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›Vagabond‹ ist der Deckname eines britischen Geheimagenten, der in Nordirland brutale Operationen gegen die IRA durchgeführt hat. Ausgebrannt zieht er sich für lange Jahre in die Normandie zurück und verdient seinen Lebensunterhalt als Touristenführer an den Invasionsstränden. Aber seine ehemaligen Vorgesetzten wollen ihn nicht ganz vom Haken lassen und zwingen ihn in eine MI-5-Aktion zurück: Er soll den Aufpasser für einen vom Geheimdienst erpressten Waffenhändler spielen, damit Waffenlieferungen aus Russland an die letzten, vom Friedensschluss frustrierten IRASplittergruppen unterbunden werden.
Das erzählt man Vagabond zumindest, der gute Miene zum fiesen Spiel machen muss. Zudem droht seine Vergangenheit ihn einzuholen. Aber nicht nur sein Schicksal steht auf der Kippe in einer Welt, in der das Gestern keine Ruhe gibt und die Gegenwart extrem gefährlich ist. Realpolitik nimmt wenig Rücksicht auf Menschen, das ist klar wie Salzsäure.
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Seitenzahl: 658
GERALD SEYMOUR
VAGABOND
THRILLER
Aus dem Englischen von Zoë Beck und Andrea O’Brien
Herausgegeben von Thomas Wörtche
Suhrkamp
Hinter ihnen hellte der graue Himmel über dem Berg und den Baumwipfeln ein wenig auf, aber vor ihnen weigerte sich der Regen gewohnt hartnäckig, weiterzuziehen. Eine Stunde nach Einbruch der Dämmerung hatten sie sich am Vorabend in das provisorische Versteck begeben, abwechselnd geschlafen und den Bauernhof beobachtet. Vor ihnen, weit außerhalb von Camaghy und Shanmaghry und in derselben Richtung wie das jungsteinzeitliche Großsteingrab, befand sich das Gebäude mit dem erleuchteten Hof. Jetzt waren beide wach und aufmerksam. Sie beobachteten und warteten.
Es war so etwas wie eine Belohnung für ihre Geduld. Der Lichtblitz hinter der Pomeroy Road blendete trotz der tiefhängenden Wolken.
»Das ist unser Schätzchen«, murmelte Dusty.
Der Explosionslärm erreichte sie nur langsam, als würde er von den Wolken und dem Regen aufgehalten. Desperate – wie man ihn durchaus liebevoll innerhalb der einzigen Familie, die er hatte, nannte – fand, dass der gedämpfte Knall aus der Ferne wie eine platzende Papiertüte klang, die ein Kind aufgeblasen hatte. »Hat gezündet wie ein guter Witz«, flüsterte er Dusty ins Ohr.
Was Dusty »unser Schätzchen« nannte und von dem Desperate fand, dass es »wie ein guter Witz« gezündet hatte, war die Explosion einer Achteltonne chemischen Düngers, den ein handelsüblicher Zünder hochgejagt hatte, der unter dem formbaren Kitt aus anderthalb Pfund Semtex begraben war. Der Lichtblitz war schnell verschwunden, der Lärm hatte sich in den oberen Berghängen verloren. Der Rauch schaffte es nicht, sich durch den Regen hinaufzukämpfen.
Sie brauchten den Ausblick von ihrem Platz in der Hecke, von wo aus sie auch gut hören konnten. Ein paar Rinder waren zu ihnen gekommen, als sie gerade ihr Versteck bezogen, das sie zwei Nächte zuvor gegraben hatten. Rinder waren immer am schlimmsten. Schafe ließen sich wegscheuchen, die meisten Hunde konnte man mit Futter und Tätscheln beruhigen. Rinder blieben am längsten, aber die hier waren vor Mitternacht weitergezogen und hatten sich eine Zuflucht näher an den Hofgebäuden gesucht. Stille umgab sie, und sie konnten in der Ferne Gewehrfeuer ausmachen.
Das meiste aus vollautomatischen Waffen. Ein paar wenige einzelne Schüsse. Männer, die nicht an der primitiven Form der Kriegsführung beteiligt waren, wären vielleicht angesichts des Kugelhagels zusammengezuckt, der sich am Ort der Explosion entlud. Mindestens zweihundert Schüsse. Da draußen hatte das Überfallteam sicherlich schon neue Magazine eingesteckt und ließ die Gurte durch die Maschinengewehre laufen. Das Geräusch hatte nicht den klaren Ton eines Trommelschlags oder eines ploppenden Champagnerkorkens, sondern war vielmehr ein undeutliches Durcheinander. Es war die Belohnung für das Warten.
Beide Männer – Desperate noch mehr als Dusty – besaßen genug Fantasie. Es fiel ihnen leicht, sich die Szene nahe dem Abflusskanal vorzustellen, der das Regenwasser von den Feldern über dem Weg aufnahm. Der Abflusskanal bestand aus Beton und war solide gebaut, es wuchs aber ausreichend Brombeer- und Dornengestrüpp um seine Öffnung, so dass er der ideale Ort zum Verbergen eines Sprengkörpers war. Er bot auch durch das Schilfrohr, das auf dem Feld wuchs, den notwendigen Schutz, damit ein Zündkabel gelegt werden konnte. Es war bis zu einem Schuppen geführt worden, wo die Bombe lag. Wie sie wussten, war das eigentliche Ziel eine schnelle Eingreiftruppe, die aus der zehn Kilometer entfernten Kaserne kommen sollte, wo eine Infanterieeinheit stationiert war. Die Truppe sollte auf einen anonymen falschen Notruf aus einer öffentlichen Telefonzelle reagieren, in dem von einem Gewehr die Rede war, das auf einem Grünstreifen in der Nähe des Abflusskanals lag. Beide Männer, kalt und durchnässt, wussten, was stattdessen geschehen war. In der Dunkelheit würden sich die »bösen Jungs« abgemüht haben, den Dünger in Säcken aus dem Transit zu bekommen und zu dem Graben und dem Abflusskanal zu hieven. Ihre letzten Augenblicke würden gekommen sein, als sie auf die Betonöffnung zuschlitterten. Die Nachtvisiere auf den Gewehren und MGs würden auf sie gerichtet sein. Ein elektronischer Schalter würde umgelegt worden sein, um die Bombe zu zünden, man würde das Feuer eröffnet haben. Vielleicht waren zwei bei der Explosion gestorben und die anderen zwei vom Kugelhagel niedergemäht worden. Es würde sie alle zerfetzt und in Einzelteile zerlegt haben … Weder Dusty noch Desperate schreckten vor dem, was sie sich vorstellten, zurück.
Der Regen wurde heftiger, und die Schießerei hatte aufgehört. Sie waren vermutlich zu weit von dem Abflusskanal entfernt, um zu hören, wie der Hubschrauber kam. Man würde ihn nach der Schießerei angefordert haben, und er würde von der Kaserne aus niedrig fliegen, tief über dem Boden, und für einen Moment auf dem durchweichten Boden landen, um die Special-Forces-Männer aufzunehmen, den »Hereford Gun Club«, der das Überfallteam gebildet hatte. Schwarz bemalt und mit ihrer Ausrüstung schwer beladen würden sie sich am Maschinengewehrschützen vorbei in den Hubschrauber hieven und auf den Metallboden plumpsen. Dann würde er abheben, eindrehen und verschwinden. Er würde ein Blutbad hinter sich lassen. Dusty und Desperate waren still. Keiner der beiden war direkt ein Mörder: Sie übernahmen mehr Verantwortung als die Männer, die die Magazine eingesteckt und die Patronengurte hatten durchlaufen lassen.
Sie konnten sich die Szene an der Stelle, an der der Abflusskanal unter dem Weg verschwand, so gut vorstellen, weil man Desperate gesagt hatte, dass dort die Bombe gelegt werden sollte, wann man sie dorthin bringen würde, zu welchem Zeitpunkt der falsche Notruf eingehen sollte und welche Männer sich in Feuerstellung begeben würden, um auf die militärische Antwort zu warten. Er kannte die Eigenschaften dieser Männer, er kannte ihre Geschichte in dem Krieg, der in den flachen Hängen des Bergs ausgefochten wurde, und er wusste, wo sie in den Townlands zwischen dem Chambered Grave und dem Gipfel, dem Seat of Shane Bearnagh, wohnten. In seinen Unterlagen befanden sich ihre Lebensläufe, und er konnte die familiären Verbindungen nachvollziehen, die sie zusammenhielten: Er kannte die Namen der Ehefrauen, Freundinnen und Kinder. Desperate hatte die Informationen geliefert, die die Spezialkräfte von Ballykinler hergebracht hatten. Er hätte jeden Moment des Tötungsvorgangs vorhersagen können. Er hatte ihn choreographiert.
Der Hubschrauber würde fort sein, und die Jungs in der Kabine würden sich bald den Korditgestank abduschen und danach zum Frühstücken ins Kasino gehen. Desperate und Dusty nicht.
Die Kühe hatten sich in Bewegung gesetzt. Sie liefen über das offene Feld mitten in den Sturm und den Regen. Durch seine Brille, die einen Bildverstärker in den Linsen eingebaut hatte, konnte Desperate ihr gleichförmiges Vorankommen beobachten, und er hörte das Platschen ihrer Hufe. Eine ganze Minute lang verdeckten sie den Bauernhof und die Gebäude, in denen der Mann die Viehtransporter unterstellte und die Waffen und Bomben lagerte. Im Haus brannten keine Lichter. Explosion, Schießerei und Hinterhalt waren noch nicht lange genug her. Desperate empfand keine besondere Genugtuung über seinen Part in der Angelegenheit, und er glaubte auch nicht, dass Dusty ein Schulterklopfen erwartete. Beide Männer hätten jetzt gern eine Zigarette geraucht – verboten. Die Abwesenheit einer Marlboro Light machte Desperate und Dusty vielleicht mehr zu schaffen als die Rolle, die sie beim Tod von vier Männern gespielt hatten.
