Vagina Business - Marina Gerner - E-Book

Vagina Business E-Book

Marina Gerner

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Beschreibung

Warum Frauengesundheit nicht mehr ignoriert werden darf Von der Verhütung, Geburten über die Periode bis hin zur Menopause – Beschwerden, die den weiblichen Körper betreffen, werden immer noch zu wenig beachtet, oft bagatellisiert oder missverstanden. So verwundert es nicht, dass lediglich vier Prozent der gesamten Forschung im Gesundheitswesen auf das Wohl von Frauen ausgerichtet sind – mit negativen Folgen für die weibliche Gesundheit und letztlich zum Schaden für die gesamte Gesellschaft. Umso wichtiger ist es, mit den vorherrschenden Tabus zu brechen und Innovationen im Bereich Frauengesundheit zu fördern. Wie Vorreiter*innen in der FemTech-Branche mit ihren Unternehmen bereits Veränderung bewirken, zeigt Marina Gerner. Die Journalistin deckt auf, mit welchen Problemen diese Gründer*innen in den Vorstandsetagen auf der ganzen Welt zu kämpfen haben, und macht klar, was sich ändern muss. Hierzu spricht sie in Dutzenden Interviews mit den FemTech Innovator*innen, Forscher*innen und Investor*innen unserer Zeit. Sie bietet einen Blick auf bahnbrechende Ideen und Produkte wie beispielsweise Periodenunterwäsche, innovative Geburtshilfegeräte, hormonfreie Verhütungsmittel oder praktische Apps um die Fruchtbarkeit zu tracken und Dienstleistungs-Apps in Sachen Menopause. Ein Buch, das mehr als deutlich macht, warum weibliche Gesundheit kein Tabuthema mehr sein darf!

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Seitenzahl: 518

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Marina Gerner

Vagina Business

Wie Unternehmen mit bahnbrechenden Innovationen den Markt für Frauengesundheit revolutionieren

Marina Gerner

Vagina Business

Wie Unternehmen mit bahnbrechenden Innovationen den Markt für Frauengesundheit revolutionieren

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

1. Auflage 2024

© 2024 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Die englische Originalausgabe erschien 2024 bei Sourcebooks unter dem Titel The Vagina Business.

© 2024 by Marina Gerner. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Übersetzung: Silvia Kinkel

Redaktion: Christiane Otto

Umschlaggestaltung: Maria Verdorfer

Satz und Layout: Andreas Linnemann

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-86881-977-9

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-613-1

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-614-8

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.redline-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

Einleitung

Einiges zu verlieren haben

Teil I

Etwas Neues unter der Sonne

Kapitel 1: Start

Wer sind wir, dass wir uns in Mutter Natur einmischen?

Kapitel 2: Geld

Was für ein Problem haben Investoren eigentlich mit Vaginen?

Kapitel 3: Forschung

Kann ein BH Ihr Leben retten?

Kapitel 4: Wo es Bedarf gibt

Warum es sich lohnt, nach Problemen zu suchen

TEIL II

Frauen-zentrierte Gestaltung

Kapitel 5: Periodenapps

Was man braucht, um ein Ei zu verfolgen

Kapitel 6: SexTech

Entmystifizierung des weiblichen Orgasmus

Kapitel 7: Die Zukunft der Empfängnisverhütung

Das habe ich in einem Science-Fiction-Film gesehen

Kapitel 8: FertilityTech

Alice im Kinderwunschklinik-Wunderland

Kapitel 9: FamilyTech

Wo ist jetzt dein Dorf?

Kapitel 10: MenopauseTech

Wenn Altersdiskriminierung auf Sexismus trifft

Kapitel 11: Letzte Grenze

Die am schwersten zu brechenden Tabus

TEIL III

Hinaus in die Welt

Kapitel 12: Gemeinschaft

Soziale Revolutionen machen Spaß

Kapitel 13: Big in Japan

Die größte FemTech-Messe der Welt

Kapitel 14: Die heimtückische Seite

Unsicherheiten zu Geld machen

Kapitel 15: Vigilanten

Jeder verdient es, sicher zu sein

Kapitel 16: Eindrücke

Wie man anzieht und abstößt

Kapitel 17: Wirtschaft und Gesellschaft

Was wäre, wenn FemTech gewinnt?

Danksagung

Über die Autorin

Pressestimmen zu Vagina Business

Bibliografie

Endnoten

Für meine Mutter – selbstverständlich

Einleitung

Einiges zu verlieren haben

Hatte er das gerade echt gesagt? Einen Moment lang glaubte sie, sich verhört zu haben. Farah Kabir war auf eine Insel im Ärmelkanal gekommen, um ihre Firma einer Gruppe von Investoren vorzustellen. Nachdem ihr Flug aus London gelandet war, war sie direkt in dieses Konferenzhotel gefahren, wie es sie überall auf der Welt gibt, mit kalten grauen Böden und lauwarmem Kaffee. Sie strich ihre Kleidung glatt und spürte, wie ihre Hände zitterten, als sie nach dem Wasserglas griff. Es hatte Blut gekostet, Schweiß, Latex und ihre Ersparnisse, um an diesen Punkt zu gelangen.

Auf die Idee für ihr Unternehmen war Farah ein paar Jahre zuvor gekommen, als sie die Pille wegen der vielen Nebenwirkungen absetzte: Gewichtszunahme, Stimmungsschwankungen und fettige Haut. »Hormonelle Verhütung hat bei mir einfach nicht funktioniert«, sagt sie.1 Danach waren Kondome ihre bevorzugte Verhütungsmethode.

Eines Tages ging sie in der Mittagspause in ein Geschäft, um Kondome zu kaufen. »Du gehst den Gang entlang und siehst die grellen Verpackungen, die für die Eroberung durch den Mann werben, aber nichts über die Inhaltsstoffe verraten«, erzählt sie. Bei Produkten, die man körperlich anwendet, sind die Inhaltsstoffe normalerweise aufgeführt. »Nicht jedoch bei Kondomen. Aber man möchte ja sowieso nicht länger als nötig vor dem Kondomregal stehen.« Doch genau dazu kam es leider.

Als Farah auf den Verpackungen nach Informationen über Inhaltsstoffe suchte, tauchte plötzlich ihr Chef auf. »Es war so demütigend. Ich stand da mit dieser knallroten Packung in der Hand.« Was anfangs peinlich war, verwandelte sich in Frustration. »Ich dachte bei mir: Jeden anderen Aspekt meiner Gesundheit darf ich kontrollieren, aber nicht meine sexuelle Gesundheit?«

Beim Mittagessen erzählte sie ihrer Freundin Sarah Welsh, einer Gynäkologin, von der peinlichen Begegnung mit ihrem Chef und fragte sie: »Warum ist es inakzeptabel, dass Frauen Verhütungsmittel dabeihaben?« Sarah war nicht überrascht. In ihrem Beruf erlebte sie, dass immer wieder Frauen mit schwer behandelbaren Geschlechtskrankheiten in ihre Sprechstunde kamen, oder Frauen, die sagten, sie würden sich nicht schützen, weil das »Männersache« sei oder man von ihnen nicht denken sollte, sie hätten ständig wechselnde Sexualpartner. »Dann kam uns dieser Geistesblitz: Warum entwickeln wir nicht ein frauengerechtes Kondom?«

Die beiden Frauen beschlossen, sich die Branche genauer anzuschauen und zu recherchieren, ob es Kondome gab, bei deren Entwicklung die Wünsche von Kundinnen berücksichtigt werden. »Wir waren geschockt, denn in Europa hatte das noch nie jemand gemacht«, berichtet Farah. Die beiden führten eine Umfrage bei 2000 Frauen durch und fanden heraus, dass Frauen bei Kondomen auf Inhaltsstoffe und Nachhaltigkeit achten. Die befragten Frauen mochten weder den Geruch von Latex noch grelle Verpackungen, aber sie wollten auch nichts Mädchenhaftes in rosa und mit Blümchenmuster. »Anhand der Wünsche unserer Umfrageteilnehmerinnen haben wir dann ein Produkt entwickelt«, erzählt Farah. »Unsere Kondome sind vegan und biologisch abbaubar. Sie enthalten keine schädlichen Chemikalien wie Anästhetika, die zwar die Erregungsphase beim Mann verlängern, aber die Scheidenwand reizen.«

»Wir haben unsere gesamten Ersparnisse in die Entwicklung von Kondomen gesteckt«, fügt sie hinzu. Um ihr Unternehmen Hanx voranzubringen, brauchten sie nun Geld von Investoren. Bei ihrem Pitch war Farah die einzige weibliche Gründerin, die sich an diesem Tag einer Gruppe von überwiegend männlichen Investoren gegenübersah. In dieser Situation hörte sie jene Frage, die sie aus der Fassung brachte. Ein Investor lachte und sagte: »Können Sie mal vormachen, wie man ein Kondom überzieht?«

Er wollte sich offenkundig über sie lustig machen. »Diese Investoren nahmen mich nicht ernst, weil ich als Frau Investitionen für ein Unternehmen in einer von Männern dominierten Branche wollte«, berichtet sie. Das ist ein Rückfall in die Klassenzimmer des Sexualkundeunterrichts vor Jahrzehnten, wo Teenager kichern, während sie Kondome über Bananen streifen. Wer hätte gedacht, dass sich diese Einstellung bis zu den Entscheidungsträgern, Männer mit silbergrauen Haaren, bei Investorenkonferenzen fortsetzt?

Es ist eigentlich meine Aufgabe als Journalistin, unverschämte Fragen zu stellen. In den vergangenen zehn Jahren habe ich über Wirtschaft, Technologie und Kultur geschrieben. Geschichten wie die von Farah lenkten meine Aufmerksamkeit auf ein neues Feld, das an der Schwelle zu einer Revolution steht: Bei Female Technology – kurz FemTech – handelt es sich um technologiebasierte Services und Anwendungen, die auf spezifische gesundheitliche Bedürfnisse von Frauen ausgerichtet sind, wie Schwangerschaft, Geburt, Periode, Sex, Menopause, Fruchtbarkeit und Verhütung. Die Frage, die ich beantworten wollte, lautete: Was steht einer solchen Innovation im Weg? Und wie kann diese neue Generation von Unternehmerinnen erfolgreich sein?

