erster Hand weiß. Wer hätte ein Bedürfnis nach dem Glaubensbekenntnisse eines Ranke oder Mommsen, die übrigens noch ganz andere Gelehrte und Historiker sind, als David Strauß es war: die aber doch, sobald sie uns von ihrem Glauben und nicht von ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen unterhalten wollten, in ärgerlicher Weise ihre Schranken überschreiten würden. Dies aber tut Strauß, wenn er von seinem Glauben erzählt. Niemand hat ein Verlangen, darüber etwas zu wissen, als vielleicht einige bornierte Widersacher der Straußschen Erkenntnisse, die hinter denselben wahrhaft satanische Glaubenssätze wittern und es wünschen müssen, daß Strauß durch Kundgebung solcher satanischer Hintergedanken seine gelehrten Behauptungen kompromittiere. Vielleicht haben diese groben Burschen sogar bei dem neuen Buche ihre Rechnung gefunden; wir anderen, die wir solche satanische Hintergedanken zu wittern keinen Anlaß hatten, haben auch nichts der Art gefunden und würden sogar, wenn es ein wenig satanischer zuginge, keineswegs unzufrieden sein. Denn so wie Strauß von seinem neuen Glauben redet, redet gewiß kein böser Geist: aber überhaupt kein Geist, am wenigsten ein wirklicher Genius. Sondern so reden allein jene Menschen, welche Strauß als seine »Wir« uns vorstellt, und die uns, wenn sie uns ihren Glauben erzählen, noch mehr langweilen, als wenn sie uns ihre Träume erzählen, mögen sie nun »Gelehrte oder Künstler, Beamte oder Militärs, Gewerbetreibende oder Gutsbesitzer sein und zu Tausenden, und nicht als die Schlechtesten im Lande leben«. Wenn sie nicht die Stillen von der Stadt und vom Lande bleiben wollen, sondern mit Bekenntnissen laut werden, so vermöchte auch der Lärm ihres Unisono nicht über die Armut und Gemeinheit der Melodie, die sie absingen, zu täuschen. Wie kann es uns günstiger stimmen, zu hören, daß ein Bekenntnis von vielen geteilt wird, wenn es der Art ist, daß wir jeden einzelnen dieser vielen, der sich anschickte, uns dasselbe zu erzählen, nicht ausreden lassen, sondern gähnend unterbrechen würden. Hast du einen solchen Glauben, müßten wir ihn bescheiden, so verrate um Gottes willen nichts davon. Vielleicht haben früher einige Harmlose in David Strauß einen Denker gesucht: jetzt haben sie den Gläubigen gefunden und sind enttäuscht. Hätte er geschwiegen, so wäre er, für diese wenigstens, der Philosoph geblieben, während er es jetzt für keinen ist. Aber es gelüstet ihn auch nicht mehr nach der Ehre des Denkers; er will nur ein neuer Gläubiger sein und ist stolz auf seinen »neuen Glauben«. Ihn schriftlich bekennend vermeint er, den Katechismus »der modernen Ideen« zu schreiben und die breite »Weltstraße der Zukunft« zu bauen. In der Tat, verzagt und verschämt sind unsere Philister nicht mehr, wohl aber zuversichtlich bis zum Zynismus. Es gab eine Zeit, und sie ist freilich fern, in welcher der Philister eben geduldet wurde als etwas, das nicht sprach, und über das man nicht sprach: es gab wieder eine Zeit, in der man ihm die Runzeln streichelte, ihn drollig fand und von ihm sprach. Dadurch wurde er allmählich zum Gecken und begann sich seiner Runzeln und seiner querköpfig-biederen Eigentümlichkeiten recht von Herzen zu erfreuen: nun redete er selbst, etwa in Riehlscher Hausmusik-Manier. »Aber was muß ich sehen! Ist es Schatten? ist's Wirklichkeit? Wie wird mein Pudel lang und breit!« Denn jetzt wälzt er sich bereits wie ein Nilpferd auf der »Weltstraße der Zukunft« hin, und aus dem Knurren und Bellen ist ein stolzer Religionsstifter-Ton geworden. Beliebt Ihnen vielleicht, Herr Magister, die Religion der Zukunft zu gründen? »Die Zeit scheint mir noch nicht gekommen (S. 8). Es fällt mir nicht einmal ein, irgendeine Kirche zerstören zu wollen.« – Aber warum nicht, Herr Magister? Es kommt nur darauf an, daß man's kann. Übrigens, ehrlich gesprochen, Sie glauben selbst daran, daß Sie es können: sehen Sie nur Ihre letzte Seite an. Dort wissen Sie ja, daß Ihre neue Straße »einzig die Weltstraße der Zukunft ist, die nur stellenweise vollends fertiggemacht und hauptsächlich allgemeiner befahren zu werden braucht, um auch bequem und angenehm zu werden«. Leugnen Sie nun nicht länger: der Religionsstifter ist erkannt, die neue, bequeme und angenehme Fahrstraße zum Straußschen Paradies gebaut. Nur mit dem Wagen, in dem Sie uns kutschieren wollen, Sie bescheidener Mann, sind Sie nicht recht zufrieden; Sie sagen uns schließlich: »daß der Wagen, dem sich meine werten Leser mit mir haben anvertrauen müssen, allen Anforderungen entspräche, will ich nicht behaupten« (S. 367): »durchaus fühlt man sich übel zerstoßen«. Ach, Sie wollen etwas Verbindliches hören, Sie galanter Religionsstifter. Aber wir wollen Ihnen etwas Aufrichtiges sagen. Wenn Ihr Leser die 368 Seiten Ihres Religionskatechismus nur so sich verordnet, daß er jeden Tag des Jahres eine Seite liest, also in allerkleinsten Dosen, so glauben wir selbst, daß er sich zuletzt übel befindet: aus Ärger nämlich, daß die Wirkung ausbleibt. Vielmehr herzhaft geschluckt! möglichst viel auf einmal! wie das Rezept bei allen zeitgemäßen Büchern lautet. Dann kann der Trank nichts schaden, dann fühlt sich der Trinker hinterdrein keineswegs übel und ärgerlich, sondern lustig und gut gelaunt, als ob nichts geschehen, keine Religion zerstört, keine Weltstraße gebaut, kein Bekenntnis gemacht wäre – das nenne ich doch eine Wirkung! Arzt und Arzenei und Krankheit, alles vergessen! Und das fröhliche Lachen! Der fortwährende Kitzel zum Lachen! Sie sind zu beneiden, mein Herr, denn Sie haben die angenehmste Religion gegründet, die nämlich, deren Stifter fortwährend dadurch geehrt wird, daß man ihn auslacht.

