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Sie sind wunderschön und stark, ihnen gehört die Ewigkeit. Verteufelt durch alte Sagen, romantisiert von modernen Medien. Seit Jahrhunderten faszinieren Vampire die Menschen. Sinnbild grenzenloser Kraft, ewiger Jugend und unsterblicher Liebe. Für die Inquisition böse Monster und blutrünstige Bestien, die mit allen Mitteln für eine reine und gottgefällige Welt vernichtet werden müssen. Die Methoden der Inquisitoren fanatisch und grausam, und doch sind sie die Guten. Oder? Begleiten Sie den Nebel & den Clan Vemo durch die Zeit und bilden Sie sich Ihr eigenes Urteil!
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Seitenzahl: 580
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Für Ilona Hoge
In unseren Herzen, wirst du stets bei uns sein.
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Anhang
Die Geschichte des Nebels 2015 zu schreiben hat mir großen Spaß gemacht. Aber spätestens ab dem dritten Band, dachte ich immer wieder, dass ich mehr daraus hätte machen können. Ich wählte damals die ‚Erzählerform‘ für die Reihe. Die Leser kamen sofort in die Geschichte rein, wurden zum Nebel und erlebten die Welt aus den Augen des ehrgeizigen Vampirs. Das war auf jeden Fall ein Vorteil. Aber der Nachteil wurde ebenso schnell offensichtlich: Zusammenhänge und Wendungen entzogen sich manchmal dem Verständnis des Lesers, weil ich ihnen den Zugriff auf Informationen verwehrte, die der Nebel nicht hatte.
Mit dem Abschluss der Reihe versprach ich eine Extended - Version, die diesen Makel ausräumen und zudem eine weitere Überraschung beinhalten sollte. Die Krebserkrankung meiner Mutter und ihr viel zu früher Tod verzögerten die Arbeit an diesem Manuskript ebenso wie es zahlreiche Krankenhausaufenthalte der Geschlechtsangleichenden Operationen taten.
Trotzdem hat das Schreiben auch dieses Mal großen Spaß gemacht und beim Nachlesen einiger Details war ich amüsiert über die Naivität, mit der ich die ersten Bände geschrieben habe. Die Grundgeschichte selbst hat sich nicht geändert. Der Leser bekommt zudem Informationen, die in den Bänden nicht verfügbar waren oder zu denen der Nebel keinen Zugriff hatte. Ich gewähre dem Leser die Sicht der Inquisition, dem Leben des Clans Vemo vor dem Erscheinen des Nebels als auch dessen aufwachsen.
Ich hoffe, der Leser hat ebenso viel Freude am Lesen, wie ich am Schreiben.
Heute!
~Stille Nacht, Heilige Nacht~
Doch die Nächte waren nicht still und ganz gewiss nicht heilig. Leichter Wind ließ die Eiskristalle melodisch in den kahlen Ästen klingen. Ein winterliches Lied, dem kaum jemand Beachtung schenkte und dem jungen Mann, der einsam durch die Straßen eilte, heute bedrohlich schien. Mehr lag in der Luft als Schnee und Eis und Weihnacht. SIE waren nah! SIE hatten ihn und seinesgleichen einmal mehr gefunden.
»Shhht, shhhht. Alles ist gut. Papa wird dich finden. Dir passiert nichts, aber um aller Mächte Willen, sei leise.« Samten weich und liebevoll der Klang der mahnenden Worte. Angst spiegelte sich in den eisblauen Augen des jungen Mannes wider, der einen Säugling liebevoll an sich presste. Sein Jüngster, erst wenige Monate alt.
Jemand vom Clan würde ihn finden und wissen, dass etwas nicht in Ordnung war. Änderungen im Ablauf bedeuteten nie etwas Gutes.
Unter all den Dingen, die er bisher gelernt hatte, war dies eins der wichtigsten. Der junge Mann war für gewisse Verhaltensmuster bekannt, ja gar berüchtigt. Und wenn sich etwas unerwartet am Verhalten änderte, wusste jeder, dass etwas im Argen war.
In diesem Fall war es der Umstand, dass er noch nicht wieder ins weihnachtlich geschmückte Haus zurückgekehrt war, ebenso wie das zurückgelassene Kind.
Er ließ die Kinder, die das erste Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, niemals aus den Augen oder erlaubte das man sie von ihm nahm. Bei dem ersten Kind, Ary Tias, war es so schlimm gewesen, dass er selbst den Gefährten mit Argusaugen bewacht hatte, wenn er den Jungen hielt, mit ihm spielte oder zu Bett brachte.
Clarissa Gabrielle war ohnehin mehr das Mädchen des Gefährten gewesen und der junge Vater ein wenig ruhiger und entspannter. Was nicht hieß, dass er seine Tochter deshalb weniger aufmerksam im Auge behielt.
Nach jedem geraubten Kind schwor er sich, dass er sich die Aufzucht dieser Bündel nie wieder antun würde. Mit jedem dieser Bündel trieb er den Clan mit schöner Regelmäßigkeit in den Wahnsinn. Und über jedes wachte er während des ersten Lebensjahres übermäßig.
Der Clan, die Familie würde wissen, dass etwas nicht stimmte. Sie würden das Kind und ihn finden. So lange musste er einfach durchhalten und so viel Abstand zwischen IHNEN und seinem Kind bringen, wie es irgend möglich war.
Zum tausendsten Mal, seit er das Haus verlassen hatte, überprüfte er, ob der Knabe auch warm genug eingepackt war, bevor er es an einer windgeschützten Stelle sicher vor den Augen Sterblicher verbarg.
»Sei brav, ich bin bald zurück.« Seine Worte waren nur ein Wispern. Er hauchte dem Kind einen Kuss auf die Stirn und rannte davon. Er sollte keine fünfhundert Meter weit kommen, bis er sich IHNEN stellen und um sein Leben als auch das seines Kindes kämpfen musste.
Er hatte nicht den Hauch einer Chance. Trotz Alter, Kraft und Erfahrung nicht. SIE waren unerbittlich und hervorragend ausgebildet.
Entgegen all dessen, was er lehrte, konnte er sich nicht konzentrieren. Die Sorge um das Kind, die Furcht um seine Sicherheit waren allgegenwärtig. Normalerweise blendete er jedes Gefühl aus, wenn er kämpfte oder trainierte.
Aber jetzt gelang es ihm nicht und der Überzahl der Jäger war er nicht gewachsen. Also floh er schwerverletzt und achtete darauf, dass die Jäger nicht zu weit zurückfielen.
Solange sie ihm folgten, wäre das Kind sicher. Er hörte die Lieder hinter den verschlossenen Fenstern, sah den Festschmuck innerhalb und außerhalb der Häuser.
Der frische Schnee lag stellenweise fast kniehoch in diesem Jahr und machte jeden Schritt zu einer mühsamen Qual.
Der Wind schlug ihm immer wieder neue Flocken ins Gesicht und versuchte, ihm die Sicht zu rauben. Dass die Jäger ihn übersehen könnten, darauf spekulierte er nicht.
Die dunkle Kleidung hob ihn von der weißen Pracht ab und als genügte das nicht, hinterließ er mit jedem Schritt eine Spur aus dunklem Rot.
Er könnte auch eine leuchtende Neonreklame hochhalten, auf der in blinkenden Lettern stand: Hier bin ich! Kommt und holt mich!
Die Jäger wussten, worauf sie achten mussten. Und sie wussten, dass sie ihre Beute verwundet hatten. Aber selbst bei anderen Bedingungen, günstigeren als diesen, wussten die Jäger wie sie seinesgleichen finden und stellen konnten.
Und auch töten.
Aber der Fliehende war nicht gewillt aufzugeben. Das war nie seine Art gewesen. Zum Leidwesen derer, die seinen Weg gekreuzt hatten. Die versucht hatten, ihn zu lehren, zu lenken oder zu brechen.
Ein flüchtiges Lächeln umspielte seine Lippen. Eine starke Windbö erfasste ihn und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er taumelte. Der lange Mantel verfing sich in seinen Beinen und bald schon umfing ihn das kalte Weiß.
Es wäre leicht ...
So leicht.
Einfach liegen zu bleiben und den dicken Flocken zuzusehen, die über ihn hinwegfegten. Ja er dachte darüber nach, einfach abzuwarten. Der Musik und dem Wind zu lauschen. Dem fallenden Schnee zuzusehen, bis sie ihn fanden. Ob es der Clan wäre oder die Häscher, war unwichtig.
Fänden ihn die heiligen Krieger zuerst, war er des Todes.
Und es würde kein rasches Ende werden, so viel stand fest.
Trotzdem ...
Es wäre so einfach.
Dem Fliehenden bot sich ein friedvolles, harmonisches Bild.
Ein Bild, das ihn widerlich an einen kitschigen Film erinnerte, die zu dieser Zeit zuhauf im Fernsehen liefen.
Ein Film von Liebe, Zusammenhalt und Besinnung.
»Nein, das ist kein Film.« Es war nur ein leises Flüstern, das seine Erkenntnis preisgab. Nein dies war kein Film und ob es ein ‚Happy End‘ gab, konnte nicht einmal er sagen. Und die Frage zu stellen, die er seit jeher Nacht für Nacht stellte, um Gewissheit zu erhalten, wagte er nicht.
