Urlaub von der Liebe - Paul Schlesinger - E-Book

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Paul Schlesinger

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Beschreibung

Heinrich Gundermann ist im Ersten Weltkrieg auf den Schlachtfeldern Galiziens gefallen. Die Eltern erhalten mit der Todesnachricht auch die Mitteilung, dass Heinrich drei Jahre vorher in aller Heimlichkeit geheiratet hat: die attraktive Sängerin und Schauspielerin Konstanze. Die junge Witwe kommt nach Berlin und lebt zunächst bei den Eltern Heinrichs, die sie freundlich aufnehmen. Sie verschweigt ihr Verhältnis zu dem Regisseur Gerhard Stein, dessen Geliebte sie, obwohl mit Heinrich verheiratet, weiterhin geblieben ist. Fritz, Heinrichs Bruder, kann ihren Reizen nicht widerstehen, und verliebt sich unglücklich in Konstanze, die mit Steins Hilfe eine Filmkarriere beginnt. Eines Tages erträgt Fritz, dem eine alte Freundin die Augen öffnet, Konstanzes falsches Spiel nicht mehr und möchte mit Gewalt eine Lösung erzwingen. Biografische Anmerkung Paul Felix Schlesinger (1878–1928), absolvierte zunächst eine Lehre als Textilkaufmann, entwickelte aber früh künstlerische Neigungen. Er befasste sich mit germanistischen, theater- und musikwissenschaftlichen Studien. Vor 1914 veröffentlichte er u.a. in "Licht und Schatten", in "Die Schaubühne" und im "Simplicissimus". 1911 bis 1912 arbeitete er als Ullstein-Korrespondent in Paris auf. Im Ersten Weltkrieg hielt er sich als Berichterstatter in der Schweiz auf und kehrte 1920 nach Berlin zurück. Als Feuilletonist schrieb er über den Alltag der Großstadt Berlin und war einer der bekanntesten Gerichtsreporter seiner Zeit.

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Paul Schlesinger

Urlaub von der Liebe

Roman

Saga

Die Nachricht von der Verheiratung ihres Sohnes Heinrich erhielten Gundermanns nicht vor jener anderen Meldung, die seinen Tod auf den Schlachtfeldern Galiziens verkündete. Der Verstorbene hatte die Wirkung der beiden Mitteilungen nicht gering eingeschätzt, vielmehr mit grosser Achtsamkeit Sorge dafür getragen, dass die Nachricht nicht zu unmittelbar vom Draht in die rote Tasche des Depeschenboten hüpfte und von dem nicht zu ungestüm auf flinkem Rade nach dem Olivaer Platz befördert wurde.

Seit den ersten heissen Frühlingstagen hatte sich Heinrich die Eltern nicht anders als auf dem abendlichen Balkon vorstellen können. Und in seinem letzten Briefe hiess es noch:

„Ich denke immer, es ist Abend, und Ihr sitzt in Eurem schmiedeeisernen Käfig bei elektrischer Beleuchtung. Es ist Abend, und Ihr seht nicht diese sonderbare Berliner, Charlottenburger, Wilmersdorfer Architektur, die — wenn Architektur gefrorene Musik — halbgefrorenes ‚Immer an der Wand lang‘ ist. Ihr seht nur die sonderbaren Spitzen und Profile sich in einen nicht gar so dunklen Nachthimmel schwarz einzeichnen, und dann seht Ihr die vielen anderen Tierchen in ihren elektrisch beleuchteten Käfigen. Wie sie Abendbrot essen, sich heiter oder sorgenvoll über die Zeitung hinweg unterhalten. Ihr seht die Pantomimen all dieser fremden Familien, und Mutter spintisiert sich Romane zurecht, aus dem Hinzutreten fremder Gestalten, aus dem plötzlichen Aufflammen der sonst toten Zimmerlichter. Ach ja, ich denke an die Tausende Berliner Käfige, und ich weiss erst, wie frei ich bin, obgleich es doch so lange her ist, dass ich entflog. Aber so frei wie jetzt war ich nie — wie jetzt, als der kaum sehr angesehene Gefreite eines Linien-Infanterieregiments, Kapellmeister a. D. des Kottbuser Stadttheaters — und immerhin gut genug, mitzumachen, mit Geist und Gliedern bereit — bereit für alles Mögliche —“

Seit jenem Briefe sassen Gundermanns, auch wenn es die Kühle des Abends eigentlich nicht gestattete, auf dem Balkon, als könne der Gruss des Sohnes sie sonst verfehlen. Und genossen bei alledem die Beruhigungen der Generalstabsberichte. Der alte Herr mit den scharfen blauen Augen unter schwarzen dichten Brauen und hoher kahler Stirn wirbelte den kecken grauen Schnurrbart oder strich sich über die pralle, mit sorgfältig kurzgehaltenem Spitzbart bestandene Wange. Er war mit seinen Dreiundsechzig nicht in die Gefahr geraten, nachzudenken, ob er noch mittun sollte. Aber er spürte diese Dreiundsechzig weniger als sonst, mass dem mattbunten Krawattenfleck auf dem wohlgebügelten Grau unverminderten Wert bei und trennte sich nicht einmal von den weissen Gamaschen, die Mutter Mathilde entschieden zu jugendlich fand.

Dachte Mutter Mathilde an die Romane fremder Familien? Ja, zuweilen, um Heinrichs Vorstellung zu genügen, und dann geriet sie allmählich an einen Punkt völliger Gedankenlosigkeit, aus der sie sich nur durch einen plötzlichen Zwang zu reissen vermochte. Sie wandte sich dann dem zweiten Sohne zu, der mit leidlich zerschossenem Arm unter der umgehängten Leutnantslitewka und einer tüchtigen Kugel im rechten Kniegelenk gesund und leibhaftig neben ihr sass, der aus Vaters leidenschaftlich blauen Augen in die Nacht hinausschaute. Die geraden, schmalen Lippen hielt er fest geschlossen. Für die Mutter hatte er sich ein Lächeln zurechtgelegt aus einer sehr fernen Empfindung. Und sie konnte dann auch noch dasselbe Lächeln hervorbringen, aus ihrer jungen Frauenschaft, als sie Fritz auf dem Schoss hatte. Es war ihr noch geblieben, als es hiess, mit Anmut zu ergrauen, und war in allen Schrecken auf ihren und auf Fritzens Lippen erstorben, um nur noch fern und erinnerungshaft manchmal wieder zu erscheinen. Wenn Mutter Mathilde aus ihrer Versunkenheit erwachte, stellte sich immer heraus, dass sie irgendeine Kleinigkeit vergessen, um die Fritz sie gebeten hatte. Nun wurde es in aller Hast und Bestürzung nachgeholt.

