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Ohne einen Dollar – dafür jedoch mit Mietschulden und einer pflegebedürftigen Großmutter – steht die junge Carey vor dem Nichts. Nur einen Abend später findet sie sich auf der Geburtstagsparty des attraktiven Ryan als vermeintliche Stripperin wieder. Nachdem sie den anfänglichen Schock überwunden hat, nutzt sie die Situation zu ihrem Vorteil, denn sie wittert eine Chance auf ein bisschen dringend benötigtes Geld. Angespornt durch den Verdienst an diesem Abend lässt sie sich auf das Angebot des mysteriösen wie unverschämten Travis ein und wird, ohne es zu ahnen, zu einem Spielball in einer ganz und gar unschönen Angelegenheit. Viel zu spät wird ihr klar, dass sie nur benutzt wird, um eine alte Rechnung zu begleichen.
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Kurzbeschreibung
Velvet Lips
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Danksagung
Die Autorin
Hin und … weg von dir
Nah und … doch so fern
Liebe und … was sonst noch zählt
Lieben und … Lieben lassen
Heute und … für alle Zeit
Komm und … küss mich wach
Hold the line
Moments of Destiny – Begehren
Ohne einen Dollar – dafür jedoch mit Mietschulden und einer pflegebedürftigen Großmutter – steht die junge Carey vor dem Nichts.
Nur einen Abend später findet sie sich auf der Geburtstagsparty des attraktiven Ryan als vermeintliche Stripperin wieder. Nachdem sie den anfänglichen Schock überwunden hat, nutzt sie die Situation zu ihrem Vorteil, denn sie wittert eine Chance auf ein bisschen dringend benötigtes Geld. Angespornt durch den Verdienst an diesem Abend lässt sie sich auf das Angebot des mysteriösen wie unverschämten Travis ein und wird, ohne es zu ahnen, zu einem Spielball in einer ganz und gar unschönen Angelegenheit. Viel zu spät wird ihr klar, dass sie nur benutzt wird, um eine alte Rechnung zu begleichen.
Louisa Beele – Velvet Lips
© Louisa Beele, August/2016
Louisa Beele
c/o Papyrus Autoren-Club
R.O.M. Logicware GmbH
Pettenkoferstr. 16-18
10247 Berlin
Umschlaggestaltung, Illustration: Casandra Krammer – www.casandrakrammer.de
Korrektorat und Lektorat: WortPlus – www.wortplus.eu
Alle Rechte vorbehalten!
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autoren. Personen und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für Mandy. Für alles.
Carey
Wie in Trance nahm ich auf der Bettkante Platz. In meinen Ohren rauschte es, ansonsten fühlte ich rein gar nichts, war wie gelähmt. Doch meine Gedanken überschlugen sich.
Von meiner Mutter war ich einiges gewohnt, dieses Mal hatte sie sich allerdings selbst übertroffen. Obwohl ich mich noch immer weigerte, zu glauben, was ohne Zweifel geschehen war.
Die meisten ihrer Sachen waren verschwunden, außerdem der alte Koffer, der jahrelang auf ihrem Kleiderschrank gelegen hatte. Meine Mutter war in einer Nacht-und-Nebel-Aktion abgehauen, hatte den mickrigen Rest Bargeld, den wir besessen hatten, mitgenommen – jeden einzelnen Dollar – und mich mit Milly alleingelassen.
Das war eine Katastrophe!
Verzweifelt vergrub ich das Gesicht in meinen Händen und fragte mich, wie es nun weitergehen sollte. Ich hatte nicht einmal genug Geld, um Lebensmittel zu kaufen. Mr Atkins war in dieser Woche schon zwei Mal hier gewesen, weil wir ihm die Miete für letzten Monat noch schuldig waren, und er würde sich nicht noch einmal vertrösten lassen. Im schlimmsten Fall säße ich innerhalb von zwei Tagen mit meiner Großmutter auf der Straße. Das würde sie umbringen.
»Carey«, rief sie auch schon. Ich stöhnte. Wie sollte ich ihr das nur erklären? Noch hatte sie nichts davon mitbekommen, aber sehr lange würde es nicht mehr dauern. Ihr Verstand funktionierte meistens einwandfrei, auch wenn sie ab und zu ein wenig verwirrt wirkte. Milly war bereits 89 und nicht mehr in der Lage, ihren Alltag alleine zu bewältigen.
»Ich komme schon«, antwortete ich resigniert. Kraftlos erhob ich mich. Es fühlte sich an, als könnte ich mein eigenes Gewicht nicht mehr tragen. Meine Verzweiflung wandelte sich in Panik. Ich musste mir etwas einfallen lassen. Schnell.
