9,99 €
Auch Vampire müssen mal Urlaub machen. Doch der Polizist Decker Argeneau wird abrupt von seinem Job wieder eingeholt, als eine Gruppe abtrünniger Vampire auftaucht, die Menschen umbringt. Die Vampire halten zwei junge Frauen gefangen, um ihr Blut zu trinken. Decker und seinem Partner gelingt es, die hübsche Dr. Danielle McGill zu befreien. Doch dann wird Danielles Schwester jedoch von einem der Vampire entführt. Decker verspricht Danielle, ihre Schwester zurückzuholen. Aber die Spur des Entführers ist nicht leicht zu finden. Und auch Danielles Leben ist schon bald erneut in Gefahr ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 492
Titel
Prolog
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
Impressum
Roman
Ins Deutsche übertragenvon Ralph Sander
Prolog
„Wieso dauert das denn so lange?“
Garrett Mortimers Frage veranlasste Decker Argeneau Pimms dazu, sich vom langweiligen Anblick seiner Daumen, die er umeinander kreisen ließ, loszureißen. Er beobachtete, wie der blonde Vollstrecker erst zweimal vor ihm auf und ab ging, ehe er entgegnete: „Die sind bestimmt bald fertig.“
Als Mortimer daraufhin nur mit einem Brummeln reagierte und weiter hin und her streifte, ließ Decker den Kopf auf die Rückenlehne der dunklen Ledercouch sinken und schloss die Augen. Im Zimmer herrschte eine so nervöse und angespannte Atmosphäre, dass er es am liebsten verlassen hätte. Dummerweise war dies hier sein Cottage, und eigentlich hatte er Ferien machen wollen, was jedoch durch einen einzigen Anruf zunichtegemacht worden war.
Am dritten Tag seines Urlaubs hatte Lucian sich telefonisch bei ihm gemeldet und ihn wissen lassen, dass in der Gegend wiederholt Sterbliche mit Bissspuren am Hals gesichtet worden waren. Lucian war nicht nur sein Onkel, sondern vor allem der Kopf der unsterblichen Jäger und damit sein Boss, der ihm auf diesem Weg mitteilen wollte, dass zwei Jäger des Rats zu ihm in den Norden unterwegs waren. Ob sie sich wohl bei ihm einquartieren dürften? Und ob er ihnen bei der Suche nach dem Täter behilflich sein könne? Dumm wie er war, hatte Decker natürlich beidem zugestimmt.
Er verzog das Gesicht angesichts seiner eigenen Blödheit, wusste jedoch, dass er eigentlich keine andere Wahl hatte. Er war selbst für den Rat als Jäger, eine Art Polizei-Vampir, tätig. Seine Aufgabe war es, abtrünnige Unsterbliche aufzuspüren, die durch ihr Verhalten das Wohl ihres eigenen Volks oder das der Sterblichen in Gefahr brachten. Während Letztere durch einen Biss keinen größeren Schaden erlitten – vorausgesetzt, dass nicht zu viel von ihrem Blut getrunken wurde –, erhöhte ein solches Gebaren für die Unsterblichen indes das Risiko, dass jemand auf ihre Existenz aufmerksam wurde, weshalb es seit der Einrichtung der ersten Blutbank Nordamerikas unter Strafe stand, Sterbliche zu beißen. Lediglich absolute Notsituationen konnten ein solches Handeln rechtfertigen.
Dennoch gab es immer wieder Unsterbliche, welche die alte Methode bevorzugten und lieber direkt von der Quelle tranken. Sie waren es, die zum Schutz der übrigen gefasst werden mussten, um ihrem Treiben ein Ende zu setzen. Und genau diese Aufgabe erledigten Jäger wie Decker und Garrett Mortimer.
Meistens empfand Decker es als durchaus befriedigend, sein Volk, aber auch Sterbliche, vor abtrünnigen Vampiren zu beschützen. Nicht so dieses Mal, hatte man ihm seinen Urlaub doch gründlich verdorben. Zwei Wochen lang waren sie auf der Suche nach einem Abtrünnigen gewesen, der sich letztlich als keiner herausgestellt hatte.
Decker schlug die Augen auf und schaute zum anderen Ende der Couch hinüber, wo sich der mutmaßliche Abtrünnige hingesetzt hatte – ein schlanker, dunkelhaariger Mann namens Grant. Decker war es bislang egal gewesen, ob es sich dabei um dessen Vor- oder Nachnamen handelte. Er war viel zu sauer darüber, dass sein Urlaub nicht wegen eines abtrünnigen Vampirs ruiniert worden war, sondern durch eine Angestellte in der Bestellannahme der Argeneau-Blutbank. Sie hatte sich über den Mann geärgert und deswegen absichtlich dessen Blutbestellungen verschlampt, sodass Grant dazu gezwungen gewesen war, in der Zeit bis zum Eintreffen einer neuen Lieferung Sterbliche zu beißen.
Zwar vermutete Decker, dass dem Mann kein Ärger drohte, da es sich hierbei um einen echten Notfall gehandelt hatte, dennoch kaute Grant nervös an seinen Fingernägeln und machte einen genauso beunruhigten Eindruck wie Mortimer. Decker konnte es ihm nicht verübeln. Eine Begegnung mit Lucian Argeneau konnte ein durchaus einschüchterndes Erlebnis sein. Der Kopf des Rats der Unsterblichen – und damit zugleich der Chef aller Jäger des Rats – war einer der ältesten noch lebenden Unsterblichen, was ihn folgerichtig zu einem unerbittlichen Mann machte.
„Vielleicht sollte ich raufgehen und nach dem Rechten sehen“, murmelte Mortimer.
Decker wandte sich wieder dem blonden Mann zu, der vor ihm stehen geblieben war, und schüttelte den Kopf. „Das halte ich für keine gute Idee, mein Freund.“
Mortimer runzelte die Stirn, brummelte abermals etwas vor sich hin und ging weiter im Zimmer auf und ab, wobei sein Blick immer wieder zur Treppe am anderen Ende des Raumes wanderte.
Decker merkte ihm an, dass er sich nicht mehr lange würde beherrschen können, bis er nach oben stürmte, um wieder bei Samantha zu sein. Und er konnte ihn nur allzu gut verstehen, da er sich wahrscheinlich genauso fühlen würde, wäre diese Frau seine Lebensgefährtin.
Erneut lehnte er sich mit dem Kopf gegen den Couchrücken und schloss die Augen. Diese nutzlose Jagd hatte auch ihr Gutes gehabt: Mortimer war Samantha begegnet. Wenn einer von ihnen seinen Lebensgefährten fand, war dies stets ein freudiges Ereignis. Schade nur, dass diese Frau ihre Eltern verloren hatte und mit ihren Geschwistern kaum Kontakt zu ihren wenigen Verwandten pflegte. Infolgedessen stand sie ihren beiden Schwestern besonders nahe und wollte sich nicht wandeln lassen, da sie sonst in gut zehn Jahren aus deren Leben hätte verschwinden müssen. Es durfte nicht auffallen, dass sie nicht alterte. Und genau diese Entscheidung war nun der Grund dafür, weshalb sie gegenwärtig von Lucian in die Mangel genommen wurde, während Mortimer allmählich durchdrehte, da er endlich wissen wollte, was die Zukunft ihm bringen würde.
Sollte Lucian mit Sams Entschluss einverstanden sein und sie keine Bedrohung für sein Volk darstellen, so konnten sie und Mortimer sich auf ein gemeinsames Leben freuen. Wenn Lucian sich allerdings gegen die beiden entschied, stand Sam vor der Wahl, sich doch noch wandeln zu lassen oder aber all ihrer Erinnerungen an jenen Mann beraubt zu werden, der gerade ein Loch in den Teppich zu laufen drohte, wenn er nicht bald stehen blieb. Im Gegensatz zu Sam würde Mortimer dagegen niemals vergessen, dass er seine Lebensgefährtin gefunden und wieder verloren hatte. Und er würde sich niemals wieder in ihre Nähe begeben dürfen, da zu befürchten war, dass sie ihre gelöschte Erinnerung an ihn zurückerlangte. Ein solches Szenario wäre die Hölle auf Erden, und Decker konnte nur hoffen, niemals selbst in eine solche Situation zu geraten.