Herr Robert Gundermann sah dann mit missbilligenden Augen seiner Frau nach und sagte in einem Ton, als wäre er der Sohn und nicht der Mann dieser Frau: „Mutter wird alt.“

Einmal erwiderte Fritz: „Sie denkt an Heinrich —“

Und der Alte wurde unwirsch. „An gar nichts denkt sie. Sie bekommt es fertig, geradeaus zu schauen, vor sich hin und dabei zu schlafen.“

„Dann musst du sie aber auch lassen.“

Herrn Robert Gundermann ging so etwas nicht in den Kopf. Mathilde war doch sechs Jahre jünger und er durchaus noch kein Greis, gewiss nicht. Man hatte sein Geschäft, man sass fest im Sattel und betrieb es doch, trotz der Schwierigkeiten im Kriege, mit einer sorgsamen Ausnutzung aller plötzlich entstandenen Möglichkeiten. Und wenn er beim Geschäft war, konnte er dem Fritz gegenüber alles loswerden, was er auf dem Herzen hatte. Der hörte so genau zu und war im Urteil noch einige Grade vorsichtiger als der Vater selbst.

„Die Aschbecher mit dem Eisernen Kreuz gehen rasend — es ist erstaunlich. Mir sind ein paar neue Stanzmaschinen angeboten worden.“

„Nimm sie nicht, Vater. Liefere ruhig ein paar Tausend weniger. Nur jetzt nicht erweitern, bevor man klar sieht.“

„Was soll man sehen —“

„Die Konjunktur —“

Der Alte pafft darauf los.

„Wir haben die Konjunktur und erleben’s mal wieder, dass die Menschen sich nicht aus der Gewohnheit bringen lassen. Man ist hoffnungsvoll gestimmt, man hat vermehrte Gelegenheit, sich Geschenke zu machen.“

„Der Markt ist bis zum Platzen gefüllt, Vater. Je weniger wir den Leuten liefern, desto weniger bleiben sie uns schuldig. Die neue Konjunktur wird ganz anders aussehen. Und ich sage dir: Beim Wiederaufbau Ostpreussens wird das Kunstgewerbe —“

„Aber ich bitte dich, Fritz, rede doch nur nicht davon! Das Kunstgewerbe ist dein Steckenpferd seit sieben Jahren.“

„Warum hast du mich was lernen lassen?“

Der Alte wird immer unruhiger.

„Nun, Fritz, ich habe dir den Gefallen ja auch mehr als einmal getan und habe alle möglichen Professoren für uns arbeiten lassen. Und der Erfolg? Zwei goldene Medaillen und dreissigtausend Mark draufgezahlt. Du nennst geschmacklos, was wir fabrizieren. Aber ich als Fabrikant habe nicht die Aufgabe, das Publikum zu erziehen. Das sollen die Schulmeister machen. Wir können nur anbieten, und was am meisten verlangt wird, das schmeissen wir auf den Markt.“

Fritz bleibt hartnäckig.

„Ich rede nicht dafür, dass wir die Fabrik von heut auf morgen auf eine andere Tonart stimmen. Aber vorbereitet müssen wir sein auf eine Zeit, wo Fragen des Geschmackes nationale Angelegenheit sein werden. Sie sind es längst, und die Brüsseler Ausstellung war der erste Sieg dieses Krieges — ein Sieg nicht nur nach aussen. Auch nach innen. Das ganze alte Deutschland lag auf der Nase, und die Regierung hat einen Begriff davon, was sein könnte, was sein wird.“

Die beiden Gundermanns lieben diese Streitereien, die auf dem Boden innerer Ruhe erwachsen. Frau Mathilde hat nun getan, was sie versäumt. Sie sitzt mit einer Handarbeit dabei. Die Drei vergessen nicht, an Heinrich zu denken. Aber sie haben es sich abgewöhnt, das Schreckliche auszumalen. Sie reden vom Geschäft, auch weil Heinrich nicht dabei ist, und weil der Kapellmeister vom Kottbuser Stadttheater keinen Anteil an diesen Dingen hat.

Heinrich Gundermann hat die Nachricht von seinem Tode auf einem Umweg geschickt. Das zusammengefaltete Papier mit der blauen Depeschenmarke liegt schon seit zwei Stunden in dem Briefkasten einer Junggesellenwohnung, die sich zwischen vierzig Kleinbürger-Quartieren einer Steglitzer Mietskaserne eng und scheu eingenistet hat. Ihr Inhaber, Herr Oskar Gundermann, sitzt noch hinter der grossen Scheibe eines Kaffeehauses und spielt die letzten Trümpfe dieses Nachmittagsskats aus. Dann endlich trennt er sich und geht wehmütig nach Hause, an den ratternden Strassenbahnen vorbei, vorbei an heftig, mitleidlos lärmenden Kindern, an grell beklebten Vorstadtgeschäften, die den Einwohnern verkünden: Ihr braucht nicht in die Stadt zu fahren, um Mäntel, Hüte, Hemden und Regenschirme zu kaufen. Kauft bei uns! Unterstützt den Nachbarn! Den Steglitzer Gewerbetreibenden!

Und an den schiefgestellten Spiegelscheiben der Auslagen begegnet Oskar Gundermann seinem eigenen Bild. Nein, es ist nicht erfreulich, wiewohl eine gewisse, längst abgenutzte Fröhlichkeit um die Augenwinkel an den frischen, ewig jungen, grossen Bruder Robert erinnert. Aber die Augen selbst sind weniger blau und weniger hart, der Schnurrbart lässt sich immer trüber zu den Mundwinkeln herab, und die Haut der Wange ist nicht prall und gerötet, sondern hängt lasch und faltig an den Knochen. Oskar Gundermann denkt auch heute an seinen Anzug. Er sieht genau jene feinen Merkmale, die schiefgeschnittenen Jackentaschen, die schwarzen Einfassungsborten, mit denen sich auch dieser Anzug in der Blüte seiner Entstehung von anderen Anzügen zu unterscheiden versuchte. Aber die Mode ist mit Riesenschritten vorwärtsgeschritten, und zurück blieb eine abgegriffene, verschollene Geckenhaftigkeit.

Und dann das Bäuchlein. Wie kam es und woher? Hatte man so reichlich zu essen, musste man sich nicht mit einem sehr gewissen Taschengeld begnügen, das in aller Oeffentlichkeit die Firma Robert Gundermann und Sohn mittels Postanweisung nach Steglitz sandte? Postanweisung für was? Ja, war man nicht Onkel, hatte man nicht das Talent gehabt, die schnurrigsten Geschichten zu erzählen? Hatte man nicht Bonbons in den Taschen für die Kinder und eine Zärtlichkeit auf den Lippen für die Frauen?

