Veltliner-Leich - Werner Baumüller - E-Book

Veltliner-Leich E-Book

Werner Baumüller

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Beschreibung

Ein skurriler Kriminalroman mit Witz, Geist und Heurigem. Hat die Leichen-Loisi tatsächlich eine Leiche samt dazugehörigem Mörder gesehen – oder fängt sie langsam an zu spinnen? Hemma, Schwester des schrulligen Dorfpfarrers, Haushälterin und Mesnerin in Personalunion, glaubt der alten Friedhofsgärtnerin und beginnt zu ermitteln. Dabei helfen ihr Spürsinn, Starrköpfigkeit und Postenkommandant Hubert, der wirklich alles für sie tun würde. Und wenn gar nichts mehr hilft, hat sie immer noch die Himmelmutter.

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Seitenzahl: 271

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Werner Baumüller stammt aus Kollerschlag in Oberösterreich. Er war lange als Texter und Konzeptionist in Werbeagenturen in Wien und Düsseldorf tätig, ehe er 1985 mit seinen beiden Brüdern die »Werkstatt Kollerschlag« gründete. Dort werden Kunstwerke und -projekte im öffentlichen Raum konzipiert und produziert, beispielsweise der einundzwanzig Meter hohe »Hammering Man« von Jonathan Borofsky vor dem Messeturm in Frankfurt. Mit »Die Essigmutter« trat er 2006 als Romanautor an die Öffentlichkeit. »Veltliner-Leich« ist sein erster Krimi.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Karl Thomas

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, Tobias Doetsch

Lektorat: Uta Rupprecht

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-243-4

Originalausgabe

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Die mit Abstand blödesten Geschichten erzählt der Olib.Und alle hören ihm gespannt zu.

EINS

Die Zeit der dicken Luft war für die Winzer aus dem Weinviertel wieder vorüber. Bis vor Kurzem war es noch gefährlich … sehr gefährlich … ja, lebensgefährlich gewesen, die Kellerräume zu betreten, in denen der frisch abgefüllte Traubensaft lagerte, um zum Sturm zu werden und schließlich zu köstlichem Wein zu reifen. Gärgase entwichen, die wie heimtückische Geister über den Kellerboden krochen, um auf ihre Beute zu warten. Kleine Hunde an der Leine, kleine Kinder an der Hand, Menschen, die sich bückten, um ihre Schuhbänder zu binden oder an den Weinfässern zu hantieren … ihnen drangen die Gärgase in die Nase und über die Lunge ins Gehirn. Und während aufrecht stehende Erwachsene noch nichts von der Gefahr merkten, begannen die Kleinkinder bereits zu taumeln. Es geschah nicht nur einmal, dass ein regungsloser Hund aus dem Keller gezogen oder gar getragen werden musste. Und man konnte von Glück reden, wenn er draußen an der frischen Luft wieder zum Leben erwachte.

Der Gärgas-See blieb aber nicht so seicht. Mit dem Treiben der Traubensäfte flossen immer mehr Gase aus den Fässern und füllten allmählich die gesamten Kellerräume auf wie ein aufgestauter Bach, der rundherum nicht mehr ausweichen und nur noch die Flucht nach oben ergreifen kann.

Früher, als es noch keine Messgeräte für die Gärgase gegeben hatte, wäre kein Winzer ohne eine brennende Kerze in der Hand in den Weinkeller gestiegen. Denn zu viele hatten ihre Fahrlässigkeit mit dem Leben bezahlt. Geht die Kerze aus, geht auch das Leben zu Ende, sagte man. Doch selbst das war trügerisch. Zwar erlischt eine Kerze schon bei einem Kohlendioxidanteil von vierzehn Prozent, das Leben aber erst bei einem Anteil von zwanzig Prozent – wenn es schnell geht. Hält man sich aber bei einer Sättigung von nur zehn Prozent länger im Weinkeller auf – sagen wir, so fünfzehn Minuten, dann ist man genauso hin. Und die Kerze brennt noch immer.

Aber wie gesagt, die Zeit der dicken Luft war inzwischen vorbei, denn wenige Tage nach dem Abfüllen der Fässer verschwand der Spuk von allein. Die Gärgase verkrochen sich durch die Luftschächte ins Freie, wo sie von der herrlichen Weinviertler Herbstluft aufgesaugt wurden. Und sobald der Sturm herangereift war, konnten die Winzer wieder bedenkenlos die Keller betreten und Gottes süffigste Gabe mit geschulter und erfahrener Hand zur Krönung geleiten.

Eine andere Art von dicker Luft durchströmte aber nach wie vor die Villa Kleist, die vom Ehepaar Marie und Gustav Kleist bewohnt wurde. Die Villa war Teil eines größeren Anwesens, das hauptsächlich aus einem weitläufigen Weingut bestand und eben auch aus besagtem Gebäude. Der Weinbaubetrieb der Kleists war übrigens mit Abstand der größte in der Gegend und überhaupt einer der größten und ertragreichsten des Landes. Man schätzte, dass jährlich über sechshunderttausend Flaschen den Betrieb verließen. Und darin befand sich keineswegs irgendein billiger Fusel, ganz im Gegenteil. Kleist-Weine zählten auch zu den besten der Region, es hagelte die Auszeichnungen nur so. Und jeder Gastgeber in Österreich, in Europa, ja selbst in Übersee, der seinen Gästen Kleist-Weine kredenzte, zeigte Kennertum und guten Geschmack.

