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Beschreibung

Auch im 21. Jahrhundert leben Menschen noch ebenso sehr von »Luft und Liebe« wie von Geld und Waren. Natur, Muße und Gemeinsinn bilden die Ressourcen, von denen und für die sie leben. Zwei Drittel der gesellschaftlich notwendigen Arbeit bestehen aus Hausarbeit, Eigenarbeit und Ehrenamt. Welche Bedeutung diese »andere Ökonomie« im Alltag von Menschen auch hierzulande immer noch hat, zeigt das vorliegende Buch anhand zahlreicher Fallbeispiele und zeitdiagnostischer Analysen. Die Porträts sind Menschen aus unterschiedlichen Schichten und Milieus gewidmet, die »für andere sorgen«, »ihren Nahraum gestalten«, »Natur bewahren« und die Dinge ihres Alltags »selber machen«. Die Autor*innen lenken die Aufmerksamkeit auf Formen von »Arbeit, Engagement und Muße«, die jenseits bzw. »im Schatten« der Marktwirtschaft und oftmals unbemerkt von der Öffentlichkeit praktiziert und gelebt werden. Ohne private und öffentliche Eigenarbeit – so das Fazit dieses Buches – kann kein Mensch, kein Gemeinwesen und keine Wirtschaft auf Dauer existieren.

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Christa Müller (Hg.)

Urban Gardening

Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt

Mit Unterstützung der Stiftungsgemeinschaft anstiftung & ertomis

ClimatePartner°

Dieses Buch wurde klimaneutral hergestellt. CO2-Emissionen vermeiden, reduzieren, kompensieren – nach diesem Grundsatz handelt der oekom verlag. Unvermeidbare Emissionen kompensiert der Verlag durch Investitionen in ein Gold-Standard-Projekt. Mehr Informationen finden Sie unter: www.oekom.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 oekom, München

oekom verlag, Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH

Waltherstraße 29, 80337 München

Lektorat: Christa Müller, Andrea Baier

Umschlaggestaltung: Jorge Schmidt

Umschlagabbildung: Marco Clausen

Fotonachweis: Alle Fotos im Innenteil von Marco Clausen, außer Siehe hier oben (Sabine Jonientz); Siehe hier (Cornelia Suhan); Siehe hier (Konrad Bucher); Siehe hier oben (Kerstin Stelmacher); Siehe hier unten (Konrad Bucher); Siehe hier (Bauhaus Dessau); Siehe hier (Katharina Frosch); Siehe hier (Cornelia Suhan); Siehe hier (Susanne Quehenberger).

Alle Rechte vorbehalten

eISBN: 978-3-86581-374-9

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Lizenz: Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International (CC BY-NC-ND 4.0).

Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unter:

creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0

INHALT

Christa Müller

Einleitung

I. DIE GESELLSCHAFT UND IHR GARTEN: ZEITDIAGNOSTISCHE BEOBACHTUNGEN

Christa Müller

Urban Gardening. Grüne Signaturen neuer urbaner Zivilisation

Karin Werner

Eigensinnige Beheimatungen. Gemeinschaftsgärten als Orte des Widerstands gegen die neoliberale Ordnung

Cordula Kropp

Gärtner(n) ohne Grenzen: Eine neue Politik des »Sowohl-als-auch« urbaner Gärten?

Niko Paech

Perspektiven einer Postwachstumsökonomie: Fremdversorgung oder urbane Subsistenz?

Bastian Lange

Koop Stadt? Was ist von der »kreativen Stadt« zukünftig zu erwarten?

Silke Borgstedt

Das Paradies vor der Haustür: Die Ursprünge einer Sehnsucht aus der Perspektive soziokultureller Trendforschung

Frieder Thomas

Urbane Gärten und bäuerliche Landwirtschaft: Welche Städter braucht das Land?

II. VERORTUNGEN: GÄRTEN UND URBANITÄT

Frank Lohrberg

Agrarfluren und Stadtentwicklung

Katrin Bohn & André Viljoen

Produktive Stadtlandschaft. Über ungewöhnliche Verbindungen von Stadt und Ernährung

Carmen Dams

Gärten gehören zur Stadt! Zur städtebaulichen Relevanz der urbanen Landwirtschaft

Andrea Baier

Urbane Landwirtschaft und Stadtteilentwicklung. Die Nachbarschaftsgärten in Leipzig

Heike Brückner

Schrumpfende Städte – wachsende Freiräume? Die Vision vom »Urbanen Gartenreich«. Zur Erfindung neuer Urbanitäten in Zeiten sinkender Bevölkerung: der Fall Dessau

Heidrun Hubenthal

Leberecht Migges Konzepte nachhaltiger urbaner Landwirtschaft

Ursula Richard

Urbane Gärten als Orte spiritueller Erfahrung

III. DIE LEBENDIGKEIT DES GARTENS: EIN LEBENSWISSENSCHAFTLICHES PLÄDOYER

Andreas Weber

Der Garten als Lebenshaltung oder warum Natur in der Stadt wichtig ist

IV. EINE ANDERE WELT PFLANZEN: GÄRTEN ALS RÄUME VON SUBSISTENZ UND POLITIK

Veronika Bennholdt-Thomsen

Ökonomie des Gebens. Wohlstand durch Subsistenz

Ella von der Haide, Severin Halder, Julia Jahnke, Carolin Mees

Guerilla Gardening und andere politische Gartenbewegungen. Eine globale Perspektive

Daniela Kälber

Urbane Landwirtschaft als postfossile Strategie. Agricultura Urbana in Kuba

Martin Held

Peak Oil und die Krise der Böden – urbane Nutzgärten und ihr Beitrag zu einer postfossilen Gesellschaft

Andrea Heistinger

Leben von Gärten. Warum urbane Gärten wichtig sind für Ernährungssouveränität, Eigenmacht und Sortenvielfalt

Elisabeth Meyer-Renschhausen

Von Pflanzerkolonien zum nomadisierenden Junggemüse. Zur Geschichte des Community Gardening in Berlin

Antje Schiffers

Vorratskammer. Die Künstlerinneninitiative myvillages.org bewirtet ein Festival mit lokalen Lebensmitteln

Autorinnen und Autoren

Urbane Landwirtschaft / Urbane Gärten im Web

Christa Müller

Einleitung

»Diese Gesellschaft braucht Ruhe, und zwar dringend« schreibt der Rezensent1 des »Garten-Design-Buchs für das 21. Jahrhundert«von Conran und Garvin. Allerdings entwerfen die gefeierten Designer den Garten explizit als Gegengewicht zum Alltag und offerieren erholungssuchenden Großstadtbewohnern der gehobenen Einkommensklasse ein weltabgewandtes Refugium im Privaten. Im Gegensatz dazu wendet sich der Garten, von dem in diesem Buch die Rede ist, der Welt zu, ja, er boomt ausgerechnet dort, wo es laut, selten beschaulich und zuweilen chaotisch zugeht: mitten in der Stadt. Hier suchen die Akteure der neuen Gartenbewegung auch nach Ruhe, nach Erdung, nach Begegnung mit der Natur. Aber sie suchen in einer paradox anmutenden Bewegung zugleich die Begegnung mit anderen und die Konfrontation mit den Themen, die der Garten nahelegt – und so sind die Motivationen für das Gärtnern vielschichtig und vielfältig. Sie reichen vom Wunsch, sich gesund zu ernähren, einen Naturraum mitten in der Stadt zu gestalten, der Nachbarschaft zu begegnen, praktische Beiträge gegen die Abholzung von Urwald für die Nahrungsmittelversorgung der nördlichen Halbkugel zu leisten, bis hin zur Diskussion der Frage, für welche Zwecke die Kommune ihre Flächen zur Verfügung stellen soll.

Der gemeinschaftlich organisierte Gemüsegarten erweitert den Blickwinkel und bietet Möglichkeiten des Selbstgestaltens, des Selbermachens ebenso wie Freiräume vom allgegenwärtigen Konsum in einer Warenwelt, die sich bereits komplett vorgefertigt präsentiert.

Damit generiert der Garten neue Wohlstandsmodelle, aber auch neue Formen der Politik. Michelle Obama hat das längst verstanden. In einer Videoansprache zur Eröffnung der Jahreskonferenz 2010 der American Community Gardening Association erzählt sie den TeilnehmerInnen, dass sie bei jedem Staatsbesuch zuallererst nach dem Stand der Dinge im Gemüsegarten des Weißen Hauses gefragt wird. Michelle Obama hat Gemüse Marke Eigenanbau samt der hier angedockten Themenfelder wie Gesundheit, Gemeinschaft und Local Food auf die Agenda gesetzt. Bemerkenswert ist vor allem die Resonanz, auf die sie stößt.

Denn Lebensmittel mitten in der Stadt anzubauen, sie mit anderen zu teilen, zu tauschen oder gemeinsam zu verzehren und damit die Stadt als Ort der naheliegenden Lebensqualität zu entdecken, erscheint in der globalisierten (und zunehmend virtualisierten) Welt auf den ersten Blick als ungewöhnlicher Trend. Andererseits liegt auf der Hand, dass mit dem Versiegen des Erdöls nicht nur die industrialisierte Nahrungsmittelproduktion zur Disposition steht, sondern auch das dichotome Verständnis von Stadt und Land. Das Buch wagt die Diagnose, dass in den westlichen Großstädten ein neues Verständnis von Urbanität entsteht und die »neuen urbanen Gärten« mit ihren Kulturen des Selbermachens und der Re-Etablierung von Nahbezügen hierbei eine Vorreiterrolle spielen.

Die Autorinnen und Autoren beleuchten städtebauliche und stadtplanerische ebenso wie historische, soziale, ökonomische und kulturelle Dimensionen der Rückkehr der produktiven Gärten in die Städte, stellen die Projekte und ihre häufig jungen ProtagonistInnen vor, ordnen die Aktivitäten zeitdiagnostisch ein und stellen Verknüpfungen zu gesellschaftlich relevanten Entwicklungen her, in die der Boom der Gärten eingebettet ist.

Landschaftsarchitekten und Stadtplaner verstehen unter urbaner Landwirtschaft und urbanem Gärtnern etwas anderes als Soziologen, Historiker oder auch die Gartenaktivisten selbst. Deshalb können die verschiedenen Lesarten im Kontext unseres Themas nicht trennscharf voneinander abgegrenzt werden. Ebenfalls wird man in diesem Buch ohne Erfolg auf die Antwort nach der Frage suchen, wie viel Land eine Stadt benötigt, um sich komplett vom eigenen Territorium zu ernähren. Auch Zukunftsszenarien wie das von Dickson Despommier, der in vertikalen Farmen mit bis zu dreißig Stockwerken die städtische Bevölkerung bodenunabhängig auf Nährlösungen versorgen will, finden keine Beachtung. Im vorliegenden Buch geht es nicht um technokratische »Großlösungen«; es will vielmehr zeigen, wie komplex das Themenfeld Urban Gardening »verdrahtet« ist und welche spannenden neuen Sichtweisen es ermöglicht.