Mühsam brachte er sich auf die Beine und blickte auf das Rot, das sich in dem Abdruck seines Körpers gesammelt hatte.
»Vielleicht, wenn ich gejagt hätte...« Aber noch während er diese Überlegung aussprach, wusste er, dass er irrte. Die Verletzungen wären nicht weniger gefährlich gewesen. Sie würden nicht rascher heilen. SIE nutzten geweihte Waffen.
Klingen und Kugeln waren in Rom selbst geweiht worden, wo der Papst seinen Sitz hatte. SIE zogen, wie er selbst, die Klinge vor und nur außerhalb der Ortschaften verließen SIE sich auf Gewehre oder Pistolen.
Man sollte annehmen, ein Kurzschwert oder Langdolch würde mehr Aufmerksamkeit erregen als eine einfache Pistole, aber dem war nicht so.
»Sie sind blind und taub« murrte er vor sich hin und schleppte sich weiter.
Ja die Menschen waren blind und taub geworden. Die übermäßige Informationsflut hatte sie abgestumpft. Man könnte auf offener Straße getötet werden und niemandem würde es auffallen. »Bin ich der Nächste?« Der Nächste.
Nur einer von vielen Opfern der Häscher.
Auch wenn SIE zu dieser Zeit hauptsächlich aus Menschen bestanden, waren sie eine nicht zu unterschätzende Gefahr.
Ihre Informationen waren präzise, ihre Methoden grausam.
‚Bitte nicht Vater.‘ Flehte er in Gedanken, während er sich Schritt um Schritt durch die verschneite, wie im Schlaf liegende Stadt kämpfte. Dunkles, warmes Rot rann aus zahllosen Wunden. Warm und klebrig zierte es die blasse Haut, tränkte die Stoffe und tropfte letztlich in das unschuldige, jungfräuliche Weiß, um seinen Weg für die Verfolger zu markieren.
Nein, die Stadt schlief nicht.
Sie feierten im Schein von Kerzen und Lichtern das Fest der Liebe und Besinnung. Einmal im Jahr, für ein paar Stunden, entsprang die Welt einer Postkarte oder einem Werbeplakat oder einem kitschigen alten Film alá der
kleine Lord.
Piep, piep, Piep – wir haben uns alle lieb. Er verabscheute diese Heuchelei, auch wenn es ihm heute wohl zugutekam, konnte er so seinen Weg ohne Zeugen und Blicke fortsetzen.
»Menschen!« Spuckte er hasserfüllt aus.
Sie waren nicht mehr als armselige Kreaturen, die ihr Leben wegwarfen. Hetzten sich ab. Immer auf der Jagd nach mehr!
Mehr Zeit.
Mehr Geld.
Mehr Macht.
Mehr Freunde.
Mehr Follower.
Nur einmal im Jahr Besinnlichkeit vortäuschend. Liebe vorheuchelnd. Er spuckte angewidert aus. Speichel und Blut hatten sich in seiner Mundhöhle gesammelt und versanken im Schnee. Nur eine weitere kleine Spur, von denen es viele gab.
»Was wissen sie schon von Liebe?« Menschen liebten so schnell, wie das Wetter in den Bergen wechselte oder ein Status in den sozialen Netzwerken sich änderte. Aber natürlich war es jedes Mal die eine, die große Liebe. Geschworen auf die Ewigkeit. Ein dunkles Knurren drang bei der Überlegung aus der zeitlosen Kehle des jungen Mannes.
Was wussten sie schon? Was wussten sie von Liebe oder der Ewigkeit? Seine Lippen verzogen sich angewidert, während er den Passagen der Weihnachtslieder aus den Häusern lauschte und versuchte, seine Gedanken von den Menschen fortzulenken und sich stattdessen zu orientieren.
Er hatte ein bestimmtes Ziel.
Alle paar Jahre oder Jahrzehnte, vielleicht auch Jahrhunderte - Zeit spielte keine Rolle – suchte er diesen Ort auf, um sich vor Augen zu führen, wie alles begonnen hatte und zu erkennen, wohin es ihn geführt hatte.
Sentimental war wohl der passende Ausdruck dafür. Ein Hauch der Menschlichkeit, derer er zu früh beraubt worden war. Jahre vor der eigentlichen Zeit.
»Unwichtig!« Knurrte er abermals.
Sollte man ihn sentimental nennen, was machte es schon aus? Sollte man seine dann und wann auftretende Hilfsbereitschaft in Frage stellen. Wen kümmerte das schon? Man hatte ihm im Laufe seines Lebens schon ganz anders betitelt. Weit weniger freundliche Namen für ihn gefunden.
Ihn störte es längst nicht mehr. Er hatte gelernt, sich zu nehmen, wie er war, und wer das nicht konnte oder wollte, durfte sich gern an das Oberhaupt wenden und ihm fernbleiben.
Letzteres war für viele im Laufe der Zeit, der richtige Weg gewesen.
»Ist... besser.«
Ja, für ihn war es besser. Er war offensichtlich nie dazu geschaffen, sich mit vielen anderen zu umgeben. Er hatte nie die Geduld für andere aufbringen können. Er hatte es versucht, wirklich versucht.
Aber er hatte festgestellt, dass Lernresistenz und Dummheit der meisten ihn weit mehr erzürnten als das ihre Gegenwart ihm gutgetan hätte. Zorn war gut. Ein guter Indikator. Seine Schritte schienen nicht mehr ganz so schleppend.
Nur wenige ertrug er oder waren es wenige, die ihn ertrugen? Unwichtig. Die wenigen reichten aus, ihm ein gutes Gefühl zu geben, ihn zu stärken oder wieder auf den Boden zurückzuholen.
Der Gedanke an den Clan erfüllte ihn mit tiefer Ruhe und entspannte ihn zusehends.
»Verdammt!« Das war nicht gut.
Er brauchte, er wollte den Zorn!
Es war leichter.
Leichter auf den Beinen zu bleiben.
Weiterzugehen.
Aber es gelang ihm nicht, den willkommenen Zorn zu beschwören.
Trotz der Festbeleuchtung, trotz der Lieder und der Heuchelei oder der andauernden Lernresistenz der armseligen Kreaturen, wollte es ihm nicht gelingen, den willkommenen Zorn zu beschwören oder aufrechtzuhalten.
Erschöpfung und Blutverlust machten ihm zunehmend zu schaffen.
Die Sorge um das zurückgelassene Kind machte es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Es war das Richtige gewesen, daran hatte er keinen Zweifel. Sie hätten den Knaben getötet.
Er war einmal Zeuge vom Kindsmord der Häscher geworden und wollte es nicht bei seinem Sohn erleben. Er hatte ihn zurücklassen müssen. Und er musste Abstand zwischen die Jäger und das Kind bringen, bis der Clan es finden würde.
»Ich muss... weiter ...«
Er hatte es versprochen. Versprochen, dass er zu dem Kind zurückkehren würde. Vieles konnte man ihm vorwerfen: Mord, Folter, Erpressung, Ehebruch – aber ein gegebenes Versprechen hatte er stets gehalten. Natürlich gab es immer ein erstes Mal, das wusste er wie jeder andere auch, aber er hoffte doch, dass dieser Tag noch fern war.
Vor ihm tauchte ein schneebedeckter Kirchplatz auf.
Reifen-, und Fußspuren zeugten von zahlreichen Besuchern. Er hob den Blick. Der Schatten des Kirchturmes fiel drohend auf ihn herab, schien den jungen Mann zu verhöhnen, der sich Schritt um Schritt vorwärts kämpfte. Die Messe war längst vorüber, doch drang noch fahles Licht durch die bunten Scheiben.
Natürlich war man in dieser besinnlichen Zeit auch besonders gläubig. Er schnaubte und blickte flüchtig auf die bunten Scheiben.
Geschichten, die längst vergessen waren und falsch berichtet, fanden sich auf den farbenfrohen Abbildungen wieder.
Gewaltverherrlichend. Mörder, Verräter wurden hochgepriesen und boten weit mehr Zeugnis der menschlichen Seele, als irgendetwas sonst es könnte.
Verrat, Jagd, Mord – aber natürlich waren SIE die Guten.
Plagen, Kindsmord, Vergewaltigung – dass ach so heilige Buch war voll davon.
Aber wenn SIE die Guten waren, wenn ER für das Gute stand, wer war dann das böse? Tatsächlich jene die SIE jagten? Jene die verborgen lebten unter den niederen Wesen und lediglich im Geheimen das Geschick und die Geschichte lenkten?
Waren es nicht jene der Verborgenen, die manche Katastrophe verhindert hatten, ohne dass die Schafe davon wussten?
Nein ihre Weste war nicht rein, ihre Hände nicht in Unschuld gewaschen. Ein Wort hier, eine unschuldige Frage dort und schon bekämpften Menschen einander. Und in diesen Kämpfen und Kriegen verschwanden Menschen.
Kriegsopfer wenn man so wollte. Er grinste, stolperte und schüttelte den Kopf. Er musste sich konzentrieren, musste weiter.