Bevor ich das Schlafzimmer verließ, straffte ich die Schultern und drückte den Rücken durch. Es nützte niemandem, wenn ich jetzt aufgab. Irgendwie musste es weitergehen, auch wenn mir im Augenblick noch nicht klar war, wie das aussehen sollte. Lautlos schloss ich die Tür hinter mir und ging rüber ins Wohnzimmer, wo Milly schlief. Den einzigen anderen Raum hatten Mom und ich uns geteilt, seitdem Milly bei uns lebte. Keine ideale Lösung, aber uns stand keine andere zur Verfügung. Irgendwie hatte es funktioniert und wir uns mit Moms Verdienst als Kosmetikberaterin über Wasser gehalten. Vor zwei Jahren hatte ich die Schule abgeschlossen und mich fortan rund um die Uhr um meine Großmutter gekümmert.
»Hey, Milly. Zeit fürs Abendessen«, sagte ich sanft zu der kleinen gebrechlichen Frau, die die meiste Zeit des Tages auf dem alten Sessel vor dem Fernseher verbrachte. Ununterbrochen liefen Talkshows oder irgendwelche Endlosserien, von denen Milly nur die Hälfte verstand, weil ihr Gehör leider auch immer schlechter wurde.
»Was gibt es denn heute?«, wollte sie wissen.
Ich lächelte, denn wieder mal freute ich mich darüber, dass sie nach wie vor über einen gesunden Appetit verfügte.
»Ich mache uns schnell ein paar Bratkartoffeln. Eier haben wir auch noch.«
»Schon wieder? Das gab es doch erst gestern. Wie wäre es zur Abwechslung mal mit einem schönen Steak?«
»Das kannst du doch sowieso nicht anständig kauen.«
»Sag das nicht. Ich habe sehr gute Zähne«, widersprach sie.
»Aber die liegen fast immer in einem Wasserglas.«
»Ich will sie eben schonen. Neue können wir uns nicht leisten.«
»Und genau deshalb mache ich uns Bratkartoffeln.« Ich umarmte sie kurz und ging rüber in unsere kleine Küche. Der Tisch reichte gerade für zwei Personen, aber wir hatten selten mehr Platz gebraucht, weil Mom kaum daheim gewesen war. Wenn sie nicht von Haus zu Haus gelaufen war, um ihre Kosmetika unter die Leute zu bringen, hatte sie sehr viel Zeit bei Pete, ihrem aktuellen Freund, verbracht. Ich nahm an, dass er sie auch dazu überredet hatte, uns zu verlassen, um mit ihm wegzugehen. Ein paar Tage zuvor war Mom versehentlich eine Bemerkung entschlüpft, die mich irritiert hatte, doch jetzt verstand ich sie in vollem Ausmaß. Pete hatte seine Wohnung gekündigt und auf meine Frage, wo er denn dann ab sofort wohnen würde, hatte Mom erwidert, er ziehe zu uns, bis er etwas Neues gefunden hätte. Selbstverständlich hatte ich protestiert, denn für einen weiteren Bewohner gab es keinen Platz bei uns und ich hatte ganz sicher nicht vor, das Schlafzimmer nun auch noch mit dem Liebhaber meiner Mutter zu teilen. Jetzt wusste ich allerdings, dass das auch nie geplant gewesen war. Pete hatte seine Wohnung gekündigt, um an einem anderen Ort mit Mom ein neues Leben anzufangen. Ohne ihre Tochter und ohne ihre Schwiegermutter. Sie hatte uns einfach hier zurückgelassen.
Mechanisch schälte ich die Kartoffeln, während ich hörte, wie Milly durch das Fernsehprogramm zappte und dabei vor sich hin brabbelte. Dass sie häufig Selbstgespräche führte, war mittlerweile ganz normal für mich, doch dann registrierte ich, dass sie mit mir sprach. »Was ist denn, Milly?«, fragte ich und spitzte die Ohren.
»Ich möchte wissen, wann deine Mom heute nach Hause kommt.«
»Ähm, das weiß ich leider nicht. Vielleicht hat sie heute Glück und der Verkauf läuft gut.«
»Nein, sie ist nicht arbeiten. Ihr Koffer steht im Flur. Bestimmt treibt sie sich mit diesem Trunkenbold herum, der ihr nur Flausen in den Kopf setzt.«
Ich ging zu ihr hinüber und setzte mich neben sie auf die Sessellehne. Einen Moment sah ich sie an, dann umarmte ich sie und schmiegte meinen Kopf an ihre knöcherne Schulter. »Sie hat uns verlassen, Milly«, flüsterte ich. Fast hoffte ich, sie hätte mich nicht verstanden, doch das war vergeblich. Ich konnte fühlen, wie sie sich versteifte und ein paar Mal tief einatmete.
