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Während eines Jagdausfluges wird die junge Mia von einem Tier angefallen. Von einem Tag auf den anderen wird ihr Leben vollkommen auf den Kopf gestellt. Nichts ist mehr so wie es scheint. Gerettet von einem Mann, dessen Stimme allein ausreicht um ihr eine Gänsehaut zu bescheren, befindet sie sich schon bald auf der Flucht vor einem Volk, von dessen Existenz sie nicht einmal wusste. Wem kann sie vertrauen? Und was hat es mit ihrem Retter auf sich der ein doppeltes Spiel mit ihr zu treiben scheint? Hineingestoßen in eine Welt, die ihr fremd ist muss Mia schnell lernen zu verstehen was sie nicht kennt, ansonsten erwartet sie Schlimmeres als der Tod.
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Seitenzahl: 827
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Es schüttete, schon seit Tagen. Matschiger und aufgeweichter Boden waren da keine Besonderheit.
Die letzten Wochen schienen in einem immer gleich bleibenden Trott vorbeigezogen zu sein. Aber heute war etwas anders. Es regnete in einem fort, die Wachen standen auf ihren Plätzen, nichts gab einen Hinweis auf die bevorstehenden Ereignisse.
Doch dieser Tag sollte alles verändern, an seinem Ende würde nichts mehr so sein, wie es war, dafür würde er sorgen.
Wie selbstverständlich schritt er über den Hof der Feste.
Keiner, an dem er vorbeiging, versuchte, ihn aufzuhalten, ignorant wie sie waren, konnten sie die Wahrheit nicht erkennen. Elende Menschen, dachte er bei sich. Als Zeichen des Respekts neigten sogar alle den Kopf. Noch immer betrachteten sie ihn als einen von ihnen. Nun, das wird sich bald ändern. Ein vorfreudiges Grinsen stahl sich auf seine blassen Lippen. Bald würde Blut fließen!
Während er seine übliche Runde tat, gab er einigen der Wachen ein unauffälliges Zeichen. Seine Leute; alle sehr sorgfältig ausgewählt und kein einziger Mensch unter ihnen. Bald würde er seinen Plan in die Tat umsetzen. Es hatte einige Jahre an Vorbereitung bedurft, aber heute war es endlich soweit. Der Großkaiser würde fallen!
„Heerführer.“ Arvit, einer seiner treusten und fähigsten Männer, trat neben ihn. „Die Männer sind bereit.“
„Gut. Sag ihnen, sie müssen sich noch etwas gedulden. Sorge dafür, dass alle es mitbekommen. Wenn auch nur einer seinen Stahl zu früh in maretisches Fleisch stößt, wird dich das den Kopf kosten! Wartet auf mein Zeichen!“, ermahnte er ihn, bevor er weiter zu den Stallungen schritt. Arvit nickte und zog sich zurück, um die letzten Vorbereitungen zu treffen. Das war gut. Waren sie erst einmal bei Verat, musste es schnell gehen. Ihnen durfte kein Fehler unterlaufen, jeder Schritt, den sie unternahmen, musste zu dem vorherigen passen. Sie durften nicht zögern, die übrig gebliebenen menschlichen Wachen auszuschalten. Dann war der Grundstein gelegt. Sobald die Burg vollständig in ihrem Besitz war, würde es vorbei sein.
Die Stallungen waren verlassen. Einzig ein schwacher, leicht süßlicher Duft verriet, dass etwas nicht stimmte. Für einen Moment hielt der Heerführer inne, bis hierhin war alles wie geplant verlaufen. Doch dann vernahm er aus einer der Boxen ein für ein Pferd ungewöhnlich hohes Wimmern. Und schlagartig war es vorbei mit seiner Zufriedenheit. Die Box beherbergte einen kleinen Wolf, fast noch ein Welpe. Ängstlich zusammengekauert lag er im Stroh und jaulte leise vor sich hin.
„Was machst du hier?! Hat man dir nicht befohlen, die Waffenkammer aufzuräumen?!“, schalt er ihn sofort. Den Jungen konnte er nun wirklich nicht gebrauchen. „Und dann noch in dieser Gestalt. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass niemand erfahren darf, was wir sind? Törichter Bengel, was, wenn jemand hier gewesen wäre?!“ Das war schon das dritte Mal, dass er ihn in dieser Gestalt erwischte. Der Junge konnte von Glück reden, dass Verat bis jetzt noch nicht hinter seine wahre Natur gekommen war. Dann wäre sein Leben schon längst verwirkt. Eigentlich war dem Heerführer das Schicksal dieses kleinen Tunichtguts egal, aber der Junge war stark und könnte unter der richtigen Hand noch nützlich werden.
Der Körper des Wolfes begann zu zittern, während er sich langsam zu einer menschlichen Form zurückbildete. Der Junge quälte sich, das wusste der Krieger, dennoch schrie er nicht. Es war ihm nicht erlaubt zu schreien. Sollte er es dennoch tun, bekäme er die Peitsche zu spüren.
„Ich habe die Schmerzen nicht mehr ausgehalten“, keuchte der Junge unter dem strengen Blick seines Herrn, als er in dem Körper eines ungefähr Siebenjährigen steckte. „Du weißt, was das heißt. Schwäche wird bestraft.“ „Bitte, Herr, nicht. Nicht dieses Mal“, flehte er mit einer hohen Stimme, wie nur Kinder sie haben konnten. Er schüttelte den Kopf. „Geh jetzt und tu, was man dir aufgetragen hat. Deine Strafe werde ich mir noch überlegen.“ Der kleine Knabe nahm schnell seine Kleidung aus einer Ecke der Box und verschwand nach draußen. In ihm war viel zu viel Angst, um sich vor den Augen seines Herrn anzukleiden.
Sobald der Junge verschwunden war, ging er zu einer anderen leeren Box weiter hinten, die sein eigentliches Ziel gewesen war. Dort wurde er bereits erwartet. „Da bist du ja endlich. Hast du eine Ahnung davon, wie riskant es für mich ist, hier zu sein?!“ Der hochgewachsene Mann mit dem wie von Platten bedeckten kahlen Schädel und den gelben Augen sah ihn ungeduldig an.
„Wir sind soweit“, antwortete er nur, ohne jegliche Emotion in der Stimme.
„Das wurde auch Zeit. Lass uns endlich beginnen.“ Ohne eine Antwort zu geben trat er an dem hageren Riesen vorbei. Durch mehrmaliges Drücken dreier loser Steine in der Wand, tat sich seitlich eine kleine Nische auf. Auf den ersten Blick viel zu klein, um überhaupt jemandem den Durchgang zu ermöglichen, geschweige denn diesem Hünen.
„Der wird dich direkt in den Thronsaal führen.“ Der große Mann nickte.
„Heute Nacht wird der Großkaiser fallen!“
Mit einem triumphierenden Lächeln verschwand der Riese in der Dunkelheit.
Gerade hatte er die Nische wieder verschlossen, als jemand hinter ihm auftauchte. Unwillkürlich fuhr seine Hand zum Knauf seiner von Menschen gemachten Waffe.
„Heerführer? Der König verlangt nach Euch.“ Ein Diener stand am Eingang der Sattelkammer. Die Spannung in seinem Körper ließ nach. Ob er gesehen hat, was gerade passiert ist?
Vertrauen war für die Schwachen, Vergewisserung die Tugend der Starken.
Zaghaft lächelte der kleine Mann ihm zu, als er an ihm vorbeilief und senkte gutgläubig das Haupt, wie so viele andere. Ohne den kleinsten Hauch von Mitgefühl oder Gnade rammte der Heerführer ihm einen Dolch in den Hals. Würgend, mit Unglauben im Blick sank der Bedienstete zu Boden, wo er reglos liegen blieb. Es war immer besser, auf Nummer sicher zu gehen.
Der Weg zum Thronsaal war lang. Verat liebte es, seine Macht zu demonstrieren, indem er jeden zwang, den schier unendlichen Weg zu ihm zurückzulegen. Aber dem Heerführer machte das nichts aus, heute würde er zum letzten Mal im Auftrag des Regenten durch diesen Gang schreiten. Im Gegenteil, er nutzte die Zeit, um seinen Plan noch einmal Schritt für Schritt durchzugehen, bis zwei Wachen ihm die großen Flügeltüren am Ende des Ganges öffneten. Sobald er eintrat, waren seine Gedanken nur auf eins gerichtet: Verats Tod.
Die Größe des Saals war enorm, einem Herrscher über vier Länder mehr als angemessen und bis auf zwei Throne auf einem Podest vollkommen leer. Eine Vielzahl von Wachen füllte diese Leere auf, doch obwohl es nicht wenige waren, fühlte man sich in dem großen Raum noch immer wie das kleine unwürdige Insekt, das man in den Augen des Großkaisers war.
Ohne den Beschützern der Krone Beachtung zu zollen trat er auf Verat zu. Die Gewissheit, dass seine Leute sich ihrer annehmen würden, wenn die Zeit gekommen war, reichte ihm vollkommen aus.
„Ihr wolltet mich sehen.“ Nur mit äußerstem Widerwillen verneigte er sich. Nur noch dieses eine Mal.
Mühevoll zwang er sich zu einer demütigen Miene.