Es waren schöne Kühe aus einer reinrassigen Herde – sie wurden allerdings nicht von dem Mann gemolken, dem der Bauernhof, die Wirtschaftsgebäude und die neunundsiebzig Morgen kümmerlichen, aber brauchbaren Lands gehörten – gehört hatten. Jeden Morgen und jeden Abend wurden sie zum Melkstand eines Nachbarn gebracht und dort gemolken. Als sie am vergangenen Abend zurückgekommen waren, war der Mann von seiner Hintertür zu den Wirtschaftsgebäuden gehuscht und mit einem strapazierfähigen Blaumann zurückgekommen. Er hatte offenbar die Sturmhaube vergessen, er musste nämlich wieder zurück zu dem großen Stall. Sie hatten ihn beobachtet.
Dusty hatte die Kuhle ausgehoben, die die Basis ihres Verstecks war. Er hatte viele Talente, und Verstecke bauen war eines davon. Sie saßen tief in dem Loch – Farnkraut und Ginster wuchsen um seine Ränder. Man trat fast auf sie drauf, bevor man merkte, dass sie dort waren. Dusty und Desperate fürchteten die Kühe. Die Tiere hatten die Angewohnheit, sich im Halbkreis um das Versteck zu stellen und dadurch die Sicht zu beschränken. Beide Männer saßen nun in einer Wasserpfütze, die sich in der Kuhle gebildet hatte. Die Feuchtigkeit zog in ihre Hosen und Unterwäsche, und die Thermowäsche hielt die Kälte längst nicht mehr ab. Das war es nun mal, was sie taten. Nichts Ungewöhnliches. Es war auch nichts Ungewöhnliches für Desperate, die Tötung von vier Männern zu leiten. Das war es, was er tat.
Rettung kam. Eine Füchsin stolzierte aus der Hecke zu ihrer Rechten, fädelte sich durch die Nesselbüsche und zog die Aufmerksamkeit der Rinder auf sich. Sie schwenkten ab und jagten ihr nach. Der Blick zum Bauernhof war wieder frei.
Vier Männer waren also tot. Es konnte keine Überlebenden gegeben haben. Es würde zu einem weiteren Mord an dem flachen Hang des Bergs von Altmore innerhalb einer Woche oder höchstens eines Monats kommen. Desperate war für den letzten Tod in dieser Reihe so verantwortlich wie für die anderen. Die Kälte packte ihn, die Feuchtigkeit ließ seine Haut schrumpeln. Seine Augen schmerzten, weil er ständig durch die bildverstärkenden Linsen sah. Er hatte gesehen, wie der Mann seine Ausrüstung von den Wirtschaftsgebäuden zur Küchentür trug, und er hatte beobachtet, wie später die Lichter oben angegangen waren – das Kind war ins Bett gebracht worden.
Später am Abend, nachdem seine Frau ihre Fernsehsendungen gesehen hatte, war der Mann aus der Hintertür gekommen, hatte sich dann umgedreht, sie in die Arme genommen und intensiv geküsst. Sie hatte ihn festgehalten, bis er sich von ihr losriss und ging. Sie hatten ihn dabei beobachtet, wie er den Pfad, der vom Bauernhof zur Straße führte, entlangschritt und ein Wagen gekommen war.
Später gingen die Lichter im Erdgeschoss aus und die im großen Schlafzimmer an. Desperate sah die Frau einen Augenblick lang, während sie am Fenster stand und den Hügel hinunterstarrte. Es gab keine Wanze im Haus, deshalb hatte Desperate keine Ahnung, ob sie von dem Abflusskanal wusste. Manche sprachen mit ihren Frauen, die meisten taten es nicht. Sie war groß und hielt sich aufrecht, war gut gebaut und hatte eine reine Haut. Ihr Ausdruck, am Fenster und durch die Linsen, war leer. Sie war es mittlerweile gewohnt, dass sich ihr Ehemann bei Einbruch der Nacht davonstahl und dass er wiederkam. Sie wusste sicherlich, was er tat, wenn auch vielleicht nicht im Detail. Ihr waren die Risiken bekannt, denen er sich aussetzte, weil es genügend Witwen am Talhang gab, die schon erlebt hatten, was ihr nun bevorstand.
»Alles gut bei dir, Desperate?«
»Großartig, Dusty. So gut wie nie.«
Es hatte anstrengende Gespräche in der kleinen Operationszentrale der Gough-Kaserne gegeben. Innerhalb dieser alten Halde aus grausteinernem Elend, die die britische Army über ein Jahrhundert lang bevölkert hatte, war das Thema ausdiskutiert worden: ohne Protokoll, ohne schriftliche Aufzeichnungen. Konnten Verhaftungen in Betracht gezogen werden? Konnten sie einzeln gefasst und mit einer Anklage wegen Verabredung zum Mord bedacht werden, die vor dem Central Criminal Court Bestand hatte? Die Antwort war eindeutig gewesen: »Knallt die Kerle ab.« Eine letzte Frage war gestellt worden: »Verlieren wir die Quelle? Ist er ein Kollateralschaden?«
Eine Antwort von Desperate: »Ich denke, damit können wir leben, wenn wir dafür vier von dem Kaliber plattmachen.« Sergeant Daniel Curnow hatte gesprochen, und er war das Orakel, wenn es um Informanten, Agenten, um »Spitzel« ging: ein Warrant Officer, ein Major und ein Full-Ranking Colonel hörten auf ihn. Man nannte ihn »Desperate« wegen seines Vornamens: »Desperate Dan«, der Cowboy, das Maskottchen des Comicmagazins »The Dandy«.
Zwei Nächte später starrte er auf den Bauernhof. Er wusste, wie er mitkriegen würde, dass der Feind tot war. Sie würden nicht ihre eigenen Leute schicken, noch nicht. Der Pfarrer würde kommen. Hinter der Pomeroy Road wurde es von Osten her heller, und es regnete. Die Hecke raschelte im Wind. Ein kleines Auto fuhr die Straße entlang, die Scheinwerfer leuchteten schwach bei dem Wetter. Es bog auf den Pfad zwischen den Feldern ein, wo noch mehr Rinder und ein paar Schafe standen, und holperte über die Schlaglöcher. Der Mann war vermutlich entweder von der Polizei oder von Mitläufern, die die Organisation unterstützten, verständigt worden.
Der Hund bellte und rannte aus einem der Gebäude hinter dem Haus. Ein Licht ging oben an.
Der Pfarrer stand vor der Tür und schien innezuhalten, als widerstrebte ihm der nächste Schritt. Dann klopfte er. Desperate konnte durch die Vergrößerungsgläser seiner Brille sehen, dass sie sich einen Bademantel übergeworfen hatte: Sobald sie gehört hatte, wie der Wagen im Schneckentempo den Pfad hinaufgekommen war, musste ihr klar geworden sein, dass es schlechte Nachrichten gab. Sie ließ den Pfarrer ein. So wie Desperate es sich vorstellte, würde sie ihn in die Küche bringen, ihm einen Platz anbieten, Wasser aufsetzen und ihn dann reden lassen.
Ein Kind in einem gestreiften Pyjama, der eine Nummer zu klein war, kam heraus. Der Junge war gut gebaut und hatte dichtes, verwuscheltes Haar. In der Akte in Gough stand, dass Malachy acht war. Er heulte, nicht vor Trauer, sondern vor Wut. Desperate blinzelte, dann putzte er die Gläser, um besser zu sehen. Das Gesicht des Kindes war vor Hass verzerrt – das Gesicht eines Kämpfers, dachte er.
Dusty sagte leise: »Der wird noch Probleme machen, sag ich dir. Merk dir seinen Namen.«
Sie deckten das Versteck ab, sammelten ihren Müll ein und robbten auf dem Bauch an der Hecke entlang zu dem Spalt, durch den sie sich quetschen konnten. Wenn sie außer Sichtweite waren, würde Dusty das Transportmittel zum vereinbarten Treffpunkt bestellen – und dabei Desperates Rufzeichen, Vagabond, benutzen –, und dann würden sie nach Gough zurückkehren.
Das Gesicht dieses Jungen brannte sich in sein Gehirn, als er über das Gras trottete. Er sah auch das Gesicht eines älteren Mannes, der an ihn glaubte, ihm vertraut hatte, Geld einsteckte und überzeugt war, Desperates Freund zu sein.