»Das war abzusehen, Kind. Aber wir schaffen das doch alleine, oder? Sag es mir, schaffen wir es?« Sie legte ihre faltigen Hände auf meine Wangen und zwang mich, sie anzusehen. »Schaffen wir es?«
Ich schluckte, weil ich auf keinen Fall vor ihr weinen wollte. »Natürlich schaffen wir das.« So sicher, wie ich das herausbrachte, fühlte ich mich gar nicht, aber ich musste sie beruhigen. Eine hysterische Seniorin konnte ich nicht gebrauchen. Am Ende würden wir es auch schaffen, die Frage war nur, was ich dafür tun musste.
Das Essen nahmen wir schweigend ein. Sie hielt die trüben Augen auf den Fernseher gerichtet, in dem gerade eine ausgewachsene Eifersuchtsszene ihren Lauf nahm, und ich war tief in Gedanken versunken.
Ich würde meinen Job im Café kündigen, dem ich sowieso nur wenige Stunden hatte nachgehen können, und mir einen Job suchen müssen, den ich nachts ausüben konnte, wenn Milly schlief. Vielleicht konnte ich in einem der großen Bürogebäude putzen, wenn die Angestellten bereits den Feierabend genossen. Zwischen zwei Bissen warf ich einen Blick auf den Kosmetikkoffer meiner Mutter. Die übrig gebliebenen Produkte konnte ich bei eBay verkaufen, dort brachten sie vielleicht noch einige Dollar ein. Jeder Cent zählte.
Nach dem Essen spülte ich zuerst das Geschirr und machte dann Milly bettfertig. Weil sie sowieso im Wohnzimmer schlief, schaute sie noch eine Weile Fernsehen, bis ihr – wie jeden Abend – die Augen zufielen. Mit ein wenig Glück würde sie bis morgen Früh durchschlafen. Als ich ihre Kleider weggeräumt und den Rest des Apartments in Ordnung gebracht hatte, nahm ich den Koffer mit der Kosmetik und trug ihn in mein Schlafzimmer. Ich legte ihn neben mich auf das Bett und ließ die Verschlüsse aufschnappen. Erstaunt stellte ich fest, dass er mit allerhand Lippenstiften, Nagellacken, Rouges, Make-ups und weiteren Produkten gefüllt war. Ich war gar nicht davon ausgegangen, dass meine Mutter derart gut ausgestattet war.
Vor mir befand sich eine bunte Palette duftender und hübscher Kosmetika. Das würde sicher noch ein paar schöne Dollars einbringen, wenn sich dafür Käufer fänden. Gleich morgen würde ich schon mal ein paar der Produkte bei eBay einstellen. Nacheinander nahm ich verschiedene Döschen und Fläschchen heraus und betrachtete sie. Weil ich mich mangels Gelegenheit nur sehr selten schminkte, war ich gar nicht auf dem Laufenden, was man so alles benutzte. Doch ich musste zugeben, die Sachen waren alle wirklich hübsch und dufteten sehr gut. Mithilfe des kleinen Taschenspiegels, den ich in einem Seitenfach fand, probierte ich einige der Tester an meinem eigenen Gesicht aus; ich legte grauen Lidschatten und trug roséfarbenes Rouge auf. Nachdem ich mir die Palette der verschiedenen Lippenstiftfarben angesehen hatte, entschied ich mich für ein nicht allzu dunkles Rot aus der Serie Velvet Lips. Im Anschluss betrachtete ich mein Werk im Spiegel, soweit das überhaupt möglich war, denn ich konnte anhand seiner Größe immer nur Teile meines Gesichts sehen. Schließlich schüttelte ich den Kopf. Was tat ich hier eigentlich? Ich war aufgebrezelt, als würde ich zu einer Party gehen, dabei hatte ich seit Ewigkeiten keine mehr besucht. Meine Freunde hatten sich mittlerweile allesamt von mir abgewandt, weil ich sie immer wieder vertröstet hatte, wenn sie mich baten, mit ihnen ins Kino oder in ein Café zu gehen. Milly konnte ich nicht alleine zu Hause lassen. Anfangs hatte ich das noch hin und wieder getan, doch als sie beim Versuch, eine Kerze anzuzünden, die Vorhänge in Brand gesetzt und ein anderes Mal eine Überschwemmung verursacht hatte, weil ihr die glorreiche Idee gekommen war, ganz spontan baden zu gehen, hatten Mom und ich beschlossen, dass es unverantwortlich sei, sie noch einmal alleine zu lassen. Also war ich zu ihrer persönlichen Pflegerin geworden.