Was für dicke Luft sorgte, war die ziemlich gereizte Stimmung zwischen den Kleists. Fünfundzwanzig Jahre Ehe sind kein permanentes Honiglecken, das weiß ein jeder. Sicher, Gustl Kleist hätte es ohne Weiteres in der Hand gehabt, den Streitereien und Unstimmigkeiten auszuweichen, doch dazu hätte er permanent nachgeben müssen. Und das gelang ihm zwar oft, aber nicht immer. Und da sein Mariechen so gepolt war, dass sie Widerspruch nicht nur kaum, sondern überhaupt nicht duldete, kam es halt immer wieder zu entsprechenden Reibereien. So auch an diesem späten Nachmittag, an dem Marie ihre Taschen und Rucksäcke packte, um wieder eine ihrer zahlreichen Reisen anzutreten, die sie in exotische Landstriche führte. Dort jagte sie dann Tieren hinterher, für die man hierzulande einen Kammerjäger bestellen würde. Marie war aber besessen davon, Kleintiere wie Käfer, Minireptilien, Schmetterlinge und Ähnliches zu beobachten und zu fotografieren. Und sie, wenn es sich lohnte, auch einzufangen und nach Hause mitzubringen.

Während Marie in aller Gelassenheit ihre Taschen ein-, aus- und wieder umpackte, stapfte Gustl nervös auf und ab. Manchmal blieb er, um die Zeit zu überbrücken, vor dem Schlafzimmerspiegel stehen und kontrollierte ein weiteres Mal sein Äußeres. Die seidene Krawatte saß perfekt. Ebenso das passende Stecktuch. Die Anzughose hätte allerdings um ein paar Zentimeter weiter sein können, denn Gustls Bauch war offensichtlich wieder ein wenig gewachsen. Dafür war er auf sein Haar immer noch stolz. Auch wenn es mittlerweile etwas schütterer wurde, die nach hinten gekämmten Locken verrieten immer noch den Mann von Welt, erst recht, seit sie sichtbar ergrauten.

»Verdammt, Mariechen, wir kommen zu spät. Kannst du dich nicht ein bisschen beeilen?«

»Ich überlege noch, ob ich auch den dritten Tropenanzug mitnehmen soll. Hetz mich nicht dauernd. Ständig hetzt du mich.«

»Bitte, Mariechen, wir werden noch deinen Zug nach München verpassen. Und dass die Fini und ich dann viel zu spät in die Oper kommen, scheint dir überhaupt wurscht zu sein.«

»Mein Gott, Gustl, du nervst!«

Mit der Fini war Fini Weber gemeint, Maries jüngere Schwester und somit Gustavs Schwägerin. Der Plan war, Fini rechtzeitig bei ihrer Wohnung abzuholen und gemeinsam nach Wien zum Hauptbahnhof zu fahren, um Marie zum Zug zu bringen. Sie wollte nach München reisen und dort in einem Hotel übernachten, um am nächsten Mittag nach Togo zu fliegen. Fini und Gustl hingegen würden vom Bahnhof gleich zur Staatsoper weiterfahren, weil sie zwei Karten für Verdis »Otello« hatten, auf den sie sich schon seit Tagen freuten.

Wenn Marie ihr Gepäck endlich verschnürt hatte, hieß das noch lange nicht, dass sie mit dem Packen fertig war. Dazu muss man Folgendes wissen: Marie war eine echte Dame, die auch gut in einen der Wiener Nobelbezirke gepasst hätte. Zwar dezent, aber immer perfekt geschminkt, mit einem tadellos geformten Körper, der meist in schicken Designerklamotten steckte. Von dem, was um ihren Hals und an den Ohrläppchen hing und an ihren Fingern steckte, hätte so mancher Weinviertler monatelang leben können. Und selbst wenn sie ihr Styling während ihrer Safari-Reisen etwas reduzierte – verschmutzt, verschwitzt oder gar ungeschminkt hätte sie sich auch in Togo nie zum Abendessen hingesetzt. Das machte ihr die Entscheidung, was sie einpacken sollte, nicht gerade leichter. Und die Rucksäcke und Taschen erst recht nicht.

Vor allem, wenn Gustl sie drängte, fühlte sie sich besonders motiviert, den Inhalt ihres Gepäcks noch einmal zu überdenken. Sie hatte zwar ihre Listen, wo aufgeführt war, was sie, wenn sie eine ihrer Forschungsreisen antrat, alles mitnehmen musste. Da gab es eine Liste für die Reisen in heiße, tropische Länder, eine für die arktischen Zonen und eine weitere, auf der stand, was sie alles in Ländern brauchte, wo gerade Regenzeit war. Aber trotzdem: Liste ist gut, Kontrolle ist besser, dachte sie. Und während sie bockte, weil der Gustl sie drängte, kochte der Gustl, weil Mariechen so bockte.