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Der Philister als der Stifter der Religion der Zukunft – das ist der neue Glaube in seiner eindrucksvollsten Gestalt; der zum Schwärmer gewordene Philister – das ist das unerhörte Phänomen, das unsere deutsche Gegenwart auszeichnet. Bewahren wir uns aber vorläufig auch in Hinsicht auf diese Schwärmerei einen Grad von Vorsicht: hat doch kein anderer als David Strauß uns eine solche Vorsicht in folgenden weisen Sätzen angeraten, bei denen wir freilich zunächst nicht an Strauß, sondern an den Stifter des Christentums denken sollen, (S. 80) »wir wissen: es hat edle, hat geistvolle Schwärmer gegeben, ein Schwärmer kann anregen, erheben, kann auch historisch sehr nachhaltig wirken; aber zum Lebensführer werden wir ihn nicht wählen wollen. Er wird uns auf Abwege führen, wenn wir seinen Einfluß nicht unter die Kontrolle der Vernunft stellen.« Wir wissen noch mehr, es kann auch geistlose Schwärmer geben, Schwärmer, die nicht anregen, nicht erheben und die sich doch Aussicht machen, als Lebensführer historisch sehr nachhaltig zu wirken und die Zukunft zu beherrschen: um wieviel mehr sind wir aufgefordert, ihre Schwärmerei unter die Kontrolle der Vernunft zu stellen. Lichtenberg meint sogar: »es gibt Schwärmer ohne Fähigkeit, und dann sind sie wirklich gefährliche Leute.« Einstweilen begehren wir, dieser Vernunft-Kontrolle halber, nur eine ehrliche Antwort auf drei Fragen. Erstens: wie denkt sich der Neugläubige seinen Himmel? Zweitens: wie weit reicht der Mut, den ihm der neue Glaube verleiht? und drittens: wie schreibt er seine Bücher? Strauß, der Bekenner, soll uns die erste und zweite Frage, Strauß, der Schriftsteller, die dritte beantworten.

Der Himmel des Neugläubigen muß natürlich ein Himmel auf Erden sein: denn der christliche »Ausblick auf ein unsterbliches, himmlisches Leben ist, samt den anderen Tröstungen für den, der »nur mit einem Fuße« auf dem Straußschen Standpunkt steht, »unrettbar dahingefallen« (S. 364). Es will etwas besagen, wenn sich eine Religion ihren Himmel so oder so ausmalt: und sollte es wahr sein, daß das Christentum keine andere himmlische Beschäftigung kennt als Musizieren und Singen, so mag dies freilich für den Straußschen Philister keine tröstliche Aussicht sein. Es gibt aber in dem Bekenntnisbuche eine paradiesische Seite, die Seite 294: dieses Pergamen laß dir vor allem entrollen, beglücktester Philister! Da steigt der ganze Himmel zu dir nieder. »Wir wollen nur noch andeuten, wie wir es treiben«, sagt Strauß, »schon lange Jahre her getrieben haben. Neben unserem Berufe – denn wir gehören den verschiedensten Berufsarten an, sind keineswegs bloß Gelehrte oder Künstler, sondern Beamte und Militärs, Gewerbetreibende und Gutsbesitzer, und noch einmal, wie schon gesagt, wir sind unserer nicht wenige, sondern viele Tausende und nicht die Schlechtesten in allen Landen – neben unserem Berufe, sage ich, suchen wir uns den Sinn möglichst offen zu erhalten für alle höheren Interessen der Menschheit: wir haben während der letzten Jahre lebendigen Anteil genommen an dem großen nationalen Krieg und der Aufrichtung des deutschen Staates, und wir finden uns durch diese so unerwartete als herrliche Wendung der Geschicke unsrer vielgeprüften Nation im Innersten erhoben. Dem Verständnis dieser Dinge helfen wir durch geschichtliche Studien nach, die jetzt mittelst einer Reihe anziehend und volkstümlich geschriebener Geschichtswerke auch dem Nichtgelehrten leicht gemacht sind; dabei suchen wir unsere Naturkenntnisse zu erweitern, wozu es an gemeinverständlichen Hilfsmitteln gleichfalls nicht fehlt; und endlich finden wir in den Schriften unsrer großen Dichter, bei den Aufführungen der Werke unsrer großen Musiker eine Anregung für Geist und Gemüt, für Phantasie und Humor, die nichts zu wünschen übrig läßt. So leben wir, so wandeln wir beglückt.«

Das ist unser Mann, jauchzt der Philister, der dies liest: denn so leben wir wirklich, so leben wir alle Tage. Und wie schön er die Dinge zu umschreiben weiß! Was kann er zum Beispiel unter den geschichtlichen Studien, mit denen wir dem Verständnisse der politischen Lage nachhelfen, mehr verstehen, als die Zeitungslektüre, was unter dem lebendigen Anteil an der Aufrichtung des deutschen Staates, als unsere täglichen Besuche im Bierhaus? und sollte nicht ein Spaziergang im zoologischen Garten das gemeinte »gemeinverständliche Hilfsmittel« sein, durch das wir unsere Naturkenntnis erweitern? Und zum Schluß – Theater und Konzert, von denen wir »Anregungen für Phantasie und Humor« mit nach Hause bringen, die »nichts zu wünschen übrig lassen« – wie würdig und witzig er das Bedenkliche sagt! Das ist unser Mann; denn sein Himmel ist unser Himmel!