Oskar Gundermann schreitet die Fenster eines Warenhauses ab. Da ist eines in seiner ganzen Höhe und Breite gefüllt mit Aschbechern, Zigarrenabschneidern, Lesezeichen — alle von demselben Muster mit dem Eisernen Kreuz. Onkel Oskar schiebt die Unterlippe in die Höhe — Gundermann, Gundermann; wahrscheinlich lauter echte Gundermanns. Aber, lieber Gott, ist das wirklich das Ziel eines wohlgefälligeren Lebens als das meine? Ich will meinen Bruder bei Ihnen nicht anschwärzen, er ist vortrefflich, unterstützt mich, und ich verkenne die Wohltat keinen Augenblick. Er arbeitet, er hat eine überlegene Intelligenz, einen scharfen Blick, er meistert sein Schiff — aber dieser Aschbecher, ist er das Erzeugnis eines Geistes, der es sich erlauben darf, mir mit einer noch so freundlichen Herablassung zu begegnen? Es ist wahr, es lässt sich nicht leugnen: auch ich lebe von diesen Aschbechern, von dieser überlegenen Intelligenz, von dieser Augenschärfe! Aber — bin ich schon talentlos — würde ich nicht vielleicht besser leben, wenn Seine brüderliche Gnaden es noch ein bisschen weiter gebracht hätten? Ist eine Mietswohnung mit acht Zimmern das höchste der Ziele, selbst am Kurfürstendamm, selbst mit Zentralheizung? Oder wie, hätte sich nicht mein eigenes schwaches Daseinchen ganz anders entwickeln können, wenn des hohen Bruders Kraft und Zielbewusstsein sich auf etwas höherliegende Dinge gerichtet hätten? Ich will ihn nicht anschwärzen, lieber Gott. Aber man kann nicht wissen, und die Talentlosigkeit für Aschbecher beweist noch gar nichts ...

Als Onkel Oskar mit dem bescheidenen Abendbrot im Arm seine Wohnung betritt, findet er das Telegramm. Erst begreift er nicht und dann immer noch nicht. Es ist schon fast dunkel im Zimmer. Aber Onkel Oskar ist es noch zu hell. Er lässt die Rolläden herunterschnarren.

Nach einer halben Stunde macht er sich zum Ausgehen fertig. Unter dem grossen Bestande alter Kleidungsstücke hat er eines gewählt, das ernst genug ist und doch nicht auf einmal alles sagt. Dann aber nimmt er aus dem verschwiegensten Schubfach seines Schreibtisches die kleine verstaubte Nachbildung seines Eisernen Kreuzes von 70. Nein, er hat den Orden nicht getragen, auch nicht, wie so manche alten Herren, als der Krieg ausbrach. Aber heute soll er das Sprechen erleichtern. Und aus demselben Schubfach nimmt er einen weissen Brief, der Heinrichs Handschrift trägt.

Und wie er so zur Strassenbahn hinschlendert, geht ihm durch den Kopf: Sehen Sie, lieber Gott, es ist doch ganz gut, wenn einer in der Familie ist, dem man eine solche Nachricht ohne Vorbereitung vorsetzen kann, einer, der den Schlag verträgt! Ein Onkel sozusagen. Die Postanweisung macht sich schliesslich doch noch bezahlt.

Als Onkel Oskar auf den Balkon tritt, begegnet ihm ein kaltes Lächeln.

„Na, Oskar, du auch mal wieder?“

„Steglitz ist so weit.“

Und dann gibt’s ein Reden hin und her von gleichgültigen Dingen. Herr Robert Gundermann legt kaum die Zeitung aus der Hand. Aber Mathilde ist sofort aufgesprungen, dem Schwager noch ein Nachtmahl aufzutragen. Der hat es nicht hindern können und isst mit mechanischen Kaubewegungen ein paar Bissen, um schliesslich zu danken. Die elektrische Lampe bescheint nur einen engen Kreis, und das Eiserne Kreuz ist ausserhalb des Scheins geblieben. Das Essen wird hinausgetragen. Robert streckt dem Bruder die Zigarrenkiste hin, und Oskar greift zu.

„Du zitterst ja, Oskar.“

„Man wird nicht jünger, Robert.“

„Na ja, aber ich hatte das bei dir nie bemerkt.“

Fritz reicht dem Onkel das brennende Streichholz, und das Licht flammt bei dem kurzen heftigen Zuge hell auf.

„Du trägst ja dein Kreuz, Onkel?“

„Ach so, ja. Eigentlich eine kleine Bosheit von mir. Ich kam heute an einem Warenhausfenster vorbei. Da waren lauter Aschbecher mit dem Kreuz. Du kannst natürlich nicht dafür, Robert, dass du damals nicht im Felde warst. Aber warum soll ich so gänzlich schmucklos bleiben?“

Herr Gundermann schliesst ein bisschen die scharfen Augen, kneift die Lippen fester zusammen, um eine kräftigere Antwort zurückzuhalten. Dann sagt er:

„Und du fragst gar nicht nach Heinrich?“

Onkel Oskar bemüht sich, ein ganz harmloses Gesicht zu machen. Aber wann soll er denn eigentlich anfangen?

„Heinrich — nun ja — Heinrich — man wagt ja gar nicht so recht an da draussen zu denken.“

„Wieso?“ Robert sitzt ganz aufrecht im Lehnstuhl und hat die Zeitung endgültig aus den Händen gelegt. „Es geht doch vorwärts, gewaltig vorwärts.“

„Nun ja — Robert — es geht vorwärts, aber es kostet auch was.“

„Was — ja, was meinst du denn eigentlich?“ Mathilde sitzt auch steif aufgerichtet da, und Fritz meint für sich, dass die Mutter noch gar nicht die alte Frau sei. Sie ist wie sprungbereit. Die grauen Augen, die für alle Tage so verloren blicken, sind plötzlich mit Licht gefüllt. Der sanft gekrümmte Nacken, die Wange — Fritz sieht plötzlich unter dem grauen Schleier des Alters die junge Mutter. Dann sagt er:

„Weisst du, Onkel, man sollte den Eltern so etwas gar nicht vor die Augen halten. Die Dinge sind schlimm, und man bessert sie nicht, wenn man sie sich vorstellt.“

„Nein, Fritz,“ sagt Mathilde, „der Onkel hat recht. Ich habe an dich gedacht, wie du draussen warst, und ich denke an Heinrich. Aber es ist in unseren Gefühlen immer etwas, was sich beruhigen will, sich zufriedengeben. Und es kommen Briefe und Karten, und man wird wirklich ruhig und sitzt auf dem Balkon, als ob nichts wäre.“

Mutter Mathilde steht auf. Sie hat ihr Taschentuch in der zitternden Hand und geht mit unsicheren Schritten in das dunkle Wohnzimmer. Die drei Männer bleiben schweigend zurück, bis sie ein Schluchzen hören.

„Du hättest ihr das alles nicht sagen sollen, Oskar.“

„Ich habe ja doch nicht viel gesagt, Robert —“

„Nein, nicht viel, aber sie weint.“

„Frauen denken, wenn sie weinen.“

Robert sieht missbilligend auf den Bruder, steht auf, folgt seiner Frau ins Dunkle. Dann erhebt sich auch Fritz. Er tastet sich zurecht, stolpert fast über die Füsse des Vaters, der lang ausgestreckt im Lehnstuhl liegt — und findet endlich die Mutter, die auf dem Sofa sitzt und den Kopf mit beiden Händen auf den Tisch stützt. Endlich trottet Oskar hinterdrein, sucht sich aber ein bescheidenes Stühlchen nahe der Balkontür. Als sich die Augen gewöhnt haben, sehen sie ganz gut die verschwommenen Umrisse von Mutter und Sohn, ein bleiches Leuchten auf Robert Gundermanns kahlem Schädel, vor der Glastür aber den warmen Lichtschein, der das giftige Grün des wilden Weins und die roten Pelargonien so jäh aus dem Schlaf weckt.