Der Informant, der sein Leben wohl verwirkt hatte, hieß Damien. Um sein Arbeitslosengeld aufzustocken, zimmerte er nebenher ein bisschen und nahm die hundert Pfund an, die er jeden Monat von seinem Führungsoffizier bekam. Er wohnte in einem Bungalow zwei Meilen östlich am Berg, und allgemein hielt man ihn für wenig intelligent. Er hatte im Haus eines Mannes an der Wandverkleidung gearbeitet, als er hörte, wie draußen der Plan besprochen wurde. Er erzählte Desperate davon, der ihn sieben Monate zuvor angeheuert hatte. Sein Führungsoffizier wusste, dass Damien jetzt gefährdet war: Die Sicherheitsleute der Organisation würden aus Belfast kommen und überprüfen, wer von dem Plan gewusst hatte, wo die Einsatzbesprechungen stattgefunden hatten. Damien war seine paar hundert Pfund wert gewesen, kam aber für das Umsiedlungspaket nach England, das massive Kosten erforderte, nicht in Frage. Er würde es drauf ankommen lassen. Wenn die Organisation ihn als potentielles Risiko identifizierte, würde man ihn in einen geheimen Unterschlupf bringen, verhören, zusammenschlagen und ihm Verbrennungen zufügen. Dann würde man ihm eine Kapuze überziehen, ihn bis auf die Unterhose ausziehen, fesseln und zu einem Feldweg in der Nähe der Grenze fahren, wo man ihn auf die Knie zwingen und erschießen würde, eine Kugel in den Hinterkopf. Man würde die Kapuze abnehmen und ihm einen Zwanzig-Pfund-Schein zwischen die Zähne stopfen.
Sein Führungsoffizier hatte ihn manipuliert. Das war es, was Desperate tat, und Dusty beschützte ihn, während er es tat.
Er würde nach der Einsatznachbesprechung in Gough Schlaf nachholen. Das Kind, Malachy, hatte die tiefhängenden Wolken angeheult, aber es war der Hass, an den sich Desperate erinnerte, und wie er das junge Gesicht gezeichnet und Falten in die glatte Haut gegraben hatte.
Sie hatten ihn getötet. Nicht erschossen oder erwürgt, aber indem sie ihn die Straße raufgeschickt hatten.
Die Hütte, in die sie sich vor dem Wetter geflüchtet hatten, war teilweise eingestürzt. Drei der Wände standen noch, und die Hälfte des Blechdachs war vorhanden, aber Stürme hatten den Rest plattgemacht. Der Boden knarrte, wenn sich jemand von ihnen bewegte. Dung und ein Teppich aus feuchtem Stroh lagen auf dem Schutt, es stank nach Rindern und den Zigaretten der Polizisten, die sie beschützten.
Hugo Woolmer wusste, er hätte genauso gut die Kugel selbst abfeuern können. Mitbeteiligte am Tod des Lockvogels war Gaby Davies. Hugo war drei Jahre älter, hatte einen höheren Rang beim Geheimdienst und leitete damit nominell den Einsatz. Was hätte er sonst tun können? Er hätte sich weigern können, dem Agenten die Genehmigung zu erteilen, in die Wolken zu fahren, die die Straße verschluckten, die sich zum Berg schlängelte. Er hätte darauf bestehen können, dass er seinem Agenten nicht erlauben würde, nach der Pfeife derer zu tanzen, die ihn angerufen hatten, und mit dem Mietwagen zu ihnen zu fahren, ohne Back-up.
Der Agent war unter seinem Hemd nicht verkabelt und hatte kein Mikrofon in seiner Armbanduhr. Keine Wanze war an dem kleinen Wagen befestigt worden, den er am Flughafen abgeholt hatte. Man hatte gedacht, dass »die« ein Kabel, ein Mikrofon oder eine Wanze zu leicht finden könnten.
Der angeworbene Agent, der Lockvogel, war aus London hergeflogen und hatte die Nacht in einem modernen Hotel nur einen Steinwurf von der Polizeistation entfernt übernachtet. Sie hatten auf einem Treffen mit ihm bestanden. Hugo Woolmer hatte sich zwei Alternativen gegenübergesehen: Er konnte seinem Mann erlauben, in die Wolken und das Labyrinth aus engen Straßen und Feldwegen zu fahren, was zwingend eine Verfolgung per Fahrzeug ausschloss, oder er konnte akzeptieren, dass ein Agent, der seit fast fünfeinhalb Jahren für den Geheimdienst arbeitete, jetzt ausgebremst wurde und der Kontakt mit »denen« verloren war. Die Chancen, den Agenten durch einen anderen Lockvogel zu ersetzen, waren minimal. Es war an ihm gewesen, die Entscheidung zu treffen, und Gaby Davies’ Stimme war an diesem Morgen im Hotel beharrlich, während die Sichtweite auf dem Parkplatz verschwindend gering wurde.
Das Wichtigste an der Entscheidung war die persönliche Sicherheit des Agenten. Er würde außer Reichweite sein, ohne Notfallknopf, weil die ihn aller Wahrscheinlichkeit nach mit Detektoren absuchen würden. Sollte man ihn weitermachen lassen oder nicht? Das niederdrückende Gewicht der Entscheidung hatte schwer auf Hugo Woolmer gelastet.
Er kauerte in der Hütte an einer Wand, die überlebt hatte. Er saß auf den Fersen, den Kopf auf der Brust.
Sie hatte gesagt: »Natürlich wird er sich mit denen treffen. Deshalb haben wir ihn ja hierhergebracht. Die Welt da draußen ist nun mal böse. Das solltest du eigentlich wissen, und er auch. Wenn er aufgeflogen ist, dann ist das ein vernünftiger Grund für die, ihn auf ihr Gebiet zu beordern. Oder vielleicht haben sie auch eine andere Rolle für ihn und wollen das in Ruhe besprechen. Er hat sich selbst in diese Situation gebracht. Er hatte wissen müssen, dass es schwierig werden könnte, noch bevor er sich auf sie eingelassen hat. Wenn er das Treffen mit denen absagt und die Verbindung abbricht, ist jedes Vertrauen, das sie in ihn hatten, weg. Und dabei werden sie’s nicht belassen. Er ist dann ein lebender Toter. Er fährt zu dem Treffen, Hugo. Du kannst nicht bei Bentinick anrufen und ihm sagen, dass dir die Nerven durchgegangen sind. Verdammte Scheiße!«
Sein Kinn lag fest auf dem Reißverschluss seines Anoraks. Mit den Armen umklammerte er seine Beine. Die Finger hatte er ineinander verkrampft, die Knöchel standen weiß hervor, und er hatte angefangen zu zittern.
Einer von denen würde den Mietwagen in die Zufahrt eines Bauernhofs fahren und anzünden. Der Agent würde nicht gesehen haben, wie das Auto brannte. Sie würden ihn eingesammelt und in den Laderaum eines Transporters geworfen haben, wo es keine Fenster gab. Sie könnten ihn gefesselt, ihm eine Kapuze übergezogen haben und dann mit ihm zu einem der kleinen Häuschen auf dem Berg gefahren sein. Dort würde man ihn auf einen unbequemen Stuhl setzen und ihm auch mal eine reinhauen, falls sie etwas ahnten. Einer von ihnen wäre der Schmeichler und würde dem Agenten sagen, dass ihm ein Geständnis das Leben rettete. Oder vielleicht würde er ihn verfluchen und ihm eine angezündete Zigarette direkt vor die Augen halten und ihm ausmalen, wie fürchterlich der Schmerz wäre …
Er hörte ein Wimmern und merkte, dass es von ihm kam. Ihm war der Agent ans Herz gewachsen, und er glaubte, dass Gaby Davies – trotz ihres Getöses von wegen jeder läge nun mal so, wie er sich bette – ihn auch mochte. Er war einer von den Menschen, bei denen die Sonne gleich ein bisschen heller schien, und er hatte ein ansteckendes Lachen. Er hätte die Sache abblasen können, und er hatte es nicht getan.
Hugo Woolmer war abgesichert. Er und Gaby Davies wurden von vier wortkargen Polizisten bewacht, mit Heckler & Koch-Gewehren. Ihre Gesichter zeigten die Missbilligung der beiden jungen ungebetenen Gäste von der Hauptinsel: Sie gingen davon aus, dass Geheimdienstleute von der anderen Seite des Wassers zwar schlau und gut ausgerüstet waren, aber ein vernachlässigbares Verständnis für die Probleme in dieser Provinz hatten. Der Agent war ohne Schutz.
Wenn »sie« ihn kleinkriegten, was Hugo für fast sicher hielt, würden sie aufhören, ihn zu schlagen und mit Zigaretten zu verbrennen. Sie würden ihn an einen Tisch setzen, ihm Stift und Papier geben und ihn anweisen, die Namen seiner Kontakte aufzuschreiben, den des Führungsoffiziers und den Zeitraum, den er bereits für den Geheimdienst arbeitete. Sie würden jedes Detail über das Ausmaß seines Verrats aus ihm herausholen. Man würde ihm sagen, wenn er alles aufschrieb, bringe man ihn den Berg hinunter, wo er seinen Mietwagen nehmen und wegfahren könne. Genau das würden sie ihm sagen, und es wäre alles gelogen. Hugo Woolmer hatte von einem Geheimdienstveteranen gerüchteweise gehört, dass sich die frischgebackenen Freiwilligen der Organisation manchmal darum prügelten, einen Agenten der britischen Besatzung töten zu dürfen. Er kannte Frau und Tochter des Agenten vom Sehen. Er hätte ihn davon abhalten können, in die Wolken zu fahren.
Die Polizisten beobachteten ihn ungerührt. Aus dem Augenwinkel konnte er Gaby Davies’ Gesicht sehen. Er fand nicht, dass sie hübsch war. Sie war klein und kräftig und hatte kurzes dunkles Haar. Sie trug Wanderstiefel, ausgebleichte Jeans, zwei T-Shirts übereinander und einen schweren Anorak. Sie rauchte mit den Polizisten – hielt mit ihnen Schritt. Ihr Rucksack lehnte an ihren Beinen, darin waren Sandwiches, eine Thermoskanne mit Kaffee, die Kommunikationsausrüstung und ihre Glock. Hugo war nicht bewaffnet. Ihre Arbeitsbeziehung lief vorschriftsmäßig ab, aber wenn es darum ging, eine Angelegenheit abzuschließen, hatte sie das letzte Wort in der Diskussion, er musste die Entscheidung treffen.