„Ich habe gehört, in einigen Teilen meines Landes gibt es Unruhen.“
Der hochmütige Blick des Großkaisers machte ihn wütend, am liebsten hätte er ihm auf der Stelle sein Schwert in die Rippen gestoßen. Schon seit Jahren, seit dem Tag, an dem er in Verats Dienste getreten war, träumte er davon. Geduld war keine der Tugenden, die die Natur ihm geschenkt hatte, einzig der brennende Glaube an seine bevorstehende Rache ließ das Schwert in seiner Scheide verharren. Nur noch ein paar quälende Minuten.
Beiläufig kratzte er sich am Kinn. Das war das Zeichen für einen seiner Anhänger, der sich in einer Nische versteckte. Er würde zu Arvit gehen und ihm berichten, dass alles bereit war.
„Das wurde mir berichtet“, antwortete er indessen ruhig. Er hatte diese Unruhen selbst angezettelt.
„Warum wurde noch nichts dagegen unternommen?“
In diesem Moment betrat die Kaiserin den Raum durch eine Seitentür. Verats sonst so verbissenes Gesicht hellte sich bei ihrem Anblick schlagartig auf. Seine blauen Augen
leuchteten. Sie lächelte ihrem Mann zu. Sanft und weich waren ihre Gesichtszüge. Für einen kurzen Moment verlor der Heerführer sich darin, wurde in längst vergessene Zeiten zurückgeschickt … dann fiel ihr Blick auf ihn.
Ihren Ausdruck als entsetzt zu beschreiben, wäre eine Untertreibung. Über die letzten Jahre hatte er sehr gut aufgepasst, dass sie ihn nicht zu Gesicht bekam.
Er zeigte ihr gegenüber hingegen keine Regung. Mit ihr hatte er noch eine ganze andere Rechnung zu begleichen. „Was macht er hier?!“ Panik schwang in ihrer Stimme mit, als sie Verat verzweifelt ansah. Im Gegensatz zu ihrem ignoranten Mann wusste sie sehr genau, zu was der Heerführer fähig war.
„Das ist mein erster Heerführer.“ Er ist so ein Schwächling, hört auf eine Frau.
„Seit wann?“ „Es gibt wirklich keinen Grund zur ...“ Krachend flog die große Tür am anderen Ende des Saals auf. An die zwanzig Männer standen in der Öffnung, die von seinem Standpunkt aus aussah wie der klaffende Schlund der Hölle.
Verats Garde stürzte sich ohne Zögern auf sie. Seine Männer, die dank ihrer Fähigkeiten den Unwissenden vermutlich wirklich wie wahrhaftige Dämonen vorkommen mochten, warfen sich ebenfalls mit wilden Rufen und erhobenen Waffen in den Kampf.
In dem hohen Raum brach eine ohrenbetäubende Geräuschkulisse los. Schwerter schlugen mit einem klirrenden Geräusch gegeneinander, Äxte wurden geschwungen, und laute Rufe hallten von der hohen Decke wider. Und in all diesem Durcheinander ging er, ohne dass jemand etwas bemerkte, auf den Kaiser zu. Gemächlich zog er sein Schwert aus der Scheide. Er würde ihn auf Menschen-Art töten. Etwas anderes verdiente er nicht. „Was tust du ...“
„Halt die Klappe, die Zeit, in der du Befehle erteilt hast, ist vorbei.“
„Nein!“, schrie die Kaiserin. Ihr schönes Gesicht mit den einzigartigen hellbraunen Augen war schmerzverzerrt. Einzelne Strähnen ihrer wilden schwarzen Locken hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und hingen ihr nun wirr ins Gesicht. Der Heerführer wusste, dass sie versuchte, sich zu verwandeln, aber ihr Körper reagierte nicht. Hinter dem Thron trat der Riese aus der Sattelkammer hervor, er war Andragon, der König von Rian und Herr über alle Inflectere. Einzig sein Wille untersagte ihr die Verwandlung. Angesichts ihrer aussichtslosen Lage und seinem kurz bevorstehenden Triumph, dem Beginn seiner lange herbeigesehnten Rache, verzog sich der Mund des Heerführers zu einem kalten, grausamen Lächeln. Verat erhob sich. In seiner Hand war nichts, mit dem er sich hätte verteidigen können. Er wusste, dass er verloren hatte. Es stand in seinen Augen.
Das Schwert des Heerführers schoss vor und bohrte sich in Verats Unterleib. Er genoss es, als das Blut des Mannes, der ihm alles genommen hatte, langsam seine Klinge hinunterzulaufen begann. Mit einem entsetzten Keuchen rannte die Kaiserin aus dem Raum. Mit einem Blick aus seinen verschiedenfarbigen Augen lähmte er sie. Aber sie schüttelte seinen Einfluss ab und rannte weiter. Verat stöhnte unter ihm. Das Schwert noch immer im Leib. Sollte sie rennen. Sie würde sowieso nicht weit kommen. Zuerst würde er sich um den Schwächling vor ihm kümmern. Dann würde sie bekommen, was sie verdiente.
„Mia!“, rief ihre Mutter. „Mia, wo bist du denn schon wieder?“ Genervt verdrehte Mia die Augen und sah von ihrem Buch auf. Der schrille Ton in der Stimme der Frau, die ihr das Leben geschenkt hatte, verriet, dass sie etwas von ihr wollte. Widerwillig schlug Mia das Buch zu und lief die Treppe hinunter. Es waren doch nur noch fünf Kapitel. Fünf! Und dann würde sie endlich wissen, wie alles ausging. Und genau deswegen hatte sie noch weniger Lust als sonst, wieder einmal irgendetwas Belangloses für ihre Mutter zu erledigen. Ihr Leben war so langweilig und eintönig, ganz anders als in den Geschichten, für die sie leider viel zu wenig Zeit hatte. Sie war kaum je weiter als bis zu dem winzigen Dorf inmitten einer gerodeten Waldfläche gekommen, zu dessen Gemeinde ihr kleiner Hof gehörte. Dabei versprachen ihre Bücher ihr so viel mehr von der Welt.
Enjan lag wie viele Dörfer in Mared inmitten des Ran Waldes. Schon ihre Vorfahren hatten Flächen vom Unterholz befreit, um Siedlungen errichten zu können. Je nach Ortschaft fielen diese Flächen größer oder kleiner aus. Enjan besaß weite Wiesen und Felder, sodass man den dunklen Wald oft gar nicht sah, wohingegen andere Dörfer beinahe schon zwischen den Bäumen errichtet worden waren. Aber das war die Ausnahme, viele mieden den Wald, was dazu führte, dass die meisten Gemeinden unter sich blieben.
„Kannst du nicht kommen, wenn ich dich rufe?“ „Ich bin ja jetzt hier“, murrte Mia zurück, was ihr einen langen Blick ihrer Mutter einbrachte. „Wir haben kein Fleisch mehr. Dein Vater möchte, dass du ins Dorf reitest und welches holst.“ „Wenn ich jagen gehen würde, könnten wir das Geld sparen.“ Ihnen ging es zwar nicht unbedingt schlecht, aber man konnte nie wissen. Zudem wollte sie auf die Jagd.
„Auf keinen Fall“, kam die erwartete Antwort. „Es wird bald dunkel.“ Natürlich … Die Sonne stand noch hoch, es würde vermutlich erst in zwei, drei Stunden anfangen zu dämmern. Aber da waren ihre Eltern sehr eigen. Nachts durfte sie nicht nach draußen, niemals und unter keinen Umständen. Früher dachte sie, das käme von der Nähe zum Wald, grenzte er doch beinahe an den heiligen Gemüsegarten ihrer Mutter, aber heute war sie sich da nicht mehr so sicher. „Gut, dann gehe ich besser gleich, damit ich rechtzeitig zurück bin.“ Mias Stimme tropfte vor Sarkasmus. Ihre Mutter sollte ruhig wissen, was sie von ihrer Einstellung hielt, nämlich absolut gar nichts.
In jedem Schritt die Unlust und Gereiztheit eines bockigen Kleinkindes lief sie zum Schuppen, um ihre pechschwarze Stute Sunna zu holen. Wie immer stand das Tier nur teilnahmslos da und schien von dem, was um es herum geschah, nichts mitzubekommen. Mia war so daran gewöhnt, dass sie es gar nicht mehr bewusst wahrnahm, auch wenn sie sich manchmal fragte, ob das Pferd überhaupt so etwas wie eine Persönlichkeit besaß. Oft schien es einfach zu funktionieren, zumindest, bis Mia im Sattel saß, dann erwachte das Tier aus seiner Trance. „Wir machen einen Ausflug“, sagte sie laut zu der Stute, während sie die weiße Mähne entwirrte. Mia wusste, dass ihre Mutter zuhörte. „Nach Enjan. Wie immer.“ Der genervte Unterton dabei war absichtlich gewählt. In einer direkten Konversation würde sie ihren Unmut nie so deutlich machen können wie jetzt.