Ich zog los und interviewte eine Reihe von Unternehmerinnen, um einen Artikel zu diesem Thema zu schreiben. Jede Unternehmerin, mit der ich sprach, hatte ungeheuerliche Geschichten über Reaktionen von Investoren – zumeist Männer – auf Lager. Es ist schon schwer genug für Unternehmerinnen, Geld aufzutreiben, aber wenn die Vagina im Zentrum der Innovation steht, ist es noch schwieriger. Die Investoren haben nicht nur keinen Bezug zum Thema, sondern es ist ihnen auch peinlich, in einem geschäftlichen Rahmen darüber zu sprechen. Es gehört sich nicht, denken sie und zupfen an ihren Krawatten. Wie es ein bekannter Risikokapitalgeber einmal formulierte: »Ich möchte in meinen Partner-Meetings am Montagmorgen nicht über Vaginen sprechen.«

Mein Artikel wurde in der Computerzeitschrift Wired veröffentlicht und verbreitete sich wie ein Virus.2 Zehntausende Menschen haben ihn gelesen und geteilt. Mein Posteingang quoll über mit Nachrichten von Unternehmerinnen: »Ich liebe Ihren Artikel. Er trifft auf den Punkt, wie schwierig es für Frauen ist.« Erstaunlicherweise erhielt ich auch Nachrichten von jüngeren, männlichen Millennial-Investoren. »Super Artikel«, schrieb einer. »In meiner Anfangszeit als Investor hatte auch ich definitiv dieses Problem. Mittlerweile konnte ich es weit hinter mir lassen.« So wie auch andere, die anfangs zimperlich waren, wagte er einen Abstecher in die FemTech-Branche.

Mir wurde bewusst, dass dies nur die Spitze des Eisbergs war. Je mehr Gründerinnen ich ansprach, desto mehr erfuhr ich über das Stigma, mit dem sie zu kämpfen haben, die Zensur, mit der sie in den Mainstream-Medien und auf den Plattformen der sozialen Medien ringen, und auch über das enorme Potenzial einer Branche, die 50 Prozent der Weltbevölkerung abdecken könnte. Das musste schlichtweg zu einer globalen Bewegung gemacht werden.

Die Gesellschaft hat bezüglich der Gesundheit von Frauen zumeist die Augen zugemacht – von den schädlichen Nebenwirkungen der Antibabypille bis hin zum Mangel an bahnbrechenden Innovationen bei Geburt und Wechseljahren. Innovationen im Bereich der Technologie – größtenteils von Frauen für Frauen – das ist ein neuer Ansatz. Schließlich werden die meisten technologischen Innovationen immer noch von Männern entwickelt – für Männer. Das fängt an bei den immer größer werdenden Smartphones, die nicht in unsere Hände passen, und reicht bis zu Sicherheitsgurten und breitschultrigen, männlichen Auto-Crashtest-Dummys, wie Caroline Criado-Perez in ihrem bahnbrechenden Buch Invisible Women [auf Deutsch erschienen unter dem Titel Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert] über die geschlechtsspezifische Datenlücke aufgezeigt hat. Prothesen, Stimmerkennung oder auch Schutzkleidung für medizinisches Personal sind allesamt für männliche Körper konzipiert worden. Eine Welt, die nach männlichen Maßstäben entworfen wurde, hat jedoch Konsequenzen für unsere Gesundheit und Sicherheit.

Je tiefer ich in die Welt von FemTech und ihr Ökosystem eintauchte, desto mehr wunderte ich mich. In den Vereinigten Staaten treffen laut des US-Arbeitsministeriums Frauen 80 Prozent der Entscheidungen im Gesundheitswesen, sind jedoch kaum an der Gestaltung des Gesundheitssystems beteiligt.3 Erst 1993 wurden in den USA Frauen und People of Color offiziell in klinische Studien einbezogen, ein Großteil unseres heutigen medizinischen Wissens wurde jedoch durch frühere Forschungen geprägt.4 Frauen waren lange von der Forschung ausgeschlossen; selbst bei Tierversuchen werden weibliche Mäuse wegen ihrer Hormone tendenziell ausgeschlossen.5

Die Folgen sind katastrophal. Frauen erhalten mit einer 50 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit als Männer nach einem Herzinfarkt eine falsche Diagnose.6 Bei 770 Arten von Krankheiten wird bei Frauen die Diagnose im Durchschnitt vier Jahre später gestellt als bei Männern.7Und eine spätere Diagnose bedeutet, dass Frauen mit größerer Wahrscheinlichkeit unter Schmerzen und Komplikationen leiden müssen.

Sowohl in der Pubertät als auch in der Perimenopause herrscht Hormonchaos.

Quelle: Perimenopause Lost, Professor Jerilynn C. Prior

Frauenspezifische Krankheiten stoßen oftmals auf Stirnrunzeln, denn das Polyzystische Ovarialsyndrom (kurz PCO-Syndrom) wird routinemäßig fehldiagnostiziert.8 Bei Endometriose kann es fast ein Jahrzehnt dauern, bis die Diagnose gestellt wird.9 Selbst Oprah Winfrey wurde wiederholt fehldiagnostiziert, als sie während der Menopause unter Herzrasen litt.10

Die Dosierung der meisten Medikamente wird auf der Grundlage von Studien berechnet, die überwiegend mit männlichen Teilnehmern durchgeführt wurden, und das, obwohl Medikamente bei Frauen länger wirken, da unsere Leber und Nieren sie anders verarbeiten.11

Laut der Daten von PitchBook sind nur 4 Prozent der gesamten Forschung und Entwicklung im Gesundheitswesen auf die Gesundheit von Frauen ausgerichtet.12 Im Vereinigten Königreich entfallen weniger als 2,5 Prozent der öffentlich finanzierten Forschung auf reproduktive Gesundheit und Geburten. Die Gesundheit von Frauen ist sowohl unterfinanziert als auch zu wenig erforscht.13

Dieses Missverhältnis besteht schon seit Jahrtausenden. Im antiken Griechenland glaubten die Menschen, dass die Gesundheitsprobleme der Frauen darauf beruhen, dass unsere Gebärmutter im Körper umherwandert. Wenn sie beispielsweise in der Brust stecken bleibt, haben wir dort Schmerzen. Im 19. Jahrhundert machten die Ärzte die »Hysterie«, abgeleitet vom griechischen Wort hystera für »Gebärmutter«, für weibliche Gesundheitsprobleme verantwortlich. Noch heute werden Probleme von Frauen nicht ernst genommen.

Schmerzen werden bagatellisiert, von der Geburt bis zur Menopause. Die Gesellschaft zuckt nur mit den Schultern: »Willkommen im Frauendasein«, anstatt an Lösungen zu arbeiten. Die hierbei verwendeten Begriffe sind überaus aufschlussreich. Mit »Morgenübelkeit« wird bagatellisiert, was in der Schwangerschaft eine lähmende Erfahrung sein kann, die sich nicht auf den Morgen beschränkt. Ein weiterer Anwärter für überholte Begriffe ist die »geriatrische Schwangerschaft«, was nicht nur trostlos klingt, sondern auch ein Widerspruch in sich ist, denn man kann nicht »greisenhaft« und fruchtbar sein. Wir sagen ja auch nicht: »Hier ist dein Greisen-Viagra.«

Der weibliche Körper war stets geheimnisumwoben, und wer in damit verbundenen Bereichen arbeitet, begegnet allerorts Stigmatisierungen. Virginia Woolf sagte 1931 in einer Rede, dass es noch Jahrzehnte dauern würde, bis Frauen die Wahrheit über ihre Körper sagen könnten.14 Bis heute stehen unsere Kultur und die Einstellungen – sowohl von Männern als auch von Frauen – der Innovation und dem Verhältnis der Frauen zu ihrem Körper im Wege. Könnte nun, da die Daten langsam die Realität einholen, eine wachsende Gruppe von Innovator*innen dazu beitragen, die Lücke zu schließen?

Vagina-Innovation

Wir sollten nicht vergessen, dass die Geschäftswelt ein Spiegelbild unserer Kultur ist. Denken Sie nur daran, wie wir Sprache verwenden. Im Englischen jemanden als dick [Schwanz] zu bezeichnen, ist alltäglich, aber versuchen Sie einmal, in einem Pub Vagina zu rufen. Die Angst vor Vaginen lässt sich zurückverfolgen bis zum Mythos der bezahnten Vagina, der Vagina dentata. Diese Angst war ausschlaggebend für Freuds Idee, dass Männer unter Kastrationsangst leiden. Heute begegnen viele FemTech-Unternehmerinnen, mit denen ich gesprochen habe, einem Phänomen, das sie als »Angst vor Vaginen« beschreiben.

Schon vor Jahrhunderten gab es japanische Farbholzschnitte von sogenannten »Vagina-Geistern«. Andererseits gibt es kein japanisches Wort für »sexuelles Wohlbefinden«, merkt Amina Sugimoto an, Gründerin von Fermata, einem Online-Marktplatz für FemTech-Produkte in Asien.15 Während Schwanzkritzeleien die Wände öffentlicher Toiletten auf der ganzen Welt zieren, sind die meisten Menschen nicht in der Lage, eine Klitoris zu zeichnen.