Im ersten Teil des Buches wird das Phänomen der Rückkehr der Gärten in die Stadt zeitdiagnostisch behandelt. Hier sind gesellschafts- und sozialtheoretische Beiträge untergebracht, aber auch wirtschaftswissenschaftliche und agrarwissenschaftliche Zugänge tragen dazu bei, das Themenfeld »Gesellschaft und Garten« aus innovativen Blickwinkeln zu reflektieren.

Im Eröffnungsbeitrag zum ersten Buchteil verorte und rahme ich das Phänomen Urban Gardening und beleuchte seine unterschiedlichen Dimensionen anhand von mehreren Fallbeispielen. Der Facettenreichtum der allerorts entstehenden Gemeinschaftsgärten ermöglicht einen neuen Blick auf den Lebens- und Handlungsraum Stadt. Sie sind Transmitter, Medium und Plattform für so unterschiedliche Themen wie Local Food, Stadtökologie oder neue Formen der Demokratie. In den Gärten wird auf eine verblüffend pragmatische Weise mit konstruktiven Praxen experimentiert, die vom Eigenbau vertikaler Gemüsebeete über die Schaffung innerstädtischer Naturerfahrungsräume bis zum Einbezug marginaler Bevölkerungsschichten reichen. Hier scheinen die ersten Konturen komplexer Lebensstile auf, die in der Lage sind, die Grundlagen der Existenz zu erkennen, wertzuschätzen und in einem kooperativen, lebensbejahenden Sinne zu »bewirtschaften«.

Karin Werner liest die neuen urbanen Gartenaktivitäten aus den »performances« ihrer Akteure als Orte des Widerstands. Die Kultursoziologin attestiert sowohl dem neuen Vertrauen in Gemeinschaft wie auch zum Beispiel dem Zusammensein mit Pflanzen und den damit verbundenen Praxen der Fürsorge ein widerständiges Potenzial gegen die herrschende neoliberale Ordnung, denn die im Garten geforderte verbindliche Hinwendung lässt nur wenig Raum für »Flexibilität« und andere Anforderungen des neoliberalen Regimes. Karin Werners Beitrag versucht zu entziffern, was die jungen Städter kollektiv in den Garten treibt und was sie dort finden. Die Autorin interessiert sich für Gärten als Sozialräume neuen Typs sowie die damit zusammenhängenden neuen Formen des Politischen. Instruktiv im Hintergrund läuft dabei Foucaults Konzept der Gouvernementalität.

Cordula Kropp unterscheidet städtische Gärten der Industriemoderne von den neuen urbanen Gärten, die sie zur Reflexiven Moderne zählt und damit im Kontext von globalen ökonomischen und ökologischen Krisen, sich verschärfenden transnationalen Ungleichheiten und dem Prekärwerden der Erwerbsarbeit verortet. Urbane Gärten stellen aus ihrer Sicht die Gewissheiten des Entweder-oder der Industriemoderne in Frage und ziehen viele neue Misch- und Reflexionsformen des Sowohl-als-auch nach sich. Die Soziologin nimmt in ihrer Analyse zudem fruchtbare Anleihen an Bruno Latour, der die Moderne nicht nur von verschiedenen Menschen, sondern auch von Natur und technischen Artefakten bevölkert sieht, »die uns längst mitregieren und deren Anwesenheit wir kaum zur Debatte gestellt haben«. Ausgestattet mit diesem theoretischen Handwerkszeug diskutiert Cordula Kropp die Frage, inwiefern mit der »Rückkehr der Gärten in die Stadt« auch um eine zukunftsfähige Komposition von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren gerungen wird.

Mit den materiellen Dimensionen urbanen Gärtnerns befasst sich der Ökonom Niko Paech, und zwar unter der innovativen Fragestellung, welche Bedeutung Subsistenzräume wie Gemüsegärten als »stoffliche Nullsummenspiele« für eine Postwachstumsökonomie haben können. Der Autor entwickelt theoretische Grundlagen, mit denen sich die ökonomische und soziale Notwendigkeit neuer Formen von Subsistenz und ein ausbalanciertes Verhältnis von Fremd- und Selbstversorgung begründen lassen. Dabei geht er von der Erkenntnis aus, dass unendliches Wachstum in einer endlichen Welt nicht realisierbar ist. Die Schlagworte der aktuellen Debatte hierzu lauten: Peak Oil, Peak Soil, Peak Everything. Die Postwachstumsökonomie, die Paech in seinem Beitrag als Alternative zum »Fremdversorgungsdilemma« theoretisch fundiert, ermöglicht eine differenzierte Betrachtung der unterschiedlichen Dimensionen des an sich vielfältigen ökonomischen Handlungsrepertoires. Die Etablierung lokaler Versorgungssysteme im Nahrungsbereich wird dabei als zentraler konzeptioneller Bestandteil eingeordnet.

Obwohl die neuen urbanen Gärten kollektive Gebilde sind, verstehen sich einige ihrer Akteure auch als soziale Unternehmer, die beispielsweise in der Gestaltung der Flächen frei von Vorgaben sein wollen. Diese Haltung findet ihre Entsprechung in neuen Praktiken der Kreativwirtschaft. Der Metropolenforscher Bastian Lange beobachtet, dass sich eine junge Generation auf den Weg macht, innovative aber zugleich pragmatische Lösungen als Antwort auf komplexe soziale, ökologische und kulturelle Verunsicherungen zu entwickeln: Dies sind häufig Kulturen des Selbermachens, kollektive Ansätze, die unideologisch die Jetztzeit und den Nahraum gestalten wollen. Viele der Sozialpraktiken der jungen Raumpioniere mit Bezug auf Gärten sind hier zutreffend eingeordnet, wobei Langes Fokus auf der Frage liegt, wie angesichts komplexer sozialer, ökologischer und kultureller Verunsicherungen die Stadt zum gesellschaftlichen Kristallisationsort für zukunftsweisende Lösungen wird.

Silke Borgstedt betrachtet die urbanen Gärten vor dem Hintergrund der aktuellen Erkenntnisse der empirischen Trendforschung. Sie identifiziert drei Trends, die den Boom der urbanen Gärten erklären: So ist allgemein zu beobachten, dass Menschen sich zunehmend auf diejenigen Bereiche rückbesinnen, die sie persönlich direkt beeinflussen und gestalten können. Neben diesem »Re-Grounding« genannten Trend steht Autonomie neuerdings wieder hoch im Kurs. Selbst etwas in die Hand nehmen zu wollen, ist demnach ebenfalls eine Reaktion auf den gefühlten Verlust von Gestaltungsmöglichkeiten in den letzten Jahrzehnten. Der Rückzug in Mikro-Communities dient dabei nicht der sozialen Abschottung, sondern – im Gegenteil – der Suche nach größeren Freiräumen. Die dritte Strömung, auf die Silke Borgstedt rekurriert, um die Attraktivität von Gemeinschaftsgärten zu erklären, ist die zu mehr Sinnlichkeit und Vielfalt im Alltag als Gegenpol zu zunehmender Rationalisierung und Entfremdung. Die Autorin kommt zu der abschließenden Einschätzung, dass Menschen wieder mehr Motivation für gesellschaftliche Mitbestimmung zeigen, allerdings auf sehr individualistische Weise. Gemeinschaftsgärten entsprechen dieser Gefühlslage.

Trägt die neue urbane Gartenbewegung auch dazu bei, für die stadtnahe Landwirtschaft zu sensibilisieren, fragt Frieder Thomas in seinem Beitrag und zeigt die enge historische Verknüpfung von Stadt und Landwirtschaft auf. Städte entstanden im Allgemeinen da, wo es Landwirtschaft gab, die sie ernähren konnte. Der Agrarwirt plädiert dafür, diese beiden Akteure neu miteinander ins Verhältnis zu setzen. Die Stadt sollte von einer passiven Konsumentin von Nahrungsmitteln, die den Kontakt zum Land verloren hat, zur aktiven Gestalterin werden, die ihre Rolle bei der Wiederaneignung der Nahrungsmittelerzeugung definiert. Dazu gehören aus seiner Sicht viele Bausteine: Neben Nachbarschaftsgärten & Co. vor allem verbesserte Rahmenbedingungen für Bauern, damit sie regional, fair und ökologisch wirtschaften können. Eine Chance der Aktivitäten im Bereich urbane Landwirtschaft sieht Thomas darin, einen Beitrag zu leisten für eine Veränderung der Kultur der Wertschätzung von Landwirtschaft und Ernährung.

Im zweiten Buchteil »Verortungen: Gärten und Urbanität« geht es um die verschiedenen zur Stadt gehörenden Strukturen, Gegebenheiten, Kontexte und Räume, die das Gärtnern soziokulturell und politisch modulieren. Hier werden städtebauliche, stadt- und landschaftsplanerische, stadtsoziologische, aber auch alltagsrelevante Blicke auf die Stadt als »produktive Landschaft« geworfen.

Den Anfang macht Frank Lohrberg. Für ihn sind Phänomene wie Guerilla Gardening zwar spektakulär, blieben bislang aber ohne größere Raumwirksamkeit. Umso wichtiger erscheint dem Landschaftsarchitekten daher die Auseinandersetzung mit den originären landwirtschaftlichen Flächen, den Agrarfluren der Stadt, die immerhin durchschnittlich ein Viertel der Fläche deutscher Großstädte ausmachen. Die lokale und regionale Produktion von Nahrungsmitteln auch auf städtischen Grund könnte in Zukunft mehr als nur eine symbolische Rolle für die Selbstversorgung der Stadt spielen. Zudem brauche die Stadt- und Regionalplanung die Landwirtschaft als Infrastruktur einer nachhaltigen Stadt. In der Planung habe bereits ein Paradigmenwechsel stattgefunden: Man sucht heute nicht mehr nach Alternativen zur landwirtschaftlichen Nutzung, man versucht vielmehr, die Landwirtschaft als Partner zu gewinnen, um die Freiflächen in der Stadtregion zu erhalten und als öffentlichen Raum zu bespielen.

Erste Szenarien dafür entwerfen Katrin Bohn und André Viljoen, die das Konzept der »Produktiven Stadtlandschaft« entwickelten und in ihrem Buchbeitrag bislang noch ungewohnte Verbindungen von Stadt und Ernährung aufzeigen. Mit den Produktiven Stadtlandschaften, das sind vernetzte Areale in einer Stadt, in der für den innerstädtischen Bedarf auf innovative Weise angebaut wird, wollen die beiden Londoner Architekten die gegenwärtigen städtischen Nahrungsversorgungssysteme ökologischer, aber auch sozial nachhaltiger und partizipativer gestalten. Die urbane Infrastruktur soll dazu beitragen, eine Neudefinierung von Nutzungen und Nutzern des öffentlichen Raums zu ermöglichen. Vernetzte produktive Landschaften stellen sich Bohn und Viljoen dabei vor »wie ein Venedig, in dem die Kanäle Felder sind«. Angefangen werden soll aber zunächst einmal an weniger romantischen Orten wie Großparkplätzen, Parkhäusern, Einkaufszentren, den Flachdächern von Warenlagern oder Bahndämmen.