Auf dem Hof saß sie auf und trieb Sunna an. Jetzt war die Stute völlig lebendig und ausgelassen. Voller Freude preschte sie vom Hof. „Nicht so schnell!“, hörte sie ihre Mutter noch rufen, aber sie wurde ignoriert. Das Gefühl der Freiheit war zu schön, um es jetzt schon aufzugeben. Ausgelassen galoppierten sie den Hügel hinauf, hinter dem eine große Wiese lag. Wenn man weiter in diese Richtung ritt, erreichte man Enjan nach einer halben Stunde. Aber das kleine Zwanzig-Seelen-Dorf war für heute nicht ihr Ziel. Mia hatte sich fest vorgenommen, das Fleisch selbst zu erlegen, ob es ihrer Mutter nun gefiel oder nicht. Noch bevor Mia ihr Pferd zügeln konnte, blieb Sunna unter einer großen Eiche neben einem kleinen Fluss schon von selbst stehen. Eine weitere Eigenart der Stute, sie schien immer schon vorher zu wissen, was man von ihr wollte. Mit einiger Anstrengung stellte Mia sich auf Sunnas Rücken, bemüht darum, das Gleichgewicht zu halten, während sie in das Astwerk des Baumes griff. Dabei scheuchte sie ein Eichhörnchen auf. Das kleine Tier krabbelte quiekend an ihr vorbei, um auf einen höheren Ast zu springen. Von dem plötzlichen Geräusch erschreckt, stieg Sunna. Mia griff schnell nach einem Ast, um Halt zu finden, doch zu ihrem Pech war er lose, und so konnte sie ihrem Schicksal nicht entgehen und knallte schließlich schmerzhaft zu Boden. „Sunna!“, fuhr sie das Pferd an, das sie nur unschuldig ansah. Mit einem Fluch rappelte sich Mia hoch und rieb sich ihren schmerzenden Po. „Musste das sein?“ Natürlich erhielt sie keine Antwort. Aber zumindest hatte sie, wonach sie gesucht hatte. Der Ast, der ihr so schändlich den Dienst versagt hatte, lag noch immer in ihrer Hand, allerdings handelte es sich bei ihm weniger um ein Stück des Baumes als um einen Bogen, gestohlen aus dem kleinen Waffenarsenal ihres Vaters. Bis jetzt war sein Verschwinden noch nicht entdeckt worden, aber das konnte sich sehr bald ändern. Die Gelegenheit heute war einfach perfekt, und Mia hatte vor, sie beim Schopf zu packen. Sobald sie den Köcher ebenfalls aus seinem Versteck geholt hatte, schwang sie sich zurück in den Sattel und ritt in den verbotenen Wald.
„Mist! Schon wieder daneben!“ Das war bereits ihr sechster Versuch. Aber immerhin hatte der Pfeil das Reh dieses Mal nur knapp verfehlt. Sie war nicht geübt im Umgang mit der Schusswaffe. Ihr Vater hatte ihr die Anfänge erklärt, aber dann war ihre Mutter eingeschritten, um dem Ganzen Einhalt zu gebieten. Allmählich begann es zu dämmern, und Mia musste sich wohl oder übel eingestehen, dass sie sich zu viel vorgenommen hatte. Auf ein lebendes Ziel zu schießen war doch schwerer, als sie angenommen hatte.
„Lass uns zurückreiten.“ Sie zügelte Sunna und sah sich um. Nichts, das ihr einen Anhaltspunkt geben konnte, wo sie sich befand. Mia hatte sich, vom Hochgefühl der Jagd beflügelt, immer weiter in den Wald hineingewagt, und so wie es jetzt aussah, hatte sie sich verlaufen. War sie von hier gekommen? Oder doch von dort? Unschlüssig sah sie von links nach rechts. Letztlich ließ sie die Zügel locker und vertraute darauf, dass die Stute den Weg nach Hause finden würde.
Als es schließlich dunkel war, befand sie sich immer noch im Wald. Und wurde das flaue Gefühl in ihrem Magen einfach nicht los. Man erzählte sich die verrücktesten Geschichten über den Ran Wald.
Seltsame Kreaturen und Monster sollten dort ihr Unwesen treiben, vor allem in der Nacht, und sich jeden Menschen greifen, der so dumm war, sich um diese Zeit in den Wald zu wagen. Womit im Moment wohl sie gemeint war. Ihre Mutter hatte ihr immer Schauermärchen erzählt, wenn sie früher nachts hinaus wollte, um zu spielen. Damals hatte Mia ihr nie so recht geglaubt, zumindest als sie älter wurde, aber nun, da sie im Dunkeln herumirrte, kamen ihr all die schrecklichen Kreaturen in den Sinn, die sie sich als kleines Mädchen bei den Geschichten ausgemalt hatte. Ihr Magen zog sich zusammen, als es im Gebüsch neben ihr raschelte. Krampfhaft versuchte sie, etwas zu erkennen, aber das Geäst am Boden war zu dicht und das Mondlicht zu schwach. Befangen ritt sie weiter und streichelte ihrer Stute dabei beruhigend über den Hals, obwohl das Tier ganz ruhig war. Es war eher ein kläglicher Versuch, sich selbst zu beruhigen. Da draußen ist nichts. Nichts, was mir gefährlich werden kann, sagte sie wie ein Mantra vor sich her. Ein weiteres Rascheln erklang von der anderen Seite, dann knackte etwas hinter ihr. Erschrocken sah Mia sich um. Nichts, nur der leere Wald, erhellt vom Licht des fast vollen Mondes. Sunna scheute, als vor ihr ein Ast herunterfiel. Adrenalin schoss durch Mias Körper, als das Tier unter ihr plötzlich bockte. Die Stute beruhigte sich schnell wieder, aber gerade weil Mia nicht erkennen konnte, was den Ast gelöst hatte, verstärkte sich ihr Unbehagen.
Sie schrie auf. Etwas hatte ihre Wange gestreift. Das beklemmende Gefühl wich purer Panik. Am liebsten wäre sie davongeprescht, aber sie fürchtete, dass Sunna sich dabei aufgrund des unebenen Bodens verletzen könnte.
Sie spürte plötzlich, wie sich Finger um ihren Hals schlossen, das Ganze war aber so schnell wieder vorbei, dass sie zu der Überzeugung gelangte, ihr Verstand hatte ihr einen Streich gespielt.
Aber das reichte, um all ihre Zweifel zu zerstreuen. Sie gab Sunna die Sporen. Die Stute schien dem nur zu gerne nachzukommen. Zu ihrem Leidwesen kamen sie nicht so schnell voran, wie ihr in Panik verfallener Verstand wollte. Der Boden war zu lose, und die Bäume standen zu dicht, um ein schnelleres Vorankommen zu ermöglichen. In nicht allzu weiter Ferne tauchten zwei glimmend rote Punkte auf, die mit erschreckender Geschwindigkeit auf sie zukamen! Augenblicklich zügelte Mia Sunna, um dem, was es auch war, zu entgehen, aber es war bereits zu spät. Ein gigantischer Schemen schälte sich aus den Schatten. Groß wie ein Pferd und bullig wie ein Stier. Gebannt starrte Mia auf den Umriss, der unaufhaltsam näher rückte. Erst als der Schemen ein düsteres, wildes Knurren von sich gab, erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Wie besessen zerrte sie an den Zügeln, in dem aussichtslosen Versuch, ihre Stute herumzureißen und die Flucht zu ergreifen. Ihr Verstand vermochte es nicht mehr, logische oder sinnvolle Entscheidungen zu fällen. In ihr schrie alles nur: Flucht! Und dann, bevor Sunna auch nur einen Schritt hätte machen können, starrte dieses Etwas Mia in die Augen. Es waren groteske Augen: reptilienartig geschlitzte Pupillen, die starr auf sie gerichtet waren, umrahmt von einem leuchtenden See aus Blut. In ihnen wohnte genug Intelligenz, um einen kalten Schauer über Mias Rücken zu jagen. Der direkte Blick machte Mia mehr Angst als der gewaltige Kiefer, gespickt mit dolchähnlichen Zähnen, der nur wenige Zentimeter von ihr entfernt war. Bestimmt waren damit schon mehr als einmal Knochen zu Staub zermalmt worden. Mia wollte schreien, fliehen, irgendetwas tun, nur damit sie nicht länger in diese beunruhigenden Augen starren musste. Keiner ihrer Muskeln reagierte auf ihre Befehle. Sie blieb, wo sie war. Direkt vor dem Schlund der Bestie.
Unter ihr hingegen zeigte Sunna nicht die geringsten Anzeichen von Furcht, obwohl das Vieh ihr seinen keuchenden Atem direkt ins Gesicht blies. Die unpassende Ruhe des Pferdes war schließlich zu viel für Mias Verstand. Wie eine Kerze im Wind ging er einfach aus und ließ Mia mit ihren Instinkten allein. Und die rieten ihr nur eins: Laufen!