So jauchzt der Philister: und wenn wir nicht so zufrieden sind wie er, so liegt es daran, daß wir noch mehr zu wissen wünschten. Scaliger pflegte zu sagen: »was geht es uns an, ob Montaigne roten oder weißen Wein getrunken hat!« Aber wie würden wir in diesem wichtigeren Falle eine solche ausdrückliche Erklärung schätzen! Wie, wenn wir auch noch erführen, wieviel Pfeifen der Philister täglich nach der Ordnung des neuen Glaubens raucht, und ob ihm die Spenersche oder die National-Zeitung sympathischer bei dem Kaffee ist. Ungestilltes Verlangen unserer Wißbegierde! Nur in einem Punkte werden wir näher unterrichtet, und glücklicherweise betrifft dieser Unterricht den Himmel im Himmel, nämlich jene kleinen ästhetischen Privatzimmerchen, die den großen Dichtern und Musikern geweiht sind, und in denen der Philister sich »erbaut«, in denen sogar, nach seinem Geständnis, »alle seine Flecken hinweggetilgt und abgewaschen werden« (S. 363); so daß wir jene Privatzimmerchen als kleine Lustrations-Badeanstalten zu betrachten hätten. »Doch das ist nur für flüchtige Augenblicke, es geschieht und gilt nur im Reiche der Phantasie; sobald wir in die rauhe Wirklichkeit und das enge Leben zurückkehren, fällt auch die alte Not von allen Seiten uns an« – so seufzt unser Magister. Benutzen wir aber die flüchtigen Augenblicke, die wir in jenen Zimmerchen weilen dürfen; die Zeit reicht gerade aus, das Idealbild des Philisters, das heißt den Philister, dem alle Flecken abgewaschen sind und der jetzt ganz und gar reiner Philistertypus ist, von allen Seiten in Augenschein zu nehmen. In allem Ernste, lehrreich ist das, was sich hier bietet: möge keiner, der überhaupt dem Bekenntnisbuche zum Opfer gefallen ist, diese beiden Zugaben mit den Überschriften »von unseren großen Dichtern« und »von unseren großen Musikern«, ungelesen aus den Händen fallen lassen. Hier spannt sich der Regenbogen des neuen Bundes aus, und wer an ihm nicht seine Freude hat, »dem ist überhaupt nicht zu helfen«, der ist, wie Strauß bei einer anderen Gelegenheit sagt, aber auch hier sagen könnte, »für unseren Standpunkt noch nicht reif«. Wir sind eben im Himmel des Himmels. Der begeisterte Perieget schickt sich an, uns herumzuführen und entschuldigt sich, wenn er aus allzugroßem Vergnügen an alle dem Herrlichen wohl etwas zu viel reden werde. »Sollte ich vielleicht«, sagt er uns, »redseliger werden, als bei dieser Gelegenheit passend gefunden wird, so möge der Leser es mir zu Gute halten; wessen das Herz voll ist, davon geht der Mund über. Nur dessen sei er vorher noch versichert, daß, was er demnächst lesen wird, nicht etwa aus älteren Aufzeichnungen besteht, die ich hier einschalte, sondern daß es für den gegenwärtigen Zweck und für diese Stelle geschrieben ist« (S. 296). Dies Bekenntnis setzt uns einen Augenblick in Erstaunen. Was kann es uns angehen, ob die schönen Kapitelchen neu geschrieben sind! Ja, wenn es aufs Schreiben ankäme! Im Vertrauen, ich wollte, sie wären ein Vierteljahrhundert früher geschrieben, dann wüßte ich doch, warum mir die Gedanken so verblichen vorkommen und warum sie den Geruch modernder Altertümer an sich haben. Aber, daß etwas im Jahre 1872 geschrieben wird, und im Jahre 1872 auch schon moderig riecht, bleibt mir bedenklich. Nehmen wir einmal an, daß jemand bei diesen Kapiteln und ihrem Geruche einschliefe – wovon würde er wohl träumen? Ein Freund hat mir's verraten, denn er hat es erlebt. Er träumte von einem Wachsfigurenkabinett: die Klassiker standen da, aus Wachs und Perlen zierlich nachgemacht. Sie bewegten Arme und Augen, und eine Schraube im Innern knarrte dazu. Etwas Unheimliches sah er da, eine mit Bändchen und vergilbtem Papier behängte unförmliche Figur, der ein Zettel aus dem Munde hing, auf welchem »Lessing« stand; der Freund will näher hinzutreten und gewahrt das Schrecklichste: es ist die homerische Chimära, von vorne Strauß, von hinten Gervinus, in der Mitte Chimära – in summa Lessing. Diese Entdeckung erpreßte ihm einen Angstschrei, er erwachte und las nicht weiter. Warum haben Sie doch, Herr Magister, so moderige Kapitelchen geschrieben!