»Manchmal bist du echt zum Speiben, Gustl. Du weißt genau, wie es um meine Gesundheit bestellt ist. Und du weißt auch, dass du mich wahrscheinlich nicht mehr lang haben wirst. Willst du mich bis zu meinem Lebensende hetzen? Wahrscheinlich wirst du auch noch die Bestatter hetzen, meinen Sarg so schnell wie möglich ins Grab zu lassen, weil du es ja immer so eilig hast.«

»Du bist so was von unfair, Mariechen. Hauptsache, ich fühl mich schuldig, und Hauptsache, ich habe ein schlechtes Gewissen … Außerdem ist es sowieso ein Wahnsinn, dass du in deinem Zustand noch so weit verreisen willst. Du solltest dir das zehnmal überlegen!«

»Der Doktor hat es mir erlaubt. Und meine Entscheidung ist gefallen. Basta!«

Gustl wusste natürlich, dass er sich die letzten Sätze hätte sparen können. Wenn Marie einen Entschluss gefasst hatte, dann stand der. Und wenn man auf sie einredete, dann schaltete sie nur noch mehr auf stur.

Obwohl … Marie hatte natürlich selbst Zweifel, ob diese Reise eine gute Idee war. Jedes Jahr flog sie an ein anderes Ende der Welt und kam mit Tausenden Fotos und mit einigen toten Exemplaren exotischen Ungeziefers zurück. Marie war einfach besessen von der Beobachtung und Zuordnung dieser Geschöpfe, und kein Jahr verging, in dem sie nicht wieder etwas entdeckte und dazulernte. Manchmal hielt sie sogar Vorträge über ihre Aktivitäten, und sie hatte sich selbst in Fachkreisen als Hobbyentomologin einen Namen gemacht.

Doch diese Reise war eine ganz besondere, denn es sollte ihre letzte werden. Seit der Diagnose »Bauchspeicheldrüsenkrebs« wusste Marie, dass ihr Leben nicht viel länger dauern würde als die zweiundfünfzig Jahre, die ihr bisher vergönnt gewesen waren. Scheiße. Eigentlich war ihr Leben gut. Sie hatte viel Glück gehabt. Privat, na ja, das ging so. Der Gustl war vielleicht nicht die große Liebe, aber zumindest war auf ihn Verlass. Und Kindersegen hatte sich bedauerlicherweise auch keiner eingestellt, anders als bei Fini, die zwar einen Sohn hatte, dafür aber keinen Mann. Aber beruflich lief ihr gesamtes Leben wie am Schnürchen. Und nun das. Ein negativer Lottosechser. Erst ein wenig Bauchweh, dann Übelkeit, ab und zu Durchfall. Und dann sagt dir einer, dass du todkrank bist und nur noch wenige Monate zu leben hast. Echt arg. Auf einmal musst du entscheiden, wie du damit fertigwirst und wie du diese restlichen Monate verbringen möchtest. Da hatte Marie gedacht, dass sie ihr Leben nicht ändern wollte, solange ihr Körper dies noch zuließ. Drei Wochen Afrika, das könnte sich noch locker ausgehen. Zur Weintaufe würde sie wieder zurück sein. Es würde ein ruhiger Winter werden. Die Frühlingsblüten würde sie noch einmal erleben. Ob sie es noch bis zur Weinlese schaffte, das lag in Gottes Händen.

Das Anwesen der Kleists stand auf einem Lösshügel, etwa zwei Kilometer außerhalb des Weindorfs Niederfeld. Sie hatten einen herrlichen Ausblick, erst über die Weinhänge und die Dächer der kleineren Winzer im Dorf und weiter über die Donau bis zu den Alpen. Fini Weber hingegen, Maries Schwester, hatte einen der Weinkeller an der Kellergasse gekauft und das Presshaus in eine einzigartige Wohnung verwandelt, so ungewöhnlich, wie es sie in der Kellergasse bestimmt kein zweites Mal gab. Dort lebte sie mit ihrem Sohn Clemens, der täglich nach Klosterneuburg fuhr, wo er die Weinbauschule besuchte.

Geld spielte offensichtlich hier wie dort keine große Rolle. So wie Marie hatte auch Fini ihren Anteil am Weinimperium. Sie war so etwas wie die stellvertretende Chefin. Aber obersten Chef gab es im Weinbaubetrieb Kleist nur einen, und der hieß Marie.

Auf dem Weg zur Fini saß Marie bereits im Fond des Autos. Was Gustl überhaupt nicht recht war, fühlt man sich doch immer wie ein Chauffeur, wenn niemand neben einem, sondern nur dahinter sitzt. Dass Gustl auch noch einen schwarzen Anzug trug, passte dazu. Fehlte nur noch die Schirmmütze.

Auch Fini war etwas echauffiert, weil die beiden so spät auftauchten. Aber ihr Einwand, dass man vielleicht die Opernaufführung, zumindest den ersten Akt, versäumen würde, stieß bei Marie genauso wenig auf Verständnis wie Gustls zuvor geäußerte Bedenken.

»Ich verstehe ja überhaupt nicht, Mariechen, warum du nicht morgen früh den Flieger nach München nimmst. Dein Flug nach Togo geht ohnehin erst am frühen Nachmittag. Da hättest du morgens noch bequem hinfliegen können. Hättest ja in einem Hotel in Wien übernachten können.«

»Lass mich doch einfach in Ruhe, Gustl.«

Ende der Debatte.