Nach einem kurzen Schweigen geht Oskar einen Schritt weiter.

„Ich habe es nicht so gemeint, dass man sich das Schreckliche vorstellen soll. Das am allerwenigsten. Aber man soll sich wohl zu den Menschen, für die man fürchtet, ins rechte Verhältnis setzen.“

Robert wird durch das Geschwätz des Bruders nervös.

„Meinst du etwa, ich stünde zu Heinrich nicht richtig?“

„Du stehst gut zu ihm, Robert, aber richtig? Du stehst ja auch zu mir gut, Robert. Und ich zweifle doch an der Richtigkeit.“

Oskar bekommt keine Antwort, und er fährt fort:

„Bis zu einem gewissen Punkte hat natürlich alles seine Richtigkeit. Man ist jung, kriegt Kinder, die wachsen heran, entwickeln sich so oder so, und man kämpft mit ihnen. Das muss so sein. Jedes kleine Halsübel wird sehr sorgfältig nud sehr liebevoll behandelt und beseitigt. Aber wenn die kleinen Uebel des Herzens beginnen, sind Eltern machtlos. Was sollen sie denn tun? Gewähren lassen? Nein! Hat ein Vater nicht Erfahrung und Willen — eine Mutter nicht Gefühl und Wurzeln? Also man kämpft. Der Junge hat eine Begabung, der Vater hat sein Geschäft —“

„Bist du hergekommen, mir Vorwürfe zu machen?“

„Nein, lieber Robert, ganz im Gegenteil. Ich halte diesen Widerstand für sehr natürlich und notwendig. Die Jugend nascht gerne, auch von der Schönheit. Sie ist geneigt, jedem Gelüst nachzugehen. Und erst am Widerstand lässt sich prüfen, ob’s ernst war. Der Junge brennt von Zuhause durch. Sein leidliches Klavierspiel gibt ihm die Möglichkeit, durch Unterricht sein eigenes Studium durchzusetzen. Der Vater wird weich — aber der Sohn wird verstockt, und man braucht die Hilfe eines alten Onkels, damit der Sohn nur die kleine Unterstützung annimmt, die ihn von der Fronarbeit befreien, sein Studium behaglich machen soll.“

„Na ja, das wissen wir ja alle —“

„Und wisst doch nicht das Eigentliche. Der Sohn arbeitet. Die Notenpapiere um ihn häufen sich. Kompositionen, Pläne, es gehen grosse Dinge vor. Er glaubt an sich, er kennt gar keinen Zweifel.“

„Und dann ist doch alles umsonst.“ Robert Gundermann sagt es mit schwerer Zunge.

„Das ist ja das Merkwürdige, Robert, dass es nicht umsonst ist. Ganz und gar nicht. Die Kompositionen haben keinen Erfolg. Schwarz auf weiss steht es in den Zeitungen, und die Autoritäten sagen es in privaten Gutachten ohne Mitleid: Es reicht nicht. Ginge es um Nichtigkeiten. Aber nein, einer auf Stelzfüssen will den Kilimandscharo besteigen. Die Liebe zur Kunst macht noch nicht den Künstler. Dieser ist ein Dilettant, wie er in den Balkonwohnungen Berlins zu Dutzenden zu finden ist. Dilettant — einer der sich am Guten zu erwärmen vermag, aber selbst keine Flamme, nicht einmal ein Flämmchen. Zusammenbruch. Aber als Dirigent will er’s versuchen, ein Konzert —“

„Erinnere doch nicht daran, Onkel!“

„Jawohl, gerade daran erinnere ich. Gott sei Dank, dass die Philharmoniker auch ohne — und wenn es sein muss — auch gegen den Dirigenten zu spielen verstehen. Noch ein Zusammenbruch. Aber was dann?“

„Schweig’ doch, Oskar, du siehst doch, wie erregt Mathilde ist.“

Aber die Mutter hat längst die Hand von den Augen genommen, und sie sagt ganz fest: „Lasst ihn sprechen! Ich ahne, wo er hinaus will.“

Oskar Gundermann saugt die letzten Züge seiner Zigarre heftig heraus und wirft den Stummel in weitem Bogen über den Balkon.

„Zweiter Zusammenbruch. Heinrich flieht. Niemand weiss, wohin. Jawohl, dieser Zusammenbruch schmerzt. Uns allen ist es wie eine Schande. Der Name Gundermann hat seinen Klang in der Industrie. Aber in die Oeffentlichkeit ist er nicht gedrungen. Gundermanns sitzen Olivaer Platz Numero zwölf. Mehr verlangen sie nicht vom Leben, und Berühmtheit am wenigsten. Aber eines verlangen sie: dass der Name nicht zum Spott genannt wird. Soll man sich von Geschäftsfreunden fragen lassen: Ist das Ihr Sohn, Gundermann? Soll man sich von Onkels und Vettern fragen lassen: Was geschieht mit Heinrich? Und die Scham ist nicht das einzige, was treibt. Die Mutter schreit’s hinaus: Was geschieht meinem Kinde? Verflucht die Kunst, wenn sie einen Menschen zugrunde richtet!“

„Du hast recht, Oskar, wie oft habe ich’s gedacht!“

„Und der Onkel wird wieder mal auf die Suche geschickt und findet den Jungen in einem Tanzlokal am Klavier. Und sagt: ‚Junge, dein Vater ist reich. Hast du deine Liebhabereien, so sollst du sie pflegen dürfen. In allen Ehren, in Beschaulichkeit. Vielleicht wird es dann doch was.‘ Und der Junge steht kaum vom Klavier auf und sagt: ‚Ich danke, danke euch allen. Aber reden wir nicht mehr von der Kunst! Ich bin doch nicht wahnsinnig. Ich will jetzt gar nichts weiter, als meine bürgerliche Existenz mit dem durchsetzen, was ich immerhin — gelernt habe. Nicht, als ob’s mir auf diese Existenz selbst so unbedingt ankäme. In meinem Falle aber ist sie einfach der Gradmesser meiner sittlichen Kräfte. Und deshalb lieber zum Tanz aufspielen als auf bequeme Art.‘“

Robert Gundermann holt tief Atem und sagt: „Es war am Ende Gundermannsch —“

„Mit Verlaub — es war: Robert Gundermannsch — aber das war dir damals nicht so ganz klar. Du warst eben einfach von Herzen unglücklich und hast dich erst beruhigt, als der Weg langsam, langsam, vom Tanzklavier zum Tanzorchester, vom Dirigenten der Tingeltangel zu dem des Badeorchesters führte, bis endlich, endlich mit heissem Bemühen die nicht gerade weithin sichtbare Stelle des Kottbuser Stadttheater-Kapellmeisters errungen war und alles in allem schliesslich bewiesen wurde, dass einer mit schweren Kämpfen, mit härteren Leiden, mit brennenderen Nöten sein Pöstchen erobert hat.“