Einiges Neue lernen wir zwar aus ihnen, zum Beispiel, daß man durch Gervinus wisse, wie und warum Goethe kein dramatisches Talent gewesen sei, daß Goethe im zweiten Teile des Faust nur ein allegorisch-schemenhaftes Produkt hervorgebracht habe, daß der Wallenstein ein Macbeth sei, der zugleich Hamlet ist, daß der Straußsche Leser aus den Wanderjahren die Novellen herausklaubt, wie ungezogene Kinder die Rosinen und Mandeln aus einem zähen Kuchenteig, daß ohne das Drastische und Packende auf der Bühne keine volle Wirkung erreicht werde, und daß Schiller aus Kant wie aus einer Kaltwasseranstalt herausgetreten sei. Das ist freilich alles neu und auffallend, aber es gefällt uns nicht, ob es gleich auffällt; und so gewiß es neu ist, so gewiß wird es nie alt werden, weil es nie jung war, sondern als Großonkel-Einfall aus dem Mutterleibe kam. Auf was für Gedanken kommen doch die Seligen neuen Stils in ihrem ästhetischen Himmelreich! Und warum haben sie nicht wenigstens einiges vergessen, wenn es nun einmal so unästhetisch, so irdisch vergänglich ist und noch dazu den Stempel des Albernen so sichtlich trägt, wie zum Beispiel einige Lehrmeinungen des Gervinus! Fast scheint es aber, als ob die bescheidene Größe eines Strauß und die unbescheidene Minimität des Gervinus nur zu gut sich miteinander vertragen wollten: und Heil dann allen jenen Seligen, Heil auch uns Unseligen, wenn dieser unbezweifelte Kunstrichter seinen angelernten Enthusiasmus und seinen Mietpferde-Galopp, von dem mit geziemender Deutlichkeit der ehrliche Grillparzer geredet hat, nun auch wieder weiter lehrt, und bald der ganze Himmel unter dem Hufschlag jenes galoppierenden Enthusiasmus wiederklingt! Dann wird es doch wenigstens etwas lebhafter und lauter zugehen als jetzt, wo uns die schleichende Filzsocken-Begeisterung unseres himmlischen Führers und die laulichte Beredsamkeit seines Mundes auf die Dauer müde und ekel machen. Ich möchte wissen, wie ein Halleluja aus Straußens Munde klänge: ich glaube, man muß genau hinhören, sonst kann man glauben, eine höfliche Entschuldigung oder eine geflüsterte Galanterie zu hören. Ich weiß davon ein belehrendes und abschreckendes Beispiel zu erzählen. Strauß hat es einem seiner Widersacher schwer übelgenommen, daß er von seinen Reverenzen vor Lessing redet – der Unglückliche hatte sich eben verhört –; Strauß freilich behauptet, das müsse ein Stumpfsinniger sein, der seinen einfachen Worten über Lessing in Nr. 90 nicht anfühle, daß sie warm aus dem Herzen kommen. Ich zweifle nun an dieser Wärme durchaus nicht; im Gegenteil hat diese Wärme für Lessing bei Strauß mir immer etwas Verdächtiges gehabt; dieselbe verdächtige Wärme für Lessing finde ich, bis zur Erhitzung gesteigert, bei Gervinus; ja im ganzen ist keiner der großen deutschen Schriftsteller bei den kleinen deutschen Schriftstellern so populär wie Lessing; und doch sollen sie keinen Dank dafür haben: denn was loben sie eigentlich an Lessing? Einmal seine Universalität: er ist Kritiker und Dichter, Archäolog und Philosoph, Dramaturg und Theolog. Sodann »diese Einheit des Schriftstellers und des Menschen, des Kopfes und des Herzens«. Das letztere zeichnet jeden großen Schriftsteller mitunter selbst den kleinen aus, im Grunde verträgt sich sogar der enge Kopf zum Erschrecken gut mit einem engen Herzen. Und das erstere, jene Universalität, ist an sich gar keine Auszeichnung, zumal sie in dem Falle Lessings nur eine Not war. Vielmehr ist gerade dies das Wunderbare an jenen Lessing-Enthusiasten, daß sie eben für jene verzehrende Not, die ihn durch das Leben und zu dieser »Universalität« trieb, keinen Blick haben, kein Gefühl, daß ein solcher Mensch wie eine Flamme zu geschwind abbrannte, keine Entrüstung dafür, daß die gemeinste Enge und Armseligkeit aller seiner Umgebungen und namentlich seiner gelehrten Zeitgenossen so ein zart erglühendes Wesen trübte, quälte, erstickte, ja daß eben jene gelobte Universalität ein tiefes Mitleid erzeugen sollte. »Bedauert doch«, ruft uns Goethe zu, »den außerordentlichen Menschen, daß er in einer so erbärmlichen Zeit leben, daß er immerfort polemisch wirken mußte.