Saatkrähen schrien in den Bäumen, der Wind sang in den Ästen über ihnen. Seine Schultern bebten, und die Tränen kamen.
Er wurde mit Adleraugen betrachtet.
Das Haus gehörte Dermot und Dymphna Fahy. Trottel, alle beide. Sie waren mit dem Auto in den Ort geschickt worden und hatten noch einen Zwanzig-Pfund-Schein in die Hand gedrückt bekommen, der den gesamten Morgen über reichen würde. Der Bungalow war ein guter Ort, ruhig, nicht durch Nachbarn einsehbar, die Fahys hatten keine Vorstrafen, also wurden sie nicht überwacht. Der Vorgarten sah wüst aus – dort lagen ein alter Kinderwagen und ein Fahrradrahmen. Die Farbe an den Fensterrahmen platzte ab, und der Türklopfer hing ganz schief. Es gab einen Hund, eine Collie-Mischung, aber die Frau hatte ihn in den Schuppen gesperrt. Er hatte gebellt, als sie angekommen waren, aber jetzt war er still.
Er wurde ganz genau betrachtet, und sie suchten nach den Anzeichen – Schweiß im Nacken und auf der Stirn, nervöses Blinzeln … Malachy stand neben Brendan Murphy in der Tür zum hinteren Schlafzimmer. Darin befand sich kein Bett – es war zusammen mit dem Jungen der Fahys in das Zimmer verschwunden, das er in der Innenstadt von Lurgan gemietet hatte. Eine Frisierkommode mit einem Spiegel, der links einen Sprung hatte, war mit alten Zeitungen und ein paar Plastiktüten von Spar bedeckt, und dort lag noch ein Stapel mit braunen, ungeöffneten Umschlägen. An der einen Wand steckte ein Kabel in der Steckdose, es führte zu einem Elektrobohrer, der sich nicht für schwere Arbeiten eignete, aber groß genug war, um ein Loch für einen Dübel in die Wand zu machen oder die Kniescheibe eines Menschen zu zerstören. Unter dem Kabel lagen außerdem eine Bahn aus Handtüchern, die zu dünnen Streifen gefaltet waren, und eine Rolle Bindegarn von einem Bauernhof. Der Mann saß mit dem Rücken zur Frisierkommode, hatte aber gesehen, was darauf lag. Er saß auf einem Holzstuhl mit einer geraden Lehne und presste die Knie zusammen – eine Art Schutzhaltung. Er stellte keinen Augenkontakt her. Interessant, dass er sich nicht beschwert hatte, als er zusammengeschnürt in dem Laderaum eines Lieferwagens gelegen hatte oder als man ihm am Ende der Fahrt die Augen verbunden oder als er sich den Zeh an einer Stufe zwischen dem schief hängenden Gartentor und der Haustür gestoßen hatte. Der Vorhang war zugezogen. Er konnte nicht wissen, wo er war. Gut, dass er keine Angst zeigte: Entweder verspürte er keine, oder er versteckte sie gut.
Brennie fragte Malachy: »Magst du ihn oder magst du ihn nicht?«
Die gemurmelte Antwort: »Wir würden ihm ne Menge anvertrauen – vielleicht zu viel? Ich weiß es nicht.«
»Und großes Geld.« Brennie verzog das Gesicht. Er war die Vaterfigur. Brennie Murphy hatte einen anderen Ruf als Malachy. Er war kein Soldat oder Heckenschütze. Er konnte mit Lötkolben und Schaltplatte nicht umgehen. Er schien vorzeitig gealtert – durch seine faltige, farblose Haut und das buschige Haar wirkte er älter als die einundsechzig Jahre, die seine Geburtsurkunde behauptete. Er besaß Urteilsvermögen. Seit er ein Teenager war, hatte der jüngere Mann darauf gehört, was Brennie Murphy sagte, und er hatte nie widersprochen. Wenn der Mann ein Polizeispitzel oder Informant für den Five war, würde Brennie Murphy das riechen. Seine Nase schien sich zur linken Seite seines Munds zu neigen – das Ergebnis eines Schlags mit dem Gummiknüppel von einem Wärter im Maze-Gefängnis während einer Protestaktion. Wenn Brennie glaubte, einen Spitzel zu riechen, würde der Mann am nächsten Morgen nicht mehr leben. Sie brauchten diesen Mann und seine Kontakte, aber es war ein hohes Risiko. Sie hatten ihn nie zuvor gesehen. Andere hatten mit ihm zu tun gehabt, aber da war es um Zigaretten gegangen. Eine Organisation, die einen Krieg wiederbeleben wollte, konnte mit Zigaretten nicht überleben: Sie brauchte Waffen. Das war »großes Geld«. Es musste die Bankkonten leerräumen und die limitierten Fonds auflösen, mit denen die Angehörigen der Männer im Maghaberry-Gefängnis unterstützt wurden. Brennie rollte einen Zahnstocher zwischen den Zähnen hin und her. »Er hat sich nicht in die Hose gemacht.«
Der Mann starrte auf den Boden. Seine Atmung war regelmäßig – er keuchte nicht vor Panik. Er hatte nicht verlangt zu erfahren, warum er hier war. Er war auf eine Art gefügig, was Malachy verwirrte. Er dachte: Brennie hat den Mann noch nicht durchschaut. Sie kannten seine Geschichte, seine Adresse, seine Familie, seine Lebensumstände. Die Verbindung zum Zigarettenhandel bestand schon seit Jahren, und die Kontakte waren im Inchicore-Bezirk in Dublin, auf der anderen Seite der Grenze. Was für ein Engländer würde gegen Bezahlung den Kauf von Waffen für ihre Organisation vermitteln? Er hatte es nicht eingefädelt, sondern war von den Zigarettentypen vorgeschlagen worden: Er hatte nicht abgelehnt. Brennie Murphy würde keine Zeit verschwenden, um die Antwort zu finden. Malachy sah zu. Er war der Soldat, der Heckenschütze, er wusste, wie man einen Quecksilberschalter in eine Sprengstoffvorrichtung einbaute, aber er hatte kein Näschen für Spione.
»Würdest du bitte aufstehen.«
Er tat es.
»Würdest du dich bitte ausziehen.«
Brennie Murphys Stimme war ruhig, nicht aggressiv. Mit ungelenken Fingern öffnete der Mann die Hemdknöpfe, und auch mit dem Gürtel lief es schwierig. Falls er verkabelt war oder eine Wanze in der Armbanduhr trug, war jetzt ein kritischer Punkt erreicht. Zwei an der Tür, zwei noch näher an ihm dran, und einer hielt das Gerät bereit: Es hatte die Größe eines schnurlosen Telefons und war eingeschaltet. Das Hemd fiel zu Boden, die Schuhe, Socken, Hose und das Unterhemd. Er hielt inne, sah Brennie Murphy fragend an. Die Unterhose? Malachy verstand. Es war nicht nötig, dass der Mann splitterfasernackt war. Der Detektor funktionierte auch problemlos durch dünne Baumwolle, aber …
»Zieh sie aus.«
Es ging um Dominanz. Es war nicht wie damals, als er Gaelic Football gespielt hatte und sie mit nichts am Leib alle zusammen in der Dusche waren: Dieser Mann war nicht in ihrem Team. Er war ein Fremder, und nackt zu sein würde ihn demütigen – das war die Absicht. Der Mann war einundvierzig, und er schien nicht gut in Form zu sein. Er hatte etwas zu viel auf den Hüften, seine Schultern sackten ab. Der Detektor wanderte über seine Kleidung und die Schuhe, dann über den Körper. Der leise Piepton war das einzige Geräusch im Raum, abgesehen von Brennie Murphys keuchendem Atem. Das Gerät wurde ausgeschaltet. Hätten Leute vom Geheimdienst einem Agenten erlaubt, ohne Kommunikationsmittel weiterzumachen? Schon möglich, sie waren schließlich harte, kalte Bastarde, und das wusste Malachy. Er bemerkte, wie sich Brennies Kopf etwas drehte: Er sah zu der Bohrmaschine, die auf der Frisierkommode lag, und nickte.
Sie wurde eingeschaltet.
Sie wurde um den Stuhl herumgetragen und dem Mann vor den Bauch gehalten. Sie machte kein sauberes Geräusch, eher ein reißendes, als brauchte sie frisches Öl. Der Bohrkopf war nicht mehr als dreißig Zentimeter von seinem Körper entfernt. Malachy betrachtete ihn: Der Penis war geschrumpft, die Knie enger zusammen, und die Hände hatte er ineinander verkrampft. Der Mann starrte auf den Bohrer, zuckte aber nicht zurück.
Brennie sagte, als wäre es eine ganz normale Unterhaltung: »Wenn du mir stinkst, geht das Ding in dich rein. Wenn ich denke, dass du ein Spitzel bist, ist der Bohrer in dir drin. Sobald dich das Ding berührt, werden die Namen von deinen Führungsoffizieren nur so aus dir heraussprudeln, und du wirst mir sagen, wo sie gerade auf dich warten. Du wirst noch eine Stunde zu leben haben, aber du wirst mir von deinen Führungsoffizieren erzählen, oder das Ding geht noch mal in dich rein. Du wirst jedes Mal aufs Neue angebohrt, wenn deine Zunge stillsteht. Haben wir uns verstanden?«
Der Mann nickte.