Kurz wand er sich um, folgte seinem Weg mit dem Blick und seufzte tonlos. Ihn zu übersehen wäre schwer. Die Häscher hätten ein leichtes Spiel, sie würden ihn rasch eingeholt haben, wenn der noch immer fallende Schnee ihm nicht zur Seite stand und die Spuren verwischte. Wind und Wetter würde sie nicht abhalten nach ihm zu suchen.
Sie waren Bluthunden gleich, die ihrer erwählten Beute folgten, bis sie jene gestellt hatten. In diesem Fall war er die Beute. Ein einziges Mal hatte er erlebt, das einer von ihnen nicht tat, was er tun sollte. Aber das war unendlich lang her.
Er löste kopfschüttelnd den Blick von dem Wegweiser aus seinen schleppenden Schritten und Blut und mahnte sich, dass er weitermüsste. Nie war er einem Menschen so ähnlich gewesen, wie in diesem Augenblick.
Und er hasste sich dafür.
Hasste jeden Tropfen des dunklen Vitaes, dass sich aus seinem Leib stahl und ihn an die Häscher verriet. Hasste die erbärmliche Schwäche, die seinen Leib erfasste.
Der Schnee unter seinen Stiefeln knirschte vernehmlich, während er den Kirchplatz überquerte. Keine Menschenseele außer ihm wandelte noch hier. Alle waren mit dem gemeinschaftlichen Heucheln beschäftigt.
Getrieben von einer Gier nach Dingen, die ihnen am Ende doch nichts nutzten.
Er durchschritt ein altes gusseisernes Tor, hinter dem sich das Denkmal, die Ehrenbezeugung dessen der nicht besiegt werden konnte, ausbreitete. Verherrlichung des Todes, von einer Rasse, die zu leben verlernt hatte.
Ob er sich davon lossprechen konnte, wusste er nicht. Aber er gab sich Mühe.
Jeden Tag aufs Neue.
Reihe um Reihe, dicht bei dicht. Steine, Kerzen, Blumen und Statuetten, um jene zu ehren, denen man zu Lebzeiten kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Noch mehr dreckige Heuchelei! Natürlich waren die Verstorbenen wahre Engel gewesen.
Geliebte Väter, Söhne, Mütter und Töchter. Vergessen das der geliebte Bruder zwei Mädchen tötete, nachdem er sie grausam vergewaltigt hatte. Vergessen das die geliebte Mutter eine Schwarze Witwe war oder die Tochter eine Crackdealerin.
Sie waren doch allesamt so gute Menschen gewesen, die man viel zu früh aus dem Leben gerissen hatte.
Über die Toten sprach man nicht schlecht, aber dem Fliehenden fiel niemand mit gesundem Menschenverstand ein, der je etwas Gutes über den Diktator gesagt hätte, der sich eine Kugel in den Kopf gejagt hatte. Oder was auch sonst mit jenem geschehen war, denn auch in der geheimen Welt des jungen Mannes hatte man so seine Theorien.
Man hatte in Erwägung gezogen, sich einzumischen und dem Wahnsinn ein Ende zu bereiten. Aber niemand wusste besser als sein Volk selbst, dass eine Idee nicht starb, nur weil es jener tat, der sie in die Köpfe der Menschen setzte.
Die Idee selbst musste vernichtet werden, aber so etwas war nicht einfach.
Ob es möglich war, konnte er nicht sagen. Er blicke herab auf einen Grabstein, der ihm Halt gab, betrachtete fasziniert den blutigen Abdruck auf dem Stein.
Und beim Zurückschauen fiel ihm auf, dass es einige dieser Abdrücke gab. Ein dummer Anfängerfehler, der jetzt keine Rolle mehr spielte. Er war am Ende seiner Kraft.
Er würde keinem Kampf mehr standhalten.
Je weiter er taumelte umso verwitterter und ungepflegter wurden die Gräber und umso älter und weniger zugänglich wurden die Wege dorthin.
Doch das spielte keine Rolle.
Er würde den Weg finden.
Selbst unter schlechteren Umständen als diesen. Auch wenn ihm grade nichts einfiel, das dem entsprechen würde.
Sein Ziel war der älteste Teil des Friedhofes. Bereits als er jung war, war dieser Friedhof alt gewesen. Aber jetzt waren die Steine verwittert, Gras-, und moosbewachsen und all jene die dort ruhten lange schon zerfallen und in Vergessenheit geraten.
Er taumelte.
Schwindel erfasste ihn und die Welt verschwamm vor seinen Augen. Kraftlos schleppte er sich weiter. »Nur ...
noch ... ein... bisschen...« Er versuchte, sich selbst Mut zuzusprechen, während er Schritt um Schritt setzte, bis er sich an einem Stein herabgleiten ließ und mit dem Rücken daran lehnte. Die Kälte des Steines und des Bodens drang ihm in die Knochen und ließen ihn erzittern.
Er wusste nicht, wann er das letzte Mal vor Kälte gezittert hatte und ja! Ja es machte ihm Angst und im Moment wäre er durchaus gewillt, das auch zuzugeben. Er wand sich halb dem Stein zu, hob eine zitternde Hand und fuhr mit den Fingerspitzen über eine lange verblasste Schrift.
Aber selbst in tausend Jahren, wenn der Stein vollkommen zerfallen wäre, würde er diese Stelle aufsuchen und würde wissen, was einstmals dort gestanden hatte, wie er es auch heute noch wusste. Jeden Buchstaben, jede Zahl kannte er.
Hunderte Male waren seine Fingerspitzen nachdenklich über die eingemeißelten Lettern und Ziffern gefahren, während er versuchte sich über das Eine oder andere klar zu werden.
†Daniel Falodir 1333 -1350
Das Grab, auf dem er herabgesunken war, war bis auf einen inzwischen verrotteten Sarg leer. So wie er es immer gewesen war. Er musste es wissen: Es war seines. Vor einer halben Ewigkeit war er hier symbolisch begraben worden.
Der unschuldige Kämmerer.
Der Kaufmannssohn, der nur ein wenig der Welt kennenlernen wollte.
Mehr hatte er gefunden und gelernt, als er je für möglich gehalten hatte.
Mehr erfahren als er gewollt hatte.
»Vater... Bitte...« Seine Stimme war kaum mehr als ein leises Wispern. Ein Hilferuf an jenen, der ein jede Seele auf dem letzten Weg begleitete.
Vielleicht war es an der Zeit.
Und vielleicht war dieses Grab der perfekte Ort, um vollends zu gehen.
Vielleicht ...
Nein ...
So durfte er nicht denken.
Er wollte leben. Musste leben. Er hatte es versprochen! Er presste sich enger an den kalten Stein und versuchte, dem eisigen Wind zu entgehen. Nicht das es was nutzte.
Der dicke schwarze Mantel war fächergleich um ihn gebreitet, dass es beinahe wirkte wie absichtlich drapiert.
Von den Säumen ausgehend zeichnete ein dunkles kräftiges Rot wirre Muster in den Schnee.
Er war müde.
Er fand nicht die Kraft wieder aufzustehen und weiterzugehen um vielleicht ein besseres Versteck zu suchen. Schneeflocken verfingen sich in seinen Wimpern, tränkten sein helles Haar und bedeckten die jugendlichen Züge.
»Bitte ... Hilfe ...«
Nur ein heiseres Flüstern, das niemand vernahm. Er schloss die Augen und das weiße Gestöber entzog sich dem Blick, doch die nagende Kälte die von außen und innen zu kommen schien, blieb.
»Bi ... tte«
Gnadenvolle Dunkelheit umhüllte ihn und entriss ihn der Wirklichkeit.
~Schlafe in himmlischer Ruh‘, schlafe in himmlischer Ruh‘~
Die beiden etwa fünfjährigen Knaben standen sich mit unbewegter Miene gegenüber und musterten einander misstrauisch. Ihre Väter schritten nur wenige Meter entfernt in ein ernstes Gespräch vertieft über den weitläufigen Schlosshof.
Die Jungen sprachen kein Wort miteinander.
Ausgelassenheit wie man sie bei Kindern für gewöhnlich vorfand, würde man bei den beiden nicht erkennen können.
Sie waren gut genährt, die Wangen gerötet vom Leben, das durch ihre Adern floss und die Kleider von Meisterhand gefertigt.
Obgleich sie gesund schienen, tollten sie nicht herum und wirkten angespannt. Was die Väter miteinander besprachen, würde ihrer beider Leben verändern.
Ob zum Guten oder Schlechten könnte nur die Zeit zeigen.
Alexander Vemo war der Herr des Schlosses, dieses Reiches und der Oberste seiner Art. Nur eine - seine Mutter - stand im Rang über ihm. Aber es war Jahrhunderte her, dass man sie zuletzt gesehen hatte.
Einer der beiden Jungen - der Blassere mit den silbern anmutenden Augen - war sein einziger ‚geborener‘ Sohn.
Der Andere, der Spross seines Gastes aus Magyar, der mit zwei wichtigen Anliegen gekommen war.
Seit einer Weile - niemand konnte genau sagen, wann es begonnen hatte - wurden die Menschen zu einer lästigen Gefahr.
Nicht alle.
Eine Handvoll vielleicht, die der Kirche angehörten. Ein geheimer Orden, der sich hinter der friedlichen Fassade verbarg und mit Einwilligung und auf Befehl des Papstes agierte. Noch waren sie keine übermächtige Bedrohung.