Ein leises, frustriertes Grollen veranlasste ihn, die Augen wieder zu öffnen. Zur Abwechslung stand Mortimer nun einfach nur da und starrte grimmig zur Treppe. Da Decker befürchtete, dass Mortimer mit seiner Geduld langsam am Ende war und etwas tun könnte, was er später bedauern würde, versuchte er ihn abzulenken. „Was ist mir da eigentlich zu Ohren gekommen? Es soll ein neues Hauptquartier für Jäger eingerichtet werden, und du sollst es vielleicht leiten?“
Mortimer wandte den Blick von den Stufen ab und zuckte mit den Schultern. „Nachdem Lucian jetzt seine Lebensgefährtin gefunden hat, hält er es für unpassend, dass wir weiterhin sein Haus als Basislager benutzen, wenn wir in der Gegend zu tun haben. Er ist der Meinung, ein richtiges Hauptquartier sei die beste Lösung, weshalb er veranlasst hat, dass ein Gebäude in der Nähe seines Hauses am Stadtrand von Toronto gekauft wird. Als er herkam, hat er mir die Leitung angeboten.“
Während Mortimer redete, nickte Decker und tat so, als hätte er von der Unterhaltung zwischen den beiden Männern nichts mitbekommen. „Auf diese Weise kannst du wenigstens in Sams Nähe bleiben.“
„Ja“, antwortete Mortimer mit verbitterter Miene und seufzte. „Vorausgesetzt, wir dürfen zusammenbleiben.“
Insgeheim hätte sich Decker selbst ohrfeigen können, weil ihm nicht früh genug aufgefallen war, dass die Unterhaltung letztlich wieder Sam zum Thema haben würde. Gerade überlegte er, was er noch sagen könnte, um Mortimer auf andere Gedanken zu bringen, als er hörte, wie auf dem Holzboden im Stockwerk über ihnen ein Stuhl gerückt wurde. Dann folgten leise Schritte. „Klingt, als wären sie fertig.“
„Gott sei Dank“, murmelte Mortimer, doch Decker merkte ihm an, dass ihn diese Tatsache nicht beruhigte, sondern im Gegenteil noch nervöser machte, da er nun jede Sekunde erfahren würde, wie seine Zukunft aussehen sollte.
Decker blickte zur Treppe und sah, wie Sam, gefolgt von Lucian, nach unten kam. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, seinen Onkel anzusehen, der wie gewohnt eine versteinerte Miene zur Schau trug und dem kaum anzusehen war, was er dachte oder fühlte. Stattdessen konzentrierte er sich auf Sam. Doch sie ließ ebenso wenig durchblicken, was gerade in ihr vorging. Vermutlich hing dies mit der Tatsache zusammen, dass sie Anwältin war. Ein Pokerface hatte in ihrem Beruf zweifellos seine Vorteile, überlegte er und beschloss, ihre Gedanken zu lesen. Was er dort sah, war ein Durcheinander aus Wut und Erleichterung. Wie es schien, hatte sich Lucian wie üblich von seiner direkten Seite gezeigt und Sam unverblümt klargemacht, dass sie mit dem Tod bestraft werden würde, sollte sie jemals sein Volk hintergehen und anderen von der Existenz der Unsterblichen erzählen. Aber immerhin hatte er zugestimmt, dass sie Mortimers Lebensgefährtin sein durfte, ohne sich wandeln lassen zu müssen.
Zudem fand Decker heraus, dass es Lucian gelungen war, sie davon zu überzeugen, in ihrer Anwaltskanzlei zu kündigen und stattdessen für die Jäger zu arbeiten. Diese Entwicklung erstaunte ihn, wusste er doch, dass sich Sams Leben vor ihrer Begegnung mit Mortimer einzig um ihre Karriere in dieser Kanzlei gedreht hatte. Aber wie es schien, war ihr in den letzten zwei Wochen bewusst geworden, dass ihr dies alles gar nicht so viel bedeutete. Und wenn sie schon nicht auf ihre Schwestern verzichten wollte, um mit Mortimer zusammenzuleben, so war sie dennoch dazu bereit, ihren Job aufzugeben. Dabei war es mit Sicherheit förderlich gewesen, dass Lucian sie auf die zahlreichen rechtlichen Aspekte hingewiesen hatte, die beachtet werden mussten, wenn ein Abtrünniger gejagt und unschädlich gemacht wurde. In der heutigen, von Papierkram aller Art beherrschten Welt konnte niemand einfach so verschwinden, nicht einmal ein Unsterblicher.
„Sam hat sich einverstanden erklärt, für uns zu arbeiten“, gab Lucian bekannt, als er unten angekommen war. „Sie wird dir helfen, das neue Hauptquartier aufzubauen, und sie wird sich um alle rechtlichen Fragen kümmern, die der Job mit sich bringt.“
Decker entging nicht, wie sich Erleichterung in Mortimers Gesicht widerspiegelte, als dieser zu Sam lief, die Arme um sie schlang und sie an sich drückte. Beide waren so ineinander vertieft, dass sie nicht mitbekamen, wie Lucian an ihnen vorbeiging und sich vor Grant aufbaute, um den Unsterblichen mit grimmiger Miene in Augenschein zu nehmen.
„Verstehe ich das richtig? Sie hatten Schwierigkeiten, Ihre Blutlieferung zu erhalten, und waren deshalb gezwungen, sich bei Sterblichen zu bedienen?“, fragte er.
Grant nickte ängstlich. Lucian indes blieb ruhig vor ihm stehen und blickte ihn stumm an, sodass Decker davon überzeugt war, er lese die Gedanken des Mannes. Was er sah, schien ihn zufriedenzustellen, da er einen Moment später ebenfalls nickte und sagte: „Es kümmert sich bereits jemand um die Angelegenheit und befragt die Angestellte, die Ihre Bestellungen zurückgehalten hat. Außerdem habe ich veranlasst, dass ein Generator geliefert wird, damit Ihr Blutvorrat nicht jedes Mal verdirbt, wenn hier oben der Strom ausfällt. Damit sollten Sie nicht wieder in die Lage geraten, von Sterblichen trinken zu müssen. Aber“, fügte Lucian energisch hinzu, „wenn es doch wieder Probleme geben sollte, melden Sie sich bitte sofort bei Mortimer. Einen weiteren Zwischenfall dieser Art werde ich nicht dulden.“
Grant drückte sich angesichts dieser deutlichen Warnung tiefer in das kalte Lederpolster, als könnte er sich dort irgendwo vor seinem Gegenüber verstecken. „Es war doch nicht meine Schuld. Ich …“
„Sie scheinen zu vergessen, dass ich Ihre Gedanken lesen kann“, unterbrach Lucian ihn harsch. „Sie haben sich aus Stolz nicht an den Vorgesetzten dieser Angestellten gewandt, als Sie kein Blut bekamen. Und auch die Tatsache, dass Sie eigentlich lieber warme Mahlzeiten zu sich nehmen, war Grund für Ihr Handeln. Die Situation war für Sie ein idealer Vorwand, um direkt von der Quelle zu trinken. Wenn Sie sich unbedingt auf diese Weise ernähren wollen, sollten Sie besser nach Europa ziehen. Hier bei uns ist das nicht erlaubt. Falls das noch mal vorkommt, finden Sie sich mit einem Pflock im Herzen wieder. Verstanden?“
„J… Ja, Sir“, stammelte Grant.
Offenbar gab sich Lucian mit dieser Antwort zufrieden, da er sich zu Mortimer und Decker umdrehte. „Zum Glück sieht es nicht danach aus, dass die Gegend gesäubert werden müsste. Grant war wenigstens umsichtig genug, sich seine Mahlzeiten im weiteren Umkreis, genauer gesagt von Parry Sound im Norden bis nach Minden im Süden, zu suchen. Das bedeutet, dass er die Sterblichen nicht misstrauisch gemacht haben dürfte, und ihr Jungs könnt eure Sachen zusammenpacken und euch …“
„Entschuldigung“, warf Grant kleinlaut ein.
Lucian stutzte und sah den Mann an. „Was ist?“
Grant schien unter dem stechenden Blick des Ältesten förmlich zusammenzuschrumpfen, dann brachte er nervös heraus: „In … in P… Parry Sound habe ich nie getrunken … und auch nicht in M… Minden.“
Einen Moment lang schaute Lucian verdutzt drein. „Wir haben Berichte von anderen Unsterblichen erhalten, die Sterbliche mit Bissspuren in Parry Sound, Burk’s Falls, Nobel, Huntsville, Bracebridge, Gravenhurst, Minden und Haliburton gesehen haben wollen.“
Grant schüttelte den Kopf. „Ich war nie südlicher als in Bracebridge. Mit Gravenhurst, Minden und Haliburton habe ich nichts zu tun. Und mit Parry Sound ebenfalls nicht.“ Er benetzte seine Lippen, bevor er fortfuhr. „Vielleicht bin ich ja nicht der Einzige, der keine Lieferungen erhält.“
Sekundenlang herrschte Schweigen, als Lucian offensichtlich erneut Grants Gedanken las. Dann wandte er sich fluchend an Decker. „Wie es aussieht, ist eure Arbeit doch noch nicht getan. Ihr müsst euch aufteilen und im Norden beziehungsweise im Süden Nachforschungen anstellen. Aber zuerst setzt ihr euch bitte mit Bastien in Verbindung. Er soll euch sagen, wer hier in der Gegend noch von unserer Blutbank beliefert wird und ähnliche Probleme haben könnte. Bei diesen Kunden fragen wir zuerst nach.“
Decker zog eine Augenbraue hoch, als der Name seines Cousins fiel. Bastien Argeneau war der Chef von Argeneau Enterprises. Der Jäger ließ seinen Blick aus dem Fenster schweifen, wo er am Horizont bereits die Sonne aufgehen sehen konnte. „Der Morgen ist angebrochen. Bastien wird sein Büro inzwischen verlassen haben und nach Hause gegangen sein.“
„Ja“, stimmte Lucian ihm missmutig zu. „Und seitdem er seine Lebensgefährtin gefunden hat, stellt er sein Telefon aus, damit sie in Ruhe schlafen können. Es sei denn, er rechnet mit einem Notfall.“ Er überlegte kurz, dann wandte er sich an Grant. „Kennen Sie hier oben irgendwelche anderen Unsterblichen?“
„Nicht viele. Ich habe lieber meine Ruhe“, entgegnete dieser.