Die Leiterin des Amtes für Grünanlagen, Forsten und Landwirtschaft der Landeshauptstadt Saarbrücken, Carmen Dams, ist noch nicht ganz überzeugt, dass die KollegInnen aus der Stadt- und Landschaftsplanung begeistert auf den Zug der urbanen Landwirtschaft aufspringen. Auch die neue Gartenbewegung registriert sie mit kritischer Distanz. Zum einen hält sie sie für einen Türöffner, gerade auch in Bau- und Planungsämtern, um mehr Anerkennung für die städtische Garten- und Kleinlandwirtschaft zu erlangen, zum andern aber könnte sie auch die Renditeerwartungen des städtischen Immobilienmarktes wachsender Städte über primärproduktive Zwischennutzungen noch weiter anheizen. An ein Projekt wie den Prinzessinnengarten in Berlin stellt sie die Frage, wie es mit der Kreislaufwirtschaft tatsächlich steht, wenn das Substrat der mobilen Beete zugekauft wird, der Aufbau einer dünnen Humusschicht aber eigentlich viele Generationen dauert. Der weit aufgefächerte Beitrag von Carmen Dams zeigt, dass sich die urbane Gartenbewegung noch in einem vielversprechenden Anfangsstadium befindet.

Andrea Baier beschäftigt sich mit der Bedeutung von Nachbarschaftsgärten als Ausgangspunkte für eine Stadtentwicklung von unten. Eine (noch) seltene Akteurskonstellation von zivilgesellschaftlich organisierten AnwohnerInnen und einem aufgeschlossenen kommunalen Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung ermöglichte es in Leipzig, mit dem Überangebot von Flächen im schrumpfenden Stadtteil Lindenau kreativ umzugehen. Die Anwohner verwandelten eine 6.000 Quadratmeter große verwahrloste Fläche in üppiges, vielfach genutztes Grün. Im Laufe der Zeit führten die Aktivitäten rund um die Gärten dazu, dass das Wohnumfeld aufgewertet, die Blockentwicklung vorangetrieben, eine Plattform für die nachbarschaftliche Begegnung geschaffen, ein Biotop für städtisch-ländliche Lebensformen kreiert und die Möglichkeiten für Selbsthilfe und lokale Subsistenz erweitert wurden. Trotz und wegen dieser Erfolge plädiert Andrea Baiers Beitrag für eine neue Debatte um den Umgang mit öffentlichem Grün, denn auch die Leipziger Fläche ist nicht mehr als eine Zwischennutzung, und die garantiert, so die Soziologin, eben keinen nachhaltigen Umgang mit dem Boden und dem bürgerschaftlichen Engagement.

Während das Leitbild der prosperierenden Metropolregion München »kompakt, urban, grün« heißt, gilt es, sich in schrumpfenden Städten mit Problemen ganz anderer Art auseinanderzusetzen: Was tun mit zu viel Grün, ist hier oft die Frage, und Konzepte, dies als Reichtum zu begreifen und nutzbar zu machen, sind noch rar. In Dessau haben sich verschiedene Akteure an neue Konzepte gewagt: Grün vor jeder Haustür, eine Art Allmende in jedem Quartier, Gärten zum Selbsternten ganz nah am Stadtzentrum, dazwischen großflächige Wald- und Wildnisflächen als Wasserspeicher und Kaltluftproduzenten, dezentrale Abwasserentsorgung mit Versickerungsflächen, Quartiere als Energieproduzenten heißt die Vision. Die Landschaftsarchitektin Heike Brückner vom Bauhaus Dessau begleitet den Prozess der Inwertsetzung des schrumpfenden Potenzials seit Jahren und bietet Einblicke in neues stadtplanerisches Denken und seine partizipative Methodik. Sie entwirft das Bild einer »Kultur des Stadt-Werdens«, einer neuen Stadt (landschaft), die aus dem konkreten Tun der Beteiligten erwächst und ihren Wert aus den gestalterischen Anstrengungen vieler verschiedener Akteure gewinnt.

Der 1881 geborene Landschaftsarchitekt Leberecht Migge gilt als eine Art Spiritus Rector des Gärtnerns in der Stadt. An sein Konzept von der Gartenstadt und von urbanen Selbstversorgergärten erinnert Heidrun Hubenthal und führt in ihrem kurzen Essay in das Denken des bedeutenden Sozialreformers des 19. Jahrhunderts ein. Dabei betont die Freiraumplanerin der Universität Kassel seine Aktualität für heute.

Ursula Richard beschreibt in ihrem Beitrag augenfällige Parallelen zwischen Gärten und Orten der Meditation. Achtsamkeit, Verbundenheit und Verankerung im Leben sind die Grundtugenden, die sowohl in einem Meditationszentrum als auch in einem Garten eingeübt werden können. Beide zieht es neuerdings in die Stadt. So wie sich die Gemeinschaftsgärten für die Nachbarschaft öffnen, so entdecken auch mehr und mehr spirituelle Zentren ihre urbane Umgebung, beobachtet die in Berlin lebende Pädagogin. Dass mitten in der Stadt offene Orte der Entschleunigung und des Innehaltens angeboten und gestaltet werden, ist ein weiteres Indiz für den Wandel des Selbstverständnisses von Urbanität. Das, was zuvor mit außerstädtischem Naturerleben oder abgeschiedenen Orten assoziiert wurde – die Erfahrung der heilenden, erdenden Dimension von Natur und Meditation –, will man nun auch in der Stadt erleben.

Im dritten Teil des Buches geht es um die Lebendigkeit des Gartens. Andreas Weber hält ein leidenschaftliches Plädoyer für den Garten als Lebenshaltung und für die Anwesenheit der Natur in der Stadt. »Wir erleben diese Welt nicht in erster Linie mit dem Geist, sondern mit den Sinnen«, schreibt der Biologe und Philosoph in »Alles fühlt«. In seinem Beitrag zu diesem Buch begegnen wir den Pflanzen. Denn um den Garten zu verstehen, müssen wir die Pflanzen verstehen, meint Andreas Weber, und auch, um uns selbst zu verstehen, müssen wir die Pflanzen verstehen: »Ein Teil unseres Inneren ist immer schon Pflanze. Indem wir das Grün bauen und pflegen, treten wir in ein Zwiegespräch mit uns selbst«. Deshalb ist der Garten so wichtig für die Menschen, sonst, so Weber, »können wir nur noch mit unserem steinernen Selbst kommunizieren, oder mit der geschwätzigen Seite, die das Menschenwerk vergöttert«.

Der vierte Teil des Buchs widmet sich den Gärten als Räumen von Subsistenz und Politik. Den Auftakt macht Veronika Bennholdt-Thomsen, die die Bedeutung des Gärtnerns in den Kontext eines anderen Ökonomieverständnisses stellt, das nicht vom Nehmen, sondern vom Geben her bestimmt ist. Sie stellt dem Homo oeconomicus, dieser (von Ökonomen kreierten) Figur, die nur den eigenen Vorteil verfolgt und ausschließlich an der Akkumulation von Besitz interessiert ist, den Homo donans gegenüber; den gebenden Menschen. Um dessen Handlungsmaxime zu verstehen und den Reichtum, der mit der Gabe verbunden ist, benötigen wir, so die Subsistenzforscherin, neben einer stärkeren Subsistenzorientierung im Alltag auch einen neuen Wohlstandsbegriff, den sie am Beispiel des gemeinschaftsgärtnerischen Ethos durchbuchstabiert.

Auch das »AutorInnenkollektiv« Ella von der Haide, Severin Halder, Julia Jahnke und Carolin Mees berichtet im Beitrag »Guerilla Gardening und andere politische Gartenbewegungen« von den Erfahrungen, die Menschen machen, wenn sie selbst Produziertes teilen, tauschen und verschenken. In Städten wie Rio, Buenos Aires oder New York sind es gerade die städtischen Armen, die sich in diesen Tugenden üben, auch, um so ihr eigenes Überleben zu sichern. Gemeinschaftsgärten spielen dabei eine wichtige Rolle, sie sorgen nicht nur für die Ernährung, sondern auch für gegenseitige Unterstützung – und für soziale Veränderung. Die AutorInnen verorten diese Gartenpraxis als »politisches Gärtnern«, denn die meisten Gemeinschaftsgartenprojekte sind ihrer Beobachtung nach nicht nur durch die Lust am Gärtnern oder den ökonomischen Aspekt der Lebensmittelversorgung, sondern auch von emanzipatorischen Ideen und einem Gefühl der Solidarität motiviert: Die GärtnerInnen pflanzen mit dem Bewusstsein, gesellschaftliche, wirtschaftliche und ökologische Zusammenhänge hinterfragen und auf unterschiedlichsten Ebenen Veränderung bewirken zu wollen.

Dezidiert politisch ist auch die urbane Landwirtschaft in Kuba; dort ist sie eine staatlich gelenkte postfossile Strategie. Kuba gilt weltweit als Vorreiter der urbanen Landwirtschaft. Die Sozialwissenschaftlerin Daniela Kälber beschreibt, wie der Zusammenbruch des sozialistischen Handelsblocks die Staatswirtschaft der Insel in den 1990er-Jahren in die schwerste Krise seit der Revolution stieß, die kubanische Führung die Ideologie einer nachholenden Industrialisierung aufgeben musste und in den Folgejahren konsequent Strukturen für eine effiziente Ressourcennutzung etablierte. Ökologische Selbstversorgungsstrategien in den Städten, Eigenanbau in den »organopónicos« und die Etablierung lokaler Märkte führten zu einer nachhaltigen Verbesserung der Versorgungslage des Karibikstaates. Daniela Kälbers Beitrag wirft auch die Frage auf, was die industrialisierten Länder des Westens in der Post Peak Oil-Phase von Kuba lernen können.

Martin Held beschäftigt sich ebenfalls mit Handlungsstrategien für die Zeit nach dem Öl. Der Ökonom verweist darauf, dass die industrielle Entwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ohne fossile Energieträger nicht möglich gewesen wäre und damit ein Entwicklungspfad ist, der weder verallgemeinerbar ist noch von Dauer sein kann. Zum knapper werdenden Öl gesellt sich ein zweites Problem: die anhaltende Bodendegradation. Beide Aspekte fehlender Nachhaltigkeit grundieren die Bedeutung der derzeit entstehenden neuen Formen der urbanen Landwirtschaft. Martin Held führt in seinem Beitrag aus, dass urbane Landwirtschaft und Gärten einen wichtigen Bestandteil des Übergangs vom fossil getriebenen, nicht nachhaltigen Wirtschaften zu einer postfossilen Gesellschaft darstellen.