»Vergesst übrigens nicht, den neuen Wein-Folder gleich übermorgen beim Grafiker in Auftrag zu geben. Gedruckt wird aber erst, wenn ich zurück bin. Ich will mir alles vorher noch einmal anschauen.«

»Ja, Mariechen.«

»Und vergiss nicht, die Gärgasmessung im Keller immer gut zu kontrollieren. Nicht dass da wieder einer runtergeht und uns umkippt.«

»Ja, Mariechen. Aber es gibt keine Gärgase mehr.«

»Lass das Kontrollgerät trotzdem noch ein paar Tage eingeschaltet. Nicht dass da doch noch was passiert!«

»Ja, Mariechen.« Da hatte er allerdings schon einen ziemlichen Kropf.

»Und du, Fini, denkst du eh dran, noch fünfzigtausend Leerflaschen nachzubestellen?«

»Ja, Marie …«

Obwohl Gustl so fest es ging aufs Gas stieg, waren sie kurz davor, den Zug zu verpassen. Darum halfen Fini und Gustl trotz ihres Zeitdrucks und trotz Opernmontur noch mit, Maries Gepäck im Eiltempo zum Bahnsteig zu schleppen. Dort gab es dann doch noch eine herzliche Umarmung, ein »Gute Reise«, »Melde dich!« und »Komm wieder heil zurück«. Aber das ging alles sehr schnell, sehr gehetzt, denn zur Oper wollte man unbedingt pünktlich kommen.

In Windeseile verließen Fini und Gustl den Bahnsteig, noch einmal kurz umgedreht, noch einmal gewinkt, und schon saßen sie im Wagen, der nun deutlich schneller als erlaubt in Richtung Oper raste. Nur wenige Minuten bevor sich der Vorhang für Otello öffnete, brausten sie in die Operngarage hinunter, zum Parkplatzsuchen war nun wirklich keine Zeit mehr. Die Jacken ließen sie im Auto, um sich nicht auch noch an der Garderobe anstellen zu müssen. Und gerade, als die Türen zum Opernsaal geschlossen wurden, schafften sie es, hineinzuhuschen und ihre Plätze einzunehmen. Im nächsten Moment gingen die Lichter aus, und der Vorhang wurde hochgezogen. Im Publikumssaal herrschte absolute Stille.

Wer ahnte schon, dass sich noch während der Opernaufführung nur unweit des Anwesens der Kleists eine noch viel dramatischere, weil reale Szene abspielte. Eine Szene zwischen einem Mann und einer Frau.

Es war ungefähr halb neun am Abend, als die Frau das alte hölzerne Eingangstor eines kleinen Gehöfts öffnete, das Teil einer Siedlung war, so klein, dass für Ortsanfang und Ortsende ein gemeinsames Schild fast gereicht hätte.

Der Mann, der hier wohnte, lag wie fast immer um diese Zeit auf seinem Bett, die Kopfhörer aufgesetzt, ein Glas Whisky neben sich. Das Licht war gedämpft, der Aschenbecher quoll über. Die Reste einer Leberkäsesemmel lagen noch auf einem kleinen Teller neben dem Bett. Es waren AC/DC und die Stimme von Bon Scott, die ihn mehr oder minder von der Außenwelt abtrennten.

Der Mann merkte nicht gleich, dass die Haustür aufging und die Frau das Vorhaus betrat. Erst nachdem sie ihre Jacke abgelegt und die Schuhe ausgezogen hatte, ins Zimmer kam und sich neben ihn auf das Bett setzte, nahm er Notiz von ihr. Sie schenkte ihm ein verliebtes Lächeln und strich ihm durchs Haar. Doch dann machte sie sich ohne Umschweife daran, ihm Hemd und Hose auszuziehen, und öffnete den Reißverschluss ihres Kleides. Und als sie beide vollkommen entkleidet waren, stieg sie zu ihm ins Bett.

Zur selben Zeit griff Fini kurz nach Gustls Hand, denn in der Wiener Staatsoper steuerte das Stück gerade seinem Höhepunkt entgegen, als Otello sich zu Desdemona ins Bett begab.

Sicher lagen zu dieser Zeit Abertausende Liebes- und Ehepaare überall auf der Welt in ihren Betten und umarmten sich. Sicher ging es in dem ein oder anderen Bett auch etwas härter zur Sache, vermutlich legten gerade unzählige Männer ihre Hände an den Hals jener Frau, mit der sie sich gerade vergnügten. So auch Otello und der Mann unweit des Anwesens der Kleists.

Aber nur Otello und jener Mann drückten immer fester und fester zu, immer schonungsloser, bis dem Atem der Weg gänzlich versperrt war. Und nur Desdemona und die besagte Frau kämpften nun um ihr Leben, schlugen um sich und verschluckten sich an ihren Schreien, bis sie schließlich den Kampf verloren.

Der Vorhang fiel, das Publikum war begeistert. Alle sprangen von den Sitzen, tosender Applaus. Auch Fini und Gustl hielt es nicht auf ihren Plätzen. Und während sie sich ihre Hände heiß klatschten, lag nur wenige Kilometer von ihren Wohnstätten entfernt der Körper einer leblosen Frau im Bett ihres Mörders.