„Tja, das sollten Sie umgehend ändern.“ Lucian knurrte. „Ein Unsterblicher ohne Familie und Freunde läuft eher Gefahr, zum Abtrünnigen zu werden.“
„Ich habe Freunde“, erklärte Grant hastig, wurde dann jedoch ganz leise. „Na ja … einen Freund. Er lebt nördlich von Minden, ich besuche ihn alle paar Wochen einmal.“ Da er fürchtete, Lucian könnte ihm nicht glauben, fügte er schnell hinzu: „Sie können Nicholas fragen. Er wird das bestätigen.“
„Nicholas?“, fragte Lucian energisch, während Decker sich bei dem Namen unwillkürlich verkrampfte. „Welcher Nicholas?“
„Nicholas Argeneau“, antwortete Grant und klang überrascht, dass er den Nachnamen überhaupt noch erwähnen musste. „Er ist mir das letzte Mal, als ich unterwegs war, entgegengekommen. Ich habe ihm gesagt, ich sei auf dem Weg zu einem Freund. Er wird sich sicher daran erinnern und kann es bestätigen.“
Lucian stand wie erstarrt da, Mortimer murmelte einen Fluch und Decker fühlte sich, als wäre ihm das Blut in den Adern gefroren. Auch sein Herz schien stehen geblieben zu sein. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Lediglich Grants Worte hallten immerzu in seinem Kopf wider.
Schließlich war es Sam, die im Flüsterton das Wort ergriff. „Was ist los? Wer ist dieser Nicholas Argeneau?“
„Er ist ein Abtrünniger, der uns schon seit fast fünfzig Jahren immer wieder entwischt“, knurrte Mortimer.
„Was?“ Grant wurde bleich und ließ sich wieder nach hinten in die Couch sinken, als fürchte er, Lucian würde ihn packen und erwürgen. „Ich wusste nicht, dass Nicholas ein Abtrünniger ist. Vor fünfzig Jahren bin ich hierhergezogen, um der Stadt zu entfliehen. Aber von dieser Sache habe ich noch nie etwas gehört. Wenn ich das gewusst hätte, wär ich sofort zu Argeneau Enterprises gegangen.“
„Gehen Sie nach Hause“, wies Lucian ihn mürrisch an. Grant atmete erleichtert auf und eilte in Richtung Treppe davon. „Und beißen Sie niemanden, sonst kümmere ich mich persönlich um Sie.“
Von hastigen Beteuerungen begleitet, sich künftig zu benehmen, lief der Mann die Treppe hinauf. Kurz darauf war zu hören, wie die Fliegengittertür zuschlug.
„Und?“, fragte Mortimer leise, nachdem sie für eine Weile geschwiegen hatten. „Was machen wir jetzt mit Nicholas?“
Decker blickte zu seinem Onkel hinüber. Lucian sah ihn mit versteinerter Miene an. „Wir jagen ihn.“
1
„Wohin zum Teufel will er?“, murmelte Decker, während er seinen SUV über den holprigen Feldweg lenkte, um dem weißen Van zu folgen.
„Wenn ich das wüsste“, gab Justin Bricker zurück.
Decker warf dem jüngeren Unsterblichen, der für die Dauer dieser Jagd sein Partner war, einen flüchtigen Blick zu, machte sich aber nicht die Mühe, ihm zu erklären, dass er mit sich selbst geredet hatte. Stattdessen konzentrierte er sich wieder auf die Straße und kniff die Augen zusammen, um zu sehen, wohin er eigentlich fuhr. Zwar konnte er als Vampir im Dunkeln besser sehen als jeder Sterbliche, aber in dieser absoluten Finsternis, die hier draußen herrschte, half ihm nicht mal diese Fähigkeit weiter.
Der Nachthimmel war bedeckt, kein Stern war zu sehen, und Decker hatte schon einige Meilen zuvor die Scheinwerfer ausgeschaltet, damit Nicholas nicht auf seine Verfolger aufmerksam wurde. Der SUV des Jägers verfügte über diverse Extras. So schalteten sich die Scheinwerfer zum Beispiel nicht automatisch ein, sobald der Wagen gestartet wurde.
„Ich hatte nicht damit gerechnet, dass wir ihn so leicht aufspüren würden“, sagte Justin plötzlich.
Decker reagierte mit einem Brummeln. Er war darüber selbst überrascht. Nicholas Argeneau galt seit rund fünfzig Jahren als Abtrünniger, und in all der Zeit hatte niemand den Mann auch nur zu Gesicht bekommen. Dass sie nun nur ein paar Leuten ein Foto von ihm hatten zeigen müssen, um seine Fährte zu finden, war fast schon zu einfach – viel zu einfach. So einfach, dass Decker misstrauisch wurde. Warum hatte Nicholas nicht das Gedächtnis der Sterblichen gelöscht, denen er begegnet war? In der Vergangenheit musste er so vorgegangen sein, weshalb bisher keine Spur zu ihm geführt hatte. Und jetzt auf einmal sollte er damit aufgehört haben? Und das so konsequent? Er hatte ja praktisch Wegweiser aufgestellt, damit er gefunden wurde.
Fluchend klammerte sich Justin am Armaturenbrett fest, als der Feldweg auf einmal endete und sie durch hohes Gras und dichte Büsche rasen mussten, um den weißen Van nicht aus den Augen zu verlieren.
„Vielleicht hat er genug davon, immer nur wegzulaufen“, presste Justin hervor, der kaum die Zähne auseinanderbekam, da er wohl fürchtete, sich auf der Holperstrecke die Zunge abzubeißen. „Vielleicht will er ja gefasst werden.“
Von Decker kam keine Antwort. Er glaubte nicht für eine Sekunde daran, dass Nicholas aufgeben würde. Allerdings konnte er sich auch nicht erklären, was der abtrünnige Argeneau in Wahrheit mit seinem Verhalten erreichen wollte. Er wusste nur, dass Justin Bricker ihm auf die Nerven ging, weil er unentwegt redete. Wie Mortimer, Justins regulärer Partner, das schon seit Jahren aushielt, war ihm schlichtweg ein Rätsel.
„Er hält an!“
„Das sehe ich auch“, knurrte Decker und lenkte den SUV so tief in den Wald, wie er es wagen konnte, ohne Gefahr zu laufen, mit dem Wagen stecken zu bleiben. Er hoffte, dass sie weit genug entfernt waren, damit ihre Beute sie nicht bemerkte, und stellte den Motor ab. „Behalt ihn im Auge“, wies er Justin an.
Den Schlüssel ließ er im Zündschloss stecken, um wertvolle Sekunden zu sparen, falls Nicholas auf sie aufmerksam werden und mit dem Van die Flucht ergreifen sollte. Dann kletterte Decker zwischen den Sitzen hindurch nach hinten, wo er Blut und Waffen aufbewahrte. Als Erstes öffnete er die Kühlbox und nahm mehrere Blutbeutel heraus, ein paar davon warf er über den Sitz auf Justins Schoß. „Trink das, du wirst deine Kräfte brauchen.“
„Dann denkst du also nicht, dass er sich ergeben wird, sobald er uns sieht, stimmt’s?“, fragte Justin mit ironischem Tonfall und drückte sich den ersten Beutel an den Mund.
Allein, dass Justin diesen Gedanken hatte, ließ Decker missbilligend schnauben. Er fuhr seine Fangzähne aus, bohrte sie in den Plastikbeutel und begann zu trinken, während er mit der anderen Hand einen der Waffenkoffer öffnete. Er ließ seinen Blick über die Schusswaffen schweifen. Mit ihnen konnte man einen Unsterblichen zwar nicht töten, doch es war möglich, ihn langsamer werden zu lassen oder ihn sogar kurzzeitig außer Gefecht zu setzen. Vor allem, wenn man Kugeln benutzte, die mit dem von Bastiens Techniktüftlern entwickelten Tranquilizer ummantelt waren.
„Er steigt aus dem Van aus“, ließ Justin ihn wissen.
Als Decker nach vorn schaute, stellte er fest, dass der jüngere Unsterbliche seinen Beutel bereits ausgetrunken hatte und ihn in einer Tüte im Fußraum verstaute, in der sich darüber hinaus etliche Fast-Food-Verpackungen befanden. Der Mann aß also mit der gleichen Begeisterung, mit der er redete. Kopfschüttelnd sah Decker an Justin vorbei durch die Windschutzscheibe nach draußen, konnte jedoch nichts erkennen. „Und was macht er jetzt?“, fragte er, nachdem er seinen ebenfalls geleerten Blutbeutel von den Zähnen gezogen hatte.
„Er geht zum Heck des Wagens … macht die Türen auf … sucht irgendetwas … holt einen Gegenstand heraus – ich glaube, das ist eine Waffe.“ Justin sah ihn über die linke Schulter hinweg an und wirkte sichtlich besorgt. „Meinst du, er hat uns bemerkt?“
Decker presste die Lippen zusammen, legte den leeren Beutel zur Seite und widmete sich wieder dem Koffer. „Komm und such dir eine Waffe aus.“
„Sollten wir Lucian oder Mortimer anrufen?“, wollte Justin wissen, während er zu ihm auf die Ladefläche kletterte.