Die Agrarwissenschaftlerin Andrea Heistinger erläutert, warum urbane Gärten wichtig sind für Ernährungssouveränität, Eigenmacht und Sortenvielfalt. Für sie sind Gärten Freiräume des Improvisierens, des Kultivierens vertrauter Zutaten für das tägliche Essen – aber vor allem auch Orte, die Menschen unabhängig(er) von einer Versorgung durch den Markt oder andere Institutionen machen. Der Slogan »Wer die Saat hat, hat das Sagen« wirft ein Schlaglicht auf die Interessen der Agrarkonzerne, die sich den Zugang zu den pflanzengenetischen Ressourcen sichern und damit die Nahrungsmittelkette von Anfang bis Ende zu kontrollieren suchen. Dieser monopolistischen Macht die Eigenmacht vieler Gemeinschaften entgegenzustellen, erscheint Andrea Heistinger für die Zukunft als eine der größten Herausforderungen, um Sortenvielfalt und damit die Souveränität von Menschen über ihre Ernährung zu erhalten und weiter zu stärken. Gärten leisten ihren Beitrag dazu.

In Berlin erinnert das ehemalige Scheunenviertel im heutigen Bezirk Mitte mit seinen Straßennamen wie Acker- oder Gartenstraße daran, dass Ackerbürger bis ins 18. und 19. Jahrhundert hinein mitten in der Großstadt lebten. Städter in der Antike wie im Mittelalter waren immer auch Ackerbürger und Ackerbürgerstädte noch Ende des 19. Jahrhunderts weit verbreitet, macht Elisabeth Meyer-Renschhausen am Beispiel der Geschichte Berlins deutlich. Die Soziologin und Gartenaktivistin ordnet das Phänomen des Community Gardenings historisch ein und beschreibt aus nächster Nähe seine facettenreiche Entwicklung in der Hauptstadt in den vergangenen 40 Jahren.

Im letzten Beitrag beschreibt die Künstlerin Antje Schiffers, wie sie gemeinsam mit ihren Kolleginnen von der Initiative myvillages.org das 2011 stattfindende Festival in Berlins Haus der Kulturen der Welt mit lokalen Lebensmitteln bewirten will. Dabei schildert sie ihre Begegnungen mit unverhofften Früchten der Stadt. Der Artikel stellt Urban Gardening ein weiteres Mal in den Kontext von Fülle, Kooperation und Gastfreundschaft und rundet das Buch damit auf wunderbare Weise ab.

Danken

möchte ich allen Autorinnen und Autoren dieses Bandes für ihre kenntnisreichen, engagierten Beiträge und ihre Wertschätzung der Gärten. Ich danke auch meinen InterviewpartnerInnen Katharina Frosch, Kai Gildhorn und Mirco Meyer von mundraub.org, Marco Clausen und Robert Shaw vom Prinzessinnengarten, Florian Otto von Agropolis, Frauke Hehl von Rosa Rose und vom Bürgergarten Laskerwiese sowie Begzada Alatovic vom Interkulturellen Garten Rosenduft. Die Interviews waren neben den kontinuierlichen Beobachtungen der letzten Jahre eine wichtige empirische Basis für meinen Buchbeitrag. Ein Dankeschön geht auch an Manuel Schneider und Stephan Wantzen vom oekom Verlag für die reibungslose Zusammenarbeit. Herzlichen Dank außerdem an Andrea Baier für das kluge Co-Lektorat, an Karin Werner für wertvolle lektorierende und editorische Unterstützung, an Gudrun Walesch für unermüdliches Scouting in Sachen urbane Gärten und nicht zuletzt an Jens Mittelsten Scheid, der so vieles möglich macht.

Susanne Maczey danke ich für die Inspiration.

München, im Herbst 2010

1www.welt.de/lifestyle/article1975962/​Terence_Conran_laesst_Gaerten_wuchern.html

I. DIE GESELLSCHAFT UND IHR GARTEN:ZEITDIAGNOSTISCHE BEOBACHTUNGEN

Christa Müller

Urban Gardening. Grüne Signaturen neuer urbaner Zivilisation

Seit 2007 leben weltweit erstmals mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Vom Land leben sie trotzdem noch. Erscheint es da nicht folgerichtig, dass die Landwirtschaft nun auch in die Städte zurückkehrt? Was in den Metropolen des globalen Südens (und auch Nordamerikas) eine auf der Hand liegende Strategie gegen Armut und soziale Verwahrlosung ist (Bakker et al. 2000) – das Gärtnern in der Stadt – boomt seit Beginn des 21. Jahrhunderts auch in den europäischen Städten, wenn auch aus anderen Gründen. Eine wachsende Vielfalt von neuen urbanen Gartenaktivitäten – ebenso wie ihre emphatische mediale Rezeption – verweisen darauf, dass das Gärtnern ungeahnte Perspektiven auf den Lebensraum Stadt eröffnet.

Bis vor kurzem noch galt der Gemüsegarten – zumal in den Großstädten – lediglich als anachronistisches Relikt längst vergangener Zeiten. Und plötzlich verkaufen sich Nutzpflanzen besser als Ziersträucher, entdecken immer mehr Städterinnen und Städter »die neue Lust am Gärtnern«, wie der Titel eines Beitrags im ZDF-Magazin aspekte lautete. Was genau geschieht da? Zu beobachten sind derzeit mehrere Entwicklungen, die sich immer stärker verdichten und mit der Hinwendung zum Gärtnern verbinden.

Stadt neu denken

Da ist zum einen die Entstehung eines neuen Selbstverständnisses von Stadt und Urbanität (vgl. Wolfrum / Nerdinger 2008). In diesem Zusammenhang wird das Verhältnis von Kultur und Natur in vielversprechender Weise neu verhandelt und vergesellschaftet. Genau an diesem Punkt beginnen sich für den Garten auch soziale Milieus zu interessieren, für die Pflanzen bislang eher »Aliens« waren, wie Karin Werner in diesem Buch schreibt; nämlich die Urban Hipster, für die die neue Mischform von Stadt und Natur Quelle und Inspiration neuer Ausdrucksformen von Urbanität ist. Auch die künstlerischen Milieus haben den Garten entdeckt, geht es ihnen doch darum, Grenzen beständig zu verschieben und Räume zu erweitern. Der Garten bietet da einige Möglichkeiten, verwiesen sei nur auf die Aktion der Berliner Künstlergruppe »Pony Pedro«, die 2007 auf einem Parkhausdach am Berliner U-Bahnhof Kottbusser Tor das Kunstwerk »Nutzgärten vor urbaner Betonkulisse – Selbstversorger aus der Nachbarschaft bepflanzen zwölf Parkplätze« realisierte: Kaum war die Muttererde mit Kränen angeliefert, griff die deutschtürkische Bevölkerung gemeinsam mit Künstlern und weiteren Kiezbewohnern zu Hacke, Spaten und Teegläsern und verbrachte einen produktiven Sommer auf dem Dach.

Auch diese Akteure tragen dazu bei, dass derzeit zentrale Dichotomien der europäischen Moderne, nämlich die zwischen Stadt und Land, zwischen Gesellschaft und Natur, ins Wanken geraten und erodieren. Die Kultivierung der städtischen Natur – das ist etwas, was ebenfalls ins Auge springt – ist mit neuen Formen von Sozialität und Kollektivität verbunden: Urbanes Gärtnern ist in aller Regel soziales Gärtnern, es ist partizipativ und gemeinschaftsorientiert; der Garten wird als Lern- und Begegnungsort inszeniert und die Nachbarschaft in die Gestaltung des Outdoor-Sozialraums einbezogen.1 Häufig werden so aus vernachlässigten »Nicht-Orten« wieder Gegenden, in denen die Menschen sich begegnen und von der gemeinsam bewirtschafteten Plattform des Gartens aus weitere Berührungspunkte entdecken. Robert Harrison schreibt über die amerikanischen Community Gardens: »Ganze Viertel sind durch das Vorhandensein dieser florierenden Gärten verwandelt worden, von denen viele, gleichsam durch die Kraft ihrer Verzauberung, Gemeinschaften dort geschaffen haben, wo es zuvor keine gab.« (Harrison 2010, S.70)

Der größte Unterschied zwischen der traditionsreichen Institution der Kleingärten und den neuen urbanen Gärten ist nicht das spärliche Regelwerk oder der stärkere Fokus auf die lokale Nahrungsmittelproduktion der »Youngster«, noch sind es die fehlenden Zäune. Vielmehr setzt sich der neue Garten bewusst ins Verhältnis zur Stadt, tritt in einen Dialog mit ihr und will wahrgenommen werden als ein genuiner Bestandteil von Urbanität, nicht als Alternative zu ihr – und erst zuletzt als Ort, an dem man sich von der Stadt erholen will. Zuweilen scheint es sogar um die Herausforderung zu gehen, dass die Stadt selbst sich der grünen, geerdeten Lebensweise im Garten anverwandeln und sich in Entschleunigung, Kontemplation und dem Genuss der lokalen Vielfalt üben möge.

Repräsentiert der Garten womöglich das Modell einer besseren Gesellschaft? Werden die in ihm gelebten bzw. von ihm favorisierten Tugenden wie Kooperation, Gelassenheit, handwerkliches Können, Lebendigkeit, Empathie und Großzügigkeit, aber auch die Kunst des »einfachen Lebens«, das Arrangement mit dem, was vorhanden ist, richtungweisend für die vor uns stehenden Transformationsprozesse?

Ressourcenkrise und postfossile Wohlstandsmodelle

Es könnte einiges darauf hindeuten, denn das wachsende Interesse am urbanen Gärtnern und damit an der innerstädtischen Produktion lokaler, biologischer Lebensmittel rückt heute im Fahrwasser eines weiteren Megathemas ins Blickfeld: der globalen Nahrungsmittel- und Ressourcenkrise. Es ist davon auszugehen, dass die Epoche der billigen Nahrungsmittel in absehbarer Zeit für immer beendet sein wird. Die veränderten Konsummuster in bevölkerungsreichen Ländern wie China und Indien, in denen immer mehr Getreide und Fleisch verzehrt werden, beschleunigen die Knappheit. Die radikale Verstädterung in China führt zudem dazu, dass bis zu 20 Prozent des besten Agrarlandes dem Bau von Hunderten neuer Städte geopfert werden (vgl. Hirn 2009, S. 112ff).

Hinzu kommen die klimabedingte Desertifizierung von immer mehr Agrarflächen sowie die ölpreisbedingte Steigerung der Transportkosten. Man muss sich vor Augen führen, dass die industrialisierte Intensivlandwirtschaft ohne die Erdölprodukte Kunstdünger und Pestizide völlig undenkbar wäre. Die Rückbesinnung auf lokale und regionale Potenziale scheint angezeigt; auch die Publikationen zum Thema Peak Oil empfehlen neuerdings saisonale Produkte, den Urlaub zu Hause und den Eigenanbau (vgl. z. B. Rubin 2010, Hirn 2009). Auf der Hinterbühne, jedenfalls aus der Perspektive unseres saturierten westlichen Blicks, verschieben sich derweil schon seit langem die globalen Marker und Konstellationen. Man könnte mit Leggewie und Welzer sagen, dass Selbstbild und Habitus der westlichen Gesellschaften nach Jahrhunderten der hegemonialen Macht »… noch an Verhältnisse gebunden [sind], die es so gar nicht mehr gibt« (Leggewie / Welzer 2009, S. 11, vgl. auch Werlhof / Mies / Bennholdt-Thomsen 1983).