Und Fritz stimmt ein:

„Und dass die Ehre grösser war als die des anderen Bruders, der sich einfach an den gutpolierten Schreibtisch des Vaters setzte —“

„Jeder seiner Natur nach, Fritz. Du hast ja wohl die Hände nicht in den Schoss gelegt, wie — nun, wie ich. Aber die höhere Ehre, wir mögen sie ihm gönnen. Und wenn wir ihn richtig einschätzen, dann brauchen wir nicht an die Schrecken des Schlachtfeldes zu denken. Was sich dort abspielt, was dort Schicksal ist, das ist es Tausenden, die auch Mütter, Väter, Brüder haben. Aber das Besondere, das haben wir, nur wir mit ihm. In diesem Verhältnis müssen wir mit ihm sein, unbekümmert um das bisschen Gefahr.“

Die Mutter sagt mit tränenlosem Blick: „Dann ist es ja wohl in einem besonderen Sinne gleich, ob einer lebt oder nicht. Wenn wir nur mit ihm leben.“

„Ja, liebe Mathilde, und deshalb bin ich heute abend zu euch gekommen, um euch das zu sagen.“

Da steht die Mutter plötzlich auf. Sie sieht scharf zu Oskar hinüber, dessen bleiches Gesicht von der Lampe draussen zur Hälfte beleuchtet ist. Ihre Blicke begegnen sich, und dann weiss sie, und sie stürzt zusammen — —

Die Lampen in den anderen Käfigen sind längst erloschen. Die Stadt liegt in ihrem frühen Kriegsschlaf. Nur noch selten das Rollen der Bahn, der misstönende Ruf einer Hupe. Bei Gundermanns brennt die Lampe immer noch. Die Vier haben lange geschwiegen. Nun steht Robert Gundermann langsam auf und legt dem Bruder die Hand auf die Schulter: „Ich danke dir, Oskar.“

„Nein — nein, du hast nichts zu danken, du selbst gibst mir die Zeit, über einige Dinge nachzudenken. Aber wir wollen uns darüber auch nicht unklar sein, dass mit dem Tode Heinrichs das eine Problem gelöst wurde. Ein eigentlich glücklicher Mensch konnte er ja nicht werden. Und einer, der sich krampfhaft zwingen musste, fand nun die Ruhe. Auch das macht den Schmerz um ihn linder und endlich heilen. Aber es bleibt —“

Oskar hält inne, Vater und Mutter sind zu tief in ihren Gedanken, um es zu bemerken.

Nur Fritz hört das Zögern und fragt:

„Was bleibt?“

„Gewissermassen ein Vermächtnis. Ich selbst erfuhr davon erst in dem Augenblick, als Heinrich ins Feld rückte.“

„Ein Kind?“ Die Stimme der Mutter klingt fast frohlockend, als erwarte sie, dass das Schicksal ihr nun den Sohn verjüngt wiedergeben wolle.

„Nein, Mathilde, eine Frau.“

An diesem Abend erfahren die Eltern wenig genug; nur dass es eine Dame vom Theater sei, eine Sängerin, und dass die Ehe schon vor drei Jahren in aller Stille geschlossen wurde, und dass Konstanze Gundermann für diesen Sommer am Gutstedter Sommertheater engagiert sei. Der Brief des Sohnes aber lautet zum Schluss:

„Seid freundlich zu ihr! Sie hatte es mit mir nicht leicht. Das Leben am Theater ist ein täglicher Kampf um das Nötigste. Beschützt sie vor dem Schlimmsten! Und, wenn ich sterbe, werde ich einen Dank für Euch auf den Lippen haben.“

Man hat Oskar keine Zeit gelassen, in seine Junggesellenwohnung zurückzukehren. Mit wenigen Worten ist verfügt, dass er mit dem ersten Morgenzuge nach Gutstedt abzufahren habe. Die Vorbereitungen für sein Nachtlager und das bald sich regende Bedürfnis nach Alleinsein schliessen alle weiteren Erörterungen aus.

Nach kurzem Schlaf und hastig genossenem Frühstück sitzt Oskar in den weichen Kissen des Schnellzuges. Ihm ist der liebste der Neffen gestorben, aber der Mut des Ueberlebenden gibt ihm an diesem Morgen Gefühle und Erinnerungen einer sonderbar heissschmerzlichen Art. Er kann es sogar nicht leugnen, dass der Besitz einer Eisenbahnkarte und einer reichlich gefüllten Geldtasche ihn in anderen Zeiten zu ungeahnten Dummheiten verlockt hätte. Aber die Zeit der Dummheiten gehört heute den andern, und ihre Folgen auszubessern ist ja nun seine Aufgabe. O ja, es bleibt zu tun, auch da Heinrich fort ist. Der nüchterne Neffe Fritz sieht für ihn auch nur nach aussen still und besonnen aus — ebenso wie Agnes, die verheiratete Nichte, klug und welterfahren. Ueber den Liebesgedanken der andern nickt er mit der Zigarre ein.

Fritz hat den Onkel zur Bahn begleitet. Es ist eigentlich der erste Ausgang, seit er von dem süddeutschen Reservelazarett in die Heimat zurückgekehrt ist. Er hat keine Neigung gefühlt, mit dem Arm in der Binde und dem schleppenden Fuss über die Strasse zu ziehen. Nicht die notwendigsten Besuche hat er gemacht — nicht einmal bei Kusine Agnes. Und eben erst, als er so frei im Auto vom Anhalter Bahnhof nach dem Westen zurückfährt, denkt er daran, das Versäumte nachzuholen. Am Ende muss man ja Agnes Thüssing und ihrem Mann von dem Geschehenen Mitteilung machen. Dass sie die nächste dazu ist, versteht sich von selbst. Sie ist ja auch die erste gewesen, die ihn nach seiner Heimkehr aufgesucht hat. Drei- oder viermal sass man seitdem noch einander gegenüber, aber es war nicht weiter die Rede davon, dass man eigentlich seit drei Jahren nicht gesprochen — nicht so gesprochen, wie Fritz und Agnes es Sprechen nannten. Er rechnet nach — mit zwanzig Jahren hat man sich den leidenschaftlichen Abschiedskuss gegeben, warum? Nun eben, weil man fast am selben Tage zwanzig Jahre alt, weil man Vetter und Base ist. Weil es so ist, dass man die Basen küsst, aber dann seinen eigenen Weg geht. Und weil Agnes Gundermann kühl und entschlossen allen Weiterungen entging, indem sie Herrn Thüssing die Hand reichte.

Die Autodroschke hält am Kurfürstendamm — als Fritz zahlt, tritt eben Herr Thüssing aus dem Hause, hurtig mit kleinen Beinchen stürzt er zur Tür hinaus. Die grauen, scharfen Augen hängen sich sofort an den Wagen; er winkt mit dem Stock. Fritz denkt gleich: er ist am Ende wer, dieser Bankdirektor. Hat es gar nicht nötig, sich prüfend vor den Spiegel zu stellen, bevor er mit einer Werbung vor die hochgewachsene Agnes Gundermann tritt. Er weiss, seine Anzüge sind von bestem Schnitt, der Friseur hat das kleine Schnurrbärtchen mit Liebe in die Länge gezogen, die Strähne über das halbkahle Köpfchen mit einer ins Kleine eindringenden Liebe geordnet. Sauberkeit ist Schönheit, auch in Geschäften. Wenn das Einkommen in die Hunderttausend geht, ist man nicht so sehr ein reicher Mann als ein Meister. Und ein solcher hat an der eigenen Gestalt nichts auszusetzen und fragt auch nicht nach dem Geschmack der andern.