Das war in Ordnung, wirklich. Milly war ein großartiger Mensch und ich liebte sie über alles. Selbst wenn wir finanziell dazu in der Lage gewesen wären, hätte ich sie niemals in ein Pflegeheim abgeschoben. Das hatte sie nicht verdient. Sie wollte bei uns sein, und ich war über jeden weiteren Tag froh, den ich mit ihr verbringen durfte.
Milly war die Mutter meines Vaters, der vor ein paar Jahren bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen war, und somit das einzige Familienmitglied väterlicherseits. Ich hatte das Gefühl, Mom und sie waren nie wirklich miteinander warm geworden, doch uns beide verband eine innige Beziehung. Sie war der wichtigste Mensch in meinem Leben.
Als ich sämtliche Kosmetik an ihren angestammten Platz zurücklegte, fiel mir der kleine Kalender ins Auge, in dem Mom immer ihre Termine notiert hatte. Ich hoffte, sie war so weitsichtig gewesen, keine neuen auszumachen, als ihr klar war, dass sie diesen Job nicht länger ausüben würde. Neugierig schlug ich ihn auf und fand allerhand Einträge in der typisch krakeligen Schrift meiner Mutter, einige waren durchgestrichen, neue zwischen die schmalen Zeilen gequetscht, und ich fragte mich, wie sie es geschafft hatte, über dieses Chaos einen Überblick zu behalten. Als ich bei der aktuellen Woche angekommen war, musste ich feststellen, dass sehr wohl einige Zeilen beschriftet waren, und stirnrunzelnd versuchte ich, etwas zu entziffern. Für morgen hatte sie sich einen Termin notiert. In der Spalte für fünf Uhr nachmittags war eine mir unbekannte Adresse eingetragen und mit drei übergroßen Ausrufezeichen versehen. Was hatte das zu bedeuten?
In meinem Gehirn ratterte es. Hatte sie ihre Kundinnen etwa gar nicht darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie ab sofort keine Kosmetik mehr an sie verkaufen würde? Ich merkte wie Unruhe, ja sogar Aufregung mich erfasste. War das vielleicht ein Zeichen? Was wäre, wenn ich einfach diesen Termin übernehmen würde? So schwer konnte das doch nicht sein, und wenn mir das auch nur ein paar Dollars einbrachte, hatte ich doch schon was gewonnen. Mit dem kleinen Notizbuch auf meinem Schoß und dem offenen Kosmetikkoffer links neben mir starrte ich vor mich hin und knetete nervös meine Finger. Sollte ich das tun? Was hatte ich schon zu verlieren? Selbst wenn ich mich fürchterlich blamierte, konnte ich es immer noch als einen blöden Fehler abtun, denn ich strebte ja keine Karriere in der Kosmetikindustrie an. Ich runzelte die Stirn und sah noch einmal in das Heft. Als mir die Uhrzeit wieder ins Auge fiel, seufzte ich. Niedergeschlagen schloss ich meine Lider. Ich würde ihn nicht wahrnehmen können, denn dafür müsste ich Milly alleine lassen, und das konnte ich nur, wenn ich mal kurz zum Einkaufen musste oder etwas Dringendes zu erledigen hatte, was nicht mehr als ein paar Minuten dauerte. In diesem Fall gab ich Mrs Rodriguez den Schlüssel, die in der gleichen Etage wohnte und alle paar Minuten nachschaute, ob bei Granny alles in Ordnung war. Allerdings ging sie selbst arbeiten und konnte deshalb nie tagsüber. Dann fiel mir allerdings ein, dass sie in dieser Woche krank gewesen war und mir sogar erzählt hatte, dass ihr Arbeitgeber alles andere als begeistert war, weil sie nicht zum Dienst kommen konnte.
Ich erhob mich und stieg über den Koffer. Nachdem ich einen kurzen Blick ins Wohnzimmer geworfen hatte, in dem Milly friedlich schnarchte, verließ ich die Wohnung und ging den Flur entlang.