Die urbanen Garteninitiativen greifen die Illusion der westlichen Gesellschaften – das Wachstumsparadigma, der Glaube daran, durch immerwährenden technischen Fortschritt und ökonomisches Wachstum den Wohlstand mehren zu können – an verschiedensten Punkten auf und kontrastieren diese Mythen der Moderne mit eigenwilligen sozialen Praxen und postmateriellen Wohlstandsmodellen.2

Der Garten ist nämlich weit mehr als ein Ort des Säens und Erntens. Gemüseanbau ist auch Ausgangspunkt politischen Handelns für die, die den ungehinderten und ungenierten Zugriff auf die Ressourcen der Welt in Frage stellen. Sie gärtnern, um praktisch zu zeigen, wie es besser laufen könnte mit der Lebensmittelproduktion. Ihr Motto: Sie fangen schon mal an. Sie reproduzieren Saatgut selbst, tauschen es untereinander, statt Hybridsorten im Baumarkt zu kaufen, sie kultivieren alte Sorten, ziehen lokales Gemüse, bereiten es im Idealfall gleich vor Ort zu und verspeisen es – klimaneutral und in bester Qualität – gemeinsam mit anderen Gartennutzern.

Als »Locavores« werden die »Nahesser« bezeichnet, die die ökologische Maxime »saisonal und regional« ernst nehmen und die Herkunft ihres Essens auf einen Radius von hundert Meilen beschränken (vgl. Elton 2010). Auch für diese Subkultur liegt der städtische Gemüsegarten auf der Hand, denn er bietet eine Nahrungsmittelqualität, die in Sachen Frische, Geschmack und Sortenvielfalt nicht zu überbieten ist. Auch deshalb sind Slow Food-Gruppen, aber auch Transition Town-Initiativen »natürliche Kooperationspartner« der Initiativen, die städtisches Brachland in »produktive Stadtlandschaften« verwandeln wollen (siehe den Beitrag von Bohn / Viljoen in diesem Band).

Zum Gusto und zur positiven Klimabilanz werden sich womöglich schon bald auch monetäre Aspekte hinzugesellen – diverse Zukunftsszenarien lassen Local Food-Strategien mehr als einleuchtend erscheinen. So gab Gene Giacomelli, Direktor des Controlled Environment Agriculture Center an der University of Arizona, schon vor Jahren zu Protokoll: »Unser ganzes billiges Essen basiert zurzeit auf niedrigen Transportkosten, billigem Wasser und billiger Energie für die Erzeugung von Düngern.« (Spiegel online, 5.5.2008).

Postmoderne Ethiken

Billiges Essen beruht auf der Externalisierung von Kosten der Produktion, also auf Kostenauslagerung auf niedrigst bezahlte Rohstoffproduzenten in der sogenannten Dritten Welt, auf dauerhaft verseuchte Böden und auf die Tiere, die erbarmungslosen Haltungsformen ausgesetzt sind. Kurz: Externalisierung geht einher mit Leid. Dieses zu dulden sind zunehmend weniger Konsumenten bereit. Zu beobachten ist, gerade bei den jüngeren Generationen, eine verstärkte Hinwendung zu ethischen Diskursen, die genau hier ansetzen. Vermutlich gerade weil sie viel in virtuell vernetzten Welten unterwegs sind, erfahren die Digital Natives im Gegensatz zu ihren Vorgängergenerationen die Welt anders. Netzwerke, die »prägende Charakteristik räumlicher Organisation im 21. Jahrhundert«, haben die Art verändert, in der Räume produziert und erfahren werden (Mörtenböck / Mooshammer 2010, S.18, vgl. auch Palfrey / Gasser 2008). Netzwerke stellen Beziehungen in den Vordergrund und »verflüssigen« vormals feststehende Grenzen; insofern sind die Menschen in den Ländern des Südens für die »Generation Internet« nicht länger »die Anderen«, sondern Netzbewohner wie sie, die man nicht einfach ihrer Nahrungsmittelgrundlagen berauben kann. Auf eine politische Ebene gebracht bedeutet dies: »Es gibt kein Außen mehr« (Hardt / Negri 2002, S.198ff).

Die (sicherlich nicht immer konsequente und bisweilen widersprüchliche) Sensibilität für den fairen Umgang mit Menschen anderer Länder und mit den Gemeingütern, zeigt sich unter anderem im Bioboom, in der Selbstverständlichkeit, mit der hippe T-Shirts in fair gehandelter Bioqualität (oder gleich in »Zero Waste-Qualität« recycelt) angeboten werden, in den vielen Cafés, retrogestylten Chocolateries und Feinkostgeschäften mit Heile-Welt-Ambiente in angesagten Vierteln wie im Münchener Glockenbach oder im Berliner Prenzlauer Berg. Hier kommen Waren ohne ethische Labels oft gar nicht mehr in die Regale. Unübersehbar ist, dass zumindest die mittelschichtgeprägten jüngeren Generationen nicht von neokolonialen Verhältnissen profitieren wollen.3 Dieses Statement ist Teil ihres Lifestyles. Die postmodernen Ethiken sind dabei gekoppelt an Hedonismus und Selbstverortung in der komplexen Welt – somit sind sie individualistisch und performativ. Man bringt die übernommene Verantwortung für Produktions- und Konsumtionsprozesse in einer verspielten Ästhetik zum Ausdruck – und setzt sich damit von anderen ab. Die Kultursoziologin Eva Illouz zeigt in »Gefühle in Zeiten des Kapitalismus« auf, wie passgenau die öffentlichen Selbstinszenierungen des privaten Selbst heute auf die ökonomische Sphäre zugeschnitten sind. Sie spricht vom »emotionalen Kapitalismus« als einer Kultur, in der sich emotionale und ökonomische Diskurse und Praktiken gegenseitig formen (Illouz 2006, S. 13). Auch das Gärtnern in der Stadt findet nicht in jedem Fall »außerhalb« der wirkmächtigen Realität des Marktes statt, sondern kann eine Distinktionspraktik sein, und die erste eigene Gemüseernte samt der damit verbundenen Coolness der Autonomieerfahrung zur markanten Hinzufügung relevanter Codes im eigenen Zeichenkosmos werden.

Im derzeit jüngsten Trend der »Foodies« wird Genießer-Esskultur öffentlich zelebriert. Ökokisten mit landwirtschaftlichen Produkten aus der Stadt gelten in New York gerade als die »neuen iPods« und hausgemachte Marmelade als unverzichtbares »must have«. Die Süddeutsche Zeitung zitiert eine bekannte Bloggerin aus der Bewegung der Foodies, die über Twitter und Facebook Supper Clubs organisiert, bei denen mehrtägige Menüs in Privathäusern zubereitet werden: »Supper Clubs geben uns die Kontrolle zurück – wir holen uns den Spaß an hervorragendem Essen in gutem Ambiente von profitorientierten Restaurants zurück.« (SZ, 28. / 29.8.2010).

Identitätspolitiken und Nachhaltigkeitsstrategien liegen hier nah beieinander und prägen auch einige der urbanen Gärten, die in Arrangements wie Local Food-Dinner auf sich aufmerksam machen. Gerade unspektakuläre Mikro-Erlebnisse wie die Bekanntschaft mit lokal gepressten Apfelsäften oder dem gemeinsamen Anbau von bunten, alten Kartoffelsorten machen die Gärten zugleich zu eminent politischen Orten. Nicht zuletzt stößt man beim Säen, Ernten und Tafeln unweigerlich auf Fragen wie: Woher kommt das Essen, und wie wird es produziert? Wem gehört das Land, und wer erntet seine Früchte? Und kann ich womöglich mit meiner eigenen Hände Arbeit dazu beizutragen, un(ge)rechte Strukturen aufzubrechen?

Ernährungssouveränität und Neokolonialismus

Neben postmodernen Ethiken treten einige der urbanen Gärten auch mit handfesten politischen Botschaften auf. So vermerkt der Berliner Gartenaktivist Hanns Heim vom Kreuzberger Nachbarschaftsgarten »Ton Steine Gärten« im Blog des Gemeinschaftsgartens Rosa Rose, dass er sich die Hälfte des Jahres vom eigenen Gemüse ernährt (www.rosarose-garten.net/de/gaertnern). Für ihn ist diese Form der lokalen und klimaneutralen Lebensmittelproduktion ein politisches Statement, mit dem er sich der Forderung von La Via Campesina nach Ernährungssouveränität anschließt. La Via Campesina ist eine internationale Vereinigung von Kleinbauern- und Landlosenorganisationen und fordert weitreichende Landreformen an Stelle der kapital- und flächenintensiven industriellen Landwirtschaft. Die Protagonisten setzen auf Nahrungsmittelanbau für die lokale Bevölkerung und regionale Handelsstrukturen, um die Ernährungssouveränität der Menschen zu gewährleisten.

Tatsächlich gibt der Weltagrarbericht 2010 ihren Forderungen Recht. Der von 500 WissenschaftlerInnen im Auftrag der Vereinten Nationen und der Weltbank angefertigte Rapport kommt zu dem Ergebnis, dass die industrielle Landwirtschaft, unter anderem wegen ihres immensen Ressourcenverbrauchs und ihrer Abhängigkeit vom Öl nicht in der Lage ist, die Menschheit zu ernähren. Der Weltagrarbericht empfiehlt die Wiederherstellung von kleinbäuerlichen Strukturen, vor allem in Asien, Afrika und Lateinamerika, als die wichtigsten Garanten einer nachhaltigen Lebensmittelversorgung. 4

Auch das Land Grabbing in Afrika und Asien, also der im großen Stil stattfindende Kauf des weltweit knapper werdenden Agrarlands durch ausländische Investoren in Ländern, die selbst Nahrungsmittelimporteure sind, gehört zu den Verwerfungen der neoliberalen Weltagrarpolitik, die von La Via Campesina angeprangert werden, denn die Käufe für das Off-Shore-Farming führen gerade nicht dazu, die Ernährung vor Ort zu sichern, sondern Cash Crops wie Getreide und Mais für den Fleisch- und Treibstoffe-Weltmarkt anzubauen. Wolfgang Bommert nennt dies in der ZEIT vom 19.8.2010 eine »skrupellose Strategie« multinationaler Konzerne und einiger Staaten (allen voran China) und zitiert Klaus Deininger, Ökonom für Bodenpolitik bei der Weltbank, der schätzt, dass bereits ein Drittel des verfügbaren Ackerlandes auf der Liste der Einkäufer steht. Bommert: »Der Weltöffentlichkeit wird dies als eine neue Strategie ländlicher Entwicklung verkauft, als Investition in die marode Landwirtschaft von maroden Staaten. Tatsächlich handelt es sich um eine Enteignung ganzer Landstriche und die Besetzung von nationalen Kornkammern.« (Bommert 2010, S. 21).