ZWEI

Die Ameseder Loisi war so was wie eine Einsiedlerin. Sie bewohnte eine kleine Keusche am Waldrand, und zwar ganz allein, seit ihre Mutter vor fast zwei Jahrzehnten verstorben war. Die bald Siebzigjährige stammte, wie man sich erzählte, von einem russischen Besatzungsoffizier, der ihrer Mutter Avancen gemacht hatte. Sie war also nicht das Produkt einer Vergewaltigung, oh nein! Die große Liebe war es aber offensichtlich auch nicht gewesen. Denn nachdem der Russe in seine Heimat rückbeordert worden war, hatte Loisi nie wieder etwas von ihm gehört.

Ihre Mutter war übrigens ebenfalls so etwas wie ein Kollateralschaden gewesen. Deren Mutter war nämlich 1917 zur Zeit der Kerenski-Offensive in einem Lazarett in der Nähe von Riga als Krankenschwester im Einsatz gewesen. Zwischen zwei Beinamputationen hatte sie den OP-Raum verlassen, um im Garten ein wenig zu verschnaufen. Da entdeckte sie zwischen den Büschen einen Mann, abgemagert und von einer Schussverletzung gepeinigt. Der Mann war in Zivil, doch stellte sich rasch heraus, dass er Russe war. Offensichtlich ein Anhänger des Zaren, der vor den Bolschewiki auf der Flucht war.

Da sie nicht so recht wusste, was sie mit dem Russen anfangen sollte, nahm sie ihn mit, versteckte ihn bei sich und pflegte ihn quasi außer Dienst. Wahrscheinlich hatte der Mann Loisis Großmutter sein Leben zu verdanken. Das hinderte ihn aber nicht, als er wieder bei Kräften war, seine Lebensretterin so lange zu vögeln, bis sie schwanger war und selbst das Weite suchen musste.

Zuerst wollten sich Loisis Großmutter und ihr Russe gemeinsam bis nach Österreich durchschlagen. Aber eines Abends ging der Russe weg, weil er hoffte, noch ein wenig Wodka besorgen zu können. Loisis Großmutter wartete und wartete. Aber der Russe ward nie mehr gesehen. Ein Klassiker auf Russisch. So musste sich die schwangere Frau allein durchschlagen. Und es dauerte Monate, bis sie die Heimat erreichte. Zwei Monate später kam ihre Tochter, Loisis Mutter, zur Welt.

Loisi hatte sich zeitlebens ihren Unterhalt mit Kleindienstleistungen verdient. Ein bisschen putzen, ein bisschen nähen, ein bisschen stricken, ein bisschen Garten pflegen, ein bisschen Kinder hüten. Inzwischen erhielt sie eine Pension ostblockähnlichen Ausmaßes, aber sie kam damit aus. Sparsamkeit und Genügsamkeit hatten schon immer zu ihren Stärken gezählt.

Geldarbeit verrichtete sie in den letzten Jahren nur noch ganz selten, in Ausnahmefällen strickte sie für jemanden einen Pullover, denn das konnte sie wirklich gut. Ihre Hauptbeschäftigung aber war die Pflege des Friedhofs von Niederfeld, weshalb sie von den Dorfbewohnern scherzhaft »die Leichen-Loisi« genannt wurde.

Alles, was nicht unmittelbar zu den Gräbern gehörte, wurde von der Loisi auf Vordermann gebracht. Rasenmähen, den Kies auf den Wegen rechen, jeden Herbst Laub aufsammeln … Wer hätte das alles getan, wenn nicht die Loisi? Und keiner dankte es ihr so richtig. Abgesehen davon, dass der Pfarrer sie in seiner Dankespredigt zum Jahreswechsel erwähnte, kam kein Mensch auf die Idee, der Leichen-Loisi einmal ein kleines Geschenk zu machen, sie irgendwie zu ehren oder einfach Danke schön zu sagen. Lediglich Hemma, die Schwester des Pfarrers, die auch seine Haushälterin sowie Mesnerin und Organistin war, lud sie hin und wieder auf eine Tasse Kaffee ein, damit Loisi sich von den Friedhofsmühen ein wenig erholen konnte. Aber auch, um Loisi die Gelegenheit zu geben, sich ihre Sorgen und Gedanken ein wenig von der Seele zu reden. Denn zum Reden hatte die Leichen-Loisi eigentlich kaum jemanden.

Es war daher auch kein Wunder, dass Loisi die Hemma als Freundin, ja, ihre Vertraute betrachtete. Und noch weniger wunderte es, dass Loisi die Hemma mitten in der Nacht aus dem Bett klingelte, nachdem sich Folgendes zugetragen hatte.

Die Leichen-Loisi war an und für sich eine furchtlose Frau. Wer oft bis spät in die Nacht allein auf dem Friedhof arbeitet, der fürchtet weder Tod noch Teufel. Darum hatte sich die Loisi auch nicht einfach unter der Bettdecke verkrochen, als sie eines Nachts ein lautes Scheppern hörte. So als hätte jemand vor dem Haus ihren Schubkarren umgestoßen. Tiere aus dem Wald machten so etwas nicht. Jemand musste um ihr Haus geschlichen sein und dabei den Schubkarren übersehen haben.