Es dauerte eine Weile, bis die Tür geöffnet wurde und mir eine rotgesichtige Mrs Rodriguez schniefend gegenüberstand. »Dios, mios. Wenn das dein Vater wüsste. Er würde sich im Grab umdrehen.« Kopfschüttelnd unterbrach sie sich, weil sie einen Hustenanfall bekam, und ich wartete geduldig. »Was hast du vor, niña? Du willst dich doch nicht mit einem Mann treffen, oder?« Jetzt stemmte sie beide Hände drohend in die Hüften, an sich ein amüsanter Anblick, da die Frau einen ganzen Kopf kleiner als ich war, doch an Temperament konnte es so leicht niemand mit ihr aufnehmen.
Zuerst wusste ich gar nicht, warum sie so seltsam reagierte, doch dann hob ich meine Hand und berührte meine roten Lippen. Ich hatte vollkommen vergessen, dass mir die ganze Schminke noch im Gesicht klebte und ich wahrscheinlich aussah wie ein Clown. Der vernichtende Blick, den ich von Mrs Rodriguez kassiert hatte, war zumindest sehr eindeutig gewesen.
»Nein, nein. Nichts dergleichen. Ich habe nur … mit den Sachen meiner Mutter ein wenig rumexperimentiert.«
Missbilligend nickte sie. »Das solltest du lieber lassen. Wo ist sie überhaupt? Sie hatte mir versprochen, heute vorbeizukommen.«
»Das tut mir leid. Sagen Sie, schuldet sie Ihnen Geld?« Oh, bitte sag Nein, beschwor ich sie in Gedanken. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das finanzielle Dilemma stemmen sollte.
»Allerdings!«, zerstörte sie meine Hoffnungen. »Schon seit zwei Monaten. Normalerweise würde ich dir das nicht sagen, aber ich weiß nicht, was ich sonst noch tun soll, als sie ständig wieder daran zu erinnern. Aber du kannst ihr ausrichten, es war das letzte Mal. Mit mir braucht sie nicht mehr zu rechnen.« Nach der temperamentvollen Ansprache überfiel sie ein erneuter Hustenanfall, und auch dieses Mal wartete ich geduldig, bis er überstanden war.
»Was schuldet sie Ihnen denn?«, fragte ich vorsichtig.
»180 Dollar. Auf Zinsen verzichte ich, obwohl das mein gutes Recht wäre. Aber ich will nur mein Eigentum zurück, maldita mierda!« Sie schimpfte noch eine Weile auf spanisch weiter, und fast war ich froh, nur das Wenigste davon zu verstehen.
Obwohl ich noch keine Ahnung hatte, wie ich das hinkriegen sollte, versprach ich ihr, jeden einzelnen Dollar zurückzuzahlen, was sie gleich ein wenig milder stimmte.
»Aber was willst du hier, ha?«, wollte sie dann wissen.
»Ich habe eine große Bitte an Sie. Morgen Nachmittag habe ich einen wichtigen Termin und Sie wissen ja, ich kann Milly nicht unbeaufsichtigt lassen. Wäre es vielleicht möglich, dass Sie ab und zu nach dem Rechten sehen?«
»Hm, na gut. Weil du ein nettes Mädchen bist. Bring mir dann den Schlüssel, bevor du gehst.« Sie wollte die Tür schon schließen, doch ich fiel ihr vor Erleichterung in die Arme. »Danke, das ist so nett von Ihnen.«
»Ja, ja, schon gut. Ist keine große Sache, ich bin sowieso hier.«
Zurück in unserer Wohnung lief ich beschwingt ins Badezimmer. Die Erleichterung hatte mir ein wenig Mut verliehen. Doch als ich nun in den Spiegel schaute, war ich mehr als überrascht. Ich legte den Kopf schräg und trat noch einen Schritt näher. Stirnrunzelnd sah ich mir das Resultat meiner ersten ernsthaften Schminkversuche an. Es sah gar nicht schlimm aus und hatte nichts mit einer Clownmaske gemeinsam. Zu sehen war eine junge Frau, die den Anschein erweckte, eine Verabredung zu haben. Die Farben waren ein wenig auffällig, wahrscheinlich würde ich im Ernstfall für mich selbst etwas dezentere wählen, aber es war nicht so schlecht. Für die Zukunft nahm ich mir vor, mehr auf solche Details zu achten und wenn sich die Gelegenheit ergab, ruhig auch etwas Make-up zu verwenden. Mittlerweile war ich zwanzig, da war so etwas doch völlig normal. Morgen wäre auf jeden Fall so ein Tag. Wenn ich etwas von dem Kram verkaufen wollte, musste ich es auch dementsprechend anpreisen. Wie sollte das besser funktionieren als im eigenen Gesicht?