»Und wenn mir gefällt, was du zu sagen hast, bekommst du deine Hose zurück. Wenn es mir nicht gefällt, bekommst du den Bohrer und die Zigaretten … Es stinkt, wenn Zigarettenglut Haut verbrennt.«
Der Mann beugte sich vor und griff nach seiner Kleidung. »Hab ich was falsch verstanden? Scheint jedenfalls so. Ich dachte, ihr wollt Sturmgewehre, Raketenwerfer, das handelsübliche Knallzeugs und vielleicht ein paar Granatwerfer kaufen. Wenn ihr das Theater hier mit mir weiter durchziehen wollt, gibt’s keine Extras.«
Der Mann starrte Brennie Murphy direkt ins Gesicht. Dann zog er sein Unterhemd an, danach seine Unterhose, und hob sein Hemd auf.
Brennie Murphy zischte: »Komm mir bloß nicht auf die Tour …«
»Ich rede von Sturmgewehren, Raketenwerfer, Handgranaten, Granatwerfern, Militärsprengstoff, und die Vorarbeit ist geleistet.«
Malachy sah das Fingerschnippen. Brennie Murphys Anweisung wurde befolgt. Der Bohrer kreischte nah am Ohr des Mannes. Dessen Gesicht blieb ausdruckslos. Er hatte noch nie von einem Fremden gehört, der Brennie Murphy angepampt hätte, ohne Gewehr in der Hand und einem Rudel Fallschirmjäger oder einem Spezialeinsatzkommando der Polizei hinter sich. Der Mann machte sich erst gar nicht die Mühe, das Hemd zuzuknöpfen, und zog seine Schuhe an. Er verschränkte die Arme vor der Brust. Es war an der Zeit, übers Geschäft zu reden, oder es abzublasen.
Brennie Murphy trat einen Schritt zur Seite, griff sich das Kabel und riss es aus der Steckdose an der Wand. »Warum solltest du das für uns tun?«
»Wo ich wohne, herrscht Rezession, und ich muss meine Familie ernähren. Ihr bezahlt mich. Reicht euch das? Ich brauch das Geld.«
Sein Hintern hing jetzt tiefer, seine Schultern waren weiter abgesackt, und er zog die Knie enger an seine Brust. Er wimmerte immer noch.
Sie schämte sich für ihn. Hugo Woolmer stand in der Hierarchie des Geheimdienstes über Gaby Davies. Er hatte sie mit seinem erstklassigen Examen von einem College in Oxford übertroffen, während sie nur eine schlechte Zwei von einer Provinzuni bekommen hatte. Seine Familie hatte Beziehungen, und sie war die Quotenfrau von einer miesen Schule aus dem Nordosten. Sie hätte ihn am liebsten getreten, und zwar fest in die Leiste, aber davon würde er auch nicht still werden. Wenn sie wieder in Toad Hall waren, wie die einheimischen Jungs hier in Belfast den Sitz des Geheimdienstes, Thames House, nannten, würde sie ihn abstechen. Sie erlebte gerade etwas Einzigartiges: Noch nie zuvor hatte sie gesehen, wie ein Mann mit einem Nervenzusammenbruch auseinanderfiel.
»Wir haben ihn umgebracht. Er hat uns vertraut.«
Sie würde dafür sorgen, dass er am Arsch war, was seine Zukunft beim Geheimdienst betraf.
»Er hat mies verdient, wurde manipuliert und in Gefahr gebracht, und wir haben ihn verraten.«
Sie mochte den Mann, der – ohne Deckung oder Back-up – in die Wolken gefahren war, dichte Wolken, die die Überwachungshubschrauber am Boden gehalten hatten. Er brachte sie zum Lachen. Sein Humor hatte etwas Verschmitztes, und er sprach ganz offen über den Scheißdreck, mit dem er bei seinen Geschäften hausierte. Gaby Davies mochte ihn – aber er war ein gedungener Spitzel, ein Zivilist. Es war weder ihre Aufgabe noch die von Hugo, ihn zurückzupfeifen, wenn ein Treffen vereinbart war. Sie fand, dass er in der vergangenen Woche distanzierter gewesen war, schwammiger darin, die Details über das auszuspucken, was diese Leute von ihm wollten, aber …
»Sie werden ihn foltern, er wird reden, und dann werden sie ihn töten. Ich werde mir das niemals verzeihen.«
Ihr Telefon blieb still. Sie vermutete, dass das ihres Mannes ausgeschaltet im Wagen lag. Wahrscheinlich hatten sie ihn in einem ihrer Autos zum Treffpunkt gebracht. Gaby Davies war in Gedanken mehrfach jeden Kontakt mit ihrem Mann durchgegangen, um die Möglichkeit einer Enttarnung auszuloten. Der gefährliche Moment, in dem Verdacht hätte aufkommen können, war ihr nicht ersichtlich. Natürlich konnten sie ihn nicht zurückrufen.
Das Weinen wurde lauter.
Ein Polizist sagte leise und mit leichtem Hohn: »Das wird jetzt langsam zur Gewohnheit, oder?«
Er war groß, übergewichtig, sein Bauch beulte die Schutzweste aus. Er hielt die Waffe so, als sei sie ein Teil von ihm – höchstwahrscheinlich schlief er auch mit ihr und mochte sie lieber als seine Frau. Die Waffe berechtigte ihn zum Spott. »Das würde ich jetzt nicht arbeitstauglich nennen.«
»Die Manöverkritik heben wir uns für später auf.« Sie sagte ihm damit, dass es ihn, den uniformierten Trottel, einen Scheißdreck anging, wie sich Hugo Woolmer aufführte.
»Und er taugt auch nicht für diesen Ort, Miss … Darf ich was sagen?«
»Wenn es ums Wetter geht.«
»Sie waren hier noch nicht, Miss. Das ist der Teil der Provinz, in dem es so finster zugeht, wie man es sich nur vorstellen kann. Viele böse kleine Jungs. Es gibt Gemeinden, die glauben an das, was wir lachhafterweise den ›Friedensprozess‹ nennen, und es gibt Gemeinden, die tun es nicht. Die machen weiter. Das sitzt tief in den Sippschaften, die Familien kennen kein anderes Leben. Wenn ich allein in diesen Nebel müsste, ohne Notfallausstattung, und niemand würde mithören und auf mich aufpassen, dann säße ich gern in einem Panzer und hätte die Luken dicht. Dieser Teil der Provinz hat den Krieg noch nicht aufgegeben.«
»Ich kenne das Briefing, danke.«
»Es ist ein krasser Ort, der krasseste. Gesetzlos, heute wie damals … Wenn es aufklart, dann sehen Sie den Gipfel – Shane Bearnagh’s Seat, ein guter Aussichtspunkt an einem schöneren Tag. Vor mehr als dreihundert Jahren war Bearnagh das, was wir einen ›Rapparee‹ nennen, ein Dieb, Schmuggler und Mörder. Bevor das Militär ihn schnappen konnte, war er mit der Frau eines britischen Offiziers im Bett, während draußen alle Jagd auf ihn machten. Das ist ein fieser Ort, Miss, und zwar schon seit Jahrhunderten. Hat euer Mann starke Nerven?«
»Keine Ahnung.«
»Schade, dass Sie das nicht rausgekriegt haben, bevor er da hoch ist.«
»Haben Sie ne Kippe?« Er gab ihr eine. »Danke.« Ein anderer Mann reichte ihr eine Thermoskanne mit Kaffee. Sie bemerkte eine Spur Brandy darin. Die Zigarette und das Getränk wärmten sie auf. Als Beamtin des Geheimdienstes würde sie einen operativen Einsatz normalerweise nicht mit einem Police Constable besprechen, aber sie fragte: »Wann fangen wir an, uns Sorgen um ihn zu machen?«
»Ich hab gehört, dass sie eine Drohne einsetzen wollten, aber die ist kaputt. Der Hubschrauber kommt mit der tiefen Wolkendecke nicht klar. Was meinst du, Baz?«
»Ich meine, Henry, wenn sie ihn erledigen wollen, haben sie mit der Drecksarbeit schon angefangen. Dann haben sie jetzt die Namen von Ihnen, Miss, und von dem da«, er nickte in Richtung Hugo Woolmer, »und anschließend werden die wohl nicht länger dort rumgammeln. Die werden davon ausgehen, dass der ganze Berg nur so von Einsatzkräften wimmelt und dass es Straßensperren gibt. Sie werden ihm den Kopf einschlagen und sich dann nach Hause verziehen, um sich zu waschen.«
»Absolut. Könnte schon alles längst passiert sein, Miss.«
»Sie kennen ihn gut genug – wie reagiert er bei einer Schlägerei mit denen? Hier in der Gegend gab’s mal einen Faustkampf zwischen zwei Freiwilligen der IRA – damals eben –, weil sie sich nicht einigen konnten, wer die Kugel abfeuert, die den Spitzel töten soll … Wie würde er sich behaupten, wenn er verprügelt wird, Miss? Wie bei Verbrennungen und dem ganzen Programm? Ein anderes Mal – das war auch damals, aber es hat sich wenig verändert –, da haben sie die Herdplatten angeschaltet und dem Spitzel die Hose ausgezogen. Als die Herdplatten geglüht haben, wurde er draufgesetzt … Die meisten halten nicht lange durch. Kann gut sein, dass es schon vorbei ist.«
Sie stolperte fast über Hugo Woolmers Beine, als sie nach draußen ging. Sie warf die kaum gerauchte Zigarette weg und kotzte an einen Baum. Der Lockvogel war in einem Hotel in London gewesen, wo er sich am Abend zuvor mit den Zigarettenleuten getroffen hatte. Sie mussten die Einsatzbesprechung früh machen, und sie hatte an seine Tür geklopft. Er hatte ihr geöffnet – musste direkt aus der Dusche gekommen sein: ein Handtuch war um seine Hüften gewickelt, und sie sah seine Haut. Nichts Besonderes – ein paar Muttermale, ein paar Haarbüschel, keine Verbrennungen, keine Prellungen von einem Schlagstock. Seine Fingerspitzen waren unversehrt gewesen.