Wie von einer Gans gebissen sprang Loisi aus dem Bett, zog sich ihren Anorak über das Nachthemd und band noch schnell ein Kopftuch um, denn ohne Kopftuch ging die Loisi niemals aus dem Haus. Dann schlüpfte sie in ihre dicken Holzschlapfen, was ihre Gesamtgröße von circa einem Meter fünfzig auf eins fünfundfünfzig hochschnalzen ließ, und lief vor die Haustür.

Tatsächlich lag der Schubkarren umgestürzt neben dem Gartenzaun. Sonst fiel ihr im ersten Moment nichts Ungewöhnliches auf, bis sie sah, dass die Tür des Schuppens offen stand. Sie selbst hätte nie vergessen, die Schuppentür abzuschließen. Es musste folglich jemand anderer im Schuppen gewesen sein. Oder vielleicht war der Kerl sogar immer noch drinnen?

Loisi ging zurück ins Haus, um sich eine Taschenlampe zu holen. Dann schlich sie mit einem Stock bewaffnet zum Schuppen hinüber.

»Ist da wer?«

Doch es war mucksmäuschenstill. So führte sie den Lichtkegel ihrer Taschenlampe durch den gesamten Raum, bis sie sicher war, dass keine Menschenseele mehr da war. Aber dass jemand hier gewesen war, dessen war sie sich sicher.

Bevor sie wieder ins Bett ging, überprüfte sie noch den Inhalt ihres Schuppens. Denn wer schlich sich schon mitten in der Nacht da hinein, wenn er nicht vorhatte, etwas zu stehlen?

Und tatsächlich fehlte die Spitzschaufel, die sie erst unlängst in einem Baumarkt gekauft hatte.

»Verdammte Drecksau!«, entfuhr es Loisi, denn für eine Spitzschaufel musste sie ganz schön lange stricken.

Das hieß aber noch nicht, dass Loisi die Schaufel gleich abschrieb. Der Kerl konnte noch nicht weit sein. Wahrscheinlich war er ja zu Fuß unterwegs, Motorgeräusche hatte sie keine vernommen. So lief sie erst ein paar hundert Meter den Hohlweg entlang, der ihre Keusche mit der Bundesstraße verband, bis sie plötzlich in einer Waldlichtung die Scheinwerfer eines Fahrzeugs wahrnahm. Um selbst nicht entdeckt zu werden, schaltete sie ihre Taschenlampe aus. Geschmeidig wie eine Katze schlich sie durch das Unterholz auf die Lichtung zu. Und dort sah sie es. Ein Mann hob mit ihrer Spitzschaufel ein Loch aus. Daneben lag eine Schaufel mit abgebrochenem Stiel. Klar, dass der Mann damit nicht mehr weitergraben konnte und sich eine neue Schaufel hatte besorgen müssen. Und neben der Schaufel lag ein eingerollter Teppich, bei dem an einem Ende zwei Beine und am anderen ein Haarschopf herausragten.

Loisi erschrak bei dem Anblick, und zwar so sehr, dass sie ganz vergaß, auf ihre Deckung zu achten. Sie wich zurück und zertrat einen Ast, was den Mann aufhorchen ließ.

Aufgeschreckt, aber entschlossen sah er sich um. Dann ging er langsam, mit der Spitzschaufel bewaffnet, in jene Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Also auf die Loisi zu. In dem Moment begannen der so furchtlosen Loisi tatsächlich die Knie zu schlottern, gleichzeitig spürte sie einen unbändigen Harndrang. Doch diesem jetzt nachzugeben, wäre der absolut falsche Zeitpunkt gewesen.

Loisi sah, wie der Mann immer näher kam. Die Spitzschaufel hielt er wie einen Steinschlägel in seinen Händen, offenbar bereit, sofort damit zuzuschlagen. Der Mann näherte sich nur langsam, seine Blicke nach links und rechts ließen vermuten, dass er die Loisi noch nicht entdeckt hatte. Am ganzen Körper zitternd und dem immer stärker werdenden Harndrang gerade noch widerstehend, gelang es Loisi, sich im Unterholz zu verstecken. Dort lag sie nun wie eine tote Katze und hielt, als der Mann nur mehr zwei Meter von ihr entfernt war, sogar den Atem an. Jetzt erst blieb er stehen, schaute sich noch einmal nach allen Seiten um, dann senkte er endlich die Schaufel und ging zurück zu seinem Auto.

Sobald er weit genug entfernt war, kroch Loisi aus dem Geäst hervor und rannte los wie der Teufel. Dies bemerkte der Mann natürlich. Er ließ die Schaufel fallen, sprang in sein Auto und fuhr der Loisi hinterher.

Natürlich konnte die Loisi das alles nicht sehen, sie hatte weder Zeit noch Lust, sich umzudrehen. Aber sie hörte das Motorengeräusch. Zum Glück war ihr Vorsprung weit genug, dass sie sich gleich nach der ersten Kurve hinter einem Baum verstecken konnte. Und als das Auto an dem Baum vorbeiraste, kam die große Erleichterung.