Unfähig, sich dem niederen Drang nach Leben zu widersetzen, sprang sie von Sunnas Rücken und versuchte, dem Monster zu Fuß zu entkommen. Wäre sie nicht so blind vor Angst gewesen, hätte sie erkannt, dass es aussichtslos war. Hinter ihr erklangen die schweren, gedämpften Schritte der Bestie, als sie ihr nachsetzte. Vor ihr breitete sich der dunkle, in silbriges Mondlicht getauchte Wald aus. Bäume ragten wie unheilvolle Riesen in den Himmel, Büsche wucherten überall wie wildes Unkraut, aber nichts davon würde ihr helfen, am Leben zu bleiben. Ihre Flucht wurde durch sie sogar noch erschwert, dennoch konnte sie nicht aufgeben. So lange ihre Beine sie trugen, würde sie weiter rennen. Ein Umstand, der von ihrem Verfolger in weniger als einem Herzschlag zunichte gemacht wurde. Das Biest sprang sie von hinten an und riss sie zu Boden. Sein massiger Körper presste ihr die Luft aus den Lungen, Steine bohrten sich wie Nadeln in ihre Haut. Doch nichts davon war von Bedeutung, als das Monster seine Zähne in ihrem Bein versenkte. Aus ihrer Kehle brach ein schriller Schrei hervor. Wie ein grausamer Abschiedsgruß hallte er durch den Wald.
Die Reißzähne drangen tiefer, während ein ziehendes Kribbeln sich um die Wunde herum ausbreitete. Schmerzhaft bahnte es sich seinen Weg durch ihr Blutsystem. Wie Säure brannte es in ihren Adern. Als es ihr Gehirn erreichte, wurde alles um sie herum schwarz.
Bleierner Nebel lag auf ihr und ließ nichts durchsickern als Geborgenheit und Ruhe. Nur sehr langsam kehrten ihre Sinne zurück. Ihr Körper fühlte sich an, als hätte man ihn mehrfach mit einem Dreschflegel bearbeitet, aber sie konnte sich nicht erinnern, weshalb. War sie gestürzt? Oder ... Die Bestie, durchzuckte es ihre Gedanken. Ruckartig richtete sie ihren Oberkörper auf. Der protestierte schmerzhaft gegen die abrupte Bewegung, sodass sie mit einem Keuchen zurück sank. Um sie herum ragten noch immer Bäume auf, nun allerdings flirrten helle Sonnenstrahlen durch die Äste hindurch und nahmen dem Wald jegliche Bedrohlichkeit. Mia stieß einen langen Seufzer aus. Sie hatte überlebt. Und es gab nichts, was dieses Hochgefühl trüben konnte, nicht einmal die Tatsache, dass sie neben einem kleinen, knisternden Feuer unter einer fremden Decke lag.
Benebelt von Glückseligkeit und Erleichterung, sickerte die wahre Bedeutung dieser zwei Dinge nur sehr langsam zu ihrem Verstand durch. Jemand hat mich gerettet. So einfach, so logisch und gleichzeitig so unwahrscheinlich. Gott hatte es gut mit ihr gemeint. Angesichts dieses unverschämten Glücks begann sie, unter Schmerzen laut zu lachen, während ihr gleichzeitig Tränen über die Wangen rannen. Ich lebe noch! Beinahe hätte sie es laut herausgeschrien, damit die ganze Welt es erfuhr. Aber etwas hielt sie zurück. Ein kleiner Funken Vorsicht und Unbehagen, bezüglich ihres unbekannten Retters war geblieben. Was für ein Mensch konnte es mit so einem Biest aufnehmen? Ein Hüne vielleicht? Mit Armen so breit wie Baumstämme? Oder ein Meister mit dem Schwert, der niemals einen Kampf verlor? In ihrer Fantasie malte sie sich die verschiedensten Männer aus: alle verwegen und furchtlos, während sie gedankenverloren in den wolkenlosen Himmel starrte.
Als die Sonne mit der Zeit immer tiefer sank, entschied Mia schließlich, dass es an der Zeit war aufzubrechen. Sie wollte so bald nicht wieder im Dunkeln umherirren. Die letzte Nacht hatte ihr vorerst gereicht, vermutlich für ihr gesamtes Leben. Wer auch immer ihr geholfen hatte, es sah nicht so aus, als würde er zurückkehren, was vermutlich auch am besten war. Auch wenn ihre Fantasie mit ihr durchgegangen war, wer konnte schon sagen, was das für ein Mensch war? Vielleicht sogar ein Mörder oder ein Dieb?
Sie fühlte sich nun ausgeruht genug, um sich auf den Heimweg zu machen. Ihre Mutter war mit Sicherheit schon krank vor Sorge. Mia seufzte. Zu Hause würde ein gewaltiges Donnerwetter auf sie warten. Nichts, worauf sie sich sonderlich freute.
Doch als sie aufbrechen wollte, musste sie feststellen, dass sie ihren Zustand wohl unterschätzt hatte. Es war nicht so, dass sie sonderlich heftige Schmerzen verspürte. Natürlich waren sie da und zwangen sie auch öfter innezuhalten, aber letztlich waren es nicht sie, die Mia in die Knie zwangen, sondern die Schwäche.
Ihr ganzer Körper fühlte sich schwach an. Beinahe schon gebrechlich. Vor allem ihr linkes Bein, das kaum fähig schien, ihr Gewicht zu tragen. Seinetwegen begann sie auch bereits nach wenigen Schritten zu taumeln, und sie wäre hingefallen, hätten nicht zwei Hände plötzlich nach ihr gegriffen. „Vorsicht, man sollte die Wirkung von Urt nicht unterschätzen. Es gaukelt einem Stärke vor, die man nicht besitzt. Du bist immer noch sehr schwach.“ Die Stimme, die wohl zu den Händen gehörte, hatte einen recht tiefen, aber angenehmen Klang. Gleichzeitig wirkte sie beruhigend. Es war nicht leicht, ihr zu misstrauen. Ob das wohl angebracht war? Mia legte den Kopf in den Nacken, um das Gesicht des Mannes sehen zu können. Es war nicht einfach, sein Alter zu bestimmen. Kantige, aber dennoch weiche Züge machten ihn vermutlich jünger, als er tatsächlich war. Eher kurzes, verstrubeltes schwarzes Haar hing ihm in freundlich wirkende dunkelgrüne Augen, die Mia an die Tannen um sie herum erinnerten.
„Ich bin übrigens Alan“, sprach er weiter, während er einen Schritt zurück trat. Seine Statur war groß, aber nicht so hünenhaft, wie Mia sie sich vorgestellt hatte. Auch sonst hatte er nicht viel gemein mit den Männern, die durch ihre Fantasie getanzt waren. „Und du bist?“, fragte er dann in die peinliche Stille hinein, in der Mia ihn einfach nur schamlos anstarrte.
„Mia“, antwortete sie etwas atemlos und senkte peinlich berührt den Blick. Sie konnte förmlich spüren, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. Erneutes Schweigen folgte. Nun war es wohl an ihr, etwas zu sagen. „Hast du mich vor der Bestie gerettet?“ Sehr direkt, aber etwas Besseres fiel ihr im Moment nicht ein. Offensichtlich verwirrt fragte Alan. „Eine Bestie? Meinst du einen Bären oder einen Wolf?“ Sie musterte ihn einen kurzen Augenblick. Wenn sie wollte, dass er sie ernst nahm, gab es nur eine mögliche Antwort. „Genau, ein Wolf. Hast du ihn denn nicht gesehen?“ Na ja, das Biest hatte tatsächlich Ähnlichkeit mit einem Wolf gehabt, nur dass an ihm alles größer gewesen war als bei einem normalen Jäger des Waldes. Die Skepsis verschwand von Alans Stirn. Also hatte sie ihn richtig eingeschätzt. Ein Realist.
„Du warst das Einzige, was ich gesehen habe. Bedeckt mit Blut und kaum einem Funken Leben in dir. Du hast doch nicht etwa auf den Wolf geschossen, oder? Er muss ziemlich wütend gewesen sein, wenn er dich angefallen hat.“ Verständnislos sah Mia ihn an. Behauptete er da etwa gerade, sie wäre selbst schuld an ihrem Unglück?
„Natürlich nicht!“ Ihr Protest war viel zu energisch, eigentlich sollte sie die Meinung dieses Fremden gar nicht interessieren. „Woher kam dann das Blut, wenn nicht von ihm? Von dir kann es wohl kaum sein.“ Sein Ton blieb hingegen vollkommen sachlich, wenn auch etwas neugierig. „Er hat mich gebissen. Ihm habe ich nichts getan.“ Dazu wäre ich vermutlich auch gar nicht fähig gewesen, fügte sie noch in Gedanken hinzu. „Hm“, machte er nur und zuckte die Achseln. Damit war das Thema wohl erledigt. Gut, sollte ihr recht sein. Die einzige Frage, die sich nun stellte, war, warum der Wolf, die Bestie oder was auch immer es nicht zu Ende gebracht hatte, das konnte kein Zufall sein. So viel Glück traute sie sich nicht zu. Dann fiel ihr plötzlich etwas viel Wichtigeres ein. „War da auch ein Pferd? Als du mich gefunden hast?“, fügte sie angesichts seiner Verwirrtheit hinzu. „Nein“, antwortete Alan ohne nachzudenken. Mia sank der Mut. Sie erinnerte sich an ein hohes, quiekendes Wiehern. Konnte es sein, dass der Wolf das Pferd anstatt sie als Beute genommen hatte? „Aber es war auch keine weitere Blutspur vorhanden, falls dich das beruhigt.“ Das tat es tatsächlich. Nun konnte sie zumindest hoffen, dass die Stute noch lebte und vielleicht eines Tages den Weg nach Hause finden würde. „Danke.“ Sie meinte es ehrlich. Dieser Alan hatte ihr immerhin das Leben gerettet. „Für alles.“ Als Antwort schenkte er ihr ein herrliches Lächeln, das seine dunklen Augen zum Strahlen brachte. „Immer wieder gerne.“ Mit einer Hand fuhr er sich durchs Haar, was die wirren Strähnen auf seinem Kopf nur noch mehr in Unordnung brachte. Offenbar war es ihr gelungen, nun ihn verlegen zu machen. Und erneut hielt Schweigen zwischen ihnen Einzug. Vermutlich sollte ich jetzt gehen, entschied sie schließlich. Die Sonne wird bald untergehen. Entschlossen stieß sie sich von dem Baum ab, gegen den sie irgendwann gesunken war, und bereute es sofort. Alles um sie herum begann sich zu drehen und ineinander überzulaufen. Nichts war mehr dort, wo es sein sollte. Erst als sie ruhig auf dem Boden lag, nahm alles wieder seinen angestammten Platz ein.