Politik für Subsistenz

Einige der urbanen Gartenaktivisten verstehen sich explizit als Teil der globalen Kleinbauernopposition gegen diese Verwerfungen.5 Innerhalb der neuen urbanen Gartenbewegung ist dies allerdings nur eine Position unter mehreren. Zwar wird die Kritik an der konzerngesteuerten Globalisierung durchweg geteilt, aber die Art und Weise, wie politische Themen behandelt werden, hat sich ausdifferenziert. Kritische Positionen sind nicht mehr automatisch »systemkritisch« oder »fundamentaloppositionell«. Vielmehr ist der Glaube an das »Drehen großer Räder« längst verabschiedet. Merkmal der »Generation Garten« ist eher ein breit gefächerter Pragmatismus. Häufig wird versucht, durch kleinteiliges Handeln Missstände zu beseitigen, bei sich selbst anzufangen und vor Ort überschaubare Alternativstrukturen aufzubauen. Die politischen Diskurse in der urbanen Gartenbewegung zeigen sich nur noch sporadisch als Diskurse der »Gegenkultur«, wie sie für die 1980er-Jahre kennzeichnend waren (Heath / Potter 2005), dafür aber vielfach verknüpft mit Themen wie urbaner Lebensqualität und postmateriellen Lebensstilen. Marco Clausen, Mitgründer des Berliner Prinzessinnengartens, sagt im Interview mit der Autorin: »Wenn wir hier verschiedene Sorten anbauen, dann sind da auch politische Fragen mit involviert, agrarpolitische Fragen. Aber es geht natürlich auch um Genuss, es geht uns auch um eine Neugierde und auch um diesen Aha-Effekt: Aha, das gibt es alles! Und warum krieg ich das hier nicht? Das bringt einfach einen neuen Bezug zu unserem täglichen Konsum. Und das ist unser Ziel, auch für uns selber, dass man auf eine genussvolle Weise Unterscheidungen treffen kann, zwischen dem, was gut ist, nicht nur für mich, sondern auch was ökologisch gut ist, wirtschaftlich sinnvoll ist und auch für nachhaltiges Wirtschaften sinnvoll ist. Aber über einen Genussbezug!«6

Der vermeintlich hedonistische Zugang zu den Grundlagen des Lebens ist hochgradig subtil; politisch ist er im genuinen Sinne der Wortbedeutung, weil er punktgenau auf die Tätigkeiten und Fragestellungen zielt, die die Polis betreffen. Die Politik für das Kleinteilige im Kontext der Wiederentdeckung des Nahraums macht die Gärten zu Orten einer neuen Politik, in denen auf unterschiedlichsten Ebenen ein Unbehagen an der Ökonomisierung der Gesellschaft zum Ausdruck kommt. Sie sind, wie Karin Werner in diesem Band ausführt, Räume des Widerstands gegen die neoliberale Doktrin. So kommen zum Beispiel eigene, dem ökonomistischen Regime gegenläufige Zeitvorstellungen in den Blick, und dazu eignet sich der Garten auf eine besondere Weise. Er bietet im Verein mit Entschleunigung und Verlangsamung Zeitwohlstand und richtet sich, ebenso wie die derzeit hoch im Kurs stehenden Proteste gegen Großprojekte, wie Thomas Asseuer expliziert, »gegen eine Kernpassion der Moderne, gegen das Prinzip der Geschwindigkeit und die Verkürzung von Zeit« (Die ZEIT 42 / 2010, S. 50f.).

Byung-Chul Han spricht in seinem Essay »Duft der Zeit« davon, dass das Zeitalter der Beschleunigung schon vorbei ist. Die Zeitkrise von heute sei vielmehr dadurch gekennzeichnet, dass der Zeit ein ordnender Rhythmus fehle. Han spricht von einer »Gegenwartsschrumpfung« und beschreibt das komplexe Verhältnis zwischen Beschleunigung und dem Verlust der Dauer (Han 2009, S.12): »Aufgrund der temporalen Zerstreuung ist keine Erfahrung der Dauer möglich. Nichts verhält die Zeit. … So wird man selbst radikal vergänglich. Die Atomisierung der Zeit geht mit einer atomistischen Identität einher« (ebd., S. 7).

Hans Gesellschaftsdiagnose schließt Möglichkeiten der Genesung nicht aus. Ein Antidot könnte in der Erfahrung von Zyklen des Werdens und Vergehens und zugleich des Versorgungskontextes liegen, die ein Garten in die eine wie andere Richtung bietet (und verlangt). Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch hier ein Teil seiner Anziehungskraft liegt. Marco Clausen beobachtet bei den BesucherInnen seines Prinzessinnengartens: »Das Reinkommen in einen Ort, wo diese Art von kümmernder Tätigkeit passiert, auch die Langsamkeit, das Ausgesetztsein gegenüber dem Klima, den Bodenverhältnissen, den Wasserverhältnissen, all das sorgt für eine ganz spezielle Atmosphäre der Ruhe. Selbst wenn es hier drum herum hektisch, geschäftig und laut ist, bedeutet, durch unsere rosa Gartenpforte zu gehen, in ein anderes Reich einzutreten, wo auch eine andere Zeit gilt. Und ich glaube, das spürt jeder, egal, woher er kommt. Und ich glaube, das ist auch gartenspezifisch.«

Gartenspezifisch ist es insofern, als der Garten die grundlegenden Zusammenhänge des Lebens erfahrbar macht. Das Säen, Ernten, Kochen und Weiterverarbeiten für den Winter sensibilisiert nicht nur für die Natur, sondern auch für einen Reality Check der vorhandenen Bedingungen. Wer Wert auf lokale und saisonale Qualitäten legt, muss auch mal passen, denn die Gemüse werden nicht »just in time«, sondern zu unterschiedlichen Zeiten reif und lassen bisweilen auf sich warten. Jungbauer Robert Shaw vom Prinzessinnengarten sagt: »Dass was wirklich saisonal reif ist zur gleichen Zeit, ist minimal. Das schafft auch jetzt für mich, wenn ich im Bioladen stehe, noch mal ein ganz anderes Bewusstsein für das, was da rumliegt, an Sellerie in der Größe, an Auberginen in der Größe. Allein, wie viel Mühe das kostet, nur eine Pflanze da durchzubringen, das verändert das Konsumbewusstsein. Und das funktioniert hier über das Mitarbeiten.«

Viele StadtbewohnerInnen wollen sich nicht einfach nur treffen und etwas zusammen trinken; sie wollen auch gemeinsam etwas tun, zusammen einen Ort verändern, Spuren hinterlassen und vor allem: etwas Sinnvolles anfangen mit der Zeit, und dies unter geistigem und körperlichem Einsatz. Nicht ohne Grund verweist Harrison darauf, dass die Kultivierung des Bodens und die Kultivierung des Geistes wesensgleiche und nicht nur ähnliche Tätigkeiten sind (Harrison 2010, S. 56). Die Suche nach ganzheitlicher Erfahrung, nach Sinn und nach Vergemeinschaftungsformen, die kompatibel sind mit dem in westlichen Gesellschaften erreichten Individualisierungsgrad, lassen in der tendenziell destabilen und fragmentierten Moderne und mitten in unseren durch globale Produktions- und Konsumstrukturen geprägten Städten Parallelstrukturen der Subsistenz entstehen, und zwar neuerdings wieder sichtbar im öffentlichen Raum, aus dem sie seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts verbannt waren und ein verschämtes Dasein in den Hoheitsgebieten der Hausfrauen fristeten (vgl. Werlhof / Mies / Bennholdt-Thomsen 1983, Müller 1998).

Des Romantisierens unverdächtige Trendforscher wie Matthias Horx gehen davon aus, dass Menschen sich in Zukunft mehr mit den Grundlagen ihres Daseins beschäftigen werden und nennen diesen Trend »Back to the basics«. Horx spricht in seinem »Buch des Wandels« explizit von Ernährung, Natur und Handwerk als den »stofflichen Dingen«, den »Traditionen unserer Existenz« (Horx 2009, S. 342, siehe auch den Beitrag von Silke Borgstedt in diesem Band). In vielen urbanen Gärten hat diese Zukunft schon begonnen, wie der folgende Blick auf die erstaunliche Fülle an Garteninitiativen zeigt. Jedes Projekt für sich wirkt vielleicht unspektakulär. Kleine autarke Gruppen realisieren alltagspolitische Visionen und Lebensqualitäten, die auf einer globalen Folie entstehen, aber gleichwohl der Einsicht in die begrenzte Handlungsfähigkeit Rechnung tragen. Kurzum, die Urban Gardening-Projekte sind Teil einer ungewohnten und amorphen politischen Bewegung, die noch der Entzifferung bedarf. Im Folgenden werden einige Merkmale anhand unterschiedlicher Beispiele beschrieben.

Partizipativ und gemeinschaftsorientiert: Der Facettenreichtum urbaner Gärten

Urbanes Gärtnern ist bemerkenswert facettenreich. Zentrale Charakteristika sind Partizipation und Gemeinschaftsorientierung. Seien es die von AnwohnerInnen betriebenen kleinen Kiezgärten in hochverdichteten Stadtvierteln, sei es das punktuell und gezielt einsetzende, aber spektakuläre Guerilla Gardening, das primär für die Bedeutung von innerstädtischem Grün sensibilisieren will, zuweilen aber auch in die Gründung eines Nachbarschaftsgartens münden kann (wie im Fall von Rosa Rose www.rosarose-garten.net), seien es Frauengärten, Stadtteilgärten, Kinderbauernhöfe, Grabeland oder Mieter- und Gemeinschaftsgärten im genossenschaftlichen Wohnbau oder einfach nur vernetzte Mikrostrategien auf dem Balkon (Window Gardens oder Vertical Gardens) und gemeinschaftliche Baumscheibenbegrünung, sei es das Görlitzer Urban Farming-Projekt »Roter Weg«, das in der Neißestadt einen Community Garden nach US-amerikanischem Vorbild aufbaut (http://garten.in-goerlitz.com), sei es der Selbsthilfeverein der Geringverdienenden und Erwerbslosen in Berlin-Pankow mit seiner »Neigungsgruppe Selbstversorgung und Gartenbau«, der über das gemeinsame Gärtnern den in prekären Verhältnissen lebenden Vereinsmitgliedern persönlichen Halt vermittelt, seien es Initiativen für produktive Stadtlandschaften wie die »Essbare Stadt Kassel e. V.«, die lokale Nahrungsmittelproduktion, insbesondere durch die Anreicherung der Stadt mit Fruchtgehölzen (z. B. Walnuss, Esskastanie und Obst) fördern will, seien es die Generationengärten, die darauf abzielen, dass sich voneinander separierte Gruppen wie alte und junge Menschen im öffentlichen Raum und gemeinschaftlich tätig begegnen (www.generationengaerten.de), sei es das Permakulturprojekt im Hamburger Volkspark oder seien es die Studierendengärten an der Wiener Universität für Bodenkultur, die die selbstverwaltete »StudentenBIOMensa« mit Obst und Gemüse aus Eigenanbau beliefern und dabei die Themenfelder Selbstversorgung, Lebensmittelunabhängigkeit, Nachbarschaftsbelebung und Lokalökonomie ins öffentliche Bewusstsein bringen (www.grossstadtgemüse.at): Alle haben gemeinsam, dass der städtische Gemüsegarten als Transmitter, Medium und Plattform für so unterschiedliche Themen wie Stadtökologie, Nachbarschaftsgestaltung, lokaler Wissenstransfer oder interkulturelle Verständigung fungiert.