Es fängt schon damit an, dass viele Menschen mit Wörtern wie »Vagina« Berührungsängste haben. Allein das Lesen des Wortes »Vagina« löst bei dem einen oder anderen Unwohlsein oder Erregung aus – oder beides. Viele der Unternehmerinnen schließen sich den Worten von Tracy MacNeal an, CEO von Materna, einem Unternehmen, das einen Dilatator entwickelt hat, der den Gebärmutterhals weitet, um die Geburt einfacher und schneller zu gestalten: »Als ich das Produkt zum ersten Mal sah, dachte ich: ›Das ist doch lächerlich. Will ich wirklich der CEO von Vagina sein?‹ Aber dann sagte meine Schwester: ›Du fühlst dich nur so, weil die Gesellschaft Vaginen nicht wertschätzt.‹ Da wurde mir klar, dass ich bei mir selbst anfangen muss.«16

Trotz meiner liberalen Erziehung bin auch ich nicht immun gegen gesellschaftliche Normen und ertappe mich sogar dabei, wie ich mitmache. Warum flüstere ich das Wort »Periode«? Wenn mich im Büro eine Kollegin fragte, ob ich vielleicht eine Binde dabeihätte, habe ich diese verlegen in einem Umschlag weitergegeben, als würde ich mit Drogen handeln. Gloria Steinem vermutet, wenn Männer eine Periode hätten, würde »die Menstruation zu einem beneidenswerten, rühmenswerten, männlichen Ereignis werden«17, aber wir Frauen haben noch einen weiten Weg vor uns. Unternehmen florieren, wenn Menschen sich gegenseitig Produkte empfehlen und wir unseren Freunden zum Beispiel von der neuen Meditationsapp oder der neuen Hammerklopf-Massage erzählen. Natürlich ist die Periode eine private Angelegenheit, aber wie kann ein Unternehmen in einem Bereich florieren, über den die meisten Menschen nur im Flüsterton – wenn überhaupt – sprechen?

Unsere Vorurteile sitzen tief. In einem Experiment haben Forscher an einer Universität in Colorado eine Gruppe von Teilnehmern im Alter zwischen 17 und 36 Jahren rekrutiert, denen gesagt wurde, sie nähmen an einer Studie über »Gruppenproduktivität« teil.18 Ihnen wurde gesagt, sie würden gemeinsam mit einer anderen Person ein Problem lösen. Was sie nicht wussten, war, dass diese andere Person, eine Frau, Teil des Experiments war. Irgendwann im Laufe der Zusammenarbeit griff die Frau in ihre Handtasche, um Lippenbalsam herauszuholen, und beförderte stattdessen eines von zwei Dingen auf den Tisch: entweder einen in Folie verpackten Tampon oder eine Haarspange. Nach dem Ende der Arbeitssitzung baten die Forscher die Teilnehmer, ihre Partnerin zu bewerten. Die Frauen, die den Tampon hervorholten, wurden im Gegensatz zu denen mit der Haarklammer als weniger kompetent und weniger sympathisch eingestuft.

Privatsphäre ist eine Sache, Scham eine andere. Hebe eine Strähne der Scham, und es erscheint ein ganzes Geflecht von Schamgefühlen. Ingrid Johnston-Robledo, eine Forscherin zum Thema Körperscham, fand bei einer Umfrage heraus, dass Frauen, die der Aussage zustimmen: »Es ist mir peinlich, wenn ich Menstruationsprodukte kaufen muss«, auch eher sagen: »Ich finde Bilder von stillenden Frauen obszön.«19 Traurigerweise waren sie auch weniger in der Lage, für ihr eigenes sexuelles Vergnügen einzutreten. Mit anderen Worten, die Scham über den weiblichen Körper hemmt die sexuelle Handlungsfähigkeit. Unternehmerinnen in der SexTech-Branche sind mit einem komplizierten Geflecht von Schamgefühlen potenzieller Kundinnen konfrontiert, was sich wiederum darauf auswirkt, wie sie ihre Produkte konzipieren und bewerben.

Gleichzeitig besteht für die Unternehmen die große Chance, Menschen zu erreichen, die auf der Suche nach hochwertigen Informationen und innovativen Produkten sind. Zwei Drittel der Frauen im Alter zwischen 18 und 24 Jahren ist es peinlich, das Wort »Vagina« in einer Arztpraxis auszusprechen, so eine Umfrage der britischen Wohltätigkeitsorganisation Ovarian Cancer Action.20 Mit großer Wahrscheinlichkeit würden sich dieselben Frauen wohler fühlen, wenn sie über eine App oder eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten nach Antworten suchen könnten.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass Erfahrungen und Wissen nicht vererbt werden. Informationen über den Beckenboden zum Beispiel werden in der Regel nicht zusammen mit den Familienerbstücken weitergegeben. Anstatt offen über Beckenbodenprobleme wie Inkontinenz zu sprechen, verwenden die Menschen Euphemismen. »Nach der Geburt sagte meine Mutter zu mir: ›Leg dich viel hin‹, ohne mir den Grund zu nennen«, erzählt Gloria Kolb, die Gründerin von Elidah, einem nichtinvasiven Therapiegerät für Belastungsinkontinenz.21 »Erst nachdem ich mein Unternehmen gegründet hatte, erfuhr ich, dass sie zwei Beckenbodenoperationen hinter sich hatte. Auf meine Frage: ›Wie konntest du mir das verschweigen?‹ erwiderte sie nur: ›Über so etwas spricht man nicht. ‹«

»Niemand erzählt dir davon, richtig? Niemand erzählt dir von diesen Lebensphasen, und dann steckst du mittendrin und weißt nicht einmal, was du nicht weißt«, sagte Mridula Pore,22 CEO und Mitbegründerin der Gesundheitsapp Peppy, auf einer Veranstaltung der Women of Wearables23.

»In jeder Generation stoßen Menschen immer wieder auf die gleichen Phänomene, halten diese jedoch nicht schriftlich fest«, sagt Rob Perkins, Mitbegründer von OMGYes.24 Folglich könnten Unternehmen in diesem Bereich Zugang zu vertrauenswürdigen Informationen verschaffen, in einer Zeit, in der sich die Menschen auf Google mit durchwachsenem Erfolg Antworten holen.

Wenn wir es weiterhin vermeiden, über den weiblichen Körper zu sprechen, und ihn stattdessen mit Geheimnissen umgeben, berauben wir die Frauen der Freude und fügen ihnen Schmerz zu. Juliana Garaizar vom Angel Fond25 Portfolia präsentierte in Houston das Geburtshilfegerät von Materna Medical einer Gruppe von Investoren. Kurz vor dem Treffen warnte ein Kollege sie: »Dieses Dia können wir auf keinen Fall zeigen.« Aber Garaizar beharrte darauf. »Wenn wir etwas zeigen sollten, dann ist es das!«26

Wie erwartet, verursachte das Dia verlegenes Gemurmel im Publikum. Gezeigt wurde ein Foto einer zerrissenen Vagina nach einer Entbindung im Vergleich zu einer gesunden Vagina. Endometriose, Geburt oder Stillen – die Schmerzen von Frauen wurden schon viel zu lange ignoriert. Wir können nicht länger zulassen, dass verlegenes Gemurmel der weiblichen Gesundheit den Weg verbaut. Es ist an der Zeit, dass Evas Fluch zu einem Segen wird.

Die Macht der Ich-Perspektive

Es war Sigmund Freud, der behauptete, klitorale Orgasmen seien infantil, vaginale Orgasmen dagegen erwachsen.27 Aber Freud hatte nichts zu verlieren. Und als Mann besaß er keine unmittelbare Erfahrung. In den vergangenen Jahrzehnten gab es bei der Erforschung von Ursprung und Ablauf des weiblichen Orgasmus viele Fortschritte, und es überrascht nicht, dass viele der Forscher Frauen sind. Genau wie Forschung und Kunst entstehen Unternehmen und Innovationen oft aus einem Problem heraus, das der*die Gründer*in erfahren hat und lösen möchte. Wann immer ich mit Gründer*innen spreche, erzählen sie mir, was sie zu ihrer Idee inspiriert hat. Ihre persönliche Geschichte, die Risiken, die sie eingehen, und ihre Beweggründe sind das, was man in der Geschäftswelt als »Skin in the Game« [einiges zu verlieren haben] bezeichnet.

Lyndsey Harper sitzt vor ihrem Bett, eingerahmt von zwei Messinglampen, als ich mich über Zoom mit ihr unterhalte. »Ich bin Geburtshelferin und Gynäkologin, zuständig für gesundheitliche Probleme von Frauen, Verhütung, Schwangerschaft, PAP-Abstriche, Brustuntersuchungen, alles von der Fruchtbarkeit bis zu den Wechseljahren«, sagt sie mit einem strahlenden Lächeln und der Art von optimistischer Stimme, die mich bei amerikanischen Unternehmerinnen stets einnimmt.

»Als ich in einer Privatpraxis arbeitete, vertrauten mir viele meiner Patientinnen – vor allem, wenn wir uns schon länger kannten, vielleicht nach ein paar gemeinsamen Babys – Dinge an wie zum Beispiel: ›Hey, ich liebe meinen Partner, aber es ist mir egal, ob wir jemals wieder Sex haben.‹ Solche Aussagen hörte ich jeden Tag, wieder und wieder«, sagt sie. Und ich hatte nicht die geringste Idee, wie ich meinen Patientinnen helfen konnte. Diese Hilflosigkeit setzte mir zu, deshalb fragte ich meine Kollegen in der Praxis: ›Hey, haben eure Patientinnen auch solche Probleme? ‹ Sie antworteten: ›Das hören wir die ganze Zeit.‹ Leider wird uns in der gynäkologischen Ausbildung und in unserer Kultur beigebracht, dann zu denken: ›Willkommen im Club, trink ein Glas Wein oder fahr mal in Urlaub.‹ Das ist geradezu respektlos. Aber ich kenne diese Frauen persönlich, habe sie durch ihre Schwangerschaften begleitet und wir haben viel zusammen durchgemacht. Daher hielt ich diese Antworten für wenig hilfreich.«

Harper stellte fest, dass kaum Forschung über sexuelle Dysfunktion bei Frauen existiert. »Es gibt Urologen, die sich die Hälfte ihrer Zeit mit der sexuellen Dysfunktion von Männern beschäftigen. Wir wissen alles über Erektionsstörungen, vorzeitige Ejakulation – diese Dinge werden auf medizinischen Konferenzen diskutiert, und wir haben entsprechende Medikamente. Das Gleiche gilt leider nicht für Frauen. Als ich mir dieser Ungleichheit bewusst wurde und erfuhr, dass 43 Prozent der Frauen sexuelle Probleme haben, fand ich das sehr interessant und wollte so viel wie möglich über die sexuelle Gesundheit von Frauen erfahren.«28 Das inspirierte sie zur Gründung von Rosy, einer Plattform, die Frauen Ratschläge zu sexueller Gesundheit und Wohlbefinden gibt.