Ihre Versuche waren noch nicht sehr effektiv. Doch die Menschen - so gering sie von seiner Art geschätzt wurden - waren lernfähig. Sie zeigten eine gefährliche Tendenz zu bekämpfen, was sie fürchteten oder nicht verstanden.
Letzteres war eine ganze Menge.
Der alte Levedi berichtete von den Kirchenmenschen und ihren Entwicklungen in seinem Reich.
Alexanders Gedanken schweiften ab.
Glitten zurück zu einem Tag vor einigen Wochen. Er hatte mit seinem Sohn das Meer besucht. Ein warmer, sonniger Sommertag. Einer der wenigen Tage, an denen er die Belange des Volkes dem Volk überließ und sich allein um Noir kümmerte. Selten nur fand er die Zeit, einen Tag mit seinem eigenen Fleisch und Blut zu verbringen. Wo eine ganze Art zu betreuen war, musste die Familie darunter leiden. Sie hatten Rituale, die er unter Mithilfe seiner Berater einzuhalten versuchte.
Doch die Zeit dafür war zu gering gesät.
Selbst für ihn.
Eines der Rituale war es, sich am Abend berichten zu lassen, was der Tag gebracht hatte. Wie der Unterricht gelaufen war, welche Fortschritte das Training machte.
Oder was sonst das Kinderherz als wichtig empfand. An diesem Tag am Meer waren die alltäglichen Dinge irrelevant. Er ließ seinen Sohn ‚Kind‘ sein und in der Sonne mit den Wellen um die Wette rennen, während er selbst den Schatten einiger Bäume vorgezogen hatte. Noir hatte Muscheln und Steine mit erstaunten und glücklichen Ausrufen gesammelt. Das Kind war mit Möwen und Wellen um die Wette gerannt – nicht das er siegte. Noch war der kleine Vemo weit davon entfernt über die Kreaturen und die Gezeiten siegen zu können.
»Vater, sieh was ich habe!«
Mit zerzaustem Haar und geröteten Wangen war der Fünfjährige auf ihn zugelaufen. In den Händen hielt er die unversehrte Schale eines Krebses, als wäre es ein großer Schatz.
»Willst du nicht auch was finden? Hast du gesehen, was hier alles liegt?«
Eine allumfassende Geste erfasste den Strand und das Meer und die nahe Umgebung.
Tausende Schätze in den Augen eines kleinen Jungen, selbst wenn es ein Vemo war. Treibgut, Muscheln und Steine. Kleinigkeiten, für welche die Begeisterung mit zunehmendem Alter nachließe, aber die bei einem Kind wahre Begeisterungsstürme auslösten.
Er selbst hatte den Kopf ernst geschüttelt.
»Ich ziehe es vor, im Schatten zu weilen, Noir.«
Noir hatte hinauf in die grelle Sonne geblickt und die Augen leicht zusammengekniffen, ehe er ihn mit fragendem Ausdruck angesehen hatte.
»Vater? Warum scheint die Sonne? Weiß sie denn nicht das du sie nicht magst?«
Er hatte lachen müssen über die Ernsthaftigkeit in der Frage des Kindes. Für den Jungen war nicht begreiflich, dass jemand oder etwas nicht dem Willen seines Vaters gehorchte.
Wie es Art der meisten Kinder war, erging es auch Noir: In dessen Augen war sein Vater der Stärkste und alles und jeder musste auf ihn hören.
»Nicht alles unterwirft sich meinem Willen, Noir.«
»Aber warum nicht, Vater? Der Hof hört doch auch auf dich?«
Bedauerlicherweise gab es zu viel, das nicht gewillt war, sich seinem Willen zu beugen. Aber seinen Clan und die Unterclans regierte er mit fester und unerbittlicher Hand.
Man unterwarf sich oder musste die Konsequenzen dafür tragen – was bis hin zur Vernichtung ganzer Familien führen konnte.
Der Clan aus Magyar gehörte zu seinen stärksten Verbündeten. Neben dem hiesigen waren die Clans in Magyar, dem Walachen Land und im Hen Ogledd die größten und stärksten Clans weltweit und wurden allesamt von Alexanders Schöpfungen geleitet.
Der alte Levedi – eine Schöpfung die etwa 500 Jahre jünger war als er selbst, brachte ihm nun seinen Erstgeborenen.
Der Knabe war im selben Alter wie der eigene Sohn und diente als Zeichen und Unterpfand der Treue und der Loyalität zu seinem Schöpfer und dessen Clan. Der alte Levedi band sich damit mehr als ohnehin an den Obersten und bezeugte mit dieser Geste die Anerkennung Alexanders als seinen Herren.
Dass er zudem ein Freund und Vertrauter war, spielte vermutlich keine unerhebliche Rolle für die Entscheidung, das Armand hier leben und aufwachsen sollte. Er wusste, dass sein Sohn am dunklen Hof in guten und fähigen Händen war und eine ausgezeichnete Ausbildung erfahren würde.
Was wollte ein Vater mehr für seinen einzigen Sohn?
Levedi könnte sicher sein, dass der Spross hier sicher wäre.
Das er lernen würde, was notwendig war, um eines Tages selbst ein angesehener Clanführer zu werden. Und das, ohne von seinem eigenen Clan geschnitten zu werden.
An jeder Ecke stand mindestens ein Attentäter, der gerne den Platz an der Spitze des Clans einnehmen wollte.
Der Levedi-Clan bestand aus dessen eigenen Schöpfungen, und ebenso denen Alexanders und des ein oder anderen Kindes. Die Hierarchien und Gesetze der Vampire waren streng und notwendig geworden, nachdem die menschliche Population gefährdet war und damit Nahrung knapp zu werden begann. Zahllose Kinder der Dunkelheit waren als Konsequenz hingerichtet worden, als Alexander selbst noch ein junger Mann gewesen war, um dem Artensterben entgegenzuwirken.
Lilith selbst hatte die strengen Gesetze verfasst, und sie hatten Gültigkeit für alle Wesen der Dunkelheit: Hexen, Dämonen und Vampire. Sie alle waren ihre Kinder, von ihrem Blute.
Und diese Kinder hatten es - wie es Art von Kindern war – ein wenig übertrieben.
Zu sehr gespielt.
Die menschliche Rasse, die ohnehin recht anfällig für den gestaltlosen Gevatter war, schwand mehr und mehr. Aus allen Richtungen und von all ihren Kindern ließ sie Abgesandte kommen, um das Gesetz zu verkünden. Allen Dingen voran: Hüte das Geheimnis deiner Art. Während viele auf dem Heimweg waren, zog die Urmutter zur Jagd aus und tötete dreiviertel aller Kinder.
Aber nicht nur zum Schutz der Menschen, sondern auch zum eigenen Schutz galten die ausgerufenen Gesetze und nirgends wurden sie mit solcher Strenge und Härte vollzogen, wie es am Hof Alexanders der Fall war.
Eine schlichte Kutsche fuhr in den Schlosshof ein und ohne hinzusehen wusste das Oberhaupt, dass die beiden Jungenden Blick voneinander lösten, um dieser mit den Blicken zu folgen. Der alte Levedi seufzte und zwang damit Alexanders Aufmerksamkeit erneut auf sich.
Der Jüngere verneigte sich vor dem Ältesten, ehe er in die Kutsche stieg. Kein Blick seinerseits galt den Jungen. Erst als sie zum Tor hinausfuhren, blickte der Magyar zurück.
»Passt gut auf meinen Sohn auf, Alexander...« Es war nur ein Wispern. Doch in jeder Silbe schwang Sorge mit. Der Magyar wusste, dass das Oberhaupt ihn hörte.
Egal wie leise er sprechen würde. So wie er auch wusste, dass die Bitte um Fürsorge unnötig wäre. Alexander nickte, sich eine Antwort sparend und wand sich den beiden Jungen zu, nachdem der Freund den Hof verlassen hatte.
Armand machte den Eindruck, als wolle er der Kutsche und damit seinem Vater am liebsten hinterhereilen. Ihn bitten, ihn doch wieder mitzunehmen - aber er tat es nicht.
Der Junge mühte sich um Haltung, was Alexander mit einem kurzen Schmunzeln quittierte. Er war sich gewiss, dass die beiden Jungen sich gut verstehen würden. Schon auf den ersten Blick, hatten sie mehr gemein, als sie ahnten.
»Noir, kümmere dich um Armand. Er wird fortan bei uns bleiben.« Noirs Blick zeigte kurz Irritation, aber schließlich nickte er.
Er wusste nicht, ob ihm gefallen sollte, dass der fremde Junge – Armand - bliebe oder nicht. Aber zu widersprechen, als der Vater seine Bitte oder seinen Befehl sprach, kam ihm nicht in den Sinn.
»Ja, Vater.« Noir sah dem Vater nach, als jener ging, um von seinen Beratern in Empfang genommen zu werden und sich wieder den alltäglichen Belangen zu widmen, von denen der Junge noch keine Ahnung hatte.