Decker nahm zwei Pistolen und eine Schachtel beschichteter Patronen aus dem Waffenkoffer und dachte über die Frage nach. Es war eine reine Vorsichtsmaßnahme gewesen, dass Lucian sie beide nach Norden geschickt hatte. Und aus demselben Grund waren Mortimer und Sam in Richtung Westen unterwegs, während Lucian selbst mit seiner Lebensgefährtin Leigh im Großraum Haliburton suchte, wo Nicholas von Grant gesehen worden war. Decker vermutete, dass sein Onkel erwartet und gehofft hatte, den Abtrünnigen als Erster zu finden, was bedeutete, dass die anderen beiden Teams zu weit entfernt waren, um ihnen in diesem Moment von Nutzen zu sein. „Die brauchen mindestens eine, wahrscheinlicher sogar zwei Stunden, ehe sie hier eintreffen könnten“, gab er deshalb kopfschüttelnd zurück. „Wir sind auf uns allein gestellt.“
Justin nickte bedächtig und verwandelte sich vom gut gelaunten und ein wenig spitzbübischen Begleiter zu dem ernsthaften Jäger, der er eigentlich war. Er straffte die Schultern und setzte eine ernste Miene auf. Dann suchte er sich seine Waffen aus.
Da Decker vermeiden wollte, dass Nicholas sich an sie heranschlich, während sie abgelenkt waren, nahm er die Pistolen samt Munitionsschachtel und kehrte zurück auf den Fahrersitz. Ein Blick genügte, um zu erkennen, dass Nicholas einen Köcher mit Pfeilen und Bogen auf dem Rücken trug sowie eine Armbrust über die Schulter gelegt hatte, aber immer noch über die Ladefläche des Vans gebeugt stand und vermutlich nach weiteren Waffen suchte. Decker lud seine Pistolen und blickte zwischendurch immer wieder zu Nicholas hinüber, der seinen Wagen selbst dann noch durchstöberte, als Justin auf den Beifahrersitz zurückkehrte.
„Und jetzt?“, fragte dieser, seinen Blick auf den Abtrünnigen gerichtet. „Schleichen wir uns an und stürzen uns auf ihn?“
„Klingt gut“, meinte Decker und griff reflexartig nach dem Zündschlüssel, überlegte es sich dann aber wieder anders. Wenn Nicholas sie bemerkte, bevor sie ihn erreicht hatten, bestand die Gefahr, dass er in seinen Van sprang und davonfuhr. Sollte dies passieren, wollte Decker in der Dunkelheit nicht erst mit dem Schlüssel nach dem Zündschloss suchen müssen, bevor sie ihn verfolgen konnten. Also ließ er ihn stecken und legte den Schalter für die Innenbeleuchtung um, damit die nicht anging, sobald sie die Türen öffneten. Zum Glück war auch die Elektronik so modifiziert worden, dass beim Aussteigen kein Warnsignal ertönte, obwohl der Zündschlüssel noch im Schloss steckte. So konnten sie geräuschlos den Wagen verlassen.
Da zu befürchten war, dass sogar ein leises Klicken sie verraten könnte, ließen sie die Wagentüren einen Spaltbreit offen stehen. Dann bewegten sie sich schweigend und so leise wie möglich durchs Gras. Auf halber Strecke wechselte Justin schließlich auf die andere Seite des Trampelpfads, damit sie sich Nicholas aus zwei Richtungen nähern konnten. Es war etwas, das Deckers regulärer Partner Anders ganz automatisch gemacht hätte, aber mit ihm arbeitete er auch schon seit Jahrzehnten zusammen. Dennoch nahm er an, dass er von Justin keine unangenehmen Überraschungen zu erwarten hatte. Denn auch wenn sie zum ersten Mal gemeinsam im Einsatz waren, arbeitete Justin seit Jahren mit Mortimer zusammen und wusste, worauf es ankam. Decker kam zu dem Schluss, dass er nicht befürchten musste, der Junge wüsste nicht, was er zu tun hätte, und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf ihre Beute, der sie sich leise näherten.
Sie waren vielleicht noch zwei Meter entfernt, als Nicholas sich plötzlich aufrichtete und an sie wandte. „Es hat ja ganz schön lange gedauert, bis ihr den Mut gefunden habt, euch endlich heranzuschleichen. Ich dachte schon, ich müsste bis Sonnenaufgang hier rumstehen.“
Decker blieb stehen und bemerkte, dass Justin ebenfalls nicht weiter vorrückte. Alle schwiegen gebannt. Schließlich hob Nicholas die Hände und drehte sich langsam um. Wie nicht anders zu erwarten hatte er sich in den letzten fünfzig Jahren kaum verändert. Er trug die Haare etwas länger, als Decker es in Erinnerung hatte, aber seine Augen waren immer noch silbrig blau. Und auch seine kantigen Gesichtszüge sorgten wohl nach wie vor dafür, dass Frauen weiche Knie bekamen. Der einzige echte Unterschied in seinem Auftreten im Vergleich zu damals bestand darin, dass sein warmherziges, charmantes Lächeln einem kalten, ernsten Gesichtsausdruck gewichen war, den Decker nur zur Genüge von Lucian kannte. Nicholas hielt in jeder Hand eine Pistole, beide Mündungen zeigten momentan gen Himmel.
„Wir haben unsere Waffen ausgewählt und geladen“, erklärte Justin, dem Nicholas’ Bemerkung offenbar einen Stich versetzt hatte.
Der Abtrünnige nickte ernst, behielt seinen Blick jedoch weiterhin auf Decker gerichtet. „Muss ja wirklich schwierig sein, sich zu entscheiden, mit welcher Waffe man einen Blutsverwandten umbringen will.“
Decker reagierte darauf nur mit einem kurzen Schulterzucken, doch insgeheim musste er zugeben, dass es ihm tatsächlich nicht leichtfiel, immerhin gehörte Nicholas zu seiner Familie … und trotzdem war er auch ein Abtrünniger. „Wie lange weißt du schon, dass wir dir folgen?“
„Seit dem Restaurant. Da habe ich eine Ewigkeit auf euch gewartet“, ließ er sie mürrisch wissen. „Ich hoffe, es war nicht zu lange.“
„Was soll das heißen, du hast lange auf uns gewartet?“, fragte Decker misstrauisch. „Woher willst du überhaupt gewusst haben, dass wir in der Gegend sind?“
„Weil ich es so arrangiert habe“, antwortete Nicholas, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. „Was glaubt ihr denn, warum ich zugelassen habe, dass Grant mich bemerken konnte, als wir an derselben Tankstelle angehalten hatten?“
„Soll das etwa heißen, dass du von uns gefunden werden wolltest?“
„Ja.“ Als Decker seinen Unglauben nicht verbergen konnte, zog Nicholas die Mundwinkel nach unten. „Als ich Grant bemerkte, wurde mir klar, dass es gar nicht so schlecht wäre, wenn er mich sähe. Also ging ich zu ihm und stellte mich vor. Ich wusste, dass Lucian sofort ein paar Teams losschicken würde, um mich zu jagen, wenn Grant von der Begegnung erzählte.“ Er hielt kurz inne, bevor er in abfälligem Tonfall fortfuhr. „Mir war nur nicht bewusst, dass ihr Jungs euren Job so halbherzig machen würdet. Ihr hättet schon vorgestern auf mich stoßen sollen, schließlich habe ich eine deutliche Fährte hinterlassen. Und trotzdem musste ich noch zwei Tage lang warten, bis ihr endlich hier aufkreuzt.“
„Grant hatte zunächst nichts von dir erzählt, weil ihm gar nicht bewusst war, dass er es mit einem Abtrünnigen zu tun hatte. Es war purer Zufall, dass heute Morgen dein Name gefallen ist“, erläuterte Justin die Situation in einem trotzigen Tonfall, der Decker nicht gefiel. Sie mussten diesem Mann nichts beweisen, und sie mussten sich auch nicht vor ihm rechtfertigen.
Nicholas kniff die Augen zusammen, als er dies hörte. Dann nickte er seufzend und murmelte frustriert: „Dann kann ich euch ja gar keinen Vorwurf machen, sollten diese Frauen sterben. Es wird mein Fehler sein, weil ich gewartet habe.“
„Was für Frauen?“, wollte Decker wissen. „Und warum wolltest du gefunden werden?“
„Weil ich auf ein ganzes Nest sehr unangenehmer Abtrünniger gestoßen bin. Als ich Grant sah, wurde mir klar, dass ich Hilfe benötigen würde, um diese Truppe zu erledigen. Es war pures Glück, dass ich ihm an der Tankstelle begegnet bin. Allerdings dachte ich da auch noch, er würde mich sofort verpfeifen“, fügte Nicolas verärgert hinzu. „Ich hätte mich nicht darauf verlassen dürfen, dass er von unserer Begegnung erzählt. Ich hätte anrufen sollen, dann wären diese Frauen immer noch glücklich und ahnungslos.“ Er hielt kurz inne. „Die sind von der wirklich üblen Sorte, Decker.“
„Gilt das nicht für alle Abtrünnigen?“, warf Justin zweifelnd ein.