Für Lora DiCarlo begann alles mit einem Orgasmus. DiCarlo, die einen Schopf lockiger schwarzer Haare und die Augen eines Leoparden hat, erlebte einen Orgasmus, den sie als überwältigend bezeichnet. »Die rhythmischen Zuckungen meines Unterleibs waren so heftig, dass ich von der Bettkannte rollte, auf dem Boden lag und dachte: ›Okay, wie bekomme ich das noch mal so hin?‹ Und ich sah diese Person an und fragte: »Wie kann ich mir das selbst so machen? Ich will diese Macht!«29 Sie versuchte, ein Sexspielzeug zu finden, das die Erfahrung wiederholen würde, merkte jedoch bald, dass es nicht existierte. Sie würde es erfinden müssen.

Viele Gründerinnen beschreiben, wie sie feststellen mussten, dass die Technologie nicht mit ihren Bedürfnissen übereinstimmt. »Es gab diesen Moment: Ich saß am Schreibtisch, hatte meinen Laptop, meinen Kindle, meine Apple Watch, mein iPhone – ich hatte all diese Tech-Gadgets, alles war perfekt und funktional«, sagt Eirini Rapti, die Geschäftsführerin von Inne. Diese Gadgets standen jedoch im Gegensatz zu dem vaginalen Temperaturmesssystem, mit dem sie ihren Menstruationszyklus aufzeichnete – es war klobig und piepste die ganze Nacht. »Ich dachte mir, dass das Schwachsinn ist«, erzählt sie. »Es muss etwas geben, das auf dem gleichen Stand ist wie der Rest der Technologie.«30 Ein Jahrzehnt später brachte ihr Unternehmen ein Gerät auf den Markt, das den Progesteronspiegel durch einen täglichen Spucktest misst, verbunden mit einer App.

Als Colette Courtion, die Geschäftsführerin von Joylux, ihr erstes Kind bekam, erfuhr sie »aus erster Hand, was Frauen wirklich durchmachen, wenn es um ihre vaginale Gesundheit und ihr Wohlbefinden geht.31 Keiner – nicht einmal mein Arzt – hat mir gesagt, dass man jedes Mal, wenn man niest oder auf und ab hüpft, in die Hose pinkelt, und ich war beschämt, als ich das feststellte.« Sie entdeckte, dass es nur sehr wenige Behandlungsmöglichkeiten gab. »Und ich sagte mir: Es muss doch einen besseren Weg geben.«

Vieles von dem, was Frauen in der Vergangenheit von der Technologie abgehalten hat, ist Stigmatisierung. Für Geburtshelfer*innen war es einfacher, zu denken: »Näht sie einfach wieder zu«, anstatt ein Instrument zu entwickeln, das Scheidenrisse verhindert. Es war einfacher, eine Verhütungspille für Frauen zu entwickeln, als Männer dazu zu bringen, ähnliche Nebenwirkungen bei sich zu akzeptieren. Es war leichter, Bilder weiblicher Lust in der Werbung zu verbieten, als dem Schaden entgegenzuwirken, der durch ausbeuterische Pornos verursacht wird. Und ohne die unmittelbare Sichtweise von Frauen, die in diesem Bereich innovativ sind, besteht die Gefahr, dass dies auch weiterhin der Fall sein könnte.

Unternehmer*innen für das Wohl von Frauen

Wie kann ein BH Leben retten? Kann eine Geburt jemals schmerzfrei sein? Wie sieht die Zukunft der Verhütung aus? In einer Zeit, in der ein Frauenkörper immer noch das am meisten Sexualisierte und am wenigsten Verstandene ist, mache ich mich auf eine Ein-Frau-Reise, um diese Fragen zu beantworten und die revolutionärste FemTech-Innovation zu entdecken.

Manche Leute stören sich an dem Wort »Vagina« und merken an, dass »Vulva« anatomisch korrekter wäre. Der Grund, warum ich es »vaginazentrierte« und nicht »vulvazentrierte« Innovation nenne, ist, dass ich das Gespräch fortsetzen möchte, das mit den Vagina-Monologen32 begann und mit Büchern wie Dr. Jen Gunters The Vagina Bible [auf Deutsch erschienen unter dem Titel: Die Vagina-Bibel. Vulva und Vagina – Mythos und Wirklichkeit] und Rachel E. Gross’ Vagina Obscura fortgesetzt wurde. Es scheint mir sinnvoll, einen einheitlichen Begriff zu schaffen, anstatt sich in Schamlippen-Diskussionen zu verlieren.

Ich interessiere mich für das, was ich als »Unternehmer*innen für das Wohl und die Gesundheit von Frauen« bezeichne. Für mich beinhaltet dies alles, was mit Vaginen zu tun hat, aber es geht weit über die Eierstöcke hinaus. Es umfasst Innovationen, die uns helfen, die Symptome von Herzinfarkten bei Frauen zu erkennen – im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten die häufigste Todesursache bei Frauen. Dazu zählen Unternehmen, die die Menschen spielerisch über sexuelle Lust von Frauen aufklären. Dazu gehören nicht nur Apps, die frischgebackene Eltern unterstützen, sondern auch Technologien, die die Symptome der Menopause lindern.

Mein Ziel ist, mich auf Lösungen zu konzentrieren, die für eine große Anzahl von Frauen relevant sind. Wenn wir uns um das Wohlergehen von Frauen kümmern, verbessern wir das Wohlergehen aller – von Familien, Arbeitsplätzen und Nationen.

Der Begriff »FemTech« wurde im Jahr 2016 von Ida Tin bekannt gemacht, der Gründerin von Clue, einer App zur Überwachung der Periode, und er gewinnt seither zunehmend an Bedeutung. Menschen, die den Begriff FemTech noch nie gehört haben, neigen dazu, ihn als »Fintech« misszuverstehen. Andere wiederum nehmen an, dass das »fem« diejenigen ausschließt, die sich nicht als Frauen identifizieren, aber das spiegelt nicht die Unternehmen in diesem Bereich wider.

Diese Innovation ist nicht nur für Frauen wertvoll; sie kann auch geschlechtlichen Minderheiten wie Transmännern, intersexuellen Menschen und nichtbinären Menschen helfen, die eine Vagina haben; einige dieser Produkte können von allen genutzt werden. Was auch immer Ihre Geschlechtsidentität sein mag, ich heiße Sie willkommen.

Jede Frau ist anders. Manche menstruieren, manche nicht. Manche wollen Kinder, manche nicht. Manchen Frauen wurde ihre Gebärmutter oder die Eierstöcke operativ entfernt. Einige Frauen haben einen hohen Testosteronspiegel. Nichts von alledem macht Sie mehr oder weniger zur Frau.

Ein ebenfalls weit verbreitetes Missverständnis ist, dass sich FemTech auf Unternehmen bezieht, die von weiblichen Gründern geleitet werden. Schätzungsweise 80 Prozent der FemTech-Unternehmen werden laut FemHealth Insights in der Tat von Frauen geführt. Die meisten Unternehmer in diesem Buch sind Frauen, aber wir sind keine Amazonen, die sich nur mit Frauen umgeben – meiner Meinung noch erreichen wir nichts, wenn wir nicht alle an Bord holen.

Viele FemTech-Innovationen entstehen aus der Ich-Perspektive, aber genauso wie man ein hervorragender Suchttherapeut sein kann, ohne selbst süchtig zu sein, sollte Lebenserfahrung keine Voraussetzung für die Arbeit in dieser Branche sein. Es geht um Mitgefühl, und wie Martha Nussbaum es ausdrückt, ist Mitgefühl »eine zentrale Brücke zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft«.33

Der Begriff »FemTech« hat auch seine Schattenseiten: Einige Produkte sind eher medizinisch als technisch, wie etwa Verhütungsmittel. Andere fühlen sich überhaupt nicht wie Technik an, zum Beispiel Unterwäsche für die Periode. Deshalb bevorzugen manche die Bezeichnung »Frauengesundheitsinnovationen« als Oberbegriff.

In jedem Fall entwickeln sich Begriffe wie »FemTech« weiter, und es entstehen neue, aber das Wohlbefinden von Frauen wird immer Innovationen erfordern. Was mit dem Zyklus-Tracking begann, hat sich inzwischen auf Gesundheitsaspekte ausgeweitet, die nicht nur Frauen betreffen, wie die Periode, sondern die Frauen anders betreffen, wie die Herzgesundheit, oder überproportional, wie die Knochengesundheit.

FemTech-Unternehmer*innen begegnen den unterschiedlichsten Formen von Stigmatisierung und Zensur. Sie haben schon alles erlebt: von der Aufforderung, zu demonstrieren, wie man ein Kondom überzieht, über Pitching-Panels mit Männern, deren Gesichter die Farbe von Roter Bete annahmen, bis hin zur Ausladung von Konferenzen und dem Verbot in den sozialen Medien. Zugleich sind ihre Unternehmen alles andere als eine Nische, und FemTech könnte ein Marktpotenzial von 1 Billion Dollar haben.

In einigen Ländern werden die Innovationen, über die ich schreibe, von öffentlichen Einrichtungen, wie dem NHS oder Medicaid, Arbeitgebern oder gemeinnützigen Organisationen geleistet. Andere werden von den Verbrauchern selbst gekauft. Die leistungsfähigste Innovation muss zugänglich und erschwinglich sein.

Einigen Bereichen der Frauengesundheit wird weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt als anderen, wenn wir uns die Zahl der Femtech-Unternehmen ansehen.

Quelle: FemHealth Insights.34

Viele Innovationen in diesem Bereich sind subjektiv. So wie Sie vielleicht sagen würden: »Ich würde nie eine zitronengelbe Jacke in Übergröße tragen«, während ich sage: »Ich wollte schon immer eine haben!« Genauso wie manche Frauen eine Entbindung in einem Gebärbecken wünschen, während andere sich für einen Kaiserschnitt entscheiden. Genauso wie manche mit einer App meditieren, während andere lieber überhaupt nicht meditieren. Letzten Endes geht es darum, mehr Auswahl zu haben.

In vielen Fällen müssen Sie für sich selbst entscheiden: Stärkt mich das in irgendeiner Weise? Oder ist es nutzlos? Es gibt keine falsche Antwort, und wir verurteilen nicht die Frauen, die sich anders entscheiden.