„Du, Fritz — kann ich deinen Wagen nehmen? Ich bin in Eile.“ Es kommt ein wenig schnarrend und breit von Thüssings Lippen.

„Aber natürlich — du wunderst dich wohl, dass ich so früh zu euch komme — ich wollte gerade dich —“

Konrad Thüssing runzelt den schmalen Stirnrand unter der schwarzen Melone: „Ist es sehr dringend?“

„Eigentlich nur eine Mitteilung — Heinrich ist gefallen.“

Thüssing rückt den Kopf zurück, zuckt seine Mundwinkel abwärts — dabei arbeitet sein Kopf — was sagt man?

„Armer Junge — arme Eltern — wie hat es die Mutter aufgenommen? Dir ist ein prächtiger Bruder gestorben, ein ausgezeichneter Mensch — ich hätte ihm so einen Erfolg gewünscht — aber dieser Krieg — er durchhaut den dicksten Knoten — grüsse die Eltern — ich komme selbstverständlich heute nachmittag zu euch.“

Das Auto ruckt an, und in einer Minute ist die schwarze Melone Thüssings verschwunden.

Fritz sieht ihm nach. Bevor er ins Haus tritt, wirft er einen Blick auf die Fassade.

Hinter so was wohnt der Mensch! Die polizeiliche Bauflucht ist genau einzuhalten — aber hart an der Grenze führt die Phantasie des Erbauers ihren abenteuerlichen Tanz auf. Wülste, Wülste im Taumel von Verrenkungen und Verschlingungen. Plötzlich empfindet Fritz am schmerzlichsten die Trauer um Heinrich. Wie oft hatten sie ihren Spott auf dieses Haus vereinigt!

Und hinter diesen Wülsten wohnt Agnes —

Er geht die Treppe hinauf. Hier im Innern also versucht man es mit Geschmack. Warum auch nicht? Auch der Geschmack lässt sich kommandieren. Da ist nicht mehr Marmor und vergoldetes Schmiedeeisen von 1895 — da ist Wärme, Täfelung, farbiges Licht der Hölzer.

Fritz ist über den dicken, roten Teppich der Diele vorbei an den englisch weisslackierten Garderobenmöbeln geschritten und sitzt nun wartend in Agnes’ Biedermeierzimmer. Nein, es ist dennoch schwer, bei Sinnen zu bleiben. Wie würden die Leute schreien, wenn im Wohnzimmer einer auf der Trompete Wagner blasen würde, im Salon ein anderer auf der Violine Mozart, im Esszimmer ein dritter auf dem Klavier Chopin spielte. Mit Möbeln aber kann man sich alles erlauben, weil niemand was fühlt. Und wie sicher stehen die Möbel, wie am ersten Tage, da sie fix und ferrig vom Hoflieferanten ins Haus geschafft wurden! Wie komplett hat man sich verheiratet. Die Möbel reichen bis zur goldenen Hochzeit — aber wie die Menschen hinein oder ineinander oder auseinander wachsen, das kümmert keinen.

Agnes steht vor ihm, hoch, fast fremd. In aller Kriegszeit mit genauer Berücksichtigung der Modemöglichkeiten. Der weitgefaltete graue Seidenrock gibt der Gestalt Leichtigkeit — behende Anmut. Das kurze Jäckchen hebt den Oberkörper zart und bestimmt ab, und Agnes ist so geschmeidig geworden — so wiegend.

Während er von Heinrichs Tode spricht, nimmt er ihre Trauer wahr. Die vollen Lippen öffnen sich und zeigen wundervoll mächtige Zähne. Um die blauen, unruhigen Augen zittert es nervös, die strenge Nase mit den weiten, sehnsüchtigen Flügeln, die sonderbar geradgezeichneten schwarzen Brauen, das hellblonde, sehr kunstvoll geformte Haar mit dem weit nach hinten gesteckten Turban — alles ist in Bewegung. Aber dann plötzlich eine Beruhigung. Ihre schmale rechte Hand mit enggeschlossenen Fingern legt sich an das funkelnde Haargebäude, als könnte es unter dem Sturm der Gefühle leiden.

„Ich sehe dich so anders, Agnes.“

„Wie — mich — heute?“

„Eigentlich nicht erst heute. Seit du verheiratet bist.“

Sie legt den Kopf etwas hintenüber — ist es nicht eine Bewegung Konrad Thüssings? Und sieht mit den Augen ängstlich und stolz zu ihm hinüber.

Fritz hat Lust zur Grausamkeit. Ohne zu fragen, schiebt er sich eine Zigarette zwischen die Zähne und zündet sie an.

„Merkwürdig, dass ich erst jetzt weiss, aus welchem besonderen Grunde ich hergekommen bin. Du solltest erfahren, dass Heinrich tot ist. Aber hinter dieser Nachricht baut sich erst alles auf, was ich dir zu sagen habe.“

Und stachlig beginnt er die Auseinandersetzung. Jawohl, die Auseinandersetzung, zu der ihn Agnes verlockt, weil sie so fertig, so künstlich, abgeschlossen und gegen alle Angriffe gefeit vor ihm steht. Er hat den Mut, aufzudecken, was war. Sie will ihm das Wort abschneiden, mit unfreiem Lachen ihn ablenken.

„Weisst du, Fritz, eigentlich bist du doch noch ganz jung.“

Er lacht bitter auf.

„Nicht wahr, Agnes? Ich bin noch ganz jung. Du aber bist eine alte Frau, hast dein Ziel erreicht, die Türen hinter dir zugeschlagen. Und da ist es Zeit, dass man wieder mal lüftet.“

Es macht ihm Spass, die Gundermannsche Kinderstube zu entschleiern, Dinge beim Namen zu nennen, die man tat, ohne je von ihnen zu reden. Wie es war, wenn Robert Gundermanns bei Landgerichtsrats Gundermann Besuch machten. Was in den Stuben der Halbwüchsigen vor sich ging, wenn die Alten vorn politisierten.

Sie will ihn zurechtweisen und sagt kalt:

„Mach’ mit deinen Erinnerungen, was du willst; aber am Tage, wo Heinrichs Tod —“

Er verzieht den Mund. Nun hat er sie gerade, wo er sie haben will. Als ob es ihm darauf angekommen wäre, Schuld an Schuld abzumessen!