„Vermutlich, ja“, stimmte Nicholas ihm ein wenig gelangweilt zu. „Aber es gibt üble Typen, und es gibt solche, die man als Teufelsbrut bezeichnen muss – die Unschuldige regelrecht abschlachten, sich in deren Blut wälzen und dabei köstlich amüsieren.“
„Mein Gott“, hauchte Justin.
Decker sah Nicholas skeptisch an. „Willst du damit sagen, dass du nach wie vor Abtrünnige jagst, obwohl du mittlerweile selbst einer bist? Warum solltest du das machen?“
„Alte Gewohnheiten legt man nun mal nicht so leicht ab“, antwortete dieser verbittert und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. „So, jetzt habe ich aber genug erklärt. Wir müssen uns auf den Weg machen, bevor sie sich die beiden vornehmen.“
„Augenblick mal“, fuhr Decker ihn an, als Nicholas die Arme sinken ließ und um den Wagen herumgehen wollte. „Wir machen uns nirgendwohin auf den Weg. Und wer sind diese Frauen überhaupt, von denen du redest?“
Nicolas blickte ihn über die Schulter an. „Es sind zwei Frauen, die diese Kerle auf dem Supermarktparkplatz verschleppt haben, bevor ihr im Restaurant aufgetaucht seid. Nachdem sie die beiden in ihre Gewalt gebracht hatten, konnte ich nicht länger auf Verstärkung warten. Zum Glück seid ihr gerade da aufgekreuzt, als ich mich auf den Weg machen wollte, und seid mir gefolgt. Dann können wir …“
„Moment, Moment, nicht so schnell“, unterbrach ihn Decker. „Woher weißt du, dass sie die zwei Frauen vor dem Supermarkt entführt haben? Das Restaurant, in dem wir dich gesehen haben, ist weit weg vom …“
„Himmelherrgott!“, fiel Nicholas ihm ungeduldig ins Wort. „Für so was haben wir jetzt keine Zeit. Hörst du sie nicht schreien?“
Decker wollte von Nicholas eine genaue Erklärung einfordern, was für ein Spiel er mit ihnen spielte, verstummte jedoch plötzlich, als er panisches Kreischen hörte, das von irgendwoher vor ihnen kam. Entweder hatten die Schreie gerade erst eingesetzt oder aber er war so sehr auf Nicholas’ Worte konzentriert gewesen, dass er sie nicht wahrgenommen hatte. Auf jeden Fall konnte auch er sie jetzt hören, und so durchdringend, wie sie waren, ließen sie sich nicht mehr ignorieren, selbst wenn er es gewollt hätte – Gleiches galt für das gehässige Gelächter, das sie fast noch übertönte.
„Schieß mir in den Rücken, wenn du unbedingt willst“, fuhr Nicholas ihn an. „Aber ich habe gesehen, was diese Mistkerle anrichten können, und ich werde nicht hier rumstehen und euch alles bis ins kleinste Detail erklären, während da hinten die beiden Frauen aufgeschlitzt werden.“ Er wirbelte herum, stürmte davon und war nach wenigen Metern zwischen den Bäumen verschwunden.
„Soll ich ihn erschießen?“, fragte Justin, der mit seiner Waffe in Nicholas’ Richtung zielte.
Decker presste die Lippen aufeinander, schüttelte jedoch den Kopf, als ein weiterer Schrei durch die Nacht gellte. „Noch nicht“, gab er zurück und lief hinter seinem Cousin her, dicht gefolgt von Justin.
Dani schaute über Stephanies rechte Schulter auf das Display ihres Handys, das „Kein Netz“ anzeigte. Dann klappte sie es zu, steckte es zurück in ihre Hosentasche und drückte ihre jüngere Schwester fest an sich. „Es wird alles gut werden, Stephi.“
Es war eine Lüge, die ihnen etwas Trost spenden sollte, doch Stephanie wollte davon nichts wissen. Sie schlang die Arme um Danis Taille und schluchzte. „Nein, das wird es nicht.“
Der verzweifelte Tonfall ihrer Schwester versetzte Dani einen Stich ins Herz. Sie drehte sich um und warf einen Blick zu dem Mann, der hinter ihr stand. Es war ein großer, dürrer Typ mit langem, blondem Haar, der sie beide bewachte, während die anderen Brennholz zusammentrugen, ein Lagerfeuer entzündeten oder sich um irgendwelche anderen, ihr nicht bekannten Aufgaben kümmerten. Er war so auf sie beide fixiert, dass sie eine Gänsehaut bekam. Noch schlimmer war, dass sein Interesse in erster Linie Stephanie zu gelten schien.
Sie drückte ihre Schwester enger an sich und schaute besorgt zu den anderen, die nach und nach zu ihnen zurückkehrten und dabei wie fahle Geister aus der Dunkelheit auftauchten. Sie bildeten einen Kreis um das Feuer – fünf Männer, die sich so ähnlich sahen, dass sie miteinander verwandt sein mussten. Einige kamen mit leeren Händen zurück und nahmen auf Baumstämmen Platz, die um die Feuerstelle herum zu einem Quadrat zusammengelegt waren. Die anderen ließen das eingesammelte Holz auf den Boden fallen und setzen sich schließlich hinzu, sodass je zwei Männer auf den drei Stämmen saßen, die Dani und Stephanie zugewandt waren. Das Licht der Flammen flackerte wie ein Höllenschein über ihre Gesichter, während sie die beiden Frauen schweigend betrachteten.
Dani hielt ihren Blicken nur einen Moment lang stand, bevor sie die Entführer anschrie. „Was habt ihr mit uns vor?“
Doch kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, wünschte sie sich, sie könnte sie zurücknehmen, denn ihre Frage löste bei den Männern nur boshaftes Grinsen und gehässiges Gelächter aus, während sie sich vielsagende Blicke zuwarfen. Schlimmer noch: Einer von ihnen stand auf und überquerte die Lichtung. Am Feuer blieb er kurz stehen und nahm eines der brennenden Scheite hoch, dann kam er näher und hielt die Fackel vor sich ausgestreckt. Für einige Sekunden fürchtete Dani, er könnte sie damit schlagen, doch als er stattdessen nach ihrem Arm griff, verspürte sie fast so etwas wie Erleichterung.
Sofort ließ sie Stephanie los, damit sie versuchen konnte, sich aus dem Griff des Mannes zu befreien, doch bevor diese überhaupt dazu kam, wurde sie schon von ihm hochgezogen.
„Nein! Lassen Sie sie in Ruhe!“, kreischte Stephanie und klammerte sich an Danis freiem Arm fest, um zu verhindern, dass sie weggezerrt wurde. Doch weder ihre Bemühungen noch Danis Gegenwehr vermochten etwas auszurichten. Er zog sie mit sich über die Lichtung, und als er stehen blieb, schaute sie sich um. Im ersten Moment konnte sie in der Finsternis vor sich nichts erkennen, doch als der Mann das brennende Holzscheit hob, sah sie, dass sie am Rande eines Abhangs standen.
Instinktiv versuchte Dani zurückzuweichen, da sie fürchtete, er könnte sie in die Tiefe stoßen. Doch er warf nur die Fackel hinunter, die sich im Flug wieder und wieder um sich selbst drehte, ehe sie leise auf dem Boden landete. Dani konnte jetzt sehen, dass das Gefälle zwar steil, jedoch nicht sehr tief war. Sie schätzte, dass es höchstens drei Meter waren, aber diese Sorge war ohnehin gleich wieder vergessen, da ihr klar wurde, dass dort am Grund des Grabens zwischen den Bäumen etwas im Gras lag.
Widerwillig stellte sie ihre Gegenwehr ein und beugte sich sogar noch vor, um besser erkennen zu können, was sich dort unten befand. Noch im selben Augenblick bereute sie ihre Neugier jedoch. Als Ärztin hatte sie zwar schon einige schlimme Dinge zu Gesicht bekommen, aber etwas so Entsetzliches wie diese verdrehten, blutüberströmten Leiber hätte sie sich nicht einmal in ihren grässlichsten Albträumen ausmalen können. Als wäre der Anblick an sich nicht bereits erschreckend genug gewesen, überkam sie nun auch noch die grauenerregende Erkenntnis, dass ihr und Stephanie das gleiche Schicksal drohte. Und es gab keine Hoffnung zu entkommen. Sie würden sich zu den beiden Frauen gesellen, die dort unten lagen und allmählich verwesten … und den Verletzungen nach zu urteilen, die sie von oben erkennen konnte, lag ein langer und qualvoller Weg vor ihnen, ehe sie ebenfalls in diesem Graben landen würden.