Ein paar Grenzen ziehe ich allerdings: Ich prangere alle Produkte an, die schädlich und unnötig sind. Das Paradebeispiel dafür sind Vaginalreinigungs- und -dampfbäder. Vaginen sind selbstreinigend, und im Gegensatz zu Spargel müssen sie nicht dampfgegart werden.

Es gab und gibt immer wieder Unternehmen, die Unsicherheiten aufrechterhalten und daraus Kapital schlagen. Lassen Sie uns das »Superpower-Gerede« von dem trennen, was ein Produkt tatsächlich ist oder kann.

Technologie ist ein Werkzeug. Sie kann uns dienen, und sie kann uns ausnutzen. Wenn die gesellschaftlichen Werte nicht mit dem Tempo der Technologie Schritt halten, ist das Ergebnis wahrscheinlich tückisch. Es besteht ein großer Unterschied zwischen Innovationen, die das Wohlbefinden von Frauen wirklich verbessern, und Produkten, die die Verletzlichkeit von Frauen verstärken und zu Geld machen. Es existiert leider eine lange Geschichte solcher Produkte. Und es gibt eine große Zahl von Anbietern, die Quacksalberprodukte verkaufen.

Wir müssen uns vor allem in Acht nehmen, was in die Kategorie »Frauenaufschlag«35 oder »pinke Steuer« fällt – klassische Beispiele sind Rasierapparate in rosa Verpackungen – die zu einem Aufschlagspreis an Frauen verkauft werden. Meine Mutter hat mir immer gesagt, ich solle Herrenrasierer kaufen, die weniger kosten und denselben Zweck erfüllen. Der Frauenaufschlag durchdringt auch das Gesundheitswesen, wenn das Schmerzmittel Ibuprofen neu verpackt und zu einem höheren Preis als »Feminax« gegen Regelschmerzen verkauft wird.

Für mich ist die Definition von FemTech eine Innovation, die die Frauengesundheit vorantreibt. Diese Innovationen sind oft verbraucherorientiert und digital unterstützt. Aber manche Leute verwenden den Begriff FemTech so, dass er alles umfasst, was sich an Frauen richtet, einschließlich Schönheitsprodukten, Haarentfernung oder sogar Produkte zum Abnehmen. Keines dieser Produkte entspricht meiner Definition von FemTech.

Es ist nicht so, dass ich Lippenstift nicht mag, ich bitte Sie. Auch in meinem Badezimmerregal stehen eine Reihe Lippenstifte. Aber ich konzentriere mich auf Gesundheit und nicht darauf, was man in dieser Saison trägt. Was hat Haarentfernung mit Gesundheit zu tun? Gar nichts. Und ich bin es leid, dass der Gedanke: »Wäre es nicht schön, ein bisschen abzunehmen?« mietfrei in meinem Kopf haust – Schönheit gibt es in allen möglichen Formen, Größen und Farben. Es gibt einen einfachen Test, um herauszufinden, ob sich etwas als FemTech qualifiziert: Fördert es die weibliche Gesundheit?

FemTech-Produkte sind so vielfältig wie ihre Erfinder*innen. Ob sie uns neugierig machen oder peinlich berührt lachen lassen, sie haben ein gemeinsames Ziel: ein besseres Verständnis der weiblichen Gesundheit. Dieses Ziel ist ungewöhnlich in einer Geschäftswelt, die immer noch von Männern dominiert wird. Bis vor kurzem gab es mehr CEOs namens John als weibliche CEOs in Großunternehmen in den Vereinigten Staaten und im Vereinigten Königreich.36 Die Vorstände sind immer noch mit männlichen Namen wie Paul und George bevölkert (nach einem Ringo suche ich noch).

Die FemTech-Gemeinschaft ist ein gutes Beispiel dafür, wie Frauen gedeihen, wenn wir uns gegenseitig im Geschäftsleben unterstützen. In der FemTech-Branche ist die Schwesternschaft lebendig und hat einen Eisprung. Sie ist vielfältig und integrativ. Es ist an der Zeit, ein neues Porträt des Archetyps des weiblichen Unternehmertums zu zeichnen, eines, das keine tiefe Stimme oder einen schwarzen Rollkragenpullover braucht.

Bei Gesprächen mit Investorinnen und Unternehmerinnen in anderen Bereichen, werde ich manchmal gefragt: Warum konzentrieren Sie sich auf FemTech? Ihr erster Gedanke ist nämlich, dass die Konzentration auf FemTech eine weitere Möglichkeit ist, Frauen in die Schranken zu weisen, sie darauf zu beschränken, vaginazentrierte Unternehmen zu gründen.

In Wirklichkeit ist es so, wie eine Interviewpartnerin es ausdrückte: »Wenn es zu sehr mit Vaginen zu tun hat, verkrampfen sich die Investoren, aber wenn es zu weit weg ist von Vaginen, Kleidung und Make-up, sind sie auch nicht interessiert.« Das liegt daran, dass Frauen eher Finanzmittel in »geschlechtsspezifischen« Bereichen wie Mode und Schönheit einwerben und weniger in den von Männern dominierten Bereichen Technik und Technologie.37 Die Gesellschaft will, dass Frauen gut aussehen; sie ist weniger daran interessiert, ob wir uns wohlfühlen.

Es ist bezeichnend, dass von Männern geführte Unternehmen dem Vorurteil des Lack of Fit [Mangel an Anpassung] entgehen, da Männer nicht auf die gleiche Weise in Schubladen gesteckt werden. Die Verbraucher spiegeln diese einseitige Wahrnehmung wider: Von Frauen hergestelltes Craft Beer wird weniger wohlwollend beurteilt, während von Männern hergestellte Cupcakes mit offenen Armen empfangen werden.38FemTech-Gründerinnen sind daher mit zwei Hürden konfrontiert: Sie sind oft in von Männern dominierten Bereichen tätig, wie Kondomen, oder in Bereichen, die mit Tabus belegt sind, wie zum Beispiel Fehlgeburten.

Natürlich schaffen und innovieren Frauen in allen Bereichen. Ich bin sehr stolz darauf, dass meine Mutter Künstlerin ist, dass meine Großmutter Ingenieurin ist, dass meine Urgroßmutter Ärztin war, und dass meine Ur-Ur-Großmutter ein kleines Unternehmen führte. Natürlich glaube ich, dass wir in allen Bereichen der Gesellschaft neue Wege gehen und erfolgreich sein sollten. Der Grund, warum ich über FemTech schreibe, ist, dass wir dringend mehr vaginazentrierte Innovationen brauchen. Eines Tages wird FemTech hoffentlich einfach Tech sein, aber noch sind wir nicht so weit.

Eine Reise durch die Welt von FemTech

Ich lebe in London, laut FemHealth Insights neben New York die Stadt mit der höchsten Zahl an FemTech-Unternehmen. Es gibt etwa 2000 FemTech-Unternehmen auf der ganzen Welt. Mehr als 50 Prozent von ihnen befinden sich in den Vereinigten Staaten.

Ich habe mehrere Karten gesehen, die die geografische Verbreitung von FemTech-Unternehmen zeigen, und obwohl die Definitionen variieren, sind die wichtigsten Zentren außerhalb der Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, die Schweiz, Frankreich, Deutschland, Indien, Australien, Israel, Singapur und Japan. Meine Forschung spiegelt diese globale und vielfältige Gruppe wider.

Jeder Ort hat seine eigenen Gegebenheiten und Merkmale. Zum Beispiel sind die Gesetze, ob ein Schwangerschaftsabbruch legal ist, von Land zu Land unterschiedlich. Auch was die Gesundheitssysteme jeweils abdecken, variiert von Land zu Land, ebenso regulatorische Zulassungen. In Europa gibt es die CE-Kennzeichnung, und in den Vereinigten Staaten die FDA-Vorschriften. Einige Innovationen sind eng an ihren lokalen Kontext gebunden, während andere mit der Strömung der Globalisierung schwimmen.

Die globale Verteilung von FemTech-Unternehmen.

Quelle: FemTech Analytics report, 2021

Im Laufe meiner Recherchen sind mir auf Konferenzen, Webinaren, Pitches und anderen Branchenveranstaltungen viele Hunderte von Unternehmern, Forschern, Medizinern und Investoren begegnet. In diesem Buch stelle ich etwa 100 von ihnen aus über 15 Ländern vor.

Ich bin eine erfahrene Journalistin, das heißt, ich verfolge Experten mit endlosen Fragen, höre, was unbemerkt bleibt, berichte, recherchiere und grabe tief, um Geschichten ans Licht zu bringen. Außerdem bin ich ausgebildete Sozialwissenschaftlerin und habe mit Anfang 20 mit einem Stipendium promoviert. Ich kann wissenschaftliche Studien interpretieren und auswerten, um sie in verständliche Erkenntnisse zu verwandeln.

Zu jeder Studie oder jedem Datenpunkt, über den ich schreibe, finden Sie im Anhang eine Quellenangabe, falls Sie sich näher mit einem Thema beschäftigen möchten. Denken Sie daran, dass es immer wieder neue Erkenntnisse zu unserer Gesundheit gibt: Das ist das Wesen wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Mein Schwerpunkt liegt auf Technologien, die uns mit uns selbst und untereinander verbinden, anstatt uns zu isolieren. Bei risikoarmen Schwangerschaften ist die kontinuierliche menschliche Betreuung genauso wichtig wie gute Technik. Bei den Mitteln zur Empfängnisverhütung brauchen wir meiner Meinung nach mehr nichthormonelle Wahlmöglichkeiten. Wenn es um sexuelles Vergnügen geht, habe ich kein Interesse an Sexrobotern.

Der Aufstieg von FemTech geht mit großen seismischen Verschiebungen einher. In der medizinischen Welt wird die Macht im Untersuchungsraum zwischen Patienten und Arzt neu verteilt, da immer mehr Menschen Zugang zu Informationen – und Fehlinformationen – über die Gesundheit online abrufen können. Angesichts der zunehmenden Informationen und Möglichkeiten für Patienten, sich einzubringen, ist es wichtiger denn je, dass wir etwas über unseren Körper lernen, damit wir für uns selbst eintreten können.