„Wie ich sehe, lässt das Urtkraut nach.“ Alans Gesicht tauchte über ihr auf. Die Konturen waren viel zu weich, um sich vom grünblauen Hintergrund abzuheben. „Soll ich dir noch eine Dosis verabreichen? Ansonsten wirst du gleich ziemliche Schmerzen haben.“ „Was ist das für ein Zeug?!“ Ihre Sicht hatte sich immer noch nicht normalisiert. „Urtkraut? Nun ja, es nimmt dir jegliches Schmerzempfinden, allerdings kann es sein, dass es, wenn die Wirkung nachlässt, deine Wahrnehmung für einige Augenblicke trübt. Aber glaub mir, in den meisten Fällen lohnt sich der Preis.“ Das klang, als hätte er schon reichlich Erfahrung mit diesem Kraut, von dem sie noch nie gehört hatte. Dennoch blieb Mia skeptisch. Sie war im Begriff abzulehnen, als es in ihrem Kopf heftig zu pochen begann, genau wie in ihren Gliedern. Ihr gesamter Körper war ein einziges Knäul aus Hitze und Qual. Das war falsch! Der Wolf hatte sie nur ins Bein gebissen, der Schmerz sollte sich auf eine Stelle konzentrieren und nicht auf ihren gesamten Körper! Konnte es eine Infektion sein, aus der Fieber hervorging?
Mühsam brachte Mia ein Nicken zustande, woraufhin Alan ihr irgendetwas einflößte. Der Schmerz hielt noch eine Weile an, und als sie dachte, verrückt zu werden, ließ er schließlich nach und machte einer dumpfen Leere Platz. Erschöpft schlief Mia schließlich in der Obhut des Fremden ein.
Er hob den Kopf, um ihren Geruch zu erschnüffeln. Er wusste genau, wo sie war, aber er wollte den Geruch des Friedens, der sie umgab, einatmen, bevor er ihn zu der stinkenden Angst werden ließ, die ihn so erfüllte. Sie zu jagen hatte ihm ein ungeahntes Vergnügen bereitet. Wie sie da vor ihm geflohen war, in dem aussichtslosen Versuch, ihr wertloses Leben zu retten. Es war eine solche Genugtuung gewesen, ihr seine Zähne ins Fleisch zu schlagen. Er hätte so gerne mehr getan, als einfach nur zuzubeißen. Aber er musste sich zurückhalten, das war der Befehl. Es durfte nicht mehr Schaden angerichtet werden, als nötig war. Auch heute nicht. Allein, dass er noch einmal in dieser Gestalt zu ihr kam, war untragbar. Aber er war sicher, dass er sich unter Kontrolle hatte. Mit einem tiefen Heulen grüßte er den Mond, der ihm zu dem machte, was er war. Gleichzeitig würde es das Mädchen aus dem Schlaf reißen und es sofort vor Angst erstarren lassen. Er hatte es in ihren Augen gesehen, gestern als er sie gejagt hatte. Diese Furcht, diese Panik… einfach unbeschreiblich. Ihr erster Gedanke würde ihm gelten. Sie würde ihn vor sich sehen, ohne zu wissen was und wer er war. Er könnte sich ihr zeigen, sie verführen, ohne dass sie wüsste, was er war und was er getan hatte.
Dumme Menschen. Sie wussten so wenig über die Welt, in der sie lebten.
Es war ihm schleierhaft, was sein Herr von diesem hier wollte, aber es kümmerte ihn auch nicht. Sie war sein Auftrag, und er würde ihn ohne weitere Fragen erledigen, so wie er es schon so oft getan hatte.
Außer heute, das war zu seinem eigenen Vergnügen. Ein weiteres Heulen, hier und da ein knackender Zweig. Ihre Angst würde lodern, wie ein flammendes Inferno. Er konnte sie schon spüren, ihre Panik. Und noch etwas anderes ... Ein wütendes Knurren entrang sich ihm. Was tat sie hier? Sollte ihr Gefährte nicht auf sie aufpassen, weil das Ganze zu gefährlich für sie war? Dickköpfiges kleines Ding.
Nun konnte er sie endlich sehen, das ängstliche kleine Mädchen und die weiße Stute, deren Fell aus Mondlicht gemacht zu sein schien. Ein Mahnmal der Schwäche. Beide starrten sie in die falsche Richtung. Leise schlich er sich an die Frauen heran. Seine Pfoten machten nicht das leiseste Geräusch, und dennoch verriet ihn irgendetwas. Das Pferd wieherte und gab dem Mädchen damit eine Warnung. Ohne sich auch nur umzusehen stieg sie auf den ungesattelten Rücken der Stute, offenbar spürte auch sie etwas. Mit einem Satz brach er aus dem Unterholz hervor, gerade als die beiden davonpreschten. Er knurrte verärgert. Begrüßte die kleine Jagd jedoch. Sie würde ihm mit Sicherheit mehr Spaß bereiten, als das, was er geplant hatte. Mit einem freudigen Jaulen nahm er die Verfolgung auf. Selbst für ein Mitglied seiner Rasse war die weiße Stute verdammt schnell, dennoch stellte sie kein Problem für ihn dar. Auf ihrem Rücken saß das Mädchen nach vorne gebeugt und krallte sich in der hellen Mähne fest, während sie immer wieder einen ängstlichen Blick über ihre Schulter warf, um zu sehen, ob er aufholte. Und das tat er. Seine Beine bewegten sich mittlerweile so schnell, dass sie den Boden kaum noch berührten. Sein Maul war nur noch wenige Zentimeter vom Bein des erschrockenen Mädchens entfernt. Die Verlockung, erneut zuzubeißen, war groß, fast schon zu groß. Um sich abzulenken, sah er ihr in die Augen. Sie waren groß und voller Furcht. Furcht vor ihm. Genüsslich sog er den Geruch ihrer Angst ein. Es berauschte ihn, durchdrang jede Zelle seines Körpers. Oh … was für ein Hochgefühl. Er tat das alles viel zu selten und jetzt für eine lange Zeit zum letzten Mal. Umso mehr wollte er so viel wie möglich davon genießen. Um ihre Furcht auszudehnen, schnappte er nach ihr. Auf seiner Zunge schmeckte er die Erinnerung an ihr Blut aus der vergangenen Nacht. Süß und bitter … Zu verlockend. Er musste sich beherrschen. Es war schwer, alles in ihm drängte danach, dem Biest in seinem Inneren nachzugeben. Es wurde Zeit, das alles zu beenden. Das Vergnügen war nur von kurzer Dauer gewesen, aber das war besser als gar nichts. Bald würde ohnehin die Sonne aufgehen. Er ließ sich zurückfallen und wechselte schließlich ganz die Richtung. Aus den Augenwinkeln sah er noch, wie die Stute das Mädchen abwarf. Auch für sie würde es bald Zeit werden.
Mühsam richtete Mia sich an einem Baum auf und suchte den in Schatten getauchten Wald ab. Der Wolf war verschwunden.
Nach wie vor zeigte ihr Körper die Anzeichen der Erschöpfung. Doch das mysteriöse Kraut schien noch immer seine Wirkung zu zeigen, da sie bis auf die Schwäche nichts verspürte. Noch einen Moment gestattete sie es sich, zur Ruhe zu kommen, aber dann war sie nur noch von dem tiefen innigen Wunsch beseelt, diesen verfluchten Forst endlich zu verlassen. Nie wieder, schwor sie sich, würde sie ihn betreten und niemals wieder an den Worten ihrer Mutter zweifeln, die die ganze Zeit nur Wahrheit enthalten hatten.
Das Auftauchen dieser Monstrosität von einem Wolf hatte sie erneut in den Tiefen ihrer Seele erschüttert. Dieses Mal glaubte sie, wirklich den Tod zu finden, aber wieder war sie verschont worden. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht, da war sie sich sicher. Dieser Wolf war kein einfaches Tier, in seinen Augen lag genug Intelligenz, um als menschlich zu gelten und seine Fratze … Allein bei der Erinnerung an sein grinsendes Maul gefror das Blut in ihren Adern. Aber es war nicht nur dieses intelligente Etwas, ihr Retter wollte sich auch nicht ganz in das Bild der Logik einfügen. Ihn umgab genauso eine Aura aus Geheimnissen wie den Wolf und das Pferd. Wo war er gewesen, als die Bestie erneut angriff? Hatte er sie, nun da er sie gerettet hatte, bereitwillig ihrem Schicksal überlassen?