« Wie, ihr, meine guten Philister, dürftet ohne Scham an diesen Lessing denken, der gerade an eurer Stumpfheit, im Kampf mit euren lächerlichen Klötzen und Götzen, unter dem Mißstande eurer Theater, eurer Gelehrten, eurer Theologen zugrunde ging, ohne ein einziges Mal jenen ewigen Flug wagen zu dürfen, zu dem er in die Welt gekommen war? Und was empfindet ihr bei Winckelmanns Angedenken, der, um seinen Blick von euren grotesken Albernheiten zu befreien, bei den Jesuiten um Hilfe betteln ging und dessen schmählicher Übertritt nicht ihn, sondern euch geschändet hat? Ihr dürftet gar Schillers Namen nennen, ohne zu erröten? Seht sein Bild euch an! Das funkelnde Auge, das verächtlich über euch hinwegfliegt, diese tödlich gerötete Wange, das sagt euch nichts? Da hattet ihr so ein herrliches, göttliches Spielzeug, das durch euch zerbrochen wurde. Und nehmt noch Goethes Freundschaft aus diesem verkümmerten, zu Tode gehetzten Leben heraus, an euch hätte es dann gelegen, es noch schneller erlöschen zu machen! Bei keinem Lebenswerk eurer großen Genien habt ihr mitgeholfen, und jetzt wollt ihr ein Dogma daraus machen, daß keinem mehr geholfen werde? Aber bei jedem wart ihr jener »Widerstand der stumpfen Welt«, den Goethe in seinem Epilog zur Glocke bei Namen nennt, für jeden wart ihr die verdrossenen Stumpfsinnigen oder die neidischen Engherzigen oder die boshaften Selbstsüchtigen: trotz euch schufen sie jene ihre Werke, gegen euch wandten sie ihre Angriffe, und Dank euch sanken sie zu früh, in unvollendeter Tagesarbeit, unter Kämpfen gebrochen oder betäubt, dahin. Und euch sollte es jetzt, tamquam re bene gesta, erlaubt sein, solche Männer zu loben! und dazu mit Worten, aus denen ersichtlich ist, an wen ihr im Grunde bei diesem Lobe denkt, und die deshalb »so warm aus dem Herzen dringen«, daß einer freilich stumpfsinnig sein muß, um nicht zu merken, wem die Reverenzen eigentlich erwiesen werden. Wahrhaftig, wir brauchen einen Lessing, rief schon Goethe, und wehe allen eitlen Magistern und dem ganzen ästhetischen Himmelreich, wenn erst der junge Tiger, dessen unruhige Kraft überall in schwellenden Muskeln und im Blick des Auges sichtbar wird, auf Raub ausgeht!

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Wie klug war mein Freund, daß er, durch jene chimärische Spuk-Gestalt über den Straußschen Lessing und über Strauß aufgeklärt, nicht mehr weiter lesen mochte. Wir selbst aber haben weiter gelesen und auch bei dem neugläubigen Türhüter des musikalischen Heiligtums Einlaß begehrt. Der Magister öffnet, geht neben her, erklärt, nennt Namen – endlich bleiben wir mißtrauisch stehen und sehen ihn an: sollte es uns nicht ergangen sein, wie es dem armen Freunde im Traume ergangen ist? Die Musiker, von denen Strauß spricht, scheinen uns, so lange er davon spricht, falsch benannt zu sein, und wir glauben, daß von anderen, wenn nicht gar von neckischen Phantomen die Rede sei. Wenn er zum Beispiel mit jener Wärme, die uns bei seinem Lobe Lessings verdächtig war, den Namen Haydn in den Mund nimmt und sich als Epopt und Priester eines Haydnschen Mysterienkultus gebärdet, dabei aber Haydn mit einer »ehrlichen Suppe«, Beethoven mit »Konfekt« (und zwar in Hinblick auf die Quartettmusik) vergleicht (S. 362), so steht für uns nur eins fest: sein Konfekt-Beethoven ist nicht unser Beethoven, und sein Suppen-Haydn ist nicht unser Haydn. Übrigens findet der Magister unsere Orchester zu gut für den Vortrag seines Haydn und hält dafür, daß nur die bescheidensten Dilettanten jener Musik gerecht werden könnten – wiederum ein Beweis, daß er von einem anderen Künstler und von anderen Kunstwerken, vielleicht von Riehlscher Hausmusik, redet.