Armand sagte nichts, wie er die ganze Zeit über geschwiegen hatte. Er sah Noir nur an und kämpfte darum seine Fassung zu bewahren. Er würde nicht vor einem Vemo in Tränen ausbrechen und zugeben, dass er sich fürchtete. Fernab der Heimat, der Familie zu sein war schlimm genug, aber dann auch noch hier sein zu müssen war einfach zu viel des Guten.
Er konnte sich nicht vorstellen, dass er hier glücklich werden sollte. Das er hier ein gutes oder angenehmes Leben führen sollte. Alexanders Ahnung war treffend gewesen: Der Gedanke, dem Vater und der Kutsche nachzueilen war tatsächlich vorhanden. Diesem Drang nicht nachzugeben, war das Schwierigste, das er in seinem Leben hatte vollbringen müssen.
Er riss sich zusammen.
Vielleicht würde er sich am Abend seiner Angst und Trauer und dem Heimweh hingeben, wenn er in seiner Kammer im Bett lag. Er hoffte zumindest, dass er eine Kammer hätte.
Zuhause hatte man ihm einige Geschichten über Alexander und den schwarzen Hof erzählt. Man hatte versucht – erfolgreich - ihm Angst einzujagen. Benche, ein Krieger aus den Reihen seines Vaters, hatte ihm immer wieder prophezeit, dass er in einer dunklen Zelle sein Dasein fristen müsste.
Dass er nur das Nötigste zu essen bekäme bis zu seinem Erwachen mit 25 Jahren. Man würde ihn vielleicht sogar als Sklaven halten oder als Kanonenfutter nutzen, wenn er Glück hätte.
Keine einladenden Voraussetzungen für einen kleinen Jungen. Sie hatten ihm von der Härte der Vemos erzählt.
Ihrer Gnadenlosigkeit.
Vermutlich hatten sie dabei nicht einmal übertrieben.
Aber Alexander war kein Monster. Die dunklen Kinder wurden zwar mit Strenge und Härte erzogen, aber ihnen geschah kein Leid, wenn er es verhindern konnte. Doch davon wusste Armand nichts.
»Komm ... gleich beginnt der Unterricht.« Noirs Stimme riss Armand aus seinen trüben Gedanken.
Ein unsicheres Lächeln galt dem silberäugigen Jungen, der es kurz erwiderte und das Eis zwischen ihnen brach.
»Was für Unterricht?«
»Schreiben und Lesen in der Bibliothek bis zum Mittagessen. Heute Nachmittag Reiten und heute Nacht machen wir eine Nachtwanderung und schauen Sterne.«
»Wir gehen nachts weg?«
Armand sah Noir unsicher und fassungslos an. Er war nicht sicher ob der Silberäugige ihn auf den Arm nehmen wollte oder sie wirklich nachts das Schloss verlassen würden. Noir nickte grinsend und das Silber seiner Augen funkelte aufgeregt.
»Ja das macht Spaß. Ein paar Krieger kommen mit, weil mein Vater sagt, dass es sonst nicht sicher wäre… vielleicht wegen der Wölfe und Bären oder so.«
Noch ahnte Noir nicht, dass es weit Gefährlicheres dort draußen, außerhalb der schützenden Schlossmauern, gab ,als Bären und Wölfe.
Auch wenn er das früher oder später am eigenen Leib erfahren würde, hielten Alexander und jeder der mit der Betreuung des Silberäugigen betraut war, alles von ihm fern.
Armand nickte leicht und folgte Noir ins Schloss und zum Unterricht, wie er es von diesem Tag an, beinahe den Rest seines Lebens tun würde.
Von jeher konnte man zwei Arten von Vampiren unterscheiden: Geborene – von denen es nur wenige gab und Gewandelte.
Geborene Vampire fristeten ihr Dasein bis zum Erreichen des fünfundzwanzigsten Lebensjahres als Menschen oder zumindest menschenähnlich.
Während der Kindheit unterschieden sie sich kaum von anderen Kindern. Allerdings erkrankten sie nicht so schwer an den Krankheiten der Menschen. Sie schürften sich die Knie auf beim Tollen, brachen sich etwas oder konnten in den Tod stürzen wie jedes andere Menschenkind auch, aber das wurde von Vampiren als natürliche Auslese betrachtet.
Ab etwa zwanzig Jahren erhöhte sich ihre Kraft stetig. Bei weitem nicht auf das Maß, das sie erreichen konnten, aber sie wurden stärker, als es bei Menschen der Fall war. Ihre Anziehung erhöhte sich und ein unbestimmter Hunger, ein mäßiges Verlangen nach Blut begann sich dann und wann einzustellen.
In der Nacht, in der sie das fünfundzwanzigste Lebensjahr erreichten - wenn das geborene Kind bis dahin den Widrigkeiten des Lebens standgehalten hatte - starb während der Ruhephase all das, was sterblich war.
Der Schlag des Herzens erstarb. Die Zeit, welche Zerfall bedeutete, stand für jeden von ihnen still. Ihre Regeneration war mit nichts anderem zu vergleichen, wenn sie ausreichend Nahrung zu sich nahmen.
Ihre Stärke, ihre Schnelligkeit und ihre Fähigkeiten sorgten über Jahrtausende für Legenden.
Je älter sie wurden umso mächtiger und ausgeprägter wurden ihre Fähigkeiten.
Der Preis dafür...
Blut!
Ihre Kräfte und Fähigkeiten übertrafen die der gewandelten Vampire bei Weitem und waren von eindrucksvoller Vielfalt. Allerdings gab es auch hier Unterschiede. Gewandelte Vampire, deren Blut oder Linie noch nicht so verdünnt war, indem sie von einem der Ersten gewandelt wurden, waren - wie die Geborenen selbst auch - in der Lage Kinder auf dem üblichen Weg zu zeugen.
Nicht mit Menschen, sondern nur mit Geborenen, die noch nicht erwacht waren.
Die geschaffenen Vampire waren einstmals Menschen, welche die Aufmerksamkeit der Ewigen auf sich gezogen haben. Ob durch eine Tat, durch Worte oder einfach einem schönen Äußeren spielte keine Rolle. Nachdem man die Erlaubnis erhalten hatte, wurden sie gewandelt.
Der Vampir trank das Blut seines erwählten Opfers, bis es am Rande des Todes tanzte und schenkte ihm durch das eigene Blut das ewige Leben.
Alles Sterbliche verging und was blieb, gierte nach Blut und Tod. Eine Wandlung gelang nicht immer oder bei jedem. Mancher Leib verging trotz des Bluttausches, ohne dass ein neuer Vampir in die Nacht zu treten vermochte.
Niemand konnte sagen, warum es so war.
Vielleicht lag der Grund in derselben Ursache, weshalb mancher einer Krankheit anheimfiel oder von ihr verschont blieb.
Noir als auch Armand zählten zu den Geborenen ihres Volkes. Noir jedoch war reinsten Blutes. Ihrer beider Zukunft – so sie denn überlebten – läge in der Führung eines Unterclans oder in Noirs Fall, eines Tages in der Führung des Hauptclans und damit als Führer einer ganzen Rasse.
Auf die Ausbildung der beiden wurde großen Wert gelegt.
Sie lernten zu lesen und zu schreiben, Mathematik, Astronomie, die Politik der Clans und Unterclans, die Gesetze beider Welten, zu reiten und zu kämpfen.
Die Tage der beiden Jungen waren ausgefüllt mit Lektionen, die mit zunehmendem Alter das Spielerische verloren und an Härte zunahmen.
Alexander Vemo war ein strenger Mann. Über Noirs Mutter, Elaine, hatte der Rat das Todesurteil gesprochen.
Es war an Alexander gewesen, dieses Urteil zu vollstrecken und Noir damit seiner Mutter zu berauben, kaum dass er ein Jahr gewesen war.
Noch heute sprach man von der Gleichgültigkeit, mit der das Urteil des Rates vom Oberhaupt aufgenommen und schließlich vollzogen wurde.
Ebenso gnadenlos wie er in der Ausführung eines Urteils war, so war er es, wenn es um die Ausbildung seines Sohnes ging.
Er würde ein Scheitern nicht dulden.
Noir, der seinem Vater seit Jugendjahren nichts in Arroganz und Stolz nachstand, sah es ebenso: Ein Scheitern war nicht akzeptabel. Wenn man davon absah, dass man bei Armand etwas mehr Nachsicht walten ließ – er war eben kein Vemo, sondern ein geschätzter Dauergast der Familie - wuchsen die Jungen Seite an Seite beinahe wie Brüder zu jungen Männern heran.
Nur wenige Gleichaltrige befanden sich am Hofe Alexanders. Dann und wann, wenn Handlungsreisende oder Botschafter und Abgesandte anderer Häuser kamen, waren andere Kinder oder Jugendliche bei Hofe mit denen die beiden hohen Kinder sich beschäftigen konnten. Aber der Aufenthalt war in der Regel begrenzt und ihre Abreise war gewiss.
Noir und Armand fanden dennoch eine kleine Gruppe junger Burschen, mit denen sie sich im Training maßen und die angrenzenden Dörfer, Städte, Wälder und Seen erkundeten.
Dann und wann waren sie wie jeder andere auch. Wie normale Burschen ihres Alters waren sie dem Bier, dem Feiern und den Frauen zugetan. Sie kosteten es aus, wenn der straffe Unterrichts und Trainingsplan ihnen Freizeit gewährte und sie sich einmal gebaren konnten, wie sie wollten.