Am bekanntesten sind die in den 1990er-Jahren entstandenen Interkulturellen Gärten, von denen es derzeit 110 in 14 Bundesländern gibt; weitere 64 Initiativen befinden sich im Aufbau (Stand: Herbst 2010, aktueller Stand auf www.stiftung-interkultur.de).

In Interkulturellen Gärten bauen Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte auf eigenen Parzellen Obst und Gemüse an, tauschen Saatgut und Zubereitungsformen aus und kochen im selbstgebauten Lehmofen. Über dieses gemeinschaftliche Tätigsein gilt es Differenzen und Gemeinsamkeiten auszudrücken, zu deuten und wertzuschätzen. Die GärtnerInnen aus bis zu 20 Herkunftsländern bringen ihre Kenntnisse ins Spiel, sie erwirtschaften Überschüsse, die sie verschenken oder tauschen können. Weil über dem Garten ein großer Sinnkontext der Produktivität, der Versorgung, der Zuwendung und des Lernens liegt, ist Gärtnern eng verknüpft mit Umweltbildung und mit der Sensibilisierung für die Belange der Natur (vgl. Müller 2002). Hier stößt das Wissen der GärtnerInnen über Heilkräuter, über Saatgutvermehrung, über die Zubereitung von Wildgemüse, die Herstellung von Naturkosmetik oder über biologische Bodenbearbeitung plötzlich auf neue Resonanz. Über das ressourcenorientierte Geschehen generieren sich ständig Projekte, in denen das Gärtnern zum Ausgangspunkt für Identitätsfindungsprozesse, für die Fruchtbarmachung von lokalem ökologischem Wissen, für die Aneignung des öffentlichen Raumes durch MigrantInnen und für eine urbane Kultur der Begegnung und der Gastfreundschaft wird.

Immer mehr Interkulturelle Gärten werden zu »produktiven Räumen« im Stadtteil. In manchen Gärten feiern Nachbarn ihre Hochzeiten oder Geburtstage, Kiezmütter treffen sich; im Rosenduftgarten auf dem Berliner Gleisdreieckgelände veranstalten bosnische Flüchtlingsfrauen offene Workshops zu Heilkräuterkunde und produzieren Ringelblumenseife und Tee für den Eigenbedarf. Hier bewirtschaftet auch eine Schwulen-WG aus der Nachbarschaft eine Parzelle; Gartenkoordinatorin Begzada Alatovic nennt sie liebevoll »meine WG-Männer«. Im niedersächsischen Ihlow ist der Interkulturelle Mehrgenerationengarten Teil der Umnutzung eines ehemaligen Freibads, in dem naturpädagogische Angebote für Kinder stattfinden. In Kaufbeuren legte eine russischstämmige Gärtnerin einen Sinnesgarten an, den sie regelmäßig mit den vorwiegend türkischstämmigen Kindern des Gartens erkundet. Gerade Großstadtkinder brauchen freien Zugang zur Natur; amerikanische Ärzte diagnostizieren bereits ein »Nature-Deficit-Disorder«, zu Deutsch eine »Naturmangelstörung« (ZEIT online, 1.11.2010, vgl. auch den Beitrag von Andreas Weber in diesem Band sowie Weber 2008), und es nimmt kaum Wunder, dass immer mehr Schulen, Kitas, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, Mütterzentren, Hortgruppen, aber auch Jugendeinrichtungen, Beschäftigungsträger und BUND-Gruppen Parzellen in Interkulturellen Gärten betreiben. Manche Interkulturelle Gärten sind zugleich Schulgärten, oft werden auch angrenzende (Schul) grünflächen mitgepflegt. Vielerorts werden Bienen gehalten; der Honig animiert zu weiteren Aktivitäten wie Kerzendrehen, Bienenwachsherstellung für Cremes oder Honigfestfeiern. In Göttingen entsteht eine eigene Lehrimkerei im Garten. In vielen Gärten gibt es selbstgebaute Insektenhotels, Bienenwiesen und »wilde Ecken« für bedrohte Tiere und Pflanzen. Der Interkulturelle Garten Marburg betreibt eine Outdoor-Küche im benachbarten Abenteuergarten, dort entstand auch die Mobile Nachbarschaftswerkstatt, mit der Väter aus dem Garten mit den Kindern ein Klettergerüst und einen Nachbarschaftsgrill für die Gemeinschaftsfläche bauten. Und im Internationalen Mädchengarten Gelsenkirchen werden einige Mädchen als Pflanzenfarben-Expertinnen ausgebildet und gehen anschließend mit dem »Färbermobil« in ihrer Stadt auf Tour. Sie zeigen, wie man aus Pflanzen Farbe gewinnen und dann für Textilien und Kosmetik weiterverarbeiten kann. In Rosenheim sind einige der GärtnerInnen auf einen Rollstuhl angewiesen und auch in Kaufbeuren und München gibt es Tischbeete und Hochbeete, man achtet darauf, dass die Grundstücke auch für Rolli-FahrerInnen und Menschen mit Gehbehinderungen zugänglich sind. In Nienburg, Göttingen und Oberhausen finden im Rahmen der Gartenprojekte Fahrradtrainings für Migrantinnen statt, ebenso Ernährungs- und Gesundheitsprojekte; woanders sind Kurse zu Weidenbau, Lehmbau, Baumschnitt, Rankhilfen, zu Malen und Yoga offen für die Nachbarschaft.

Mit jeder der Aktivitäten kristallisiert sich deutlicher heraus, dass das interkulturelle Gärtnern ein zukunftsweisender Ansatz ist, weil die Stadt in einer demokratischen Gesellschaft, in einer vernetzten Welt und auf einem bedrohten Planeten nur ein Ort sein kann, der im tiefen Sinne des Wortes inklusiv ist, der seine BewohnerInnen einschließt, beteiligt und auch sieht: Menschen aus allen Teilen der Welt, mit unterschiedlichen Bildungsgraden, unterschiedlichen Fähigkeiten, unterschiedlichen Sehnsüchten in einer lebendigen Interaktion mit anderen, und auch mit der belebten Natur.7

Der verbindende Charakter des Gärtnerns kommt selbstredend nicht nur in Interkulturellen Gärten zum Ausdruck; viele urbane Gartenprojekte sind interkulturell, ohne sich explizit so zu nennen. Und der Kleingarten erfindet sich ebenfalls derzeit neu (Leppert 2009, S. 134). Die Herausforderungen des veränderten urbanen Umfelds gehen auch an ihm nicht spurlos vorüber. So planten um die Jahrtausendwende in Potsdam AussiedlerInnen zusammen mit Deutschen die Kleingartenanlage »Freundschaft 2001« mit 51 etwa 250–300 m² großen Parzellen. Hier gibt es keinen Platz für Gartenzwerge, sondern hier wird jeder Quadratmeter für den Gemüseanbau genutzt. Zwischen den Parzellen, die lediglich durch Hecken voneinander abgegrenzt sind, herrscht reger Austausch und die Gartenpforten stehen offen. In einigen Städten werden neuerdings Kleingartenparzellen für Langzeitarbeitslose zur Verfügung gestellt, die in diesen Tafelgärten frisches Obst und Gemüse für sich und andere städtische Arme anbauen. Während in den Großstädten die Nachfrage nach Ackerland steigt, haben viele Kleingartenvereine in Kleinstädten Nachwuchsprobleme. Eine Kooperation mit den Tafelgärten bietet sich an, und auch weitere Öffnungen sind gefragt. Das gelingt vielerorts bereits, beispielsweise befinden sich einige Interkulturelle Gärten längst auf Kleingartenanlagen. Und auch in den Schrebergärten selbst engagieren sich viele MigrantInnen. Insbesondere die Aneignungsstrategien von Parzellennachrückern wie jungen Familien, die das komplexe und oft einengende Regelwerk nicht mehr einhalten, sondern am liebsten ohne Zäune gärtnern und sogar mehr Gemüse anbauen wollen als vorgeschrieben, unterwerfen die Klein- oder Schrebergärten dem sozialen Wandel.

Die steigende Nachfrage nach Selbsternteprojekten wie den Münchener Krautgärten (www.muenchen.de/Rathaus/plan_/projekte/grueng/155578/krautgaerten.html) oder den Berliner Bauerngärten (www.bauerngarten.net) zeigen ebenfalls, dass die urbanen Landwirtschaftsaktivitäten den Individualisierungstendenzen Rechnung tragen. Die Krautgärten sind eine bodenständige Form des Gärtnerns auf städtischen Gütern oder auf Ackerland, das einige Bauern im Grüngürtel Münchens von der Bodenbearbeitung bis zur Aussaat für die Ernte vorbereiten. Hier stehen der ökologische Anbau, die kurzen Transportwege und die damit verbundene Wertschätzung lokaler Produkte aus dem Eigenanbau im Vordergrund. Gemeinschaftseinrichtungen oder Gartenlauben sind nicht vorgesehen, und trotzdem findet auch in den Selbsterntegärten Austausch statt. Ein paar Plastikstühle und ein Biertisch als Unterlage für den selbstgebackenen Kuchen und die Thermoskanne Tee reichen aus für ein ungezwungenes und wenig formalisiertes Miteinander.

Die weitreichenden Impulse der Nachbarschaftsgärten, einer weiteren neuen Form urbanen Gärtnerns, für eine nachhaltige Stadtentwicklung analysiert Andrea Baier am Beispiel von Leipzig in ihrem Beitrag für diesen Band, und auch die Gemeinschaftsdachgärten machen Furore: »Muss man sich demnächst mit der Machete den Weg durch Berlin-Mitte bahnen? Wir wollen es doch schwer hoffen! Wir wollen den grünen Großstadtdschungel!« reklamieren die Initiatoren auf ihrer Website www.gemeinschaftsdachgaerten.de/lecker. Der Dschungel soll sich bilden durch Gemeinschaftsdachgärten auf allen Wohnhäusern, vernetzte Balkonbiotope, Fassadenbegrünung, Obstbäume und Gemüse in Parks und Baumhäuser in der Innenstadt.