Daskanndochwohlnichtwahrsein, dachte Dani, und konnte es nicht fassen, welche Wendung ihr Leben so abrupt genommen hatte. Sie war Ärztin und die meiste Zeit über mit ihrer Arbeit beschäftigt. An diesem Wochenende hatte sie jedoch eine seltene Erholungspause vom Alltag nehmen und einige Zeit im Schoße ihrer Familie verbringen wollen. Das große Familientreffen der McGills sah vor, vier Tage und drei Nächte voller Spaß am Strand zu verbringen. Es wurde gelacht, geschwommen, geangelt, und jeder erfreute sich an der Gesellschaft der anderen. Dani hatte jede Sekunde des Beisammenseins genossen und sich so glücklich und entspannt gefühlt wie schon seit Jahren nicht mehr, als sie sich auf die lange Fahrt zurück nach Hause gemacht hatten. Die Schwestern hatten nur kurz angehalten, um sich für die achtstündige Reise ein paar Snacks zu holen, und dann …
Ihr Verstand sagte ihr, dass es so nicht hätte enden dürfen. Sie waren hier in Kanada, verdammt noch mal, im langweiligen, ungefährlichen Kanada, wo sich niemals etwas so Grausames ereignete. Aber es geschah doch, wie sie einsehen musste, als Stephanies hysterisches Kreischen sie aus ihren Gedanken riss. Sie drehte sich um und sah, dass man ihre Schwester gepackt hatte und ebenfalls in Richtung Graben zerrte. Auch sie sollte einen Blick auf das werfen, was sie beide erwartete. Und damit wusste Stephanie nun auch, in welch aussichtsloser Lage sie sich befanden, schlussfolgerte Dani betrübt.
Als die Schreie ihrer Schwester schließlich noch verzweifelter wurden, setzte sich Dani erneut zur Wehr, um zu ihr zu eilen, doch der Griff des Mannes, der sie am Arm festhielt, ließ sich nicht lockern. Je mehr sie sich anstrengte, nach ihrem Peiniger trat, ihn schlug und sogar zu beißen versuchte, desto ausgelassener lachte dieser nur – ganz so wie der Kerl, der ihre Schwester umklammerte. Diese Bestien schienen Spaß daran zu haben, Entsetzen und Panik zu verbreiten. Wut kochte in ihr hoch, und sie verstärkte ihre Bemühungen, sich zu befreien.
„Die Kleine liebt es zu schreien“, meinte der Typ, der Stephi festhielt, lachend und schüttelte sie, sodass ihr Kreischen leicht vibrierte, was ihm nur noch schallenderes Gelächter entlockte.
Dani wünschte, sie hätte eine Waffe, um diesen Kerl zu erschießen, als der sich plötzlich versteifte. Sein Lachen erstarb, und seine Miene spiegelte Überraschung wider. Im nächsten Moment ließ er Stephanie zu Boden fallen, um hinter sich zu greifen, da zwischen seinen Schulterblättern ein Pfeil aus seinem Rücken ragte. Dani war so verblüfft darüber, dass sie ganz vergaß, sich weiter zu wehren, und einfach nur zusah, wie sich der Mann im Kreis drehte und versuchte, den Pfeil zu fassen zu bekommen. Auch die anderen Entführer waren mit einem Mal wie erstarrt und stumm vor Schreck. Nur Stephanie kroch schluchzend und wimmernd über den Boden, was Dani aus ihrer eigenen Starre holte. Sie wollte gerade dem Kerl, der sie festhielt, einen Tritt verpassen, um ihn zu überrumpeln und sich selbst zu befreien, als sie ein seltsames Zischen mitten in ihrer Bewegung verharren ließ.
Einen Augenblick später bohrte sich ein Pfeil in den Arm des Mannes, der daraufhin vor Schmerz aufschrie und Dani nicht nur losließ, sondern sie regelrecht von sich schleuderte. Sie geriet ins Straucheln und taumelte dabei an den Rand des Grabens. Der Gedanke daran, was sie dort unten erwarten würde, ließ sie hektisch mit den Armen rudern, und sie versuchte, irgendwo Halt zu finden. Zwar bekam sie ein paar dünne Zweige zu fassen, die zu einem Busch gehören mussten, doch sie gaben sofort nach, sodass Dani über den Grabenrand mit den Füßen voran in die Tiefe rutschte. Die dünnen Äste schnitten in ihre Finger, die Blätter rissen eines nach dem anderen ab, und als Dani noch fester zupackte, gaben die Zweige schließlich ganz unter ihrem Gewicht nach. Notgedrungen ließ Dani los und suchte nach etwas anderem, das ihr Halt gab, fand jedoch nichts und konnte nicht mehr tun, als sich mit den Fingern in die Erde zu krallen, während sie weiterrutschte.
Immerhin hatte sich durch diese Aktion aber ihre Fallgeschwindigkeit reduziert, sodass sie auf halber Höhe des Abhangs zum Stillstand kam. Sie kniff die Augen zu und schickte ein stummes Stoßgebet zum Himmel. Dann erst wagte sie es, nach oben zum Rand des Grabens zu sehen.
Der Lärm, der ihr von der Lichtung entgegenschlug, war chaotisch. Die Schreie ihrer Schwester wurden immer wieder von den Rufen der Männer sowie mehreren kurzen, knallenden Geräuschen überlagert. Offenbar kamen dort oben nicht mehr nur Pfeile zum Einsatz. Sie dachte an Stephanie und machte sich daran, aus dem Graben zu klettern. Ihr war, als würden die peitschenden Schüsse auf der Lichtung in jedem Herzschlag widerhallen. Oben angekommen, gelang es ihr, sich weit genug hochzuziehen, um Halt zu finden und die Szene zu betrachten, die sich vor ihr abspielte. Drei der sechs Männer waren zu Boden gegangen, zwei weitere kauerten hinter einem dicken Baumstamm, während sie von zwei oder drei Unbekannten beschossen wurden, die sich im Schutz der Bäume ringsum postiert hatten. Doch wo sich der sechste Entführer aufhielt, konnte sie nicht ausmachen … ebenso fehlte jede Spur von ihrer Schwester.
„Dani!“
Der Ruf ließ sie nach rechts blicken, wo sie gerade noch sah, wie Stephanie von dem sechsten Entführer als menschlicher Schutzschild benutzt wurde, während dieser sich rückwärts laufend von der Lichtung entfernte und in den Wald zurückzog.
Dani stieß einen Fluch aus und begann sich aus dem Graben zu ziehen, um die Verfolgung aufzunehmen. Es kümmerte sie nicht, dass unverändert Schüsse fielen.
„Einer von ihnen entwischt uns!“
Justins Ausruf brachte Decker von den beiden Abtrünnigen ab, die das Feuer erwiderten, und lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Mann, der soeben in den Wald flüchtete und die jüngere Frau mit sich schleifte.
„Den übernehme ich“, rief Nicholas und war schon unterwegs, indem er die Deckung verließ und um die Lichtung herum im Schutz der Bäume geduckt in jene Richtung lief, in die der Abtrünnige sich zurückzog.
„Nein! Warte, Nicholas!“, brüllte Decker und machte instinktiv einen Satz nach vorn, um ihm zu folgen, hörte dann jedoch Justin etwas rufen und blieb stehen. Er drehte sich um, lief in die Richtung, in die der jüngere Jäger zeigte, und erblickte schließlich die ältere der beiden Frauen, die sich soeben bemühte, aus dem Graben zu klettern. Ihm war nicht entgangen, wie sie dort hineingefallen war, als der von Nicholas abgefeuerte Pfeil den Arm des Abtrünnigen getroffen hatte, der sie festhielt. Decker hatte befürchtet, sie wäre bei dem Sturz schwer verletzt worden oder sogar ums Leben gekommen, doch wie es nun aussah, hatte sie sich irgendwo festhalten können.
Noch während er zu ihr hinübersah, verlor die Frau offenbar den Halt und rutschte zurück in den Graben. Ihr verzweifelter Gesichtsausdruck und die Art, wie sie sich in der Erde festzukrallen versuchte, ließen ihn erkennen, dass sie wohl in den Tod stürzen würde, wenn es ihr nicht gelänge, sich festzuhalten.
Fluchend drehte er sich um und stürmte quer über die Lichtung zum Abgrund. Er rannte, so schnell er konnte, während ihm die Kugeln um die Ohren flogen. Zwar verfügten die Abtrünnigen nicht wie sie über mit Tranquilizer beschichtete Munition, doch er würde große Schmerzen haben und könnte schwere Verletzungen davontragen, sollte er getroffen werden. Im schlimmsten Fall bekäme er einen Treffer ins Herz ab, der ihn zu Boden schicken würde, unfähig, etwas dagegen zu unternehmen, dass diese Kerle ihn töteten.
Überrascht und sehr erleichtert erreichte Decker den Graben, ohne dass er getroffen worden war. Er bekam die Hand der Frau zu fassen, gerade, als sie endgültig den Halt verlor … und spürte, wie sich eine Kugel in seinen Rücken bohrte. Der Treffer war so heftig, dass er fast die Frau wieder losgelassen hätte und selbst den Abgrund hinuntergefallen wäre. Doch glücklicherweise konnte er sich mit seiner freien Hand noch rechtzeitig abstützen. Er machte einen Stemmschritt, um nicht weiter auf den Abgrund zuzurutschen, und stieß sich vom Untergrund ab, wobei er die Frau zu sich hochzog. Dann drehte er sich wieder zum Waldrand um. Hierbei wandte er mehr Kraft auf als beabsichtigt, sodass er der Frau nicht bloß über die Kante des Abgrunds half, damit sie in Sicherheit war, sondern sie einige Meter weit auf die Lichtung schleuderte.