Dass manche Frauen auf den Festen einem anderen Mann gehörten, störte weder Noir noch Armand. Mit einer erschreckenden Selbstverständlichkeit nahmen sie, was sie begehrten. Ihre natürliche Anziehungskraft, die in ihrer Rasse zu suchen war, gewährte ihnen leichtes Spiel. Es machte Noir und Armand Freude sich auszuprobieren und ihre Grenzen zu erkunden.
Den Ärger, den es manches Mal hervorrief, war es allemal wert. Alexander ließ das Treiben der Jungen überwachen, aber ließ sie gewähren. Solange keine Gefahr für den Clan bestand - indem das Geheimnis offenbart wurde zum Beispiel - würde er ihnen keinen Einhalt gebieten und erlaubte, dass sie sich ausprobierten.
Es war zwar sehr lang her, dass er in ihrem Alter gewesen war, aber selbst SIE - seine Mutter - hatte ihm die Gelegenheit gegeben sich auszuprobieren, herauszufinden wer er war und welche Reize das Leben und die Ewigkeit bot. Als Kind von Traurigkeit hatte man ihn ebenso wenig bezeichnen können, wie man es bei Noir und Armand konnte.
Je näher der Tag kam, an dem sich ihr fünfundzwanzigstes Lebensjahr vollenden würde, umso unruhiger wurden Noir und Armand. Immer öfter fand man die beiden fernab der belebten Wege, ohne ihre Freunde, die sich irgendwo vergnügten.
»Dieser Geburtstag... wird alles verändern, nicht wahr?« Noirs Stimme klang beinahe sanft als er zum Vertrauten und Bruder sprach und seine Sorge mit dem anderen teilte.
Er wusste oder ahnte, dass es Armand nicht anders erging als ihm selbst.
Wie bei den meisten Abenteuern und Dummheiten war auch hier der Silberäugige der Initiant, derjenige der den Anfang machen musste, damit der Magyar folgte und seine Gedanken mitteilte. Armand lehnte sich neben dem Anderen an eine halb zerfallene Mauer und zuckte gespielt gleichmütig mit den Schultern.
»Möglich. Fürchtest du das Erwachen?« Noir schwieg nachdenklich. Es war weniger das Erwachen seines Erbes, das ihn beunruhigte als das, was daraus resultierte. Wo man jetzt noch nachsichtig war, gäbe es bald keine Gnade mehr.
Er war der Sohn Alexanders. Man erwartete, dass er irgendwann seinem Vater nachfolgen würde. Man erwartete, dass er Leistung brachte und dem Vater nacheiferte.
»Vaters Methoden den Hunger zu bezwingen, oder alle anderen Lektionen gelten als-« Er sprach nicht weiter, brauchte es nicht. Alexander war für seine Härte bekannt, für Unbarmherzigkeit, für kalte Strenge. So war jener erzogen worden und so erzog er. Die Gewandelten ebenso wie das eigene Kind. Die Alten ebenso wie die Jungen. Die wenigen Male, bei denen der Vater statt Härte und Strenge seine sanfte oder milde Seite zeigte, konnte er an seinen Händen abzählen. Alexander machte keinen Unterschied.
Vielleicht, weil er es sich nicht erlauben konnte. Vielleicht weil das kleinste Zeichen von Schwäche sein Ende und das seiner Familie bedeuten könnte. Noir konnte nur spekulieren, welche Beweggründe sein Vater hatte. Wie alt der Vater war - wirklich war-, wusste nicht einmal Noir.
Doch bot das Oberhaupt und dessen Handeln und Alter immer wieder Stoff für Spekulationen und Geschichten und Mutmaßungen – auch bei den Jüngeren. Aber niemand würde je die Kälte in Frage stellen, die Strenge, die man ihm zusprach. Niemand würde es wagen, herauszufordern was doch gewiss war.
Die Vampirclans erwarteten, dass auch Noir eines Tages die Fertigkeiten, das Wissen und die Stärke des Vaters zeigte. Ob das seinem eigenen Willen entspräche oder nicht, war dabei irrelevant. Es war sein Schicksal, als Blut seines Vaters auch dessen Weg zu beschreiten.
Neben den Methoden des Vaters den Hunger zu bezwingen und den Prämissen des Clans zu folgen, waren es die Erwartungen, die Noir ammeisten zu schaffen machten.
Was wenn er es nicht schaffen würde? Wenn er nicht gut genug wäre? Nicht stark genug sein konnte? Was wenn er den Weg des Vaters gar nicht beschreiten wollte?
»Andere vor uns haben die Lektionen überstanden und auch wir werden es überstehen.« Armand klang zuversichtlicher, als er war und Noir schenkte dem Freund, dem Bruder und Vertrauten einen amüsierten Blick.
»Ich bin der Erstgeborene… der einzige Sohn Alexanders.
Was andere überstanden haben oder für andere gilt...« Er sog die Luft ein und zuckte mit den Schultern. Das Silber der Augen das sonst lebhaft glänzte, schien heute matt. Die Ringe unter den Augen zeugten davon, dass er sich auch in den Nächten noch Gedanken um das, was folgte und die damit verbundenen Folgen machte.
»…wird vermutlich nichts gegen das was mich erwartet, oder auch dich.«
»Mich?«
Armand hob abwehrend die Hände und schüttelte vehement den Kopf.
»Nein, nein mein Freund. Ich bin nur ein Dauergast, ich komme weites gehend ungeschoren davon.« Armand grinste spöttisch und Noir lachte. Gewiss erfuhr der Freund ein wenig mehr Nachsicht, als man bei Noir an den Tag legte, doch auch jener hatte keine Gnade zu erwarten. Gemeinsam würden sie die Ausbildung oder die Weiterführung eben jener überstehen, dessen war er sich fast sicher.
»Ich sorge mich um den Hunger.«
Armands Geständnis war leise, während sein Blick in der Ferne auf einem nicht zu bestimmenden Punkt lag.
Er übersah das langsame Nicken, das Noirs Zustimmung bekundete. Der Hunger, der fortan ihr Leben mitbestimmen würde. Anders als alles, was bis dahin gewesen sein mochte.
Hunger, Gier, unbändiges Verlangen das von den meisten als weit schmerzhafter als jede Folter beschrieben wurde.
Die Gier nach dem überlebenswichtigen Rot, dem kräftigenden, lebensspendenden Vitae welches ihre Art beherrschte. Aber ein Vemo – oder dessen Gast - durfte sich nicht von Gier beherrschen lassen. Aber das durfte ohnehin kein Vampir, der an seinem Leben hing.
Neben den Gesetzen – den weltlichen als auch denen ihres Volkes - gab es die Prämissen, die Alexander in jungen Jahren aufgestellt hatte.
Drei an der Zahl, denen sich der Clan zu unterwerfen und zu folgen hatte.
[STÄRKE - DISZIPLIN – BEHERRSCHUNG]
Die Stärke das zu tun, was notwendig ist.
Die Disziplin die Aufgaben zu erfüllen, die gestellt wurden und das Gebaren an den Tag zu legen das angemessen ist.
Die Beherrschung mehr zu sein, als nur wilde, reißende Tiere.
Die Beherrschung der Gier nach Blut fiel unter diese Punkte.
»Wir dürfen den anderen nicht alles glauben, Armand. Sie wollen uns ängstigen. Sieh dir manchen bei Hof an. Wäre es wirklich so schlimm, wie mancher behauptet würden einige nicht mehr wandeln.« Noir versuchte, den Anderen zu beruhigen, der mit dem Blick den grasenden Pferden in der Nähe folgte, ehe er sich auf die Mauer schwang und aufrichtete. Sie wurden mehr oder weniger auf das was kommen würde vorbereitet. Es war nicht so, dass sie nicht wüssten, was ihnen blühte.
Dass sie Blut benötigten, das Hunger und Gier allgegenwärtig waren. Dass die Sinne sich verbesserten und sie sich konzentrieren müssten. Sie versuchten sich bereits darin, ihre Konzentration zu steigern. Auch im Training war Konzentration unabdingbar, im Kampf überlebenswichtig, dennoch…
Es war etwas anderes davon zu hören oder darüber zu sprechen und es wirklich zu erleben. Das war ihnen beiden durchaus bewusst.
»Ja möglich.«
Armand nickte abermals und balancierte unter dem skeptisch amüsierten Blick Noirs auf der alten Mauer.
Unter dem Gewicht und den Schritten des Magyaren bröckelten kleine Stücke zu Boden und versuchten erfolglos, jenen mit sich herab zu reißen. Einen flüchtigen Moment lang spielte Noir mit dem Gedanken, dem anderen einen Stoß zu geben, damit jener fiel, verwarf diesen kindischen Gedanken jedoch direkt wieder. Armand grinste. Er ahnte durchaus, was im Kopf seines besten Freundes vor sich ging und fuhr ihm neckend durch sein dunkles Haar.