Endlich! Vor ihr lichtete sich der Wald. Bald würde sie diesen ganzen Albtraum hinter sich lassen. Sie würde nach Hause zurückkehren, und alles würde so sein wie immer.
Gerade als sie die letzten Bäume erreichte und sie sich den Ausläufern einer Wiese gegenüber sah, erhob sich die Sonne über den entfernten Bergen und tauchte alles um Mia herum in ein sanftes, warmes, orangerotes Licht. Für Mia war es beinahe, als würde sie nach einem langen Schlaf aus der Dunkelheit erwachen und nun endlich wieder das Licht der Welt erblicken. Tränen bahnten sich ihren Weg, als sie eingehüllt von den warmen Strahlen des am Himmel stehenden Feuerballs in die Knie sank. Sie war entkommen, wirklich und wahrhaftig! Dies war ihr Sieg! Ihr Triumph! Von einer neuen Stärke beseelt, drehte sie sich noch einmal zum Wald um. „Zum Teufel mit euch allen!“, brüllte Mia mit allem, was ihre Lungen hergaben. Laut schallte es durch die Bäume. Dann endlich wandte sie dem Forst und allem, was er beherbergte, den Rücken zu. Auf ewig!
Das weiche, mit Federn gefüllte Bett sollte nach den Tagen im Wald eigentlich eine Wohltat sein, aber Mia lag einfach nur leblos da und starrte nichts sehend zur Zimmerdecke. Das ging so schon seit Stunden, oder Tagen? Stunden, in denen sie nichts als Leere und Trauer gefühlt hatte. Für einen Außenstehenden musste sie wie eine Leiche aussehen, und genau das sollte sie sein. Kalt und starr, jeglicher Wärme beraubt, abgeschlachtet von dunkelgewandeten Männern. Stattdessen lag sie hier, mit nichts weiter als ein paar Kratzern und einer beinahe schon geschlossenen Bisswunde. Absolut gar nichts schien mehr real zu sein. Wie in einem vorbeiziehenden Strom nahm sie Gesichter über sich mal wahr, mal nicht. Sie kamen und gingen, ohne dass Mia sie wirklich registrierte. Es waren Leute, die sie schon ihr ganzes Leben lang kannte und doch nicht kannte. Fremde, die zufällig in derselben Gegend lebten. Unwichtig. Ein Gesicht tauchte häufiger auf als die anderen. Eine kleine, rundliche Frau mit liebevollen dunkelbraunen Augen, die nun rot geschwollen waren vom vielen Weinen. Agda. Die beste Freundin ihrer Mutter. Sie war es auch gewesen, die Mia vom Tod ihrer Eltern berichtet hatte. Und von ihren Mördern.
Schwarze Teufel mit ebenso düsteren Kreaturen unter sich. Die Nachricht hatte ihr den Boden unter den Füßen weggerissen, und seitdem lag sie hier. Es konnten Stunde, Tage oder sogar Wochen sein. Zeit war nicht mehr wichtig.
„Oh Gott, Kind, iss doch bitte endlich etwas! Hanna würde nicht wollen, dass du dich zu Tode hungerst.“ Agda flehte sie jeden Tag an, und jedes Mal blieb Mias Blick an der Decke hängen. Einzig ihre Hand krampfte sich beim Namen ihrer Mutter fester um die Blume, die sie auf der Wiese für sie gepflückt hatte. Sie war ein Symbol der verlorenen Glückseligkeit. Gleichzeitig drückte ihre pechschwarze Farbe Mias Trauer aus, während ihre Dornen sie unaufhörlich daran erinnerten, dass sie noch am Leben war, wenn sie sich in ihr Fleisch bohrten.
„Nicht schon wieder! Bitte Mia, hör auf damit! Du schadest dir nur selbst.“ Auch das war ein Ritual, das sich immer und immer wieder abspielte. Tief drangen die langen Dornen in ihre Finger und Handflächen ein. Warmes Blut sammelte sich in den Zwischenräumen und tropfte schließlich auf die weiße Bettdecke, um dort seinen ewigen Platz zwischen den Tropfen der letzten Tage zu finden. Ein leises Klopfen unterbrach ihr Zusammentreffen frühzeitig, sodass Agda nicht die Möglichkeit bekam, zu versuchen, Mia die Blume wegzunehmen. Mit einem warnenden „Bin gleich wieder da“ verschwand sie durch die kleine Holztür. Für ein paar Minuten war es sehr still. Nur ab und an drang ein zu laut geflüstertes Wort durch die Tür ins Zimmer. Aber es war nicht möglich, daran festzumachen, um was es ging. Doch schon sehr bald brachte auch die Barriere der Tür nichts mehr, da Agda jeden Satz schrie. „Ist dir eigentlich klar, was du da sagst?! Seit ihr jetzt etwa alle verrückt geworden?!“ Die Antwort darauf war zu leise, um sie verstehen zu können. „Nein, jetzt hörst du mir mal zu! Hanna und Elaf waren gute Menschen, ich werde nicht zulassen, dass ihr ihnen nicht einmal den Tod gönnt.“ „Beruhig dich endlich Weib!“, entgegnete die brummige Stimme von Geruluf, dem Schmied, polternd. „Der Rat hat die Sache schon beschlossen. Du kannst sie nicht mehr davon abbringen. Dass ich dir davon erzähle, geschieht einzig und allein aus Respekt zu deiner Freundschaft Hanna gegenüber. Also keif nicht mich deswegen an, ich habe gegen eine Einäscherung gestimmt!“ Ein langes Schweigen folgte, aber Mia hatte ohnehin genug gehört. Einäschern! Wie konnten sie so etwas auch nur in Erwägung ziehen? Diebe und Mörder, gesetzlose Hunde ließ man in den Flammen schmoren. Ihre Eltern waren nichts davon gewesen. Sie verdienten ein anständiges Begräbnis. Wenn diese Heuchler es ihnen verwehren wollten, dann würde eben Mia selbst sich darum kümmern.
Als Agda wieder zurückkam, fiel es Mia unglaublich schwer, ihre neu erwachten Lebensgeister im Zaum zu halten und ruhig dazuliegen. Zum Glück blieb die Freundin ihrer Mutter nicht lange, sonst hätte sie sich mit Sicherheit verraten.
„Entschuldige mich Liebes, aber ich habe einiges mit dem Ältestenrat zu klären.“ Noch ein freundliches Lächeln, dann war Mia wieder allein. Die nächsten Minuten, in denen sie Agda durch das Haus huschen hörte, vergingen zäh wie klebriger Sirup, dann endlich fiel die Haustür ins Schloss. Sofort war Mia auf den Beinen. Hektisch ging ihr Blick durch den fast leeren Raum auf der Suche nach etwas zum Anziehen. Ihr Unterkleid war alles, was ihr noch geblieben war. Ihre restlichen Kleider waren steif vom Blut gewesen und von Agda gleich entsorgt worden. In einem kleinen Holzschrank in der Ecke fand sie schließlich ein schlichtes braunes Leinenkleid. Es würde seinen Zweck erfüllen. Hektisch zerrte sie es sich über den Kopf. Sie wusste nicht, wie lange Agda den Rat aufhalten würde. Jede Minute war kostbar.
Agda war eine kleine Frau, und deshalb ging Mia ihr Kleid auch nur bis zu den Knien, anstatt zu den Knöcheln, aber für den Moment war das nicht von Bedeutung. Sittlichkeit war das Letzte, worüber sie sich Gedanken machen wollte.
Die gemütliche kleine Stube lag verlassen da. Ein knisterndes Feuer im Kamin, mit einem großen Kessel darüber, war das einzig Lebendige im Raum. Säuberlich aufgereiht standen drei Paar Stiefel daneben. Mit dunklen Flecken übersät und schmutzig stachen ihre sofort heraus. Nachdem sie sie auch noch verschnürt hatte, war sie endlich bereit zum Aufbruch.
Draußen fiel der Regen in strömenden Bächen vom Himmel. Ohne zu zögern verließ Mia die schützende Obhut des Hauses. Matsch spritzte unter ihren Stiefeln hervor und flog in alle Richtungen, als sie durch das beschauliche kleine Dorf rannte.
Endlich, dachte Mia, als sie den kleinen Hügel erklomm, hinter dem ihr Haus lag. Eine halbe Ewigkeit schien vergangen zu sein, seit sie Enjan hinter sich gelassen hatte. Sonst hatte sie sie immer genossen, die Freiheit, jenen kurzen Moment, in dem sie den wachsamen Augen ihrer Mutter entkommen war. Aber dieses Mal war alles anders. Niemals wieder würde ihre Mutter auf sie aufpassen, sie nie wieder schellten, nie wieder mit ihr lachen. Alles war vorbei. Ihr Vater würde ihr das Jagen nicht beibringen und ihr auch keine spannenden Geschichten aus seiner Zeit beim Militär mehr erzählen, denen sie früher so gerne gelauscht hatte. Mia war ganz alleine. Verwandte hatte sie keine und auch keine Freunde. Obwohl noch immer Blut durch ihre Adern floss, immer noch Luft ihre Lungen durchströmte, war sie tot.