Die Blätter am Fuß des Baums waren von ihrem Erbrochenen durchtränkt.
Brennie Murphy wusste es nicht. Er hätte es aber wissen müssen.
Die Männer vom Berg verließen sich auf ihn, wenn es um taktische und strategische Entscheidungen ging, und auf seinen Rat, was Ziele in der mittleren Ulster- und der Lurgan-Gegend betraf. Er hatte gute Antennen und erkannte die Schwächen des Feindes. Ein paar hatten dem Kampf den Rücken gekehrt, und jeden Abend zeigte das Fernsehen Bilder von ehemaligen Kämpfern, die jetzt mit den Leuten zusammen in die Kamera grinsten, die sie einst versucht hatten zu töten. Es war, als würden Brennie Murphys alte Kollegen heute auf ihn draufpinkeln. Er machte keine Kompromisse, nahm keine Zuschüsse von der Regierung, wurde kein bezahlter Handlanger, der sich Kommunalbeamter nannte: Für ihn war der bewaffnete Kampf lebendig. Nur wenige beteiligten sich daran, die »Glut zu schüren«, wie sie es nannten, weshalb es unvermeidlich war, dass die Aufmerksamkeit der Polizei und des Five extrem hoch war, und damit schlimmer als alles, was er als junger Mann erlebt hatte. Die Angriffe auf die aktiven Überbleibsel der Organisation stützen sich auf die hervorragende Technik der Überwachungssysteme sowie auf die Unterwanderung ihrer Zellen durch bezahlte Informanten.
Der Mann saß auf dem Stuhl. Er stellte keine Fragen, fing nicht an zu diskutieren und zog auch nicht den Kopf ein.
Brennie stand mit Malachy im Flur. Er fragte: »Glaubst du ihm oder nicht?«
»Keine Ahnung.«
»Er hat die Lieferung versprochen.«
»Er hat versprochen, sie nach Europa zu bringen. Dann holen wir sie her.«
»Wir brauchen sie.«
»Wenn die Waffen da sind, kommen die Kids zu uns und gehen nicht zu den Kollaborateuren.«
»Das geht gegen alle meine Instinkte.«
»Und meine.«
»Aber du brauchst die Waffen.«
»Ich muss sie haben, Brennie, sonst sind wir nichts.«
Brennie Murphy blies die Nasenlöcher auf. Er sagte den Kids immer, dass es nichts Ungewöhnliches war, wenn ein Mann seines Alters einen solchen Hass in sich trug. Mehr als alles andere in seinem Leben fürchtete er sich davor, die Erinnerung an die vielen Toten, die alten Kameraden zu verlieren. Er hoffte inständig, er würde sterben, bevor er aus Schwäche einen Kompromiss einging. Die Toten hatten das nicht verdient. »Du müsstest alle probehalber abfeuern«, sagte er. »Damit wir nicht abgezockt werden.«
»Wenn’s sein muss.«
Brennie packte ihn am Arm. »Muss es.«
Sie gingen wieder rein.
Er saß auf dem Stuhl, hätte für eine Zigarette töten können, aber ihm wurde keine angeboten. Rauch drang aus dem Flur zu ihm, wo zwei von ihnen leise miteinander sprachen.
Ihm war klar geworden, dass sich das Zimmer mit der schrecklichen Tapete leicht in eine Folterkammer verwandeln ließ. Er hatte keinen Zweifel daran, dass in der Küche oder dem großen Schlafzimmer eine Rolle Abdeckplane zu finden war, die über den Teppich gelegt und mit einem Teppichmesser zugeschnitten werden würde. Das Blut, falls der Bohrer zum Einsatz kam, würde recht tief unten spritzen, aber möglicherweise würden auch die Wände mit Abdeckplane abgehängt, die man knapp unter der Decke festheftete. Wie es ihm ging? Nicht besonders. Was er tun konnte? Nicht viel. Wen das interessierte? Nicht viele. Die beiden wichtigsten Männer, der ältere und der jüngere – die Aufpasser waren »Soldaten« und hatten nichts zu melden –, trugen keine Masken. Also war es ihnen egal, dass er ihre Gesichter sah. Er betrachtete sie genau, um sich an sie erinnern zu können, wenn er bald schon die Karteien mit den Fotos der Aktivisten durchsehen und sie identifizieren würde.
Jetzt hieß es, sich den Dingen zu stellen.
Sie würden sich vor ihm aufbauen und auf ihn herabblicken. Der jüngere Mann würde ihm wahrscheinlich ins Gesicht schlagen, und dann würde ihm Blut aus der Nase laufen. Danach würde er hören, wie der Bohrer angeschaltet wurde. Die anderen würden ihn an den Stuhl binden, und er würde hören können, wie die Abdeckplane ausgebreitet wurde. Bevor sie ihn knebelten, würde er nach Papier und Bleistift rufen. Er würde ihnen alles geben, was sie wollten. Er würde alle Namen nennen, angefangen bei Matthew, dem Anwerber: ein durchtriebener, kalter Schweinehund, aber seinen Nachnamen kannte er nicht.
Er kannte den vollständigen Namen des Teamleiters. Eigentlich sollte er das nicht, aber ein Handy hatte in der Tasche des Mannes geklingelt, während sie eines Sommerabends an der Themse zusammen gegessen hatten – auf deren Rechnung. Er war rangegangen, »Hugo Woolmer«. Den Namen konnten sie haben. Ein paar Umdrehungen der Bohrerspitze, und Hugo Woolmer gehörte ihnen.
Die Frau hieß Gabrielle Davies. Bei einem anderen Treffen hatte sie in ihrer Handtasche nach einer Kreditkarte gekramt, um bei Starbucks zu bezahlen, und er hatte ihren Dienstausweis gesehen, nur ganz kurz, mit ihrem Namen. Sie hatte seinen Blick bemerkt und war wegen ihres Versehens rot geworden. Woolmer hatte sie Gaby genannt, als sie im Windsor Great Park spazieren waren. Sie war in Birmingham aus einer Trattoria gestürmt, weil sie einen Zug erreichen musste, und der Kellner hatte gerufen, dass das Taxi für »Davies« draußen stand. Sie konnten sie auch haben. Sie war nett, hübsch, eine Streberin, anders als die Wichser und ihre Frauen, aber sie würde auf dem Papier stehen, wenn der Bohrer anging. Den Mund halten, um Königin und Land zu schützen? Träum weiter.
Der mit der krummen Nase würde gleich etwas sagen. Er sah dem Mann in die Augen. Der Schweiß in seinem Nacken war kalt. Er würde ihnen alle Namen nennen, die sie hören wollten, wenn der Bohrer anging.
»Wir wollen das Geschäft durchziehen und eintüten. Eine Tasse Tee wäre doch jetzt ganz schön. Mit Milch und Zucker?«
Es gab einen Anruf. Das Mobilgerät war noch nie zuvor benutzt worden. Nummern und scheinbar zufällige Buchstaben wurden anschließend von der Insel an ein zweites Handy auf der Hauptinsel des Vereinigten Königreichs gejagt. Der integrierte Code genügte, um es durch ein Konsulat in Mittelitalien zu einer Handelsdelegation in der dänischen Hauptstadt zu schicken und anschließend zu seinem Ziel. Seine Reise endete in einer Villa in einer tschechischen Stadt nahe der deutschen Grenze.
Diese Vorkehrungen galten ausschließlich für einen Mann von beträchtlicher Bedeutung für das Regime, das sein Land regierte: Nur ein langjähriger, zuverlässiger Freund eines solchen Mannes konnte auf den Transfer des Signals zugreifen. Es war gut getarnt und würde die Computer eines feindlichen Geheimdienstes durcheinanderbringen.
Sie hatten ein spezielles Verhältnis zueinander. Timofei Simonow und Nikolai Denisow wohnten gemeinsam in einem hundert Jahre alten dreigeschossigen Haus, das hübsch mit buntem Efeu bedeckt war. Es stand ein paar Meter von der repräsentativen Straße, Krále Jiřího, zurück und befand sich auf halber Höhe des Hügels. Es bot herrliche Ausblicke auf den Kurort. Die Häuser in dieser Straße waren die hochpreisigsten der Stadt, die ohnehin die überteuertsten Immobilienpreise in Tschechien hatte. Sie befanden sich in bequemer Laufweite zur Innenstadt und ihren Promenaden mit den besseren Boutiquen. Die Straße war auch nicht weit von der orthodoxen St.-Peter-und-Paul-Kirche entfernt, und an diesem Tag schien die Sonne und setzte strahlende Glanzlichter auf ihr vergoldetes Dach. Ähnlich bequem erreichte man die Reinigung, den Minimarkt und die Restaurants, deren Speisekarten in kyrillischen Buchstaben geschrieben waren. Es war eine Stadt des Wohlstands, und der Ruf vieler, die aus St. Petersburg, Moskau und Wolgograd gekommen waren, hatte zur Folge, dass die Kriminellen, die üblicherweise die Reichen ausnahmen, schon vor langer Zeit hatten einsehen müssen, dass man diese Stadt am besten ignorierte. Es hieß, dies sei die sicherste Stadt im Land, vielleicht sogar in ganz Mitteleuropa. Männer, die in ihrer Branche wichtig waren, lebten sicher »unter dem Radar« und konnten sich nachts unbehelligt auf den sauberen Straßen bewegen. Obwohl die Stadt am bekanntesten für ihre Gesundheitswirtschaft war, wofür erstmals nach einem Besuch von Peter dem Großen geworben wurde, kümmerten sich die im Geheimsten operierenden Bewohner kaum um Lymphdrainage und Colon-Hydro-Therapie. Sie herrschten über Imperien, die enorme Erträge abwarfen, und ihre Vermögen beliefen sich jeweils auf hunderte Millionen US-Dollar oder Euro.