Vielleicht hatte ich mir das alles doch etwas zu einfach vorgestellt. Zumindest kam mir diese Erkenntnis bereits in der Nacht, in der auf einmal an Schlaf nicht mehr zu denken war. Sicher war das nicht vollkommen legal, was ich da vorhatte, denn nicht ich war Mitarbeiterin dieser Kosmetikfirma, deren Produkte ich verkaufen würde, sondern meine Mutter. Da wir den gleichen Nachnamen besaßen, würde ich vielleicht eine Weile damit durchkommen, denn der Kontakt mit dem Unternehmen bestand nur aus E-Mails und den Lieferungen, die regelmäßig bei uns eintrafen. Vorerst brauchte ich vielleicht gar keine neuen Produkte ordern, sondern könnte die vorhandenen verkaufen, damit ich an Bargeld käme. Mir stand das Wasser bis zum Hals.
Viel zu früh stand ich schließlich auf und setzte mich mit einer Tasse Kaffee in die Küche. Noch einmal nahm ich mir den Koffer zur Hand und blätterte in den Broschüren. Ich musste mich mit den Produkten auseinandersetzen, wollte ich einen möglichst professionellen Eindruck erwecken, wenn ich heute Nachmittag bei den Damen die Artikel vorführte. Leider konnte ich aus den Unterlagen meiner Mutter nicht entnehmen, ob die Kundin schon öfter bei ihr gekauft hatte. Aber ich hatte mir eine passende Ausrede zurechtgelegt, die nicht einmal vollkommen gelogen wäre. Ich würde einfach behaupten, dass meine Mutter leider nicht kommen könne, aber ich für sie einsprang, weil ich diesen Job ebenfalls ausführte. Das würde man mir sicher nicht übel nehmen.
Bis ich endlich losfahren konnte, verging die Zeit schleichend langsam, und meine Nervosität wuchs ins Unermessliche. Schließlich war es so weit. Ich hatte meinen besten schwarzen Rock angezogen und eine ärmellose Bluse. Zum Glück besaß ich ganz hübsche Pumps, die ich mir im letzten Jahr für eine Beerdigung gekauft hatte. Heute kamen sie das zweite Mal zum Einsatz. Weil ich mir ein Taxi nicht leisten konnte, fuhr ich mit der voll besetzten Bahn, was mit dem sperrigen Koffer gar nicht einfach zu bewältigen war.
»Passen Sie doch auf!«, rief hinter mir ein erboster Mann, dem ich den Koffer in die Kniekehle gerammt hatte.
»Entschuldigen Sie. Das war keine Absicht.« Mit dem Handrücken strich ich über meine Stirn, auf der sich bereits Schweißperlen gebildet hatten. Na Bravo! Ich würde wie ein gerupftes Huhn dort erscheinen und einen unvergesslichen Eindruck hinterlassen. Allerdings keinen positiven.
Nachdem ich ausgestiegen war, schaute ich mich um. Ganz offensichtlich befand ich mich in einer besonders noblen Gegend. Vor mir erstreckte sich eine hübsche Allee mit gepflegten Vorgärten und kostspieligen Einfamilienhäusern. Auch die Autos, die am Straßenrand standen, ließen vermuten, dass hier die etwas besser situierten Einwohner ihren Wohnsitz hatten. Sicher nicht verkehrt, dachte ich, denn vielleicht saß diesen Leuten das Geld lockerer und ich würde mehr verdienen. Doch genau das blieb vorerst abzuwarten.
Wiederholt schaute ich auf den Zettel, während ich den Koffer hinter mir her die Straße entlang zog. Schließlich blieb ich unschlüssig stehen. Den Angaben nach musste es das übernächste Haus sein, doch aus mir völlig unbekannten Gründen hatte ich ein seltsames Gefühl, das mir vermittelte, irgendwas stimme hier nicht.
Ich schüttelte die Unsicherheit ab. Wahrscheinlich waren meine Zweifel der ganzen Aufregung geschuldet, die mich seit gestern ununterbrochen begleitet hatte. War ja auch nicht verwunderlich, immerhin hatte ich so etwas noch nie getan. Jetzt bereute ich ein wenig, dass ich nicht schon früher Interesse am Job meiner Mutter bekundet hatte, aber Schminken und Kosmetik war für mich nie ein Thema gewesen.