Wer mag aber nur jener Straußsche Konfekt-Beethoven sein? Er soll neun Symphonien gemacht haben, von denen die Pastorale »die wenigst geistreiche« sei; jedesmal bei der dritten, wie wir erfahren, drängte es ihn, »über den Strang zu schlagen und ein Abenteuer zu suchen«, woraus wir fast auf ein Doppelwesen, halb Pferd, halb Ritter, raten dürften. In betreff einer gewissen »Eroika« wird jenem Kentauren ernstlich zugesetzt, daß es ihm nicht gelungen sei auszudrücken, »ob es sich von Kämpfen auf offenem Felde oder in den Tiefen der Menschenbrust handele«. In der Pastorale gebe es einen »trefflich wütenden Sturm«, für den es doch »gar zu unbedeutend« sei, daß er einen Bauerntanz unterbräche; und so sei durch das »willkürliche Festbinden an dem untergelegten trivialen Anlaß«, wie die ebenso gewandte als korrekte Wendung lautet, diese Symphonie »die wenigst geistreiche« – es scheint dem klassischen Magister sogar ein derberes Wort vorgeschwebt zu haben, aber er zieht vor, sich hier »mit gebührender Bescheidenheit«, wie er sagt, auszudrücken. Aber nein, damit hat er einmal Unrecht, unser Magister, er ist hier wirklich zu bescheiden. Wer soll uns denn noch über den Konfekt-Beethoven belehren, wenn nicht Strauß selbst, der einzige, der ihn zu kennen scheint? Überdies kommt jetzt sofort ein kräftiges und mit der gebührenden Unbescheidenheit gesprochenes Urteil, und zwar gerade über die neunte Symphonie: diese nämlich soll nur bei denen beliebt sein, welchen »das Barocke als das Geniale, das Formlose als das Erhabene gilt« (S. 359). Freilich habe sie ein so strenger Kritikus wie Gervinus willkommen geheißen, nämlich als Bestätigung einer Gervinusschen Doktrin: er, Strauß, sei weit entfernt, in so »problematischen Produkten« seines Beethoven Verdienst zu suchen. »Es ist ein Elend,« ruft unser Magister mit zärtlichen Seufzern aus, »daß man sich bei Beethoven den Genuß und die gern gezollte Bewunderung durch solcherlei Einschränkungen verkümmern muß.« Unser Magister ist nämlich ein Liebling der Grazien; und diese haben ihm erzählt, daß sie nur eine Strecke weit mit Beethoven gingen, und daß er sie dann wieder aus dem Gesicht verliere. »Dies ist ein Mangel,« ruft er aus, »aber sollte man glauben, daß es wohl auch als ein Vorzug erscheint?« »Wer die musikalische Idee mühsam und außer Atem daherwälzt, wird die schwerere zu bewegen und der Stärkere zu sein scheinen« (S. 355, 356). Dies ist ein Bekenntnis, und zwar nicht nur über Beethoven, sondern ein Bekenntnis des »klassischen Prosaschreibers« über sich selbst: ihn, den berühmten Autor, lassen die Grazien nicht von der Hand: von dem Spiele leichter Scherze – nämlich Straußscher Scherze – bis zu den Höhen des Ernstes – nämlich des Straußschen Ernstes – bleiben sie unbeirrt ihm zur Seite. Er, der klassische Schreibekünstler, schiebt seine Last leicht und spielend, während sie Beethoven außer Atem einherwälzt. Er scheint mit seinem Gewichte nur zu tändeln: dies ist ein Vorzug; aber sollte man glauben, daß es wohl auch als Mangel erscheinen könnte? – Doch höchstens nur bei denen, welchen das Barocke als das Geniale, das Formlose als das Erhabene gilt – nicht wahr, Sie tändelnder Liebling der Grazien?