Was hier noch nach herausfordernder Zukunftsrhetorik klingt, hat an anderen Stellen schon begonnen, nämlich bei den selbstverwalteten öffentlichen Parks in der Stadt. Im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg entstand 2006 in Kooperation von Bezirksamt und zivilgesellschaftlichen Akteuren der »Bürgerpark in Bürgerhand«. In Eigenarbeit und nach eigenen Vorstellungen verwandelte eine Gruppe von inzwischen 35 AnwohnerInnen eine ehemals verwilderte und vermüllte Brachfläche in den Bürgergarten Laskerwiese (http://laskerwiese.blogspot.com). Sie schloss mit dem Bezirksamt einen Überlassungsvertrag, in dem sich der Verein dazu verpflichtet, Pflegeleistungen wie Baum- und Rasenschnitt für das gesamte Gelände zu erbringen. Im Gegenzug erhält er pachtfreie Parzellen und Beete für die Vereinsmitglieder. Solche neuen Modelle, die die klammen Kommunen finanziell entlasten und die Gestaltungsmöglichkeiten der BürgerInnen im öffentlichen Raum erweitern, erfordern allerdings viel »Übersetzungsarbeit«. Verwaltungsdenken prallt häufig auf Alltagsverständnisse von Prozessgestaltung, und es gibt bislang wenig Erfahrung im Umgang miteinander. Im Fall des Bürgerparks Laskerwiese ist es Frauke Hehl, Gründerin von urbanacker.net und workstation, die ihre Deutungs- und Vermittlungskompetenzen für die Kommunikation mit den Ämtern einsetzt. Nicht zuletzt weil sie Verwaltungslogiken von Akteurslogiken zu unterscheiden weiß, ist sie eine der Schlüsselfiguren in den allerorts entstehenden Beteiligungsprozessen, die sich auch in der Gründung des Allmende-Kontors niederschlagen, einer Initiative von Berliner GartenaktivistInnen, die sich als Ansprechpersonen auf Augenhöhe für die Berliner Senatsverwaltung verstehen. Das Kontor soll zugleich Anlauf- und Beratungsstelle für urbane Gemeinschaftsgartenprojekte werden und entsteht auf dem Tempelhofer Feld (www.allmende-kontor.de).

Angesichts der markanten Beiträge, die die StadtgärtnerInnen für zivilgesellschaftliche Prozesse und auch für eine Demokratisierung des Umgangs mit dem öffentlichen Raum leisten, liegt der Eindruck nahe, dass »eine andere Welt« womöglich wirklich »pflanzbar« ist. Unter diesem Aspekt möchte ich nun einige der neuen Formen urbanen Gärtnerns und Erntens anhand von drei Fallbeispielen näher beleuchten. Ich beschäftige mich dabei mit dem Prinzessinnengarten in Kreuzberg, der Planungsinitiative Agropolis in München und der Internetplattform mundraub org.

Nomadisch grün: Die Jungbauern vom Prinzessinnengarten

»Ein Ort, an dem sich unwahrscheinliche Begegnungen herstellen lassen.« Mit diesem Statement zum Prinzessinnengarten zitiert das Magazin für Popkultur »Spex« (1 / 2010, S. 57) Marco Clausen, der gemeinsam mit Robert Shaw innerhalb von nur einer Saison eine 6.000 Quadratmeter große Brachfläche in ein blühendes Paradies verwandelte. Die beiden Gründer von »Nomadisch Grün gGmbH«, der eine Historiker, der andere Filmemacher, beide Anfang / Mitte 30, betreiben seit Sommer 2009 direkt an der Kreuzberger U-Bahn-Station Moritzplatz eine »soziale, ökologische und partizipative Landwirtschaft in der Stadt«.

Kooperation: Der Garten als urbane Plattform zum Mitmachen

Von Anfang an setzten Robert und Marco auf Kooperation. Gemeinsam mit mehr als 150 engagierten KiezbewohnerInnen machten sie die Fläche urbar. Dabei blieb es aber nicht: Der für alle zugängliche Prinzessinnengarten versteht sich als Plattform für Leute, die etwas tun wollen: Hier hält ein naturnah wirtschaftender Imker seine Bienen und führt Kinder in die Honigproduktion ein, eine schwedische Künstlerin baut 16 verschiedene alte Kartoffelsorten an und sensibilisiert den Blick für das monokulturelle Angebot in den Supermärkten. Trägervereine aus der Nachbarschaft nutzen den Garten für Integrations- oder Gesundheitsarbeit, ein arbeitsloser Ingenieur will die Dächer der Container für die Regenwassergewinnung umrüsten, das benachbarte »Heilehaus« bietet eine Kooperation in Sachen Heilkräutergewinnung an – die Möglichkeiten nehmen mit jedem Besucher, der durch das Gartentor tritt, zu.

Der Prinzessinnengarten, sagt Marco Clausen, wächst organisch in all diesen Austauschverhältnissen. Hier ist die Wiederentdeckung des Raums vor allem die Entdeckung eines undefinierten Terrains. An manchen Tagen sind die Betreiber überwiegend mit dem Beantworten von Fragen beschäftigt. Eine Landwirtschaft mitten in der Stadt gibt auch Rätsel auf – und vor allem: Sie ermöglicht neue Sichtweisen. Marco Clausen denkt, dass das an vordefinierten Orten wie Banken oder Geschäften nicht passiert, weil jeder weiß, wozu sie da sind. Der Prinzessinnengarten aber ermöglicht die Erkenntnis, dass Stadt ganz anders gestaltbar und erlebbar sein kann. Wenn die Annahme der avancierteren Raumtheorie zutrifft, dass Städte keine vorgefertigten und »füllbaren« Container sind, sondern netzwerkartige soziale Räume, die durch Handlungen (kognitiv) erzeugt werden8, dann sind Orte wie eine »soziale, urbane Landwirtschaft« von essenzieller Bedeutung, denn sie irritieren den Blick und fordern zu einer neuen Lesart von Stadt auf. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist die Offenheit des Prinzessinnengartens eine wesentliche Qualität, die Clausen und Shaw täglich zu bewahren versuchen: »Wir haben nicht den Masterplan. Wir sind keine Landschaftsarchitekten, die wissen, so und so soll der Garten aussehen, und die und die Funktion soll er haben. Wir wollen eine lebendige Interaktion zwischen dem Garten und der Nachbarschaft. Das ist ein offener Prozess. Wir kuratieren den Garten im Sinne von Pflegen und Sorgen. Wir wählen auch wie ein Gärtner aus, was wozu passen könnte, weil, nicht alles passt zueinander. Aber was so angeflogen kommt an sozialer Saat und sich niederlässt, das können wir nicht kontrollieren.«

»Recycling ist für urbane Landwirtschaft eine wesentliche Ressource.«

Im Garten wird das Gemüse, vorwiegend alte Sorten und seltene Kulturpflanzen, in lebensmittelechten Reissäcken, Bäckerkisten und aufgeschlitzten Tetrapacks angebaut. Zum einen wegen der fragwürdigen Qualität des Bodens, zum andern, um die Mobilität dieser urbanen Landwirtschaft zu betonen – und zugleich auch zu ästhetisieren. Im Garten ist alles mobil: Das Café und die Küche befinden sich in (geschenkten) Containern, die einmal im Hamburger Hafen standen. Container stammen, ebenso wie Bäckerkisten, als Standardtransportbehältnisse aus industriellen Strukturen, »die wir einfach mitnutzen«, so Robert Shaw: »Wir müssen in der Stadt mit dem arbeiten, was vorhanden ist, sowohl finanziell als auch ressourcenbasiert. Recycling, also Dinge umnutzen, ist für urbane Landwirtschaft eine wesentliche Ressource. Du hast keine ländlichen Ressourcen wie der Bauer. Der Boden ist auch nicht gut. Du musst andere Lösungen finden und dich umgucken: Welche Ressourcen habe ich in der Stadt?«

Die Knappheit der Ressourcen sensibilisiert zugleich für ihren Wert. »Wenn man nichts hat, dann muss man halt lernen, mit dem zu arbeiten, was da ist. Wir sagen jetzt nicht, oh Gott, Industrieprodukte! Sondern: Sie sind verfügbar in großen Mengen, es ist funktional, es erfüllt seinen Zweck, und man muss es einfach nur in einen anderen Kontext stellen, um eine andere Form von Produktivität zu erzeugen«, sagt Marco Clausen und betont, dass es gerade die Umnutzung ist, die die Leute dazu bringt, neu über die Dinge, ihre Materialität und ihren Wert nachzudenken.

Zugleich ermöglichen die stapelbaren Bäckerkisten, modular und flexibel Hochbeete zu bauen, die auch transportabel sind. Für Zwischennutzer auf einer Fläche, die das städtische Liegenschaftsamt nur so lange verpachtet, bis sie sie verkauft hat, bietet sich ein transportables System an, denn mit ihm kann man die unterschiedlichsten Orte in einen Garten verwandeln. Robert Shaw: »Wir können mit unseren Kisten durchaus eine Fruchtfolge einhalten, wie ein Landwirt, aber wir können mit den Kisten auch den Ort wechseln und uns auch ganz andere Orte erschließen, sei es ein Parkplatz, ein Hausdach, ein Parkdach. Verseuchte Orte, versiegelte Flächen, kleine Flächen.«

Das Areal pachteten die beiden im Juli 2009 vom Liegenschaftsfonds und zahlen dafür monatlich 2.300 Euro. Auch im Winter, wo der Garten, mobil wie er ist, in ein Theater umzieht. Die Pacht wird erwirtschaftet durch den Cafébetrieb, der täglich auch Mahlzeiten aus (möglichst vielen) lokalen Zutaten anbietet, sowie aus dem Verkauf von Pflanzen. Auch einige Berliner Spitzenrestaurants ordern alte Gemüsesorten und Wildkräuter im Prinzessinnengarten.

Am Kreuzberger Moritzplatz stößt Berliner Ausgehkultur auf Plattenbauten, Altbauwohngegenden und ein Gewerbegebiet. Für Shaw und Clausen genau der richtige »Grenzort«, der eine bunte Mischung von GartenbesucherInnen erlaubt. Und tatsächlich: Wer einmal einen Sommertag am Moritzplatz verbringt, trifft auf Menschen, die sich über das Konzept »Nomadisch Grün« informieren, etwas über die urbanen Anbaumethoden erfahren wollen oder einen Platz zum Andocken für ihr eigenes Projekt suchen. Türkische Kiezbewohnerinnen ernten in der Regel schon in den Morgenstunden, eine sibirische Nachbarin führt täglich ihren Kater aus, gibt den »Greenhorns« wertvolle Pflanztipps und schaut nach den Bio-Chilis aus eigenem Anbau. Man trifft auf einen Stadtplaner aus New York, der ein ähnliches Projekt in Brooklyn plant, auf einen jungen Dachgartenaktivisten aus Mexico City, der im Internet aufmerksam wurde, auf eine Guerilla Gärtnerin aus Barcelona oder auch auf des eigenen Kiezes überdrüssig gewordene junge Mütter aus der »Bionade-Bourgeoisie« vom Prenzlauer Berg. Gegen Mittag gesellen sich junge Kreative und »Apple Nerds« aus dem benachbarten betahaus zum Business Lunch aus lokaler Produktion hinzu und abends mischt sich die Szenerie erneut. Man kommt zum Musikmachen, zum Gärtnern nach Feierabend, zu einer Kulturveranstaltung, zum Ernten oder einfach zum »Chillen« unter Linden, Flüsterpappeln und Sommerflieder auf der verwunschenen Fläche, die nach Kriegsende mehr als 60 Jahre lang brachlag.