Mühsam hievte ich den Koffer über die zwei Stufen vor dem Eingang, dabei kippte er beinahe um und ich konnte ihn gerade noch halten, indem ich mich förmlich davor schmiss. Hoffentlich hatte mich bei dieser uneleganten Aktion, bei der ich kurzzeitig mit athletisch gespreizten Beinen im Vorgarten gestanden hatte, niemand beobachtet. Als Krönung landete ich nämlich im Gras. Ich stakste aus dem perfekt gestutzten Rasen und stellte fest, dass die Absätze meiner Schuhe nun mit Erde und Grasbüscheln verziert waren. Notdürftig versuchte ich, das Zeug abzuklopfen, und ging dann weiter. Doch die nächste Panne ließ nicht lange auf sich warten. Weil ich nämlich darauf konzentriert war, den blöden Rollkoffer nicht vom Weg abkommen zu lassen – was bei den unebenen Natursteinen nicht ganz einfach war –, stolperte ich. Mein Schuh blieb in einer gemeingefährlich breiten Fuge hängen und rutschte mir vom Fuß. Doch das war noch nicht alles. Anstatt den Koffergriff loszulassen, hielt ich ihn krampfhaft umklammert und fand mich den Bruchteil einer Sekunde später auf den Knien wieder. »Verdammter Mist!«, rief ich mit schmerzverzerrtem Gesicht und wurde vor Ärger puterrot. So dämlich konnte man doch gar nicht sein. Meine Strumpfhose war hinüber und die Schuhe mit Sicherheit auch. Im Grunde konnte ich auch direkt nach Hause fahren, denn bei diesem Aufzug würde die Kundin vermutlich sowieso die Polizei rufen, weil sie mich für eine Landstreicherin hielt.
Als ich mich aufgerappelt hatte, warf ich einen Blick zum Fenster und registrierte, dass die Vorhänge sich bewegten, als hätte bis eben noch jemand aus dem Fenster geschaut. »Bitte nicht. Noch peinlicher geht es kaum«, sagte ich zu mir selbst, während ich an mir hinunterschaute. Doch umzukehren kam eigentlich nicht infrage, ich war auf das hier angewiesen und hoffte, dass die Frau nichts von alledem mitbekommen hatte, oder zumindest so viel Taktgefühl besaß, mich in dem Glauben zu lassen.
Hinter einer Hecke riss ich mir schnell die Strumpfhose von den Beinen. Das Knie blutete ein bisschen, doch das war jetzt nicht zu ändern.
Nachdem ich endlich die letzten Meter bewältigt hatte, räusperte ich mich und drückte den Klingelknopf. Ein wenig außer Atem strich ich meine Bluse glatt und schnüffelte unter meinen Achseln, doch zum Glück war diesbezüglich noch alles im grünen Bereich. Ich setzte ein freundliches, zurückhaltendes Lächeln auf.
Dann wurde die Tür geöffnet und ich hatte meine Gesichtszüge nicht länger unter Kontrolle.
Ryan
Was zum Teufel war denn das?
Durch das Wohnzimmerfenster sah ich ein Mädchen den Weg heraufkommen, das ein seltsames Gepäckstück hinter sich herzog. Kurz darauf trat sie mit ihren Absätzen Löcher in den Rasen und ich wurde Zeuge, wie sie sich der Länge nach auf die Nase legte. Zumindest ihr Knie dürfte bei dem Sturz deutlich in Mitleidenschaft gezogen worden sein. Sie schien ein wenig tollpatschig zu sein und hatte Probleme, sich auf ihren hohen Schuhen fortzubewegen. Es war aber auch keine Leichtigkeit, den unebenen Weg vollkommen unbeschadet heraufzukommen. Mehr als einmal hatte eine meiner Begleiterinnen gezetert, sie würde sich die Schuhe ruinieren. Jedes Mal hatte ich mir verkneifen müssen, zu sagen, dass sie sich keine Gedanken zu machen brauchten, weil sie sicher nicht oft in diese unangenehme Situation gelangen würden. Aber vermutlich hätte das den Abend nicht besonders harmonisch ausklingen lassen.
Jetzt runzelte ich in leichter Panik die Stirn und versuchte zu erkennen, ob ihr Gesicht irgendwas in mir auslöste. Eine Erinnerung oder vielmehr ein Ereignis, das wir gemeinsam erlebt hatten. Hatte ich mit ihr Sex gehabt? Doch da war nichts. Sie kam mir nicht im Geringsten bekannt vor und war auch keine Frau, der ich normalerweise einen zweiten Blick gönnte. Viel zu jung und auf eine bestimmte Weise niedlich. Ich stand kein bisschen auf niedliche Frauen, erst recht nicht in Verbindung mit Tollpatschigkeit. Im Gegenteil, ich wollte sie rassig und am liebsten erfahren, selbstsicher und ja, auch gerne eine Spur arrogant und verdorben. Immerhin sollten doch beide auf ihre Kosten kommen. Aber irgendwas war da doch … Konnte es sein, dass ich sie einfach vergessen hatte? Nein, auf keinen Fall. Ich fuhr mir nervös über die Stirn. Hatte sie etwa vor, hier einzuziehen?