Wir beneiden niemanden um die Erbauungen, die er sich in der Stille seines Kämmerleins oder in einem zurechtgemachten neuen Himmelreich verschafft; aber von allen möglichen ist doch die Straußsche eine der wunderbarsten; denn er erbaut sich an einem kleinen Opferfeuer, in das er die erhabensten Werke der deutschen Nation gelassen hineinwirft, um mit ihrem Dampfe seine Götzen zu beräuchern. Dächten wir uns einen Augenblick, daß durch einen Zufall die Eroika, die Pastorale und die Neunte in den Besitz unseres Priesters der Grazien geraten wären, und daß es von ihm nun abgehangen hätte, durch Beseitigung so »problematischer Produkte« das Bild des Meisters rein zu halten – wer zweifelt, daß er sie verbrannt hätte? Und so verfahren die Strauße unserer Tage tatsächlich: sie wollen von einem Künstler nur so weit wissen, als er sich für ihren Kammerdienst eignet, und kennen nur den Gegensatz von Beräuchern und Verbrennen. Das sollte ihnen immerhin freistehen: das Wunderliche liegt nur darin, daß die ästhetische öffentliche Meinung so matt, unsicher und verführbar ist, daß sie sich ohne Einspruch ein solches Zur-Schau-Stellen der dürftigsten Philisterei gefallen läßt, ja daß sie gar kein Gefühl für die Komik einer Szene besitzt, in der ein unästhetisches Magisterlein über Beethoven zu Gerichte sitzt. Und was Mozart betrifft, so sollte doch wahrhaftig hier gelten, was Aristoteles von Plato sagt: »ihn auch nur zu loben, ist den Schlechten nicht erlaubt«. Hier ist aber jede Scham verlorengegangen, bei dem Publikum sowohl als bei dem Magister; man erlaubt ihm nicht nur, sich öffentlich vor den größten und reinsten Erzeugnissen des germanischen Genius zu bekreuzigen, als ob er etwas Unzüchtiges und Gottloses gesehen hätte, man freut sich auch seiner unumwundenen Konfessionen und Sündenbekenntnisse, besonders da er nicht Sünden bekennt, die er begangen, sondern die große Geister begangen haben sollen. Ach, wenn nur wirklich unser Magister immer Recht hat! denken seine verehrenden Leser doch mitunter in einer Anwandlung zweifelnder Empfindungen; er selbst aber steht da, lächelnd und überzeugt, perorierend, verdammend und segnend, vor sich selber den Hut schwenkend, und wäre jeden Augenblick imstande zu sagen, was die Herzogin Delaforte zu Madame de Staël sagte: »ich muß es gestehen, meine liebe Freundin, ich finde niemanden, der beständig Recht hätte, als mich«.

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Ein Leichnam ist für den Wurm ein schöner Gedanke, und der Wurm ein schrecklicher für jedes Lebendige. Würmer träumen sich ihr Himmelreich in einem fetten Körper, Philosophieprofessoren im Zerwühlen Schopenhauerscher Eingeweide, und so lange es Nagetiere gibt, gab es auch einen Nagetierhimmel. Damit ist unsere erste Frage: Wie denkt sich der neue Gläubige seinen Himmel? beantwortet. Der Straußsche Philister haust in den Werken unserer großen Dichter und Musiker wie ein Gewürm, welches lebt, indem es zerstört, bewundert, indem es frißt, anbetet, indem es verdaut.

Nun lautet aber unsere zweite Frage: Wie weit reicht der Mut, den die neue Religion ihren Gläubigen verleiht? Auch sie würde bereits beantwortet sein, wenn Mut und Unbescheidenheit eins wären: denn dann würde es Strauß in nichts an einem wahren und gerechten Mamelucken-Mute gebrechen, wenigstens ist die gebührende Bescheidenheit, von der Strauß in jener eben erwähnten Stelle in bezug auf Beethoven spricht, nur eine stilistische, keine moralische Wendung. Strauß partizipiert hinreichend an der Keckheit, zu der jeder siegreiche Held sich berechtigt glaubt; alle Blumen sind nur für ihn, den Sieger, gewachsen, und er lobt die Sonne, daß sie zur rechten Zeit gerade seine Fenster bescheint. Selbst das alte und ehrwürdige Universum läßt er mit seinem Lobe nicht unangetastet, als ob es erst durch dieses Lob geweiht werden müßte und sich von jetzt ab allein um die Zentralmonade Strauß schwingen dürfte. Das Universum, weiß er uns zu belehren, sei zwar eine Maschine mit eisernen, gezahnten Rädern, mit schweren Hämmern und Stampfen, »aber es bewegen sich in ihr nicht bloß unbarmherzige Räder, es ergießt sich auch linderndes Öl« (S. 365). Das Universum wird dem bilderwütigen Magister nicht gerade Dank wissen, daß er kein besseres Gleichnis zu seinem Lobe erfinden konnte, wenn es sich auch einmal gefallen lassen sollte, von Strauß gelobt zu werden. Wie nennt man doch das Öl, das an den Hämmern und Stampfen einer Maschine niederträufelt? Und was würde es den Arbeiter trösten, zu wissen, daß dieses Öl sich auf ihn ergießt, während die Maschine seine Glieder faßt? Nehmen wir einmal an, das Bild sei verunglückt, so zieht eine andere Prozedur unsere Aufmerksamkeit auf sich, durch die Strauß zu ermitteln sucht, wie er eigentlich gegen das Universum gestimmt sei, und bei der ihm die Frage Gretchens auf den Lippen schwebt: »Er liebt mich – liebt mich nicht – liebt mich?« Wenn nun Strauß auch nicht Blumen zerpflückt oder Rockknöpfe abzählt, so ist doch das, was er tut, nicht weniger harmlos, obwohl vielleicht etwas mehr Mut dazu gehört. Strauß will in Erfahrung ziehen, ob sein Gefühl für das »All« gelähmt und abgestorben sei oder nicht, und sticht sich: denn er weiß, daß man ein Glied ohne Schmerz mit der Nadelstechen kann, falls es abgestorben oder gelähmt ist. Eigentlich freilich sticht er sich nicht, sondern wählt eine noch gewalttätigere Prozedur, die er also beschreibt: »Wir schlagen Schopenhauer auf, der dieser unsrer Idee bei jeder Gelegenheit ins Gesicht schlägt« (S. 143). Da nun eine Idee, selbst die schönste Straußen-Idee vom Universum, kein Gesicht hat, sondern nur der, welcher die Idee hat, so besteht die Prozedur aus folgenden einzelnen Aktionen: Strauß schlägt Schopenhauer – allerdings sogar auf: worauf Schopenhauer bei dieser Gelegenheit Strauß ins Gesicht schlägt. Jetzt »reagiert« Strauß »religiös«, das heißt, er schlägt wieder auf Schopenhauer los, schimpft, redet von Absurditäten, Blasphemien, Ruchlosigkeiten, urteilt sogar, daß Schopenhauer nicht bei Troste gewesen sei. Resultat der Prügelei: »wir fordern für unser Universum dieselbe Pietät, wie der Fromme alten Stils für seinen Gott« – oder kürzer: »er liebt mich!« Er macht sich das Leben schwer, unser Liebling der Grazien, aber er ist mutig wie ein Mameluck und fürchtet weder den Teufel noch Schopenhauer. Wieviel »linderndes Öl« verbraucht er, wenn solche Prozeduren häufig sein sollten!