Als sie sich wieder aufrichtete, saß ihr der Schock noch in allen Gliedern. Ein paar Minuten blieb sie hinter dem Baum stehen, als gehörte sie zum Inventar des Waldes, angewurzelt und regungslos. Still und stumm. Erst nach einiger Zeit fasste sie sich wieder, trat hinter dem Baum hervor und lief, so schnell sie nur konnte, den Hohlweg hinunter auf die Bundesstraße zu. Doch plötzlich hörte sie wieder ein Motorengeräusch, und in der Ferne sah sie einen sich nähernden Scheinwerferkegel. Der Mörder kam zurück, daran hatte sie keinen Zweifel. Da sie den Wald schon hinter sich gelassen hatte und weder Bäume noch Sträucher da waren, hinter denen sie sich verstecken konnte, warf sie sich geistesgegenwärtig in den Straßengraben. Kaum war der Wagen im Wald verschwunden, sprang sie auf und lief wieder los, so schnell, wie es ihre Holzschuhe zuließen. Sie rannte und rannte die Bundesstraße entlang bis hinunter nach Niederfeld. Um das Beste zu tun, was ihr in diesem Moment einfiel – Hemma! Hemma musste her. Und zwar unverzüglich.

Wahrscheinlich brauchte sie keine zwanzig Minuten für die zwei Kilometer bis zum Ortsschild, und im Nu war sie auch beim Pfarrhaus, wo sie ungeachtet der Tatsache, dass die Turmuhr gerade drei Uhr schlug, ohne Unterlass die Klingel drückte, an die Tür schlug und »Hemma! Hemma!« rief.

»Loisi, bist du ganz narrisch geworden? Warum machst du denn so einen Lärm mitten in der Nacht?«

»Komm schnell, Hemma! Da will einer eine Leiche vergraben!«

»Was ist los?«

»Jetzt komm schon, tummle dich. Da will einer eine Leiche vergraben! Oben im Wald.«

»Warte, ich zieh mir schnell was an.«

Es dauerte keine fünf Minuten, bis Hemma in Jacke und Jogginghose wieder zurück war. Beide stiegen in Hemmas roten Kadett, der nicht mehr der Jüngste, aber immer noch brav und zuverlässig war.

»So, jetzt beruhige dich. Und dann erzähl mir genau, was du gesehen hast«, verlangte Hemma, während sie mit Vollgas durchs Dorf brauste. Und Loisi berichtete detailgenau, was sich zugetragen hatte, vom Scheppern des Schubkarrens angefangen bis zu der eingewickelten Leiche. Vor allem aber, dass der Mörder auch sie hatte umbringen wollen und sie dem Tod schon in die Augen gesehen hatte.

»Da, jetzt rechts in den Wald!«

Und nachdem sie noch dreihundert Meter den Hohlweg entlanggehoppelt waren, rief Loisi ganz aufgeregt: »Bleib stehen! Da hinten muss es sein!«

Hemma zog die Handbremse an und stellte den Motor ab. Nachdem sie ausgestiegen waren, schauten sie sich um. Im Wald herrschte gelassene Ruhe. Selbst die meisten Tiere schliefen noch. Nur zwischen den Ästen rauschte ein wenig der Wind.

»Und was jetzt?«, fragte Hemma etwas skeptisch.

»Keine Ahnung! Genau hier habe ich den Mann gesehen. Mit der Leiche im Teppich. Und mit meiner Spitzschaufel.«

Aber da war nichts mehr. Weder eine Leiche noch ein Totengräber. Keine Schaufel. Nur ein aufgegrabenes Loch.

»Sag, Loisi, bist du angesoffen?«

»Was heißt das? Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen!«

»Loisi, da ist gar nichts. Nur ein Loch. Du phantasierst! Wahrscheinlich hast du schlafgewandelt. Dann hast du das Loch gesehen und dir eine Leiche und einen Mörder dazugeträumt. Da ist nichts, Loisi.«

»Aber schau dir dieses Loch doch an! Das hat genau die Form von einem Grab. Wozu würde man sonst hier so ein Loch graben?«

»Das weiß ich nicht, Loisi. Ich weiß nur, dass du dich den ganzen Tag auf dem Friedhof herumtreibst. Drum fängst du wahrscheinlich an, Gespenster zu sehen.«

»Hemma, pass auf. Erstens sehe ich keine Gespenster, ich weiß genau, was ich gesehen habe. Und zweitens: Was heißt hier herumtreiben? Du weißt genau, wie der Friedhof ohne meine Arbeit aussehen würde. Herumtreiben! Pass bloß auf!«

»So ist es ja nicht gemeint. Deine Arbeit schätze ich sehr. Wir alle. Aber wer dauernd bei den Leichen ist, dem kann es schon passieren, dass er nur mehr Leichen im Schädel hat.«

»Du glaubst also, dass ich narrisch bin. Ich weiß aber ganz genau, was ich gesehen habe. Hier hat ein Mann ein Loch gegraben. Mit meiner Spitzschaufel, die er mir aus dem Schuppen gestohlen hat. Und dann wollte er mich auch noch damit erschlagen.«