Wir befinden uns an einem ungewöhnlichen Punkt, da das Vertrauen der Menschen in Unternehmen ein Allzeithoch erreicht hat, während das Vertrauen in Regierungen laut dem Edelman Trust Barometer weiter sinkt.39 Unternehmen werden als kompetent angesehen, und Wirtschaftsführer gelten als Vermittler in einer polarisierten Welt. Fast sieben von zehn Arbeitnehmern wählen ihren Arbeitsplatz auf der Grundlage gemeinsamer Werte und erwarten von ihrem CEO, zu gesellschaftlichen Themen Stellung zu beziehen. Was wir kaufen und wo wir arbeiten, sind bewusste Entscheidungen, und die Unternehmen spielen dabei eine Rolle – wohl oder übel. Technologie kann eine große Kraft für das Gute sein, aber in den falschen Händen und ohne ethische und regulatorische Aufsicht kann sie zu einem Instrument der Ausbeutung werden.

In der Geschäftswelt vollzieht sich ein Wandel vom »Shareholder-Kapitalismus« zum »Stakeholder-Kapitalismus«. Dies bedeutet eine Abkehr von Milton Friedmans Doktrin, wonach die oberste Priorität von Unternehmen darin besteht, Geld an ihre Aktionäre zurückzugeben, indem sie ihre Gewinne maximieren und dabei ungleiche Vermögensverteilung ignorieren. Stattdessen müssen Unternehmen alle Interessengruppen berücksichtigen – Mitarbeiter, Kunden und das Wohlergehen der Gesellschaft und des Planeten als Ganzes. Wir haben die Chance, neue Arten von Unternehmen zu schaffen.

Während ich an diesem Buch arbeite, habe ich oft das Gefühl, dass sich das Universum neu ordnet. In der Kneipe erzählen mir Fremde von ihren Verhütungsvorlieben. Begegnungen werden zu Gesprächen über Harnwegsinfekte. Als ich mich an einem Sonntag in ein Café setzte, um mich endlich zu entspannen, fingen zwei Frauen an, sich lautstark über Menstruationsmigräne zu unterhalten. Zunächst dachte ich, es handele sich um eine Bestätigungsverzerrung [Confirmation Bias], das heißt ich nehme das wahr, was ich ohnehin denke. Aber mit der Zeit wird mir klar, dass die Gespräche über die Gesundheit von Frauen tatsächlich immer lauter werden. Wenn ich aufmerksam zuhöre, um die Erfahrungen von Freunden und Bekannten zu verstehen, denke ich an Maya Angelou, die sagte: »Ich gehe hin allein und halte stand wie Zehntausend.«40

Teil I

Etwas Neues unter der Sonne

Kapitel 1

Start

Wer sind wir, dass wir uns in Mutter Natur einmischen?

Es kann jetzt jeden Tag so weit sein. Normalerweise rast meine Freundin Daniella wie ein Hochgeschwindigkeitszug durch die Straßen Londons, aber in den letzten drei Monaten musste sie es langsamer angehen. Im letzten Trimester ihrer Schwangerschaft hat sie ordentlich zugelegt. Als wir uns an einem sonnigen Frühlingstag zu Tee und Bananenbrot treffen, lässt sie sich mühsam auf dem Stuhl nieder.

Sie erzählt mir, dass sie zwar einen groben Plan für den Ablauf der Geburt hat, aber aufgeschlossen bleibt, da man unmöglich voraussagen kann, was während der Wehen passiert. Zwei Dinge sind ihr wichtig: dass das Baby lebend und sicher auf die Welt kommt und dass sie möglichst wenig Schmerzen leidet.

In dem Geburtsvorbereitungskurs, den sie zusammen mit ihrem Mann besucht hat, konnte sie bei den anderen Teilnehmer*innen eine Vorliebe für alles Natürliche feststellen. »Das ist eine Überkorrektur«, sagt Daniella. Die Geburt erlebte lange Zeit eine Medikalisierung – auf Kosten der Wünsche der Frauen, deshalb stehen heute etliche Schwangere jeder Form von Intervention misstrauisch gegenüber. »Obwohl bei der gesamten Schwangerschaftsvorsorge mit all den Tests und Untersuchungen viel Technik zum Einsatz kommt«, fügt sie hinzu.

Ihre Geburt stellt sie sich wie folgt vor: »Es wird eine ziemlich medizinische Angelegenheit.« Dazu gehören ein TENS-Gerät41, Medikation und eine Epiduralanästhesie – mit anderen Worten: elektrische Ströme, Medikamente und Anästhetika.

Kurz darauf spreche ich mit meiner Freundin Emma, die ebenfalls bald ihr Kind zur Welt bringen wird. Sie erzählt mir, dass sie kaum die Augen offen halten kann, wie ein Scheunendrescher isst und fünf Nickerchen am Tag hält. »Ich bin sehr aufgeregt wegen des Babys«, sagt sie. Um sich auf die Geburt vorzubereiten, hat sie sich Hypnobirthing-Videos angesehen. Die Botschaft lautet: »Die Geburt muss nicht schmerzhaft sein. Es ist ein natürlicher Prozess, und wenn Sie den Prozess verstehen und sich entspannen, wird Ihr Körper tun, was er tun soll.« Eine ihrer Affirmationen lautet: »Eine Minute lang kann ich alles tun«, denn so lange hält eine Wehe in der Regel an.

Während sie in den Wehen liegt, möchte sie die Schmerzen mit Lachgas regulieren, am besten in einem Geburtsbecken im Krankenhaus. Die Geburt soll »möglichst natürlich ablaufen, mit minimalen medizinischen Eingriffen und mithilfe von Hypnobirthing-Techniken«. Sie möchte die Geburt bewusst miterleben.

Aus meiner Sicht sind beide Standpunkte völlig in Ordnung. Genau das behalte ich im Hinterkopf, während ich die FemTech-Welt weiter erkunde. Es ist stets die Entscheidung der Frau.

Etwas Neues unter der Sonne

Ich wurde auf ein medizinisches Gerät aufmerksam, das von dem Start-up-Unternehmen Materna Medical mit Sitz in Kalifornien entwickelt wurde. Bevor ein neues medizinisches Gerät oder Medikament auf dem US-Markt verkauft werden darf, muss es zunächst mehrere Runden der Zulassung durch die Food and Drug Administration, einer Behörde des Ministeriums für Gesundheitspflege und Soziale Dienste der Vereinigten Staaten, durchlaufen – und das zu Recht. In diesem Fall wird das Gerät als de novo eingestuft – das bedeutet auf Lateinisch »von neuem«. Es ist das Erste seiner Art.

Wenn es zugelassen wird, könnte dieses Gerät sowohl die unmittelbare Erfahrung als auch die langfristigen Auswirkungen der Geburt drastisch verändern. Bis ein medizinisches Gerät auf dem Markt erhältlich ist, kann es bis zu zehn Jahre dauern. Bei FemTech-Produkten dauert es möglicherweise noch länger, weil der Weg der Geldbeschaffung sehr steinig ist.

»Die Geldbeschaffung im Bereich der Frauengesundheit ist schwierig«, berichtet Tracy MacNeal, CEO von Materna, zu Beginn unseres Gesprächs.42 Und warum ist das so? »Das Hauptproblem liegt meiner Meinung nach darin, dass Investoren nach Mustern suchen«, sagt sie. Wenn sich potenzielle Investoren ein Unternehmen ansehen, suchen sie nach Beispielen früherer Unternehmen, die in dieser Branche bereits Geld verdient haben.

Aber in diesem Fall ist es schwierig, ein Muster zu erkennen, und zwar aus einem erstaunlichen Grund. »Die letzte grundlegende Innovation in der Standardversorgung bei Geburten war die Epiduralanästhesie in den 1950er-Jahren«, berichtet MacNeal.

Der erste Videorekorder wurde in den 1950er-Jahren erfunden. Der erste kommerzielle Computer kam damals auf den Markt – er war so groß wie ein Zimmer und wog 29.000 Pfund. Die erste Diskette wurde nur zwei Jahrzehnte später erfunden. Erfindungen aus den 1950er-Jahren entsprechen in unseren Augen nicht dem neuesten Stand der Technik – aber wenn es um die Entbindung geht offenbar schon. Das Spekulum mit seinem Entenschnabel hat sich seit den 1870er-Jahren nicht viel verändert.43 Ginge es hierbei um die Automobilbranche, würden wir immer noch in einer Pferdekutsche fahren und Hauben auf dem Kopf tragen.

Willkommen in der Welt der Frauen

Bei ihrem wallenden roten Haar und den verschlungenen Silbercreolen überkommt mich der Gedanke, dass MacNeal im mittelalterlichen Europa als Hexe gegolten hätte, denn damals wurden Frauen verfolgt, wenn sie als Hebammen tätig waren und andere in die Geheimnisse von Sex, Verhütung und Abtreibung einweihten. Die Geburt verbessern zu wollen, war von je her ein gefährliches Unterfangen. Im 16. Jahrhundert wurde eine schottische Frau namens Eufame Macalyne auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil sie eine Hexenhebamme um Schmerzlinderung während der Wehen gebeten hatte. Aber ich schweife ab.

MacNeal hat sich der Kommerzialisierung medizinischer Geräte verschrieben. Ihre früheren Firmen konzentrierten sich auf Orthopädie und Endoskopie. »Dort ging es verständnisvoller zu«, sagt sie lachend. Dies ist ihr erstes Projekt, das sich auf die Gesundheit von Frauen konzentriert. »Und es ist interessant, denn früher wurde ich nie gefragt: ›Wer sind wir, dass wir uns in Mutter Natur einmischen?‹ Wenn Menschen eine künstliche Hüfte bekommen, fragt das niemand!«

MacNeal ist ausgebildete Ingenieurin und arbeitete in der Pharmaindustrie, bevor sie ihr eigenes Unternehmen gründete, »weil ich Kinder zu meinen eigenen Bedingungen bekommen wollte, statt in einem Großunternehmen zu arbeiten und so zu tun, als wäre ich keine Mutter«. Nachdem sie ihr Start-up verkauft hatte, arbeitete sie für mittelständische Unternehmen, bevor sie als CEO von Materna in die Welt der Start-ups zurückkehrte. »Start-ups sind anstrengend«, sagt sie lachend. »Es gibt eine enorme Fallhöhe und hohe Risiken.«

Anfangs war sie von der Form des Materna-Geräts überrascht: Es sieht aus wie ein Dildo. Während meiner Recherchen konnte ich beobachten, dass dies eine häufige Reaktion ist. Die Leute sehen sich ein FemTech Gerät an und rufen: »Das sieht aus wie ein Sexspielzeug!«, obwohl es nur die innere Form einer Vagina nachbildet. Laut MacNeal »sieht es aus wie ein Sexspielzeug, weil unsere Gesellschaft denkt, dass alles, was in die Vagina eingeführt wird, für Sex sein muss«.