Unvermittelt wurde er von einer weiteren Kugel getroffen, die unterhalb der Schulter in seine Brust eindrang. Der Schmerz bewirkte, dass er keine Luft mehr bekam. Es fühlte sich an, als hätte man ihm ein gezahntes Metallband um den Körper gelegt, das ruckartig zugezogen wurde. Er zwang sich, den Schmerz zu ignorieren, und hob die Hand, in welcher er die Pistole hielt. Während er sich aufrichtete, feuerte er blindlings in die Richtung, wo sich die beiden Abtrünnigen hinter dem Baumstamm verschanzt hatten. Die sterbliche Frau schob er dabei hinter sich, um sie vor möglichen Treffern zu bewahren. Gleichzeitig versuchte er, sich ein Bild von der Situation zu verschaffen. Beide Entführer waren inzwischen aus ihrer Deckung hervorgekommen. Während der eine auf ihn feuerte, nahm der andere Justin unter Beschuss, der von der gegenüberliegenden Seite der Lichtung aus auf ihn zugelaufen kam.
Decker blieb stehen und zielte auf den Mann, von dem er beschossen wurde. Er traf ihn genau in die Brust. Dann wartete der Jäger lange genug, um mitanzusehen, wie der Abtrünnige sich verdutzt an die Schusswunde griff und nach hinten wegkippte. Als Decker hiernach auch auf den zweiten Entführer schießen wollte, ging dieser bereits durch einen Treffer von Justin zu Boden.
Decker drehte sich zu der Frau um, die er aus dem Graben gerettet hatte, doch sie stand nicht mehr neben ihm, sondern eilte bereits Nicholas, dem letzten Abtrünnigen und ihrer Schwester hinterher. Er überließ es Justin, sich um die Männer auf der Lichtung zu kümmern, und verfolgte die Frau, um zugleich auch Nicholas einzuholen. Dabei orientierte er sich an den Geräuschen, die sie im Unterholz verursachte, bis er schließlich auf einen breiteren Trampelpfad gelangte, der zu der Stelle führte, an der er seinen SUV abgestellt hatte – allerdings war von dem nichts mehr zu sehen, und Nicholas’ Van war ebenfalls verschwunden.
Fluchend kniff Decker die Augen zu. Er hatte den Zündschlüssel stecken lassen, um keine Zeit zu verlieren, wenn sie Nicholas hätten verfolgen müssen. Und genau das hatte der Abtrünnige sich nun zunutze gemacht und seinen SUV gestohlen.
Wieder fluchte er und wandte sich zu der Frau um, die dort stand, wo sich vor einigen Minuten noch sein Wagen befunden hatte. Seit er aus dem Wald gekommen war, hatte sie ihm den Rücken zugewandt, nun drehte sie sich jedoch um. Sie war eine Frau von mittlerer Größe, hatte einen Körper mit sehr weiblichen Rundungen und blonde Haare, die in natürlichen Locken ihr Gesicht umrahmten, was Decker allerdings erst jetzt auffiel – ebenso wie die Tatsache, dass sie abrupt stehen blieb, als sie ihn bemerkte.
Sie ließ ihren Blick unstet zur Straße wandern, dann wieder zurück zu ihm, wobei ihre Miene von Sorge und Ungewissheit geprägt war. Die Sorge hatte eindeutig etwas mit der anderen Frau zu tun, die von dem sechsten Abtrünnigen verschleppt worden war. Die Ungewissheit dagegen galt wohl eher ihm, weil sie nicht einschätzen konnte, ob gerade Freund oder Feind vor ihr stand.
Er zögerte und spielte kurz mit dem Gedanken, ihr zu versichern, dass sie sich in Sicherheit befand, doch seine Brust und sein Rücken schmerzten von den Kugeln, die er abbekommen hatte, und er war einfach nicht in der Verfassung, sich nun auch noch mit einer zweifellos sehr aufgewühlten Frau zu befassen. Zudem hatte er dafür gar keine Zeit, weil er und Justin irgendwie das angerichtete Chaos beseitigen und dann nach Nicholas suchen mussten … wie sie es zuvor schon gemacht hatten, dachte er gereizt. Also drang er in ihren Verstand ein, um ihre Gedanken zu kontrollieren. Zumindest versuchte er es, aber zu seinem Erstaunen kam er nicht zu ihr durch.
Er sah sie sich genauer an. Diesmal fielen ihm ihre blauen Augen, ihr fast schon zu breiter Mund und die gerade, zierliche Nase auf. Auch wenn sie keine Schönheit im klassischen Sinne war, fügte sich aus diesen einzelnen Elementen ein attraktives Gesicht zusammen. Es war das Gesicht einer Frau, die er nicht durchdringen konnte. Er fragte sich, ob dies an der Aufregung lag und ihre Gedanken ein solches Chaos darstellten, dass es einem Unsterblichen unmöglich war, sie zu lesen. Oder gab es noch einen anderen Grund dafür, dass er nicht in ihren Verstand gelangte?
Wieder zögerte er, dann versuchte er es ein weiteres Mal, doch es war, als würde er gegen eine schwarze Wand anlaufen, die einfach nicht überwunden werden konnte.
„Wer sind Sie?“
Er warf ihr einen finsteren Blick zu, weil sie ihn in seiner Konzentration gestört hatte, doch sie reagierte mit ebenso finsterer Miene, was ihn so sehr überraschte, dass er auf ihre Frage antwortete. „Decker Argeneau.“ Sein Versprecher ließ ihn stutzen, und er korrigierte sich. „Pimms, wollte ich sagen.“
Den Namen Argeneau hatte er seit über einem Jahrhundert nicht mehr benutzt, weil er es nicht wollte. Er weckte bei anderen seiner Art große Anerkennung, doch es missfiel Decker, allein seines Namens wegen respektiert zu werden. Er wollte sich die Wertschätzung lieber durch seine eigene Leistung verdienen.
„Also gut, dann sind Sie Decker Argeneau oder Decker Pimms oder Decker Wer-auch-immer“, gab die Frau mürrisch zurück. „Aber auch wenn Sie mir jetzt Ihren Namen genannt haben, so verrät mir das noch immer nicht, wer Sie sind und warum ich vor Ihnen nicht auch schnellstens davonlaufen sollte, nicht wahr?“
„Sie befinden sich in Sicherheit.“ Da seine Worte sie nicht zu beruhigen schienen und sie nichts erwiderte, fügte er hinzu: „Wir haben Ihnen gerade das Leben gerettet, Lady. Sie sind in Sicherheit.“
Sie dachte über seine Worte nach. „Und was ist mit meiner Schwester Stephanie? Ihr Freund ist ihr und dem Entführer gefolgt. Wird er sie befreien?“, fragte sie energisch.
„Das weiß ich nicht“, gestand Decker ein. „Und er ist nicht mein Freund.“
„Sie sind doch zusammen auf der Lichtung aufgetaucht.“
„Nein, Justin und ich sind ihm nur gefolgt“, erklärte Decker und holte sein Handy aus der Tasche. Auf dem Display blinkten die Worte „Kein Netz“.
„Das funktioniert hier nicht“, ließ sie ihn wissen. „Jedenfalls hat meins keinen Empfang. Wo ist Ihr Wagen? Wir müssen nach meiner Schwester suchen.“
„Ich habe keinen“, murmelte Decker, da er keine Lust hatte zu erklären, dass er ihm gestohlen worden war. Dann ignorierte er sie und hielt sein Mobiltelefon hoch, während er sich im Kreis drehte, da er hoffte, doch noch Empfang zu bekommen. Als dies jedoch nichts half, klappte er das Handy zu und steckte es wieder ein. Schließlich wandte er sich wieder zu der Frau um, musste jedoch feststellen, dass die bereits auf dem Trampelpfad in Richtung Feldweg unterwegs war.
Gedankenverloren rieb er sich über die Brust und versuchte instinktiv noch einmal, die Kontrolle über ihren Verstand zu übernehmen, doch das war genauso wenig von Erfolg gekrönt wie zuvor. Fluchend gab er es auf und lief hinter ihr her, um sie am Arm zu greifen, damit sie stoppte. „Warten Sie.“
Die Blondine drehte sich zu ihm um und warf einen giftigen Blick auf seine Hand, mit der er sie festhielt.
Decker ignorierte ihre Reaktion. „Wo wollen Sie denn hin?“
„Ich will meine Schwester finden“, antwortete sie, riss sich von ihm los und machte sich wieder auf den Weg.
„Zu Fuß?“, rief er ihr hinterher und folgte ihr.
„Ja, und zwar bis ich irgendwo ein bewohntes Haus oder ein Cottage finde, wo ich mir einen Wagen ausleihen kann.“
„Niemand hier wird Ihnen einfach so sein Auto leihen“, versuchte Decker ihr klarzumachen. „Und Sie können sich nicht allein an die Verfolgung dieser Typen machen. Das sind keine normalen Schurken. Lassen Sie uns das machen, wir sind darauf spezialisiert.“
Sie hielt inne und blickte ihn fragend an. „Sind Sie ein Cop oder so was?“
„Eher so was“, antwortete er ausweichend, fasste sie abermals am Arm und zog sie mit sich in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Wortlos ging er darüber hinweg, dass sie ihn mit zusammengekniffenen Augen ansah und er sie mehr oder weniger hinter sich herschleifen musste.