»Und wo ist die Leiche jetzt? Und die Spitzschaufel? Wo ist das alles?«

»Ich hab dir ja gesagt, dass er noch einmal zurückgekommen ist. Und dann hat er wahrscheinlich die Leiche eingepackt und ist abgehauen damit.«

»So, Loisi, jetzt beruhige dich. Es kann schon einmal passieren, dass man sich etwas einbildet …«

»Verdammt noch einmal, Hemma! Red nicht mit mir, wie wenn ich einen Klescher hätte. Er hat mitgekriegt, dass er beobachtet wurde. Verstehst du? Drum musste er zurückkommen, um die Leiche wieder abzuholen. Wahrscheinlich vergräbt er sie gerade ein paar Kilometer weiter.«

»Wie hat denn die Leiche überhaupt ausgeschaut?«

»Das weiß ich doch nicht. Die war ja eingewickelt. Da haben nur die Füße und die Haare herausgeschaut.«

»Aber als der Mann weggefahren ist, da hättest du dir doch die Leiche ein wenig genauer anschauen können. Du hättest zur Leiche hingehen können und nachschauen, ob du sie erkennst.«

»Spinnst du, ich war doch in Lebensgefahr! Ich bin um mein Leben gerannt, kapierst du das nicht?

»Loisi, entschuldige schon, da stehst du dreißig Meter neben einer Leiche, von der du glaubst, dass sie ermordet worden ist. Und dann schaust du nicht einmal nach, wer das ist? So deppert kannst du doch gar nicht sein!«

»Ich hab dir schon gesagt, dass du nicht so mit mir reden sollst, du Gurkn. Das muss ich mir nicht gefallen lassen!«

»Ja, passt schon, Loisi. Komm, steig ein, ich bring dich jetzt heim. Und morgen können wir ja weiterreden. Du musst jetzt ins Bett. Und ich auch.«

»Du glaubst mir nicht, Hemma«, sagte Loisi betrübt und mit gesenktem Kopf. »Ich hab immer gedacht, dass wir gut miteinander auskommen. Aber in Wirklichkeit hältst du mich für ein deppertes Weiberleut. Ich bin sehr enttäuscht von dir.«

»Geh, Loisi, komm! Wir sind Freundinnen. Aber auch eine Freundin kann sich einmal etwas einbilden. Das ändert nichts zwischen dir und mir. Komm jetzt! Außerdem ist morgen Sonntag, du weißt ja, dass ich da immer irrsinnig viel zu tun habe.«

Hemma wollte Loisi am Arm fassen, um sie zu motivieren, endlich ins Auto zu steigen. Aber Loisi riss sich los.

»Bei dir steige ich bestimmt nicht mehr ein. Ich geh zu Fuß. Und außerdem will ich überhaupt nichts mehr mit dir zu tun haben.«

Das waren ihre letzten Worte für diese Nacht. Gekränkt kehrte sie Hemma den Rücken zu und lief zurück zu ihrer Keusche.

Hemma tat das Ganze unglaublich leid. Der Ärger darüber, dass Loisi sie um drei Uhr früh völlig unnötig aus dem Schlaf gerissen hatte, war inzwischen gänzlich verflogen. An seine Stelle trat nun Mitleid. Und die Angst, dass die Loisi auf ihre alten Tage tatsächlich zu spinnen anfing.

Auf dem Heimweg fuhr sie besonders langsam, um sich das Erlebte noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Immerhin, das Erdloch sah wirklich wie ein nicht zu Ende geschaufeltes Grab aus. Man könnte die Sache ja auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Was, wenn die Loisi doch nicht phantasierte?

Erst einmal drüber schlafen, dachte sie sich. Leiche oder doch keine Leiche? Mord oder doch kein Mord? Morgen würde sie es wissen.

DREI

Überall in der mitteleuropäischen Zeitzone war es um diese Jahreszeit bereits sieben, wenn die Kirchturmuhr in Niederfeld nur sechs Mal schlug. Und wenn es überall sonst halb neun war, begann die Frühmesse hier pünktlich um halb acht. Doch dazu kommen wir noch.

Jedenfalls musste Hemma an diesem Tag, so wie an allen anderen Tagen auch, mit dem Sechs-Uhr-Schlag der großen Glocke aufstehen. Ihr Morgenritual lief immer ähnlich ab. Gleich nach dem Aufstehen setzte sie den Kaffee auf. Dann verschwand sie im Bad, wo sie sich auf Hochglanz polierte.

Hemma war eine Frau, von der manche sagen würden: Die muss einmal sehr schön gewesen sein. Andere, die Schönheit nicht mit Jugend verwechselten, würden das anders sehen. Sie würden noch immer Hemmas feines, gerade geschnittenes Gesicht erkennen, das zwar von einigen wenigen Falten gezeichnet war, aber nicht mehr, als es der Stolz einer Frau Anfang fünfzig zuließ. Ihre Augen waren zart und warm. Ihr schulterlanges, gelocktes Haar hatte nur wenige, durchaus elegante weiße Strähnen. Und ihre Figur war noch immer in Form. Hätte man ihr Gesicht abgedeckt und den Rest des Körpers entblößt, hätte man sie genauso gut zehn bis fünfzehn Jahre jünger schätzen können. Aber wer bekam dazu schon die Gelegenheit …