Keuchend kam sie auf dem Kamm zum Stehen. Der härteste Lauf ihres Lebens lag hinter ihr. Doch der erste Blick auf ihr Zuhause oder das, was davon übrig geblieben war, brachte ihren Atem stockend zum Stillstand. Das ganze Gebäude war bis auf die Mauern niedergebrannt, nur hier und da stand noch ein kleiner Teil einer Steinwand, oder es lag ein großer, vollkommen verkohlter Balken herum. Selbst die nahe gelegenen Anfänge des Ran Waldes waren nicht ungeschoren davongekommen: Die ersten Baumreihen waren angesengt, und ein Teil der Wiese, die sich dazwischen befand, war durch und durch schwarz, verbrannt, tot. Aber das war Mia egal, der Wald konnte sogar lichterloh in Flammen stehen, wenn das bedeuten würde, dass ihre Eltern bei ihr sein könnten.
Die Trümmer lieferten den ersten Beweis für die Unumgänglichkeit ihres Todes. Mit Sicherheit würden noch mehr folgen und genau davor fürchtete Mia sich. Was sie nicht sah, war nicht real, und sie wollte ihren Tod nicht zur Realität werden lassen. Aber auch der langsame Schritt, den sie angeschlagen hatte, bewahrte sie nicht vor der grausamen Wahrheit. Da waren sie, ihre Eltern, inmitten des Schutts, der einmal ihr Heim gewesen war. Aufgehängt an den Füßen hingen sie an einem quer über zwei noch halbstehende Wände gelegten Balken. Verbrannt von den Füßen aufwärts bis zur Brust. Schwarze, verkohlte Haut, die die grauen Knochen nur noch teilweise bedeckte. Traurigerweise war das noch nicht alles. Es hatte nicht gereicht, ihre Körper von Flammen zerfressen zu lassen oder sie zu häuten. Nein, diese Hunde hatten ihnen auch noch die Häupter abgeschlagen. Wie ein Schreckensmal hingen sie da, im strömenden Regen und warteten darauf, dass jemand gnädig genug war, sie zu erlösen. Zäh und dickflüssig hatten sich zwei rote Lachen gebildet, die in Mias Vorstellung noch immer mit Blut gefüttert wurden. Auch der Regen hatte seinen Beitrag zu dem grausigen Schauspiel geleistet.
Die Wassertropfen hatten sich mit dem roten Lebenssaft vermischt, sodass nun eine rot-rosa Flüssigkeit den Boden des früheren Raumes bedeckte. Mit Entsetzen wurde Mia bewusst, dass es sich dabei um ihr Zimmer handelte. Dort, wo vor Kurzem noch ihr Bett gestanden hatte, hingen nun ihre Eltern.
Wie konnten Menschen nur so etwas Entsetzliches tun? Das ganze Grauen, das sich vor ihr ausbreitete, war für Mia nicht greifbar.
Von Trauer und Schmerz geplagt, schloss sie schließlich die Augen, um dem Anblick zu entkommen. Aber das erlöste sie nicht. Verzweifelte Todesschreie, die sie nie vernommen hatte, hallten durch ihren Kopf. Das war zu viel. Gab es eine höhere Macht, die sich an ihrem Schmerz ergötzte? Bereitete es jemandem Genugtuung, ihr ihre gepeinigte Seele herauszureißen? Mia wusste es nicht, sie wusste nur, dass sie hier weg musste. Sie benahm sich feige. Sie sollte stark sein, um ihren Eltern die letzte Ruhe zu ermöglichen, stattdessen floh sie von ihrem Totenbett. Niemand hielt sie auf. Natürlich nicht, denn niemand außer ihr war an diesem schrecklichen Ort. Dennoch wünschte Mia sich, dass es jemanden gäbe, der sie zurückhielt. Jemanden, der ihr helfen würde, stark zu sein, um zu tun, was getan werden musste. Ihr Flehen wurde erhört. Ein rutschiges Stück Holz übernahm diese Aufgabe schließlich. Mit einem überraschten Laut fiel Mia geradewegs in den Matsch, als das Holz unter ihrem Fuß wegrutschte. Fluchend richtete sie sich auf und hielt angesichts des neuen Schreckens zu ihren Füßen inne. Ein hysterisches Lachen brach aus ihr heraus.
So kniete sie nun lachend im Matsch, während der Regen weiter unerbittlich auf sie einprasselte. Innerlich verfluchte sie sich, dass sie sich immer ein aufregenderes Leben gewünscht hatte, aber sie konnte nicht aufhören zu kichern. Durch zu viele bizarre Dinge in zu kurzer Zeit war ihr Verstand überreizt. Eine ganze Weile dauerte es noch, bis sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte und fähig war, einen klaren Gedanken zu fassen. Die abgetrennte Hand mit einem Schwert fest im Todesgriff, lag noch immer unbewegt vor ihr, ohne sich bewusst zu sein, dass sie der Tropfen zu viel in dem Fass dessen gewesen war, was Mia ertragen konnte. Als sie den Mut fasste, die Hand eingehender zu betrachten, kam ihr immer noch gelegentlich ein ungläubiges Kichern über die Lippen.
Es war eine erstaunlich kleine Hand mit einem schwarzen Lederhandschuh, möglicherweise die einer Frau, aber auf keinen Fall die ihrer Mutter. Agda hatte von schwarzen Reitern gesprochen, die durch das Dorf geritten waren. Sie musste einem von ihnen gehören. Das Schwert trug kein Wappen, nichts, was ihr half, die Herkunft der Mörder ihrer Eltern zu ermitteln. Das Einzige, was der Griff aufwies, waren seltsame Verzierungen, die ihr nichts sagten. Wie Efeu wanden sich die schwarzen Linien um ihn. Manche verschmolzen miteinander, andere endeten einfach. An den Enden der Linien waren blau schimmernde Steine eingearbeitet. Ein teures Stück, aber bei seinem Anblick dachte Mia nicht an Geld, in ihren Gedanken sah sie sich, wie sie es dem Mörder ihrer Eltern in den Leib stieß. Genugtuung schien es zu schreien. Wie in Trance griff sie danach und versuchte, es aus dem Schlamm zu ziehen. Getötet mit seiner eigenen Waffe, das schien ihr die perfekte Rache zu sein. Nur das Werkzeug dafür ließ sich nicht bewegen. Ein Teil der Klinge lag unter Schutt begraben. Sie seufzte, wenn sie es haben wollte, würde sie es wohl oder übel freilegen müssen.
Doron war wütend. Warum musste ausgerechnet er zurück, um die Waffe seines verwundeten Bruders zu holen? Enno war doch selbst schuld, wenn er nicht auf seinen Gegner achtete. Jetzt musste er für seinen Leichtsinn büßen. Aber es half nichts, die Waffe musste zurückgeholt werden. Da gab er seinen Brüdern recht, sie war schließlich einzigartig. Aber warum musste ausgerechnet er die Drecksarbeit erledigen? Der Auftrag war so schon einfach genug gewesen. Nicht einmal einen richtigen Kampf hatte es gegeben. Und trotzdem hatte dieser Nichtsnutz dabei seine Hand verloren! Tölpel! Er verdiente es überhaupt nicht, im Orden, geschweige denn in der Garde zu sein. Er konnte nichts, absolut gar nichts! Das hatte er wieder unmissverständlich unter Beweis gestellt. Verlor einfach das Schwert. Doron war es unbegreiflich. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie ihn schon längst getötet. Aber ihr Herr war der Meinung, sie müssten ihn dulden, er würde sich schon machen. Doron schnaubte verächtlich. Dieser Versager würde es nie zu etwas bringen, selbst wenn er hundert Jahre leben würde. Jetzt musste er im Schutt und Staub nach seinem Schwert suchen. Das würde er ihm büßen. Auch wenn Arvit das nicht billigen würde. Es war ihm egal. Er würde schon damit zurechtkommen, dieser Volltrottel musste leiden. Aber möglicherweise würde der Kaiser sich selbst um ihn kümmern, wenn er die Waffe nicht fand, vielleicht konnten sie Enno sogar die Schuld dafür geben, dass sie diese kleine Schlampe nicht erwischt hatten. Er lachte in sich hinein, das würde diesem Schwächling ganz schöne Schwierigkeiten einbrocken.
Mia wusste nicht, wie lange es gedauert hatte, bis sie die Waffe endlich mit einem Gefühl der Erleichterung aus den verkohlten Überresten ihres Zuhauses ziehen konnte. Irgendwann, während sie immer wieder Steine anhob und Holzstücke zur Seite warf, hatte sie ihr Zeitgefühl verlassen. Der Regen hatte ihr die Arbeit nicht erleichtert. Schlammige Erde hatte die Steine glitschig gemacht und ihr somit den Halt genommen. Mit Wasser vollgesogene Holzreste wurden schwer und ließen sich kaum bewegen. Aber sie hatte sich davon nicht unterkriegen lassen, und nun hatte sie es endlich geschafft. Das Schwert lag in ihrer Hand. Es wog schwer, und sie musste beide Hände nehmen, um es nicht fallen zu lassen. Würde sie es überhaupt lange genug hochhalten können, um damit zu kämpfen? Als sie in der Ferne dumpfes Hufgetrappel näher kommen hörte, wurde ihr klar, dass sie es bald herausfinden würde. Zuvor war sie so in ihre Arbeit vertieft gewesen, dass ihr entgangen war, dass der Regen aufgehört hatte. Die Bewohner aus Enjan kamen, um ihr grausiges Werk zu tun. Mia würde sie davon abhalten, wenn es sein musste, würde sie gegen sie kämpfen. Gegen sie alle. Auch wenn es sinnlos war, bei ihren kämpferischen Fähigkeiten sogar geradezu unmöglich, aber die Verzweiflung hatte sich schon zu tief in ihrem Herzen festgesetzt. Ein einzelner Reiter erschien auf der Spitze des Hügels. Obwohl es nur einer war, setzte Mias Herz einen Schlag aus. Die Gestalt dort oben ähnelte mehr einem düsteren Schemen denn einem Menschen.