Ich trat vom Fenster zurück und überlegte einen Augenblick, ihr einfach nicht zu öffnen, doch ich war viel zu neugierig, was sie mir zu erzählen hatte. Schließlich musste sie einen guten Grund haben, mit ihrem Gepäck an meiner Tür zu klingeln.
Während ich zum Knauf griff, lockerte ich meine Krawatte. Ich hatte es noch nicht geschafft, mich umzuziehen. Das Geschäftsmeeting hatte länger gedauert als veranschlagt und ich hatte eigentlich noch vorgehabt, zu duschen und mir etwas Bequemes überzuziehen, bevor meine Freunde heute Abend zu einem kleinen Umtrunk anlässlich meines Geburtstags vorbeikämen. Dieser Plan ging schon mal nicht auf, es sei denn, ich würde die Frau vor meiner Tür doch ignorieren und nach oben gehen – oder sie in höchstens fünfundvierzig Sekunden wieder loswerden.
Nein!, ging es mir durch den Kopf und ich musste grinsen. Das schien mir zu interessant zu sein. Ich musste wissen, was es mit ihr auf sich hatte.
Die Tür zog ich zügig auf, was sie ein bisschen aus dem Konzept zu bringen schien, denn sie starrte mich mit großen Augen reglos an. Einige Augenblicke vergingen, in denen ich ihr einen fragenden Blick zuwarf, dann blinzelte sie irritiert und sah auf einen zerknitterten Zettel, den sie in der Hand hielt. Ihre langen blonden Haare glänzten im Sonnenlicht. Das war eines der ersten Dinge, die mir an ihr auffielen, und seltsamerweise weckten sie das Bedürfnis in mir, sie zu berühren. Wahrscheinlich waren sie warm, von der Sonne aufgeheizt und mit Sicherheit lang genug, um sie um meine Hand zu schlingen. Ich verdrehte die Augen, weil meine Gedanken beim Anblick eines weiblichen Geschöpfes schon wieder abschweiften.
»Nun?«, fragte ich ein wenig ungeduldig. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Sie räusperte sich und blickte kurz auf ihr Gepäck, welches dafür sorgte, dass meine Brauen sich noch stärker zusammenzogen. Dann sah sie erst die Straße runter, auf den Zettel und schließlich zu mir.
Auffordernd schob ich das Kinn vor. »Ms?«
»Äh … ich suche die Hausnummer sieben.«
»Die haben Sie offenbar gefunden.«
Jetzt sackte sie ein wenig zusammen und ich war beleidigt. Das Mädchen wollte gar nicht zu mir. Das war ja interessant.
»Evans? Mrs R Evans?«, fragte sie vorsichtig.
»Aus offensichtlichen Gründen muss ich das verneinen, was für Sie vielleicht nicht ganz überraschend sein dürfte. Mr Ryan Evans, wie er leibt und lebt. Und da ich der einzige mit dem Namen Evans in dieser Straße bin und mein Vorname auch noch mit R beginnt: Glückwunsch, Ihre Suche war erfolgreich. Ich hoffe, Sie sind nicht allzu enttäuscht, nicht von einer Mrs empfangen zu werden, und ich brenne darauf, zu erfahren, was Sie hierher führt.«
Nun konnte ich interessiert beobachten, wie ihre Gesichtsfarbe von rosig zu blass wechselte. Sie schien unschlüssig, was sie nun tun sollte. Irgendwie tat sie mir leid. Eine seltsame Anwandlung, denn Mitgefühl war eigentlich keine Eigenschaft, durch die ich mich auszeichnete. Doch damit war es bereits wieder vorbei, als sie weitersprach.
»Wann kommt sie denn?«, wollte sie wissen.
»Bitte? Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«
Sie hob ihren Kopf und sah mir tief in die Augen. Mit einem Mal wirkte sie sehr entschlossen. »Wann kommt Mrs Evans heim? Ich habe einen Termin um fünf Uhr mit ihr vereinbart. Die Anfahrt war recht beschwerlich und es wäre wirklich nett, wenn Sie mich hereinließen und mir vielleicht sogar ein Glas Wasser anbieten würden.« Sie trat einen Schritt näher und schaute mich abwartend an.