Die Ernennung zum CEO von Materna war ein entscheidender Moment für MacNeal. »Ich hatte mir Sorgen darüber gemacht, was die Leute wohl über mich denken, wenn ich diesen Job annehme.« Würde sie sich trauen, der CEO von Vagina zu werden? »Ich hatte meine gesamte Karriere damit verbracht, so zu tun, als wäre ich keine Frau«, sagt sie. »Und dann, ganz plötzlich, ging das einfach nicht mehr. Im Gegenteil, ich musste das Frausein als Stärke begreifen und andere Frauen mitnehmen.«

Als sie die ersten Ergebnisse der klinischen Versuche sah, stand ihre Entscheidung fest. »Wir hielten es alle vor Spannung kaum aus«, sagt sie. »Was wäre, wenn wir einen der häufigsten Vorgänge im Gesundheitswesen verändern könnten? Einen der größten Übergänge im Leben der meisten Familien? Gar nicht dran zu denken, dass ich mir die Möglichkeit, einen solchen Beitrag zu leisten, verwehrt hätte, weil es mir peinlich war. Das wäre furchtbar gewesen.«

Geburten sind der weltweit häufigste Grund für Krankenhausaufenthalte. Viele Krankenhäuser haben ein eigenes Gebäude nur für Geburten. »Ich glaube, dass Frauen in dem Bereich darauf konditioniert sind, ein bisschen fatalistisch zu sein«, sagt sie. »Sie wissen schon: ›Willkommen in der Welt der Frauen! Das wird jetzt wehtun.‹«

Als junges Mädchen bin ich tatsächlich davon ausgegangen, dass zu dem Zeitpunkt, an dem ich bereit sein würde, ein Kind zu bekommen, die Technologie der ganzen Welt bereitstehen würde, um mich zu unterstützen. Stattdessen höre ich meinen Freundinnen entsetzt zu, wenn sie erzählen, wie sie mithilfe von »Technologie« entbunden haben, die man am besten als »Salatgabeln« und »Klopömpel« beschreibt, auch bekannt als Zange und Saugglocke. Die Geburtszange wurde übrigens im späten 17. Jahrhundert erfunden.44

Warum ist es jetzt an der Zeit, mehr Innovationen in die Geburtshilfe zu bringen? »Zunächst einmal bekommen die Frauen ihre Kinder immer später«, antwortet MacNeal. Außerdem bringen wir dank einer besseren Ernährung während der Schwangerschaft immer größere und schwerere Babys zur Welt. »Babys können mittlerweile 8 bis 10 Pfund wiegen, aber der Körperbau der Mütter hält mit dieser Zunahme nicht Schritt. Im Gegenteil, unsere Bäuche werden kleiner.« Die Kombination dieser Faktoren bedeutet, dass es an der Zeit ist, die vaginale Geburt neu zu gestalten.

Eine neue Vorstellung von der Geburt

Die Vagina ist ein Muskeltunnel, der sich von der Vulva – die man von außen sehen kann – bis zum Gebärmutterhals erstreckt, dem unteren Teil der Gebärmutter, quasi wie beim Knoten eines Luftballons. Der Gebärmutterhals sieht aus wie ein winziger rosafarbener Donut, der sich hauptsächlich öffnet, um Spermien herein- oder Menstruationsblut, Schleim oder ein Baby herauszulassen. Im entspannten Zustand ist die Vagina wie ein in sich zusammengefallener Fallschirm mit der Fähigkeit, sich zu dehnen.

Wie genau funktioniert nun das Gerät namens Materna Prep? MacNeal zeigt mir die bildliche Darstellung eines Fötus in der Gebärmutter. »Viele Menschen wissen nicht, was der Gebärmutterhals ist oder wo er sich befindet, aber er ist der Boden der Gebärmutter«, erklärt sie.

In der ersten Phase der Wehen erweitert sich der Gebärmutterhals und verschließt sich. »Bei manchen Frauen dauert das eine Stunde, bei anderen drei Tage«, sagt sie. Das Gerät berührt nicht den Gebärmutterhals, der weitet sich auf natürliche Weise auf 10 Zentimeter. Das Gerät dehnt lediglich währenddessen den Geburtskanal. »Muskeln sind viskoelastisch – wenn man sie plötzlich dehnt, reißen sie, oder?«

»Seit Jahrzehnten wissen wir, dass Dehnübungen vor und nach dem Sport wichtig für die Muskeln sind. Deshalb dehnen wir diese Muskeln langsam, bevor das Baby durch den Geburtskanal kommt, anstatt sie von null auf Babygröße zu ziehen.«

Das Gerät sieht aus wie eine lila Mini-Taschenlampe mit vier Armen an den Seiten und ist das geistige Eigentum des Unternehmens. »Dem Gerät bei der Arbeit zuzusehen ist äußerst langweilig, denn es dehnt Millimeter für Millimeter«, erklärt MacNeal. Eine Krankenschwester setzt das Gerät ein, und es dehnt sich automatisch, streckt die Arme langsam auf etwa 8 Zentimeter aus. Das ist nicht so groß wie der Kopf des Babys, aber fast. »Wir haben herausgefunden, dass man sich der Kopfgröße des Babys annähern muss, damit es etwas bringt.«

Die Dehnungsgeschwindigkeit und der endgültige Durchmesser befinden sich noch in der Testphase. Nach der Dilatation wird das Gerät herausgenommen, und die Muskeln im Geburtskanal bleiben bis zu drei Stunden lang gedehnt. Sobald der Gebärmutterhals vollständig geweitet ist und das Baby in den Geburtskanal eintritt, beginnt die zweite Phase.

Wenn das Materna Prep-Gerät zugelassen wird, könnte es die Zeit verkürzen, in der das Baby durch den Geburtskanal gepresst wird. Außerdem könnte es die Beckenbodenmuskulatur schützen, die Vagina, Blase und Rektum stützt. Diese Muskeln ziehen sich beim Orgasmus zusammen und kontrollieren die Blase und den Darm. Wenn diese Muskeln geschwächt sind, kann dies zu Belastungsinkontinenz oder, schlimmer noch, einem Beckenorganprolaps führen, der Schmerzen und Beschwerden verursachen und eine Operation erforderlich machen kann.45

Materna Prep

Das Besondere an diesem Gerät ist, dass es präventiv wirkt. Der Beckenboden ist »wie ein Sicherheitsgurt«, erklärt MacNeal. Der Beckenknochen und die Muskeln »bilden einen Sicherheitsgurt, durch den Harnröhre, die Vagina und das Rektum hindurchführen«. Wenn sich diese Muskeln vom Knochen lösen, können sie die darüber liegenden Organe nicht mehr an ihrem Platz halten. »Bevor ich zu Materna kam, hatte ich noch nie etwas von einem Prolaps gehört. Stellen Sie sich vor: Ich wusste nicht einmal, was das ist.«

Das Unternehmen hat bereits einen Dilatator namens Milli entwickelt, um bei Vaginismus, dem unbewussten Verkrampfen der Scheidenmuskulatur, Abhilfe zu schaffen. Es bleibt abzuwarten, ob der neue Dilatator von Materna bei der Geburt helfen kann. »Der Hauptgrund, warum ich bei diesem Unternehmen anfing, war, dass wir in unserer Pilotstudie die Verletzungen des Beckenbodens um 60 Prozent reduzieren konnten, ganz zu schweigen von dem Potenzial, die Kaiserschnittrate und den Einsatz von Saugglocke oder Geburtszange zu verringern«, sagt MacNeal.

Was ist mit Scheidenrissen? Bei schätzungsweise neun von zehn Müttern, die zum ersten Mal vaginal gebären, kann es zu Rissen, auch im Dammbereich, kommen oder es wird ein Dammschnitt vorgenommen.46 »Wir sammeln Daten zu diesen Rissen«, fährt sie fort. »Sie werden in vier Grade eingeteilt, und wir betrachten das als sekundären Endpunkt. Unser primärer Endpunkt ist die per Ultraschall gemessene Beckenmuskulatur.«

Es hat sich gezeigt, dass die Dammmassage die Elastizität des Gewebes zwischen Vagina und Anus erhöht und das Risiko von Rissen bei der Geburt verringern kann.47

Sie verringert auch die Notwendigkeit von Dammschnitten, das heißt Schnitten, die von medizinischem Fachpersonal am Scheideneingang vorgenommen werden, um mehr Platz für das Heraustreten des Kopfes des Babys zu schaffen. Dammschnitte gelten als überholte medizinische Praxis. Das American College of Obstetricians and Gynecologists (ACOG) hat eine Empfehlung gegen das routinemäßige Durchführen von Dammschnitten ausgesprochen. Leider hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass Schnitte kontrollierbarer seien als ein Riss. Untersuchungen zeigen jedoch, dass ein natürliches Einreißen in den meisten Fällen vorzuziehen ist. Routinemäßig durchgeführte Dammschnitte verursachen mehr Schaden als Nutzen: Sie können zu postoperativen Infektionen, tieferen Wunden, langfristigen Beschwerden und einer langsameren Heilung führen.48

Es werden nicht nur neue Technologien und neue Erkenntnisse benötigt, sondern auch eine bessere Aufklärung über das, was wir bereits wissen: Eine Rückenlage der Gebärenden in der zweiten Phase der Wehen mag für das medizinische Personal bequemer sein, aber sie erhöht das Risiko für bestimmte Verletzungen bei der Mutter.49

MacNeal hat zwei Kinder, die mittlerweile im Teenageralter sind. »Ich war der Meinung, dass mein Körper weiß, was zu tun ist. Aber ich wusste nicht, dass 50 Prozent von uns mit Inkontinenz oder einem Prolaps enden werden.50 Und die Wahrscheinlichkeit ist fast sechsmal höher, wenn wir vaginal entbunden haben.51

Frauen schämen sich vielleicht zu sehr, mit ihren Ärzten darüber zu sprechen, was unterhalb der Gürtellinie vor sich geht, »weil uns von klein auf beigebracht wird, dass es nicht einmal einen höflichen Ausdruck dafür gibt«, sagt der CEO von Vagina. »Deshalb versuchen wir unter anderem, das Thema zu etwas völlig Normalem zu machen«, ergänzt sie und lobt zwei weitere FemTech-Unternehmen, Elvie und Joylux, die ebenfalls in diesem Buch behandelt werden.