Der Sohn Alexanders entspannte unter der Berührung des Freundes ein wenig und schenkte ihm einen gespielt tadelnden Blick, der durch das Lächeln das seine Lippen umspielte, an Glaubhaftigkeit verlor. Nur der Magyar konnte sich eine solche Vertrautheit herausnehmen. Nur Armand vermochte es die Strenge und den Ernst aus den ebenmäßigen Zügen des Freundes – beinahe eine identische Kopie des Vaters - zu verbannen und ein ernst gemeintes Lächeln hervorzulocken. Kleine unwichtige Vertraulichkeiten, die beide bisweilen genossen und brauchten. Einem sicheren Hafen gleich, der ihnen einen Wimpernschlag in der Zeit stahl.
Nur wenn sie unter sich waren, sie abseits der bewanderten Wege wandelten, sprachen die beiden jungen Männer offen über die Dinge, die ihnen Sorge bereiteten.
Nur dann sprachen sie über all die Ängste, die sie insgeheim quälten. Nur fernab der bewanderten Pfade und des Hofes würden sie diese Vertrautheit zeigen oder sich herausnehmen.
Wandelten sie unter anderen ihrer Art, pflegten sie eine Maske zu tragen und gaben sich gleichgültig und unnahbar. Sie versuchten dabei ganz offensichtlich, es Alexander gleich zu tun und ihre Züge von Härte und Kälte beherrschen zu lassen.
Auch wenn sie drin bei Weitem nicht so geübt waren wie das Vorbild, hielten sie daran fest, sich immer wieder mahnend wer sie waren und wo.
Sie wollten niemanden wissen lassen, dass sie sich fürchteten, unsicher oder gar schwach waren. Und es gab viel das sie verunsicherte. Angefangen von den alltäglichen Dingen wie eben der Hunger und die neuen Sinneseindrücke, als auch was ihre Zukunft bringen mochte - im Guten oder auch Schlechten.
Je näher ihr Geburtstag kam und damit der Tag ihres Todes und ewigen Lebens umso mehr zogen sie sich zurück, was das Oberhaupt des Clans mit einer Mischung aus Sorge und Amüsement beobachtete. Armand war fast einen Monat jünger und würde an seinem besten Freund sehen, was von den Gerüchten stimmte und was nicht. Einen Monat länger musste er sich sorgen, ob er das Erwachen überleben würde oder all das, was danach käme.
»Es heißt man zwingt…«
»Armand!«
Noir sah den Freund milde tadelnd an. Es war genug für heute. Genug der Sorge, genug der Angst, genug der Gerüchte. Er wollte sich nicht mehr den Kopf zerbrechen.
Zumindest für den Augenblick. Auch wenn jeder, allen voran der Vater, wusste, dass er sich bis zum letzten Augenblick darum sorgen und sich den Kopf zerbrechen würde.
Weil es jedem Geborenen so erging wie dem jungen Vemo, auch wenn – wie jener richtig erkannt hatte - für ihn die Messlatte bei weitem höher angelegt wurde als bei anderen.
Vielleicht hoffte Noir, dass wenn er einfach nicht darüber sprach, die Angst vergehen würde und das Erwachen seinen Schrecken verlöre. Eine Hoffnung, die unerfüllt bliebe.
Noir seufzte und stieß einen Pfiff aus, um nach seinem Pferd zu rufen. Armand verzog die Lippen. Gern hätte er noch weitergesprochen, aber wenn er etwas in all der Zeit gelernt hatte, die er am Hofe der Vemo verbracht hatte, dann das der Freund stur war wie der Winter kalt. Also er tat es dem anderen nach und rief nach seinem Pferd.
Was wirklich kommen würde, würden sie bald genug erfahren und Armand fürchtete – nicht weniger als Noir - was das sein mochte.
Die Nacht, in der Noir Vemo sich zum letzten Mal als Mensch zur Ruhe legte, war wärmer als üblich. Mond und Sterne tauchten die Welt in magisches Licht und die Vögel und Tiere der Dunkelheit sangen ihm ihr Wiegenlied.
Friedvoll.
Wie sonst sollte eine Bestie ins Leben treten? Engelsgleich und schön und ebenso trügerisch wie stille Wasser.
Bei Gewandelten war die Wandlung in das Geschöpf der Nacht ausgesprochen schmerzhaft. Aber bei den Geborenen trat das Erbe ohne Schmerzen hervor. Im Schlaf, wenn Körper und Geist ruhten, erfüllte sich der Ruf ihres Blutes bei jenen denen es vorbestimmt war. So war es auch bei dem silberäugigen Sohn des Clanoberhauptes.
Alles Sterbliche fiel im silbrigen Licht des Mondes von ihm ab. Das Herz hörte auf zu schlagen, der Alterungsprozess endete, die Reißzähne bildeten sich aus und kleine Makel und Verletzungen verschwanden.
Ein engelsgleiches marmornes Bildnis wie er dort regungslos in seinem Bett lag. Eine Statue die kein Meister in solcher Perfektion erschaffen könnte und in dem ein Monster, eine dunkle Bestie verborgen schlummerte.
Tod und Krankheit würden ihm fortan nichts – oder fast nichts – mehr anhaben können. Seine Sinne würden, wie auch seine Kraft und Schnelligkeit, mit jedem Lebensjahr das er überdauerte, zunehmen.
Ein leises Wispern erklang aus der Dunkelheit, doch keine Stimmen waren es die sich im Flüstern vereinten… Ein Gesang, ein dunkler Choral, der sich hob und anschwoll, während sich die Schatten im Licht des Mondscheins zu regen schienen. Sich windend, tanzend und singend die Geburt des ‚neuen‘ Vampires begrüßend.
Murrend drehte sich Noir auf die Seite, als würde er Antwort geben auf die Störung der nächtlichen Ruhe und das Wispern erstarb augenblicklich. Als der milde Schein Morgenröte die Kammer in sanftes Licht tauchte, riss ein brennender Schmerz in seiner Kehle, Noir aus dem Schlaf und auf die Beine. Er presste die Hände an den Hals, schnappte nach der nicht länger benötigten Luft. ‚Was passiert hier?' hallte die einzig sinnige Frage durch seine Gedanken. Eine Frage, die er nicht beantworten konnte, so sehr er sich auch bemühte.
Er taumelte zu einer Kommode, sich mit einer Hand den Hals haltend. Er griff den Krug mit Wasser und schenkte sich mit zitternden Fingern ein. Doch auch wenn er das Wasser in einem Zug herabstürzte, verging weder der Schmerz noch das Gefühl zu ersticken.
Der Silberäugige hatte vergessen - nein falsch! Sein Verstand war noch nicht wach genug, um sich zu entsinnen, was in der Nacht geschehen sein musste und welcher Tag heute war.
Die Tür zum Gemach wurde geöffnet. Alexander trat ein und betrachtete seinen Sohn eindringlich. Der Spross schien vollkommen neben sich zu stehen. Das rabenschwarze Haar stand wirr in allen Richtungen ab und die silbernen Augen leuchteten unwirklich. Hunger, Verwirrung und Schmerz standen im Blick des Erwachten geschrieben. So abrupt das es fast gruselig war, ruckte der Blick des Vampirs auf seinen Vater - oder besser auf das, was jener in seinen Händen hielt.
Einen Kelch an dessen Innenseiten sich das lebensspendende Rot schmiegte und verführerisch lockend nach dem Prinzen des schwarzen Hofes zu rufen schien.
Alexander reichte ihn seinem Sohn und jener stürzte den Inhalt in einem einzigen Zug herunter. Er kostete den süßen, kräftigen Geschmack aus der sich über seine Kehle in seinem Leib ausbreitete und den grausamen Schmerz beendete.
»Danke...«
Atemlos stellte Noir den Kelch ab und vermied es, seinen Vater anzusehen. Nun wo der Schmerz geendet hatte, war ihm durchaus klar, was für ein Tag heute war und was das Ganze zu bedeuten hatte. Ebenso wie ihm bewusstwurde, wie er sich aufgeführt hatte und welchen Eindruck sein Vater von ihm haben mochte.
»Ich habe ihn unterschätzt, habe nicht gedacht...«
Es klang, als wolle Noir sich entschuldigen und das entsprach zum Teil sogar der Wahrheit. Er schalt sich innerlich selbst, dass er das Ereignis das ihn seit Monaten beschäftigte einfach vergessen hatte. Seit einer gefühlten Ewigkeit sprachen Armand und er über das Erwachen, den Hunger und all das, was damit zusammenhing.
Und nun wo es so weit war… vergaß er alles, was er gelernt hatte. Er seufzte kopfschüttelnd und gab Wasser in die Waschschüssel während Alexander sich in einem Sessel niederließ um den Erstgeborenen zu beobachten.
»Dass der Durst nicht zu unterschätzen ist, wirst du sehr bald schon erkennen, Noir. Ich werde bei der Prüfung keinen Unterschied zwischen dir und einem anderen Clanmitglied machen.«
Mahnend die Worte, die das Oberhaupt sprach, während Noir sich salonfähig machte. Er wusch sich, bändigte das schwarze Haar und suchte seine Kleider zusammen.