Eingehüllt in flatternde, nachtschwarze Gewänder saß er auf einem wilden Dämon, der unruhig hin und her tänzelte, stieg und ausschlug. Das gewaltige Schlachtross durchbohrte sie mit einem hasserfüllten Blick aus rotglühenden Augen. Mia lief es eiskalt den Rücken herunter, zu sehr erinnerte es sie an den Wolf. Der Reiter dieser Bestie hatte sie noch nicht bemerkt. Gemächlich ließ er den Blick über die Überreste ihres alten Hofes wandern. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er sie entdeckte. Und dann? Was würde er tun? Sollte sie das gleiche Schicksal ereilen wie ihre Eltern?
Gefesselt vom Anblick der schwarzen Schrecken, wartete Mia darauf, dass der suchende Blick des Reiters sie fand. Laut dröhnte ihr wild schlagendes Herz in ihren Ohren. Dann war es soweit, seine Augen trafen die ihren. Stille. Für einen kurzen Moment schien selbst die Welt die Luft anzuhalten und auf den nächsten Schritt zu warten. Mia erwartete, dass er dem Monster unter sich die Sporen geben und zu ihr hinunterpreschen würde, um ihr das Gleiche anzutun wie ihrem Vater und ihrer Mutter. Aber das tat er nicht. Ruhig blieb er auf dem tobenden Biest sitzen und wartete.
Mit jeder Sekunde, die verstrich, steigerte sich Mias Panik. Warum brachte er es nicht endlich hinter sich und erlöste sie?
Doron konnte sein Glück kaum fassen. Nach allem, was sie den beiden Verrätern angetan hatten, um zu erfahren, wo das Mädchen war, stand es nun einfach vor ihm. Inmitten der Trümmer ihres alten Lebens. Was für eine Ironie. Sie machte das Blut und die Qual ihrer Eltern bedeutungslos, ihr Opfer beinahe schon sinnlos mit ihrem Auftauchen. Und dann hielt sie auch noch das Schwert seines Bruders in der Hand. Perfekt, einfach nur perfekt. Doron hatte sich schon darauf eingestellt, bis in den Morgen danach zu suchen. Aber nun wurde ihm alles wie auf dem Silbertablett serviert.
Vorfreude durchfuhr ihn, als er daran dachte, wie er sie töten würde. Sein Schwert verlangte nach Blut. Das Arvit als Anführer die Ehre gebührte ihr Leben zu beenden, war ihm egal. Er konnte sich nicht beherrschen, er musste sie töten, der Auftrag war zu leicht gewesen, und er war noch nicht befriedigt. Dennoch hielt ihn etwas zurück.
Zuerst wusste er nicht, was es war, aber dann erkannte er, dass er sich an ihrer Angst ergötzte. Von unten herauf starrte sie ihn an. Bewegungsunfähig wie eine in die Falle getriebene Beute. Einen kurzen Moment stellte er sich vor, wie er aussehen musste auf seinem wild schnaubenden Ross, den Sonnenuntergang im Rücken und das Schwert in der Hand. Eine imposante Erscheinung. Der wahrhaftige Bringer des Todes. Der Gedanke gefiel ihm. Dann lassen wir den Worten am besten Taten folgen.
Mit dem wilden Kampfschrei des Ordens gab er Marvea die Sporen. Als hätte sie nur darauf gewartet, schoss die Stute wie ein Armbrustbolzen los, den Hügel hinunter. Mia hatte es geschafft, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen. Wie ein panisches Reh rannte sie auf den Wald zu. Lachend hielt Doron Marvea zurück, er wollte Mia einen Vorsprung geben. Dass sie versuchte, ihr armseliges Leben zu retten, wunderte ihn kaum. Eigentlich gefiel es ihm sogar, so konnte er zumindest noch seinen Spaß mit ihr haben. Entkommen konnte sie ohnehin nicht, egal, für welchen Weg er sich entschied. Mitnehmen oder töten? Doron kam zu dem Schluss, das Ende dieser Auseinandersetzung abzuwarten. Vielleicht erheiterte ihn dieses kleine Spiel genug, um ihr vorerst das Leben zu schenken.
Immer wieder ließ Doron sich zurückfallen, nur um erneut aufzuholen und Mia so immer weiter in den Wald zu treiben. Aber so langsam wurde er es leid. Die Sonne war schon untergegangen. Zeit, in die nächste Runde zu gehen. Mit erhobenem Schwert stürmte er auf sie zu, um endlich Blut fließen zu lassen.
Als sie den schwarzen Reiter auf sich zustürmen sah, wusste Mia, dass es vorbei war. Die todbringende Klinge seiner Waffe blitzte schwach im Mondlicht, als er sie vor sich hielt, bereit, ihren Körper zu durchbohren. In einem letzten Akt der Verzweiflung riss sie ihre eigene Klinge hoch. Mit geschlossenen Augen wartete sie auf die Attacke des Ritters. Einen Hieb von Stahl auf Stahl oder Stahl auf Fleisch. So oder so, sie wusste, dass sie auf dem Boden landen würde. Ein dumpfer Schlag, dann galoppierte das Pferd an ihr vorbei. Mias Finger schlossen sich fester um den Griff ihrer Waffe. Der Hieb blieb aus, stattdessen war nun ein wildes Knurren zu hören, zusammen mit heftigen Flüchen. Mia öffnete die Augen und hätte sie am liebsten gleich wieder geschlossen.
Da war sie wieder, die Bestie. Das gleiche Vieh, das sie beinahe umgebracht hatte. Dieses Mal schien sich der Wolf allerdings mehr für den Ritter zu interessieren als für sie. Knurrend und Zähne fletschend stand er über ihm. Aber im Gegensatz zu Mia wusste der Ritter, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Gewand schwang er sein Schwert nach dem Tier, sodass der Wolf vor ihm zurückweichen musste, wenn er leben wollte. Knurrend trat er ein paar Schritte zurück, ließ den Mann mit der Waffe dabei aber kein einziges Mal aus den Augen. „Was soll das? Wir stehen auf derselben Seite!“ Zuerst dachte Mia, der Ritter würde mit ihr sprechen, aber er sah sie nicht einmal an. Seine Aufmerksamkeit galt ganz dem Wolf. Ohne Vorwarnung griff der schließlich an, ganz wie man es von einem Tier erwartete. Der schwarze Reiter fluchte laut, während er sein Schwert hochriss. Zu spät. Der Wolf durchbrach seine Verteidigung und fügte dem Ritter eine hässliche Wunde an der Schulter zu. Immer noch fluchend wechselte der Getroffene die Waffe in die linke Hand. Für einen Sekundenbruchteil war die Seite des Wolfes ungeschützt, das nutzte der Reiter, um nun seinerseits Blut fließen zu lassen. Ein herzzerreißendes Jaulen entrang sich der Kehle des Tieres, als der kalte Stahl Muskeln und Sehnen durchtrennte. Getroffen sank das Tier zu Boden. Rotes Blut quoll aus der Verletzung in seinem Bein. Ohne Zeit zu verlieren holte der Ritter ein weiteres Mal aus, um dem schwarzen Ungetüm den Gnadenstoß zu versetzen. Aber anstatt auf Fleisch, traf seine Klinge auf Metall. Überrascht schaute er auf. Mia sah sich ihm plötzlich gegenüber. Sie hatte den Schlag pariert. Wann sie diesen Schritt getan hatte, konnte sie allerdings selbst nicht sagen. Gerade hatte sie noch fasziniert zugesehen, wie die beiden Wesen, die sie umbringen wollten, sich gegenseitig zerfleischten, und nun stand sie mit erhobenem Schwert schützend vor dem Wolf. Und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie war kein Kämpfer und selbst wenn, gegen diesen Mann konnte sie nicht bestehen.
„Du hättest verschwinden sollen, als du noch die Gelegenheit dazu hattest, Mädchen“, sagte der Maskierte. Seine Stimme war genauso wie seine Erscheinung, düster und gefährlich. „Jetzt werde ich dich leider töten müssen.“ Erneut fuhr sein Schwert nieder. Ein paar Zentimeter neben ihrem Gesicht zog es vorbei. Aufgewirbelte Luft traf ihre Haut. Erschrocken fuhr sie zusammen. „Du hast Angst, oder?“ Mia machte den Mund auf, um etwas zu erwidern, aber der Reiter unterbrach sie.
„Du musst nichts sagen, deine Augen sagen mehr, als Worte es je könnten.“ Er lachte gehässig. „Warum riskierst du dein Leben für diesen Abschaum