»Ich denke, dass die Medien unglaublich wichtig für die Gesundheit von Frauen sind, indem sie weiterhin über Themen wie Müttersterblichkeit, ethnische und geschlechtsspezifische Disparität berichten, und sie lassen nicht locker.« Dadurch wird auch die Aufmerksamkeit der Investoren zunehmend geweckt.

Laut MacNeal beginnen sich die Investoren zu fragen: »Sind wir noch auf dem neuesten Stand? Sind wir noch führend? Werde ich das Zehnfache meiner Investition herausholen, weil ich ein Early Mover bin, der einen wichtigen Trend erkennt? Erweise ich mich als clever? Oder als dumm?« Sie fügt hinzu: »Genau das versuchen jetzt alle herauszufinden.«

Ein schwieriges Thema an einem herausfordernden Ort

Vom Beginn des Lebens bis zu lebensbedrohlichen Situationen gehen FemTech-Unternehmerinnen neue Wege, um anderen Frauen zu helfen. Maria ist eine 24-jährige venezolanische Mutter von drei Kindern und kämpft hart, um finanziell über die Runden zu kommen. In den letzten drei Jahren ist der Preis für einen Laib Brot um 260 Prozent gestiegen, während das Land in einer wirtschaftlichen und humanitären Krise steckt. Kondome kosten die Hälfte ihres Tageslohns. In ihrer Gegend sind die Krankenhäuser marode, und jetzt braucht sie eine Abtreibung.

In ihrer Verzweiflung wendet sie sich an irgendjemanden. Man gibt ihr einen Schnaps und führt dann die Abtreibung mit einer Art Haken durch. In der Nacht wacht sie in einer Blutlache auf und fragt sich, ob sie so sterben wird. Diese Geschichte gleicht denen der Frauen, um die sich Roopan Gill im Norden Nigerias und im Jemen gekümmert hat, wo sie als Gynäkologin vor Ort gearbeitet hat. Roopan ist Mitgründerin von Vitala Global mit Sitz in Toronto.

In Venezuela sind Schwangerschaftsabbrüche nahezu immer illegal. Da es keine sicheren Möglichkeiten gibt, greifen die Frauen zu gefährlichen Methoden. »Sie machen es mit Kräutern oder Kleiderbügeln«, erzählt mir Gill, und ich bin sprachlos.52 »Immer noch sterben Menschen durch unsichere Abtreibungen, und die große Mehrheit der unsicheren Abtreibungen findet in Ländern statt, die sich in einer humanitären Krise befinden«, sagt sie eindringlich, aber gefasst. Gill hat die starke Präsenz einer Frau, die sich in Notsituationen gut auskennt, einer Frau, die etwas bewegt.

Weltweit treibt eine von drei Frauen einmal im Leben ab. Jedes Jahr gibt es 111 Millionen ungewollte Schwangerschaften in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Sie führen zu 35 Millionen unsicheren Schwangerschaftsabbrüchen, die Komplikationen und Verletzungen nach sich ziehen können, und schätzungsweise 22.000 Frauen und Mädchen sterben an unsicheren Abtreibungen.53

Es herrscht die weit verbreitete Annahme, dass die Einführung restriktiver Gesetze die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche verringert, aber das ist ein Trugschluss. Ein Verbot der Abtreibung verbietet nur sichere Abtreibungen.

»Das führt lediglich zu einem Anstieg der unsicheren Abtreibungen«, sagt Gill. Vitalas eigene Recherchen zeigen, dass eine von drei Frauen in Venezuela eine Abtreibung vornimmt, was im Einklang mit Ländern steht, in denen Abtreibungen legal sind. Mit anderen Worten: Die Einschränkung des Zugangs zu Abtreibungen verringert nicht die Nachfrage nach Abtreibungen – es macht sie nur gefährlicher.

Laut des Guttmacher-Instituts sind die Raten ungewollter Schwangerschaften in den Ländern am höchsten, die Abtreibungen verbieten, und am niedrigsten in den Ländern, in denen Abtreibung eingeschränkt erlaubt ist. In Ländern mit Abtreibungsverboten ist die Zahl der ungewollten Schwangerschaften, die mit einer Abtreibung enden, von 36 Prozent im Zeitraum 1990–1994 auf 50 Prozent im Zeitraum 2015–2019 gestiegen.54

Abtreibung als rechtswidrig einzustufen, treibt die Abtreibungsraten in die Höhe.

Anmerkung: Die Zahlen sind ohne China und Indien angegeben, da diese Länder aufgrund ihrer Bevölkerungsgröße einen enormen Einfluss auf den Durchschnitt haben.

Quelle: The Lancet

Gill verdient ihren Lebensunterhalt als Gynäkologin in Kanada. Von der Bewegung für die selbstbestimmte Abtreibung erfuhr sie während ihrer Tätigkeit in der Abteilung der Weltgesundheitsorganisation zur Verhinderung unsicherer Schwangerschaftsabbrüche. Die Einführung sicherer und wirksamer Abtreibungsmedikamente – statt der chirurgischen Abtreibung – war eine Revolution auf diesem Gebiet und wurde von der FDA im Jahr 2000 genehmigt.

Im Jahr 2019 erhielt Gill eine Förderung der Grand Challenges Canada55, um die Arbeit zum Thema Abtreibung in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen zu finanzieren. »Das war meine Chance«, erzählt sie. »Ich sah es als Startfinanzierung an.«

Die erste von ihr entwickelte App, myPostCare, lieferte kanadischen Frauen in entlegenen Gebieten Informationen über die postoperative Versorgung nach einem Schwangerschaftsabbruch. Gill erkannte, wie leistungsfähig eine App sein könnte. »Also wollte ich das in einem humanitären Umfeld machen.« Dieses Mal war ihre Freundin Genevieve Tam, ebenfalls Gynäkologin, mit an Bord. Gemeinsam gründeten sie die gemeinnützige Organisation Vitala Global, »mit dem Gedanken, dass wir es später zu einem Unternehmen zur Lösung sozialer Probleme ausbauen.«

»Wir haben uns nicht nur ein anspruchsvolles Thema ausgesucht, sondern auch ein herausforderndes Land«, fährt Gill fort. Herausfordernd wegen des Verbots von Abtreibungen und der humanitären Krise. Gill und Tam konzentrierten sich auf Venezuela, weil sie eine Verbindung zu Fòs Feminista und PLAFAM hatten, die in der Region Beratungen und Dienstleistungen im Bereich Familienplanung anbieten. Sie wählten das Land auch wegen der ausgeprägten Smartphone-Nutzung in der Bevölkerung. »Uns war klar: Wenn wir etwas tun wollten, das mit Technologie und Abtreibung zu tun hat, mussten wir einen Ort wählen, an dem die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass die Leute Gebrauch davon machen«, erklärt Gill.

Eine App für den Schwangerschaftsabbruch

In Ländern, in denen Abtreibung illegal ist, arbeiten feministische Gruppen im Untergrund. In Venezuela bieten sie die sogenannte »Schadensbegrenzungsberatung« an, indem sie Informationen über sichere medizinische Schwangerschaftsabbrüche bereitstellen. Könnte diese Idee einer bürgernahen Kommunikation, die das Leben von Frauen rettet, als App funktionieren?

Zunächst wollten Gill und ihre Partner vor Ort den gesamten Kontext kennen. »Wir müssen die rechtliche und politische Situation verstehen.« Wie gehen die Frauen mit der Technologie um? Wie sieht der Schwarzmarkt in diesem Bereich aus? »Alles, was wir aufbauen, existiert nicht in einem abgeschlossenen Raum.«

Warum brauchen die Nutzerinnen der App einen Schwangerschaftsabbruch? »Es kann sich um eine ältere Frau handeln, die bereits mehrere Kinder hat, oder ein junges Mädchen, das noch zur Schule geht und dessen Verhütungsmittel versagt haben. Oder fetale Anomalien können der Auslöser sein«, sagt Gill. Es gibt viele Gründe – letztlich sollte die Entscheidung bei der Frau liegen.

Die Entwicklung ihrer App, Aya Contigo, war ein iterativer Prozess. Mittels sozialer Medien befragten sie 1000 Latinas, und die Umfrage ergab, dass ein Drittel der Befragten bereits einmal abgetrieben hatte, was den Zahlen in anderen Ländern entspricht. Entscheidend ist jedoch, dass 15 Prozent dieser Frauen eine unsichere Abtreibung hatten. An die Umfrage schlossen sich qualitative Interviews an.

Gill wollte eine Lieferkette in der jeweiligen Region. Der von ihnen engagierte Designer für Benutzererfahrung und Benutzeroberfläche stammt aus der Dominikanischen Republik, der Illustrator aus Kolumbien, und die Entwickler kommen von Annie Cannons, einer gemeinnützigen Organisation, die Menschen, die geschlechtsspezifische Gewalt erfahren haben, zu Software-Ingenieuren ausbildet. Während des Designprozesses wurde allen klar, dass die Nutzer der App eine Person wünschen, mit der sie sprechen können. »Wir haben einen Live-Chat-Support in die App integriert und Mitarbeiter vor Ort eingestellt.«

In der App füllen die Nutzer eine Checkliste zur Selbsteinschätzung aus, um herauszufinden, ob sie die Kriterien für einen selbstdurchgeführten medizinischen Schwangerschaftsabbruch erfüllen. Die WHO empfiehlt medizinische Schwangerschaftsabbrüche nur bis zur 12. Schwangerschaftswoche.56