Andererseits verstehen wir, welchen Dank Strauß dem kitzelnden, stechenden und schlagenden Schopenhauer schuldet; deshalb sind wir auch durch folgende ausdrückliche Gunstbezeigung gegen ihn nicht weiter überrascht: »In Arthur Schopenhauers Schriften braucht man nur zu blättern, obwohl man übrigens gut tut, nicht bloß darin zu blättern, sondern sie zu studieren«, usw. (S. 141). Wem sagt dies eigentlich der Philisterhäuptling? Er, dem man gerade nachweisen kann, daß er Schopenhauer nie studiert hat, er, von dem Schopenhauer umgekehrt sagen müßte: »das ist ein Autor, der nicht durchblättert, geschweige studiert zu werden verdient«. Offenbar ist ihm Schopenhauer in die unrechte Kehle gekommen: indem er sich über ihn räuspert, sucht er ihn loszuwerden. Damit aber das Maß naiver Lobreden voll werde, erlaubt sich Strauß noch eine Anempfehlung des alten Kant: er nennt dessen Allgemeine Geschichte und Theorie des Himmels vom Jahre 1755 »eine Schrift, die mir immer nicht weniger bedeutend erschienen ist als seine spätere Vernunftkritik. Ist hier die Tiefe des Einblicks, so ist dort die Weite des Umblicks zu bewundern; haben wir hier den Greis, dem es vor allem um die Sicherheit eines wenn auch beschränkten Erkenntnisbesitzes zu tun ist, so tritt uns dort der Mann mit dem vollen Mute des geistigen Entdeckers und Eroberers entgegen«. Dieses Urteil Straußens über Kant ist mir immer nicht mehr bescheiden als jenes über Schopenhauer erschienen: haben wir hier den Häuptling, dem es vor allem um die Sicherheit im Aussprechen eines wenn auch noch so beschränkten Urteils zu tun ist, so tritt uns dort der berühmte Prosaschreiber entgegen, der mit dem vollen Mute der Ignoranz selbst über Kant seine Lob-Essenzen ausgießt. Gerade die rein unglaubliche Tatsache, daß Strauß von der Kantischen Vernunftkritik für sein Testament der modernen Ideen gar nichts zu gewinnen wußte, und daß er überall nur dem gröblichsten Realismus zu Gefallen redet, gehört mit zu den auffallenden Charakterzügen dieses neuen Evangeliums, das sich übrigens auch nur als das mühsam errungene Resultat fortgesetzter Geschichts- und Natur-Forschung bezeichnet und somit selbst das philosophische Element ableugnet. Für den Philisterhäuptling und seine »Wir« gibt es keine Kantische Philosophie. Er ahnt nichts von der fundamentalen Antinomie des Idealismus und von dem höchst relativen Sinne aller Wissenschaft und Vernunft. Oder: gerade die Vernunft sollte ihm sagen wie wenig durch die Vernunft über das An-sich der Dinge auszumachen ist. Es ist aber wahr, daß es Leuten in gewissen Lebensaltern unmöglich ist, Kant zu verstehen, besonders wenn man in der Jugend, wie Strauß, den »Riesengeist« Hegel verstanden hat oder verstanden zu haben wähnt, ja daneben sich mit Schleiermacher, »der des Scharfsinns fast allzuviel besaß«, wie Strauß sagt, befassen mußte. Es wird Strauß seltsam klingen, wenn ich ihm sage, daß er auch jetzt noch zu Hegel und Schleiermacher in »schlechthiniger Abhängigkeit« steht, und daß seine Lehre vom Universum, die Betrachtungsart der Dinge sub specie biennii und seine Rückenkrümmungen vor den deutschen Zuständen, vor allem aber sein schamloser Philister-Optimismus aus gewissen früheren Jugendeindrücken, Gewohnheiten und Krankheits-Phänomenen zu erklären sei. Wer einmal an der Hegelei und Schleiermacherei erkrankte, wird nie wieder ganz kuriert.