„Zu erinnern bleibt nur, dass, während du und ich uns küssten, Heinrich dich liebte, dass er aus dieser unglücklichen Neigung in eine noch unglücklichere getrieben wurde — zur Musik!“

Feindseligkeiten blitzen auf, von denen sie beide nicht wissen, ob sie eben geboren werden oder uralt sind. Mit Rede und Gegenrede suchen sie die längst verdämmerten Jugendtage noch einmal aufzuhellen, den Zustand, da man sich küsste, ohne sich zu lieben, da man andere liebte, ohne sie zu küssen. Da man sich seine letzten Heimlichkeiten anvertraute, ohne Freund zu sein.

Agnes ist nicht mehr sicher, und fast klagend ruft sie:

„Aber was ist meine Schuld daran?“

Nein, es ist nicht leicht, diese Schuld zu formulieren. Man muss dazu all die Feinheit kennen, mit der schon die siebzehnjährige Agnes ihre Ränke zu spinnen wusste. O nein, man erwiderte die Neigung Heinrichs nicht, aber man stiess ihn auch nicht ab, am wenigsten, als er sich anschickte, ein Künstler zu werden. In einer solchen Laufbahn liegen Möglichkeiten für eine Frau, von denen sich ausserordentlich gut träumen lässt. Das bisschen Leidenschaft würde sich nachher schon finden. Man liess sich ja auch von Fritz küssen, ohne ihn zu lieben. Also nährte man Heinrichs Hoffnungen. Jahre hindurch, bis zu dem Punkt, wo das Vergebliche dieses künstlerischen Ringens ein für allemal bewiesen war. Und als alle sich von ihm wandten, da wandte man sich auch.

Agnes hat sich erhoben. Die Glätte ihrer Wangen ist leicht zerstört, das Haar ist an der Seite zerdrückt, verschoben. Ihre Augen haben tieferen Glanz. Sie tritt vor Fritz und sagt tonlos:

„Und was sonst noch?“

„Noch eine Kleinigkeit, Agnes — dann gehe ich. Du weisst Heinrich ist am Ende auf seine Weise Herr der Widrigkeiten geworden, hat mit Treue ein Ziel erreicht, wenn’s auch nicht das grosse war. Und hat — ich denke mir — damit auch eine Frau bekommen — —“

Agnes wird bleich und rot: „Eine Frau — —“

„Ja, eine Frau, von deren Dasein auch wir erst gestern erfahren haben.“

„Was für eine Frau?“

„Ich weiss es wirklich nicht. Aber er bat in einem letzten Briefe um Schutz für sie, und Onkel Oskar ist auf dem Wege, sie zu holen. Wir werden alle an ihr gutzumachen haben, was wir an Heinrich versäumten. Wir alle — verstehst du, Agnes. Und du besonders. Ich weiss nicht, wer und was die Frau ist. Sie kommt in ein Haus alter Leute. Sie wird eine Freundin brauchen. Und darauf wollte ich dich vorbereiten. Nun lebe wohl —“

Fritz ist aufgestanden. Er hat die Mütze in der freien Hand und geht bis zur Tür, dort wendet er sich nochmals. Agnes sieht ihn an, und er sieht zu ihr zurück mit den brennenden blauen Augen, die so weit auseinanderliegen. Die Stirn unter dem spitz vordringenden, kurz geschnittenen Haar ist so gewölbt. Von der Gundermannschen Nase gehen zwei scharfe Falten zu den Mundwinkeln hinab. Nein, das ist nicht mehr der glattwangige Knabe — das ist ein Mann, der sich draussen herumschlug — aber leben blieb — leben blieb —

Agnes ordnet wieder das Haar mit der flachen Hand. Sie kann es nicht hindern, dass ihre Lippen lächeln.

„Wirklich, du bist erstaunlich jung, Fritz. Siehst nur aus wie ein richtiger Mann. Denn das mit der Freundin —“

Er hat nur darauf gewartet —

„Also du willst nicht?“

„Fritz, wir wollen uns nicht um Dinge erregen, die wir noch gar nicht beurteilen können. Wir werden sie sehen, und wir werden wissen, was zu tun ist.“

„Das gerade ist falsch, Agnes. Sie ist Heinrichs Frau. Wir kommen gar nicht in die Lage zu fragen.“

Und wieder lächelt Agnes.

„Methodisches Herz — ich sage nur: Ich mache nicht ohne weiteres mit. Wir werden sehen. Seit wann sind sie verheiratet?“

„Seit drei Jahren.“

„Nun siehst du — drei Jahre hat Heinrich gezögert, seine Frau zu seinen Eltern zu führen. Die Gründe sind vorläufig nicht klar.“

„Nun tut er’s aber.“

„Gewiss, aber was mich betrifft, so will ich mich in keine neuen Lügen verstricken.“

„Mach’ dir das Leben nur so bequem wie möglich —“

„Nimm die Gründe, wie du willst, Fritz. Ich habe Heinrich nicht geheiratet. Ich fühle keinem Menschen gegenüber Verpflichtungen.“

Fritz senkt den Kopf.

„Nun ja, du magst recht haben. Wir sind nicht mehr fünfzehnjährig. Du bist eine alte Frau und hast alle Türen zugeschlagen.“

Die Falten um seine Lippen wurden schärfer, sein Blick verdunkelte sich.

„Und weisst du, Agnes, was das Merkwürdigste ist? Wenn ich dein Zimmer verlassen habe, dann werde ich wieder eine Fünfzehnjährige küssen wollen.“

Agnes’ Lippen lächeln im Siege. Sie geht zwei Schritte auf Fritz zu, und sie bleibt stehen, als sei der Raum zwischen ihnen nicht zu überwinden.

„Die Sache mit dem fünfzehnjährigen Mädel ist deine Angelegenheit. Du kannst das machen, wie du willst —“

Er geht.

Agnes bleibt noch eine Sekunde stehen. Dann wendet sie sich und geht in leichtem Wiegeschritt durch das Zimmer, bis sie vor ihrem Kleiderschrank steht, dem sie nach einiger Wahl ein Strassenkleid aus schwarzer Seide entnimmt. Sie läutet dem Mädchen: „Wir werden diesen bunten Besatz herausnehmen müssen.“ Und sie probiert einen kleinen Hut mit schwarzem Reiher.

„Ist er nicht etwas zu fesch, Agathe?“

„Zu fesch — gnädige Frau —“

„Es scheint mir fast. Wir haben Trauer bekommen.“ — —

Zu Hause findet Fritz die Mutter am Nähtisch zwischen schwarzem Zeug. Ihre welken Hände ordnen dies und das, während der Vater mit grossen Schritten auf- und abgeht. Er hat sich endlich von den weissen Gamaschen getrennt. Die Wangen sind nicht mehr prall, und die Augen liegen in tiefen schwarzen Höhlen. Fritz meldet, dass er bei Thüssings war.

Der Alte wendet energisch den Kopf.

„Du hättest das nicht ohne unsere Einwilligung tun sollen.“

„Aber was ist noch zu verschweigen, Papa?“

„Wir wollen doch erst sehen, was mit Heinrichs Frau ist.“

„Was soll sein? Sie ist Heinrichs Frau.“

„Nun ja, natürlich. Aber wir dürfen uns doch nicht verhehlen, dass uns möglicherweise grosse Schwierigkeiten bevorstehen. Es gibt Gedanken, die hinterherkommen.“

„Versteh’ ich nicht —“

Robert Gundermann bleibt beim Stuhl des Sohnes stehen.