„Sind Sie von der OPP?“
„Nein, wir sind nicht von der Ontario Provincial Police.“
„RCMP?“
„Mit der Royal Canadian Mounted Police haben wir auch nichts zu tun.“
Sie blieb stehen und rührte sich nicht mehr von der Stelle.
Seufzend drehte Decker sich um. „Hören Sie, wir sind in der Verbrechensbekämpfung aktiv, wir jagen die bösen Jungs. Es bringt nichts, wenn ich Ihnen den Namen meiner Organisation nenne. Der würde Ihnen sowieso nichts sagen. Der normale Bürger ist mit uns nicht vertraut. Aber Sie können mir glauben, dass Sie in Sicherheit sind.“
Auf seine Beteuerung hin machte sie große Augen. „Sie meinen so was wie den CSIS? Sind Sie eine Art Geheimagent?“
Decker zögerte. Es gefiel ihm nicht, sich als Mitglied des Canadian Security and Intelligence Service auszugeben, der das kanadische Gegenstück zum FBI darstellte, aber er hatte bereits bei allen anderen genannten Organisationen mit einem Nein geantwortet, und die Wahrheit konnte er ihr nicht sagen. Also murmelte er: „So was in der Art.“
Als sie gerade zur nächsten Frage ansetzen wollte, kam er ihr schnell zuvor. „Und wie heißen Sie?“
„Danielle McGill.“
„Und … Stephanie … ist Ihre Schwester?“
„Meine jüngere Schwester. Sie ist erst fünfzehn“, antwortete Danielle. Abermals bekam sie diesen besorgten Gesichtsausdruck und sah in Richtung des Feldwegs.
Ehe Decker eine weitere Frage stellen konnte, hörte er einen leisen Pfiff, mit dem Justin auf sich aufmerksam machte.
Der jüngere Unsterbliche blickte zu der Stelle, wo ihr Wagen gestanden hatte. „Du hast den Schlüssel im Zündschloss stecken lassen“, sagte er. Aber es war kein Vorwurf, sondern eher feststellend gemeint. Justin wusste genau, warum Decker es so gehandhabt hatte, und war damit einverstanden gewesen. Zum damaligen Zeitpunkt hatte noch keiner von ihnen etwas von der Existenz der Bande von Abtrünnigen gewusst, und es war nicht anzunehmen gewesen, dass jemand ihren Wagen stehlen würde.
Ein erstickter Laut von Danielle veranlasste Decker dazu, nach ihr zu sehen. Doch als er sich umdrehte, machte sie sich gerade wieder entrüstet auf den Weg. Ein wenig aufgebracht lief er hinter ihr her und packte sie abermals am Arm. „Augenblick mal. Ich dachte, wir waren uns einig darüber, dass Sie uns das überlassen.“
„Ich habe mich mit nichts einverstanden erklärt“, machte sie ihm klar. „Und ehrlich gesagt möchte ich das Leben meiner Schwester nicht irgendeinem Austin-Powers-Verschnitt anvertrauen, der sich nicht mal seinen angeblichen Namen merken kann und außerdem einfach die Zündschlüssel stecken lässt, damit sich die bösen Jungs praktischerweise leichter aus dem Staub machen können.“ Sie wandte sich wieder von ihm ab und folgte dem Trampelpfad.
Decker schnaubte vor Wut. „Justin, übernimm die Kontrolle über diese Frau und bring sie zu uns zurück.“
Justin nickte und richtete seinen Blick auf Danielle, stutzte dann jedoch und sah Decker an. „Warum tust du es nicht?“
„Weil ich es nicht kann“, zischte Decker ihm zu.
Der junge Jäger setzte eine verdutzte Miene auf. „Du kannst nicht?“
„Sie ist aufgeregt“, murmelte Decker. „Versuch einfach mal, ob es bei dir klappt.“
„Oh Mann!“ Justin schüttelte den Kopf. „Erst Mortimer und jetzt du? Ihr fallt ja um wie die Fliegen.“
„Lass Danielle nur umkehren, okay?“, forderte sein Partner ihn frustriert auf.
„Sie nennt sich lieber Dani.“
„Bricker“, knurrte Decker.
„Schon gut, schon gut. Jetzt mach dir nicht gleich ins Hemd.“ Justin ging an ihm vorbei. „Ich meine ja nur …“
Decker presste die Lippen aufeinander. Auf einmal verstand er ganz genau, was sein Partner meinte. Wenn Justin wusste, dass sie lieber Dani genannt werden wollte, hieß das, dass er sie durchdringen konnte. Sie war also nicht bloß zu aufgewühlt, um gelesen zu werden. Sie war …
… seine Lebensgefährtin.
Er hob den Kopf und sah zum Himmel, da er erwartete, dass nun irgendetwas geschehen musste. Was allerdings passieren sollte, wusste er selbst nicht. Vielleicht würden die Sterne über ihm zu einem strahlenden Feuerwerk werden, oder der Himmel täte sich auf, damit Regen einsetzte und Donnerschläge diesen besonderen Moment untermalten. Aber nichts von allem passierte. Der wichtigste Augenblick in seinem Leben wurde nicht von Pauken und Trompeten begleitet, wie er es immer erwartet hatte. Stattdessen wehte der Wind durch die Bäume und ließ das Laub rascheln.
Er schüttelte den Kopf und zwang sich dazu, sich wieder voll und ganz auf die Aufgabe zu konzentrieren, die vor ihnen lag. Sie saßen mitten im Nichts in einem Wald fest, auf dessen Lichtung ein Haufen gefährlicher Abtrünniger lag, die zwar außer Gefecht gesetzt, aber nicht tot waren. Sie benötigten dringend Verstärkung, um diese Bescherung zu beseitigen, bevor ein nichts ahnender Sterblicher vorbeikam. Zudem mussten sie ihre Suche nach Nicholas wiederaufnehmen … und nach dem anderen Abtrünnigen, der die junge Frau entführt hatte.
Decker war sich nicht sicher, ob beide Ziele in die gleiche Richtung führen würden. Es war durchaus möglich, dass Nicholas zu der Bande von Abtrünnigen gehörte, die soeben deutlich von ihnen dezimiert worden war. Oder aber er hatte Decker und Justin hergeführt, weil er wusste, dass sie ihm auf den Fersen waren, und hatte gehofft, ihnen entwischen zu können, während sie mit den anderen Kerlen beschäftigt waren. Immerhin war Nicholas sehr schnell vom Schauplatz des Geschehens verschwunden, als sich die erstbeste Gelegenheit dazu geboten hatte.
Aber selbst wenn sie absichtlich hergeführt worden waren, damit sie dieses Nest aushoben, hieß das nicht, dass Nicholas jetzt immer noch den Abtrünnigen verfolgte. Er war ein gesuchter Mann, und es wäre klüger von ihm, die Suche nach der entführten Frau Decker und seinen Kollegen zu überlassen, während er sich so wie bereits fünfzig Jahre zuvor wieder in Luft auflöste.
Sollte dies hier der Fall sein, hatten sie seine Fährte wahrscheinlich bereits verloren und nur noch die Chance, dass Nicholas sein Fehlverhalten einsah und tatsächlich den anderen Abtrünnigen jagte, um die junge Frau zu befreien. Es war die einzige Möglichkeit, doch noch zu versuchen, ihn zu fassen … Aber darauf wollte Decker gar nicht erst hoffen.
Erneut rieb er über seine Brust, wobei ihm wieder einfiel, dass er zu allem Überfluss ja auch noch zwei Schusswunden erlitten hatte, mit deren Heilung sein Körper nun beschäftigt war … und ihr gesamter Blutvorrat befand sich zusammen mit allen Waffen im SUV. Na großartig, dachte Decker frustriert. Dies war wohl der denkbar ungünstigste Zeitpunkt, um seiner Lebensgefährtin zu begegnen. Er ließ seinen Blick zu der fraglichen Frau schweifen – Dani.
Justin hatte es geschafft, sie zu stoppen und umkehren zu lassen. Sie kam nun zu ihnen zurück, ihr Körper wirkte entspannt, das Gesicht war ausdruckslos.
„Willst du mir nicht irgendwas sagen?“, fragte Justin mit ironischem Tonfall, während sie der Frau dabei zusahen, wie sie langsam näher kam.
„Was? Willst du ein Dankeschön hören, weil du sie zurückgeholt hast?“, gab Decker im gleichen Tonfall zurück.
„Nein, das meine ich nicht.“
„Und was meinst du dann?“
Der jüngere Unsterbliche verdrehte die Augen. „Ach, ich weiß nicht so genau. Aber ich dachte, du würdest dich vielleicht bei mir entschuldigen wollen, nachdem ihr zwei mir so zugesetzt habt, nur weil ich zur Tarnung erzählt habe, dass wir in einer Band spielen. Mal ehrlich … Spion im Auftrag der Regierung?“
„Ich habe nie …“ Decker hielt inne, als er Justins spöttisches Grinsen bemerkte. Er verfluchte sich dafür, dass er dem Jungen erlaubt hatte, sich über ihn lustig zu machen. „Hol sie einfach zurück, und dann komm mit“, fuhr er ihn an.
„Jawohl, Sir, Mr Bond, Sir“, antwortete Justin fröhlich.
„Klugscheißer“, murmelte Decker und wandte sich von ihm ab.
2