»Ich weiß Vater. Ich erwarte nichts anderes.«
Dass es eine Lüge war, dass Noir anders behandelt wurde, wussten beide. Allein der Umstand das Noir in seinem Gemach im eigenen Bett erwacht war, sprach von einer anderen Behandlung. Normalerweise wurden die Geborenen in das Verlies gebracht, bevor die Wandlung abgeschlossen war. Für Geschaffene galten andere Maßstäbe. Die Erziehung war dieselbe, die Voraussetzungen, die Gesetze. Für gewöhnlich suchte man für die Wandlung eines Sterblichen jedoch einen Ort, der ihnen ewig im Gedächtnis bleiben würde. Einen Platz, der es würdig war, Abschied zu nehmen von der Sterblichkeit, von ihrer Vergangenheit und um das neue Leben zu begrüßen.
Das Alexander seinem Sohn den Kelch mit frischem Blut gebracht hatte, war ebenfalls nicht üblich. Warum das Oberhaupt das getan hatte, konnte Noir nicht sagen, aber er war dankbar dafür. Dankbar für den Moment, der ihm blieb, um sich zu sammeln und sich auf das Kommende vorzubereiten. Er kleidete sich an, konzentrierte sich nur darauf. Er wählte nicht wie sonst edle Gewandungen, sondern Trainingskleidung. Das gewährte ihm genug Bewegungsfreiheit, gleich was da kommen würde. Einfache schlichte Hosen, kniehohe Stiefel, ein beinahe grob anmutendes Hemd. Die Kerker verlangten nicht nach edler Kleidung.
Alexander beobachtete seinen Sohn dabei, wie er sich herrichtete. Er bemerkte das leichte Zittern in den Fingern, den unsteten Blick des Sohnes. Er wusste um die Gerüchte, die über diese Prüfung umhergingen, und konnte erahnen, wie sich der Sohn fühlte.
Es galt das Verbot, das man kein Wort über die Lektion des Hungers zu verlieren hatte, aber ihm waren bereits die eigenartigsten Geschichten zu Ohren gekommen.
Gern würde er seinem Sohn die Furcht nehmen. Ihm sagen, dass alles gut werden würde. Aber das konnte er nicht.
Lügen waren nie Bestandteil seiner Erziehung gewesen.
Eine einzige Lüge - nur eine - die er für sich behielt, hatte er je gesprochen. Nur eine. Und dabei würde es bleiben.
Nicht jeder bestand diese Prüfung, mancher Geist zerbrach unter den neuen Einflüssen oder unter dem rasenden Hunger. Wie sollte er dem Sohn da versprechen können, dass alles gut werden würde?
Noirs Seufzen forderte Alexanders Aufmerksamkeit erneut ein. Es war lange her, dass sein Sohn vertrauensvoll zu ihm gekommen war, wenn ihn etwas bedrückte. Sie hatten die Rituale beibehalten, die Alexander eingeführt hatte, als der Sohn noch ein Kind gewesen war.
Die abendlichen Appelle und Gespräche, um nach den Fortschritten zu fragen. Um sich nach dem Unterricht und dem Training zu erkundigen. Und ebenso allen Belangen, die eben wichtig waren. Trotzdem ...
Der frisch Erwachte war erwachsen geworden. Ein kluger junger Mann, auf den man stolz sein konnte. Der versuchte seine Angelegenheiten selbst zu regeln. Alexander hoffte, dass Noir diese Lektion bestand. Das sein Geist stark genug war und er selbst nicht gezwungen sein würde, sein Fleisch und Blut zu töten.
Mit raubtierhafter Geschmeidigkeit erhob sich Alexander aus dem Sessel und nickte leicht, zum Zeichen das sie gehen würden. Mit ausdruckslosen Mienen - nun beinahe zumindest, denn Noirs Miene spiegelte immer wieder kurze Verwirrung wider - schritten sie Seite an Seite die weitläufigen Flure entlang, die für Fremde oft einem Labyrinth gleichkamen.
Das Schloss - das stets im Bau war - bot mehrere weit verzweigte Flügel.
Der Nordturm in dem Alexander, Noir, Armand sowie Führer anderer Clans und hohe Gäste lebten. Sie verfügten hier über ausladende Gemächer. Luxus, zu dem eine eigene Dienerschaft zählte, durfte nicht fehlen. Und niemandem aus den niederen Rängen war es gestattet, einen Fuß dorthin zu setzen.
Der Ostflügel, in dem sich die Waffenkammern, die Schmiede und der Trainingsraum befanden. Der Trainingsraum war ähnlich einem Amphitheater aufgebaut und bot ausreichend Platz für die Bewohner des Schlosses und diverse Gäste. Auch wenn Noir den wenigsten kräftemäßig viel entgegensetzen konnte, war er oft hier zu finden, ebenso wie sein Freund und Vertrauter. Und sei es nur, um zu lernen, zu beobachten und sich Kniffe und Tricks einzuprägen, die er irgendwann einsetzen könnte.
Im Süd und Westflügel befanden sich Räumlichkeiten für Bewohner, Handlungsreisende und Soldaten. Etwa 150 Kreaturen lebten dauerhaft am Hof. Soldaten, ‚Adelige‘ ihrer Art, Jungvampire, deren Ausbildung in die Hände des Ältesten gelegt wurden, Soldaten, Menschen die als Spender und Diener fungierten. Männer und Frauen verschiedensten Standes und Positionen. Im Erdgeschoss befand sich ein großer Saal in dem Feste und Bälle gefeiert wurden und in denen ebenso Audienzen oder Versammlungen abgehalten wurden.
Die Bibliothek, die zu den größten im ganzen Land zählte.
Die Küche für die Sterblichen, Wäschereien sowie Wohnräume für das Gesinde waren hier ebenso zu finden.
Im Kellergewölbe befanden sich die Verliese, welche heute das Ziel von Vater und Sohn waren. Verräter der eigenen Art über die der Älteste oder der Rat ein Urteil sprechen würden, Diebe, Wegelagerer und was sich sonst an Gesindel herumtreiben mochte, endete früher oder später hier.
Die Schritte jener, die ihnen auf dem Weg dorthin entgegenkamen, verebbten und mancher senkte den Kopf respektvoll zum Gruß. Noir nahm es nur vage wahr. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Bewohner oder Gäste des Schlosses innehielten, um dem Vater Respekt zu zollen oder die Gunst der Stunde zu nutzen, um etwas vom Oberhaupt zu erbitten. Heute taten sie es auch, um ihm Glück zu wünschen.
Das sah Noir nicht, auch wenn sein Vater sich dessen bewusst war.
Erschrocken von Hunger und Schmerz, um die er theoretisch wusste, waren ihm die ganzen vielfältigen Geräusche und Gerüche gar nicht aufgefallen, die ihn jetzt irritierten und verwirrten. Schlagende Herzen, Gesprächsfetzen, der Schmied der seinem Handwerk nachging, Gelächter, kommende und gehende. Gerüche von Kräutern, Gewürzen, Blut, Schweiß, Ausdünstungen und Ausscheidungen vielfältiger Art schwängerten die Luft.
»Viel Glück mein Freund.«
Armand wisperte seine Worte leise, als er dem Freund im Vorbeigehen an der Schulter berührte. Noir verstand ihn so klar, als habe er in normaler Lautstärke gesprochen und das irritierte ihn ebenso sehr wie das kurze Zusammenzucken seinerseits.
»Blende es aus.«
Alexanders Rat brauchte eine Weile, um den Weg ins Bewusstsein seines Sohnes zu finden. All die neuen Eindrücke, die neuen Geräusche, die neuen Gerüche so laut, so intensiv, machten es Noir schwer, zu erkennen was nah war und was fern, oder was tatsächlich an ihn gerichtet war oder eben nicht.
»Wie?«
Noir runzelte die Stirn.
Ihm schien undenkbar, dass es möglich war all das Chaos aus Lärm und Gestank auszublenden.
»Du musst dich konzentrieren.«
»Sehr amüsant.«
Noir knurrte ungehalten und erschrak über diesen Laut, den er an sich nie zuvor bemerkt hatte. Er wusste, dass er sich konzentrieren müsste. Auch die Schulung der Konzentration hatte zu ihrer bisherigen Ausbildung gehört.
Aber wie er die Unterweisungen und die Realität miteinander in Einklang bringen sollte, wusste er nicht.
Ein amüsiertes Lächeln umspielte die Lippen des Ältesten, während er an der Seite des Sohnes den Gang wählte, der sie den Treppen zu den Verliesen entgegenbrächte.
Es sagte sich leicht. Das man sich konzentrieren solle. Dass es das nicht war, wusste Alexander selbst, auch wenn die Erinnerung daran nur noch schemenhaft war. Einem Traumbild gleich, das vergessen wurde, sobald man die Augen aufschlägt. Dann und wann im Laufe des Tages streifte die Ahnung vom vergangenen Traum das Bewusstsein vielleicht, aber greifbar war es selten. Er war sicher, dass es auch seinem Sohn früher oder später so ergehen würde.
Noir ballte seine Hände zu Fäusten und widerstand dem Drang, sie sich an die Ohren zu legen. Dafür war er zu stolz. Vielleicht – wahrscheinlich - sah man ihm durchaus an, dass er mit dem neuen Zustand zu kämpfen hatte. Aber das änderte nichts daran, dass er wie sein Vater stolz und unnachgiebig (oder auch einfach ausgesprochen stur) sein konnte.
Immer wieder vergaß er, dass es unnötig war, zu atmen.