„Wir hoffen das Beste, Fritz. Aber wir wissen auch, dass Künstler zuweilen Ehen eingehen, die den bürgerlichen Begriffen nicht entsprechen.“

Fritz wird ungeduldig und scharf.

„Na ja, sie wird hoffentlich nicht von Adel sein.“

„Ich bitte dich, Fritz, kein gemachtes Missverständnis. Wenn sie nach Wesen und Art uns entspricht —“

„Wir haben gar kein Recht, zu unterscheiden. Er hat geheiratet, und sie ist Mitglied unserer Familie.“

Die Mutter gibt durch ein Räuspern kund, dass sie was sagen möchte.

„Denk’ doch, Fritzchen, wir wissen ja gar nicht, ob sie was von uns will. Wir wollen ihr Gutes tun, das steht fest. Auf welche Weise, das wird sich zeigen.“

Fritz sieht erstaunt auf die Mutter, die in bestimmtem Tone fortfährt:

„Jedenfalls haben wir keine Ursache, Angelegenheiten, die im Augenblick nur uns angehen, in der weiteren Familie besprechen zu lassen.“

Fritz legt sich in dem Lehnstuhl zurück und schweigt.

Als Oskar Gundermann in Gutstedt ankommt, gerät er in das abendliche Getriebe des Badeorts. Gellend weisse und rötliche elektrische Lampen kämpfen noch mit dem leisen Blau des sich sacht entfärbenden Himmels. Zwitterfarbig liegt’s über Häusern, Bäumen, Dingen und Menschen. Die tummeln sich geschwätzig, huschen noch in diese und jene Läden oder ziehen in feierlich behäbiger Ruhe zum Abendessen. Die Terrassen der Gasthäuser sind sehr dicht besetzt.

Es ist lange her, dass Oskar Gundermann die Luft einer Badestadt geatmet hat. Mit einer losen Verführung nimmt’s ihn gefangen, als er junge Mädchen in hellen Kopftüchern vorbeilaufen sieht. Erst als er in der weitläufigen Diele des Hotels auf einen Zettel des Gutstedter Kurtheaters stösst, merkt er, dass er für Minuten den Sinn seiner Reise vergessen hat.

„Fledermaus“ — und noch einmal verflüchtigt sich das Bewusstsein seiner ernsten Gegenwart. Ein toller Rhythmus jagt plötzlich durch seinen Körper, eine süsse Kantilene ist ihm im Ohr — was hat’s mit dem armen Jungen zu tun, der da draussen liegt?

Nein, diese Fröhlichkeit spricht nicht gegen die Trauer. Man wird sich an solchen Tagen nicht ins Theater setzen. Aber das schmeichelnde Gift dieser Musik rumort auch ausserhalb des Theaters — in jedem Blut, das seine Erinnerungen hat.

Oskar Gundermann tritt näher — nur aus Neugier — und überfliegt die Namen. Plötzlich erbleicht er, sein Körper zittert — nein, er ist doch kein Mann mehr von unerschütterlichen Nerven. Da steht’s: „Adele — Konstanze Gundermann.“ —

Er fährt auf sein Zimmer, unterschreibt mit unsicherer Hand die Meldung, dann lässt er sich auf den wenig bequemen Stuhl fallen und wischt den unaufhörlich hervorquellenden Schweiss von seinem Gesicht.

„Adele — Konstanze Gundermann.“

Ruhig Blut — was also ist dabei? Entweder sie weiss es noch nicht. Tanzt und hüpft stubenmädchenhaft über die Bühne und weiss nicht, dass der beste Junge mit durchschossenem Kopf in galizischer Erde liegt. Muss man nicht hinstürzen in das Theater, sie zurückhalten? Darf eine solche Vorstellung überhaupt stattfinden?

Oder — sie weiss es — weiss es seit gestern und übt ihren Beruf. Nun — und? Hat er nicht selbst vorhin gefühlt: Diese Fröhlichkeit spricht nicht gegen die Trauer? Uebrigens ihr Beruf — nicht wahr? Eine plötzliche Absage, die Vorstellung kann nicht stattfinden, der Direktor ringt verzweifelt die Hände. Dem Toten kann das alles nichts nutzen — aber der Theaterdirektor kämpft um seine Existenz und um die seiner Mitglieder.

Aber sie selbst — wie bekommt sie’s über sich? Wenn sie ihn geliebt hat —

In Oskar Gundermanns Zimmer ist es dunkel geworden. Er will sich entschliessen, springt auf, nimmt Stock und Hut.

Als er über die Terrasse des Hotels geht, spürt er, dass er lange nichts gegessen hat. Nun ja, die Zeit will auch hingebracht sein. Er bestellt Gleichgültiges und isst ohne Lust und Hunger.

Und plötzlich ist es ihm klar: Er muss Konstanze Gundermann sehen. Als Adele. Er wird den Schlüssel zu ihrer Persönlichkeit in der Hand haben, bevor er sie spricht. Er wirft dem Kellner das Geld hin, lässt sich den Weg zeigen, verirrt sich in dem grossen, mächtigen Kurpark auf den ewig geschlungenen, zu keinem bestimmten Ziele führenden Spazierwegen, dreimal, bis er endlich vor dem Theaterchen steht. Ein Trinkgeld öffnet ihm den Verschlag, der den Namen Fremdenloge führt.

„Mein Herr Marquis,

Ein Mann wie Sie.“

Da steht Adele-Konstanze. Zart, schlank, kaum in Mittelgrösse. Ein Ballkleid — dieses hat Adele nicht ihrer feudalen Herrin gemopst, es stammt aus dem eigenen Kleiderschrank — rosa mit Flittern. Oskar denkt nach. Alt gekauft aus der Garderobe eines Hoffräuleins von Lippe oder Waldeck. Nun ja, Heinrich konnte sie nicht glänzend ausrüsten, und die eigene Gage — Oskar rechnet sie an der Stimme aus, an diesem kleinen, dürftigen Stimmchen, das kaum dieses Theater zu füllen vermag. Ist Konstanze heiser? Nein, die Stimme ist, wie sie ist — gebrochen. Da tut auch Heinrichs Tod nichts ab und nichts zu. Und dann spürt er doch den Reiz eines Knabenorgans im Stimmwechsel — schwach, zuweilen krähend, aber hie und da ein süss verschleierter Ton.

Aber nein, Oskar ist kein Musikkritiker. Den Menschen sucht er und findet — ein Gleitendes, Hüpfendes, Kosendes. Diese matte Fahne eines Ballkleides will nichts besagen gegen die schlanke Fülle einer besonderen Eleganz in Gang und Gebärde. Nein, nein, nicht Soubrette, nicht Stubenmädel, das mit der Schleppe tolpatscht — nein, Dame, die das Damenhafte karikiert. Verliebt erfahrene Kinderhände, ein Körperchen, kaum mittelgross, aber durchgebildet,