Nachdem er am Hintereingang, der durch einen hohen Zaun vor den Blicken der Öffentlichkeit geschützt war, die Stiefel von sich geschleudert hatte, hockte sich Timofei Simonow grinsend hin, um seine Hündinnen zu streicheln. Er hatte seine Weimaranerinnen am bewaldeten Hang hinter der Villa ausgeführt, und jetzt leckten sie ihm die Wangen. Er war vor langer Zeit Hauptmann in der GRU gewesen, dem Militärnachrichtendienst mit dem Motto »In euren ruhmreichen Taten liegt die Größe des Vaterlandes«.
Man hatte ihm einen Zettel überreicht. Der Mann, der ihm die Nachricht gebracht hatte, war fünf Jahre älter: Nikolai Denisow war schon in jungen Jahren zum Brigadier befördert worden. Simonow war nur wenig mehr als ein Beamter und Bürohengst in der Sektion des Generalstabs gewesen, die Denisow geleitet hatte. Aber die Zeiten waren lange vorbei, in denen sie dem Offizier gedient hatten, der das Zentralkommando der sowjetischen Streitkräfte befehligte, die denen des Nordatlantikpakts gegenüberstanden. Der frühere Hauptmann beschäftigte nun den früheren Brigadier als Fahrer, Personenschützer, Haushälter und Geheimnisträger. Ihre Verbindung wurde der Öffentlichkeit vorenthalten, nur wenigen war sie bekannt.
Er richtete sich auf. Die Nachricht war entschlüsselt worden. Das Lächeln wurde breiter. »Er kommt.«
»Er hat die Liste der benötigten Teile bestätigt.«
»Ich freue mich darauf, ihn zu sehen.«
»Er ist dein Freund, aber ist es klug, bei einem so kleinen Deal zu helfen?«
»Es geht darum, wo sie hinwollen. Ich würde ihnen mit Pfeil und Bogen aushelfen, wenn sie das wollten. Und er ist mein Freund, ganz egal, wie klein das Geschäft ist.«
Drei Tage waren vergangen, seit sein Freund den ersten Anlauf gestartet hatte. Er kannte den Mann seit vierzehn Jahren, damals war er selbst ganz unten gewesen und hatte nicht gewusst, wo er seine nächste Mahlzeit herbekommen würde. Der Engländer hatte ihm wieder auf die Beine geholfen. Nun sah es bei seinem Freund längst nicht mehr rosig aus, aber er hatte seiner Bitte eine Liste beigelegt, und er wusste von jeder Lieferung, wo sie ausgepackt werden würde. Ein Freund war ein Freund fürs Leben. Anderes Anliegen: Ein früherer Bürokrat, der im Finanzministerium gearbeitet und Steuer- und Zolleinnahmen geprüft hatte, war zum »Whistleblower« geworden und sprach mit Schweizer Ermittlern über geheime Konten bei Schweizer Banken. Es handelte sich um einen rangniedrigeren Beamten, aber sein Kopf und seine USB-Sticks waren prall gefüllt mit Details. Er hatte sein Land »verraten«, die herrschende Elite blamiert, und war so gut wie tot: Timofei Simonow hatte den Auftrag bekommen, ihn zu ermorden. Andere Anliegen: Timofei hatte noch immer »kommerzielle Interessen« in Jekaterinburg. Ein Ganove hatte sich zu viel herausgenommen und zwei Kioske am Fluss angezündet, von denen aus Dealer operiert und kleine Summen gezahlt hatten, die auf Timofeis Konten gelandet waren. Wie bei dem Beamten würde der Tod all denen eine Nachricht senden, die Ähnliches im Sinn hatten. Das Lächeln zog sich über sein ganzes Gesicht. »Es wird großartig sein, meinen Freund wiederzusehen.«
Er umarmte die Hündinnen und schickte sie in ihre Körbe, dann zog er sich Schuhe an. Sein Mann, der einst der strahlendste Stern im Generalstab war, würde die Stiefel mit nach draußen nehmen, den Schlamm abwaschen und dann Kaffee kochen.
Man sagte ihm, wer reisen würde und wann die Flüge gingen. Der mit der krummen Nase gab ihm hinter der Haustür eine letzte Warnung mit auf den Weg. »Wir kennen dein Gesicht und das von deiner Frau und deinem Kind. Wir wissen, wo du wohnst. Wenn du uns bescheißt, kriegen wir dich dran. Du kannst dich vor uns nicht verstecken.«
Zur Antwort streckte Ralph Exton ihm die Hand entgegen. Der mit der krummen Nase nahm sie und quetschte sie ihm mit festem, kaltem Griff zusammen. Er war überrascht, dass ein Mann, der so wenig Fleisch auf den Knochen hatte, so stark war. Er entschied sich für ein Lächeln aus seinem Repertoire, das ruhige Zuversicht und Vertrauen signalisierte. Als der andere seine Hand losließ, bot er sie dem jüngeren Mann an. Keine Reaktion. Er schob sie in die Hosentasche und tat so, als sei ihm die Weigerung gar nicht aufgefallen. Er sagte, als ginge es um eine Kleinigkeit, dass ein Startkapital für Reisekosten auf sein Konto auf Guernsey eingezahlt werden solle, das er für die Zigarettendeals benutzte. Dann scheuchten ihn die Männer, die ihn auf den Hügel gebracht hatten, den Weg hinunter, vorbei an dem kaputten Tor und über die Straße zu dem Lieferwagen. Ein Teil des Anstiegs über ihm war gut sichtbar, aber die Wolken hingen noch immer tief über dem Bungalow.
Er wurde in den Laderaum des Lieferwagens gestoßen, nicht gewaltsam, aber ohne Umschweife. Er sah Schaufel, Spitzhacke und Plastiksäcke. Sie fuhren schnell, bretterten um die Kurven und wichen Schlaglöchern aus.
Der Fahrer bremste. Die Tür wurde geöffnet, und er kroch hinaus. Der feuchte Nebel schien sich an seine Wangen zu heften, und er blinzelte. Die Tür hinter ihm wurde zugeknallt, der Lieferwagen verschwand. Er ging durch den Matsch am Weidetor und suchte in seiner Tasche nach dem Autoschlüssel. Er versuchte mehrmals, ihn ins Schloss zu stecken, aber seine Hand zitterte. Als er endlich im Wagen saß, hatte er dasselbe Problem mit der Zündung. Seine Beine waren wie gelähmt, seine Muskeln verkrampft.
Er fuhr vom Feld runter, in den Nebel hinein und durch ihn hindurch. Er keuchte und schwitzte. Sein selbstbewusstes Auftreten im Bungalow war reines Theater gewesen, jetzt flatterten ihm die Nerven. Er schlingerte von einer Straßenseite zur anderen, vorbei an Häusern, die er kaum wahrnahm. Ein Mädchen riss ihren Lenker herum, um ihm auszuweichen, und fiel dabei vom Rad. Es war ihm egal. Sein Herz hämmerte.
Er murmelte: »Fick mich doch. Nur ein ganz normaler Tag im Büro. Fick mich doch.«
Und er lachte.
»Scheiß drauf. Tolle Art, den Sonntagmorgen zu verbringen.«
Sie war hinter ihm. Gaby Davies stieß ihr linkes Knie von hinten in Hugo Woolmers Unterschenkel, trieb ihn den Gang entlang zu ihren zugeteilten Plätzen.
Sie gingen an Exton vorbei – er war bleich, in der Hand hielt er einen museumsreifen Flachmann – und Gaby tat so, als würde sie ihn nicht kennen. Als sie zu ihrer Reihe kamen, packte sie Hugo Woolmer am Kragen, riss ihn herum und warf ihn auf den Sitz neben dem Fenster. Er schien immer noch unter Schock zu stehen. Sie setzte sich neben ihn und beugte sich zu ihm rüber, um ihn anzuschnallen.
Sie zischte: »Wenn du mich noch mal blamierst, verlässt du dieses Flugzeug nicht aufrecht. Dann muss man dich raustragen.«
Nördlich des Saint-Pierre-Beckens, wo der Wind an den Masten und der Takelage der Freizeityachten und Barkassen rüttelte, und oberhalb der Innenstadtstraßen von Caen säuberte ein Mann einen Minibus mit einem Schwamm. Auf der Seite des fünfzehnsitzigen Wagens befand sich das Logo von »Sword Tours«. Der Mann – dünn und blass, Bartstoppeln auf den Wangen, Latzhose – arbeitete fast schon mit leidenschaftlicher Hingabe daran, die Lackierung auf Hochglanz zu bringen. Eine Glocke der Kirche neben der Abbaye des Dames ertönte für die späte Sonntagmorgenmessfeier. Kirchgänger eilten an ihm vorbei, grüßten ihn aber – er war tatsächlich nach so vielen Jahren fast einer von ihnen. Sein stacheliges Haar war graumeliert, aber seine Augen waren wach. Als der Eimer leer war, drehte er sich zu einem alten Haus, das sich am Straßenrand zwischen den anderen Gebäuden einreihte, und rief: »Dusty! Der Eimer ist leer. Ich brauche mehr Wasser.«
Er wusste, was sie tun würden – es war immer dasselbe an einem Sonntagmorgen.
Sie, das waren die Kunden. Kunden folgten am Vorabend des Ausflugs immer einer bestimmten Routine. Sie würden sich die Wettervorhersage für die französische Kanalküste der kommenden Woche aus dem Computer holen oder die Gepäckanhänger ausfüllen, die Sword Tours ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Sie würden sich ihre Kleidung bereitlegen und über die regenfesten Sachen nachdenken, falls die Vorhersagen falsch waren. Sie alle würden in einem Reisetäschchen den Reiseplan haben, dem Sword Tours folgte: Dunkerque, Dieppe, die entscheidenden Orte, an denen die Fallschirmjäger und Segelflieger gelandet waren, die Strände Sword, Juno, Gold, Utah und Omaha, und Falaise, wo der Kessel geschlossen wurde. Die meisten dieser Kunden würden auf Empfehlung von Freunden gekommen sein– »Man kann ihn nicht oft genug loben. Er kennt sich aus. Es gibt keinen Besseren als Danny Curnow. Der lebt und atmet diese Orte.« An diesem Sonntag, wie an jedem Sonntag, würden sich die Kunden auf ein Treffen vorbereiten, zu dem sie am nächsten Morgen aufbrechen würden.
Dusty brachte den Eimer. »Ist das jetzt der letzte, Danny?«
»Ja, danke.«
»In der Küche liegt ein Sandwich für dich.«
»Eine Minute.«
Dusty betrachtete ihn, zögerte. Danny fragte leise: »Ist was, Dusty?«
»Nein.«
Dusty ging und ließ ihn weitermachen. Danny Curnow hatte verstanden. Sie blickten auf eine gemeinsame Geschichte von nun fast dreißig Jahren zurück, damals war er noch Desperate, Rufname Vagabond. Seit sechzehn Jahren lebten sie in einer historischen Stadt in der Normandie. Ein Moment hatte sie aneinandergebunden: Als er völlig ausgebrannt die Gough-Kaserne verlassen hatte, das Gebrüll seines Vorgesetzten im Ohr, er solle auf der Stelle umkehren. Aber er war weiter die Barrack Street hinuntergegangen, und dann hatte er Schritte hinter sich gehört. Dusty war ihm gefolgt. Sie waren zur Bushaltestelle gegangen und hatten den nächsten Bus genommen. Streng genommen waren sie desertiert, aber sie waren einfach immer weitergefahren und dann hier angekommen. Er wusste, dass sich der ältere Mann einsam fühlte, wenn Danny fort war. Er hatte Lisette und Christine, die sich um ihn kümmerten, gutes Essen und ein warmes Bett, aber er vermisste die Gesellschaft seines einstigen Sergeanten, des Mannes, mit dem er unzählige Nächte in Gräben verbracht hatte.
Danny verbrauchte das Wasser aus dem letzten Eimer, hielt inne, um sein Werk zu bewundern, drehte sich dann um und ging den Hügel hinab zu seinem Haus. Für Danny Curnows Nerven und Erinnerungen war dies genau der richtige Ort.
Ein Stalker? Ein armseliger kleiner Mann, der Frauen verfolgte und sich im Schatten versteckte? Vielleicht, aber das wäre eine Selbstsicht, die Daniel Curnow nicht akzeptieren konnte. Er brauchte Routine, feste Strukturen hatte er verinnerlicht. Es war Sonntag, und die Kirchgänger hatten mittlerweile die Abbaye und die St.-Gilles-Kirche – in der Mitte des Kirchenschiffs war das Grab von Matilda, der Frau von Wilhelm dem Eroberer – verlassen. Danny hatte sein Sandwich in der Küche gegessen, den Minibus am Bürgersteig geparkt und war in die Kneipe gegangen, die er regelmäßig besuchte. In der Dickens Bar trank er an einem Sonntag stets ein kleines Glas Bier aus der Region, tauschte ein paar belanglose Höflichkeiten mit dem patron aus, informierte sich in der Lokalzeitung über Neuigkeiten in Caen, rauchte zwei Zigaretten und ging wieder. Er stalkte keine Frau in der Stadt, in der er wohnte, aber im Laufe des Nachmittags fuhr er auf der Schnellstraße, die mit etwas Abstand parallel zur Küste verlief, nach Nordosten. Die Frau war in Honfleur, auf gut halbem Weg zu seinem Ziel. Es war, was er jeden Sonntag tat, Sommer wie Winter.
Seine Akzeptanz eines geordneten Lebensstils hatte ihn fast zu einer Legende in der von ihm gewählten militärischen Einheit gemacht, dem Intelligence Corps. Er hätte natürlich etwas verändern können, aber Routine brachte Sicherheit. Danach hatte er sich gesehnt, und deshalb war er mit Dusty an die französische Atlantikküste gezogen, zu den Steilküsten, den weiten Stränden und Schlachtfeldern.
Er machte die zweite Zigarette aus, trank den Rest Bier, faltete die Zeitung zusammen, in der er gelesen hatte, und schob sie zurück über den Tresen.
Einige Gäste trugen ihre besten Sachen, weil sie sie für die Messe angezogen hatten, andere waren ölverschmiert, weil sie an ihren Autos herumgeschraubt hatten. Ein paar waren verschwitzt und trugen Trainingsanzüge vom Fußballspielen auf dem Allwetterspielfeld. Sie nickten ihm zu, berührten ihn am Arm oder schüttelten ihm die Hand. Sie waren fast so etwas wie seine Freunde, aber eben nur fast. Die Türglocke der Dickens Bar klingelte wie üblich, als er hinaus auf die Straße trat. Er ging – wie jeden Sonntag – durch die enge Gasse mit den steilen Stufen, die zwischen der Straße lag, in der sich seine Kneipe befand, und der, in der er wohnte und sein Minibus stand.
Er öffnete die Haustür und ging in die Küche. Dusty aß gerade zu Mittag, Rindfleisch mit Soße. Christine werkelte hinter ihm herum. Lisette stand an der Spüle. Sie hatten selbst kaum etwas, kümmerten sich aber mit Hingabe um ihre Langzeitmieter. Sie alle waren auf ihre Art traurig, merkten es aber nicht. Das Haus gehörte Lisette, und Christine war ihre Tochter. Sie hatten die wandernden Ausländer aufgenommen, und dieses Arrangement kam ihnen allen entgegen.
Er nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank, lächelte ihnen knapp zu und zog den Kopf ein. Dusty wünschte ihm gute Fahrt. Lisette würde am kommenden Samstag, wenn er zurückkam, seine Wäsche fertig haben, und Christine würde unnötigerweise sein Zimmer aufgeräumt haben, obwohl er es immer tadellos zurückließ.
Er war ein Zigeuner, ein Reisender, so wie sie alle.
Dusty hatte vor langer Zeit seine Eltern verloren, seine Schwester war in einer dieser Feriensiedlungen an einer spanischen Küste verschollen, er hatte einen neunzehnjährigen Sohn in der Nähe von Dortmund und einen, der ein Jahr jünger war und in einem Hotel in Limassol arbeitete. Lisettes Mutter war erst siebzehn gewesen, als ein deutscher Offizier, der auf dem Bauernhof der Familie untergebracht war – von dort aus war der kanadische Strand, Juno Beach, einsehbar –, sie mit auf den Heuboden nahm. Das Kind kam nach der erfolgreichen Invasion und dem Tod des Offiziers zur Welt. Man nannte Lisettes Mutter eine Kollaborateurin und schor ihr öffentlich den Kopf. Jahrzehnte später war Lisette – lebhaft, aggressiv und kompromisslos – mit einem deutschen Touristen, der sich die Gräber ansehen wollte, an drei aufeinanderfolgenden Abenden ins Bett gegangen. Daraus war die seidig blonde Christine entstanden. Die Vergangenheit beherrschte alle, die in diesem Haus lebten. Für Danny Curnow war es schlimmer als für die anderen: Er lebte mit Dämonen, die ihn gezwungen hatten, seine Arbeit hinzuschmeißen und wegzugehen, bevor sie ihn kaputtmachte. Er hatte es nicht zugelassen, dass jemand mitbekam, wie er schwächer wurde.
Er nahm seine Tasche, die mit dem Wenigen gepackt war, das er für eine Woche brauchen würde, und trug sie zum Minibus.
Er ging um das Fahrzeug herum und überprüfte die Reifen. Er wusste, dass Dusty bereits den Motor gecheckt hatte. Er stieg ein, drehte den Schlüssel in der Zündung um, fuhr los und rollte den Hügel hinunter, auf das große Burggebäude zu.
An diesem Sonntag war für Danny Curnow alles wie an jedem Sonntag. Seit über einem Dutzend Jahren hatte sich für ihn nichts verändert. Die Disziplin der Routine hatte aus ihm einen guten Soldaten gemacht – mit einer Medaille, die schon lange im Mülleimer gelandet war, und drei Tapferkeitsurkunden. Er hatte die Schriftstücke geschreddert.
Er fuhr aus der Stadt hinaus in Richtung Honfleur.
Ralph Exton lebte eine Lüge. Er glaubte fest daran, dass er sterben würde, sobald sie aufflog. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde sein Tod keine sanfte Erlösung von seinen Qualen sein. Es wäre wohl eher etwas mit Folter.