Verantwortung - Nils Heisterhagen - E-Book

Verantwortung E-Book

Nils Heisterhagen

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Beschreibung

Wir brauchen ein republikanisches Wir gegen das Gespenst (neo-)liberaler Ich-Philosophie. Die politische Linke sollte die materiellen Bedürfnisse der Menschen wieder ins Zentrum ihrer Politik rücken. Und sie muss die Menschen auch wieder an ihre Pflichten als Bürger erinnern. Sie schulden sich einander etwas, und das ist mehr, als sich an Gesetze zu halten. Verantwortung trägt jeder: für sich, den Anderen und das Gemeinwohl. Der junge linke Vordenker Nils Heisterhagen analysiert: Der Sinn fürs Ganze ist, was heute fehlt. Und auf der Linken fehlt der Wille zur Macht. Denn nur mit Mehrheiten kann man Dinge verändern. Diese sind nur möglich durch den entschiedenen Willen zu einer republikanischen Politik, die möglichst alle in ein gemeinsames politisches Projekt einbinden und damit auch verbinden will. Deshalb braucht es endlich wieder eine sozialdemokratische Verantwortungslinke, die den Menschen Kennedys Satz zumutet: "Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was Du für dein Land tun kannst."

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Seitenzahl: 292

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Nils Heisterhagen

VERANTWORTUNG

Für einen neuen politischen Gemeinsinn in Zeiten des Wandels

Über den Autor

Nils Heisterhagen, geb. 1988, Dr. phil, ist Publizist und war Grundsatzreferent der SPD-Fraktion in Rheinland-Pfalz sowie Grundsatzreferent und Redenschreiber der letzten beiden IG-Metall-Vorsitzenden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8012-7021-6 (E-Book)

ISBN 978-3-8012-0569-0 (Printausgabe)

Copyright © 2020

by Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, D-53175 Bonn

Umschlaggestaltung: Hermann Brandner– gabor’s , Köln

Satz: Rohtext, Bonn

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2020

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

»Der Westen ist in der kalten Jahreszeit des exzessiven Individualismus und sehnt sich nach der Wärme der Gemeinschaft, die menschliche Beziehungen wieder erblühen lässt.«

(Amitai Etzioni)1

»Der Individualismus hat die Überhand gewonnen. Das Ungleichgewicht ist so groß, der Kollektivismus so schwach, dass der Ausgleich nicht mehr funktioniert.«

(Raphael Glucksmann)2

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

1. Einleitung: Verantwortung aus Liebe zur Welt

2. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs: Für eine Politik des linken Aufbruchs

2.1. Das Scheitern des (Neo-)Liberalismus

2.2. Von der Polarisierung der Identitätspolitik

2.3. Links und Rechts wieder eine Bedeutung geben – ohne den Common-Sense zu verlieren

2.4. Populismus und populäre Politik

3. Individuelle Verantwortung

3.1. Welche Moral?

3.1.1. Moral und Moralismus

3.1.2. Moralismus als Anti-Politik: Oder warum zu viel Moral Politik verhindert

3.1.3. Eine Moral für das Gemeinwesen

3.2. Das Ideal des Staatsmannes

3.3. Verantwortung der Intellektuellen: Philosophen interpretieren die Welt. Aber verändern müssen sie andere?

4. Die Verantwortungsgesellschaft

4.1. Wider den radikalen Individualismus

4.1.1. Postmodernismus und Neoliberalismus – passt zusammen und passt nicht zusammen. Eine Kritik

4.2. Die »Sprache des Wir« wiedergewinnen

4.3. Solidarität: Einer für alle und alle für einen

5. Schluss: Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was Du für dein Land tun kannst

Nachwort: Für eine Verantwortungslinke

Anmerkungen

1. Einleitung: Verantwortung aus Liebe zur Welt

Seit ich begonnen habe, grundlegender nachzudenken, mithin Philosophie zu betreiben, war es ein Gedanke, der mich stets begleitet hat und den ich nicht wieder loswerde.

Diesen Gedanken fand ich bei der Philosophin Hannah Arendt. Und er dreht sich um das, was sie »amor mundi« (Die Liebe zur Welt) nennt.

Eigentlich sollte bereits ihr Hauptwerk »Vita activa«3 die Worte »Liebe zur Welt« im Titel tragen. Eine gelungene Einführung in ihr Werk und ihre Person ist sogar überschrieben mit »Hannah Arendt. Oder die Liebe zur Welt«.4 Diese Liebe zur Welt, so wird es zumindest suggeriert, hat etwas von der Person Ausgehendes. Die Liebe zur Welt kommt von jemandem.

Allerdings hatte Arendt ein Verständnis von der »Welt«, das eher das Zwischenmenschliche im Blick hatte. Grundsätzlich war der Begriff »Welt« bei Arendt ein Begriff der Relation und der Beziehung. Er beschreibt, was die Welt der Menschen ausmacht und zusammenhält. Die Welt hat man zusammen. Die Welt verbindet.

Bleiben wir aber, zumindest hier und jetzt, bei dem Gedanken, dass Liebe zur Welt etwas ist, was eine Person beweist oder eben nicht beweist. Gehen wir davon aus, dass Liebe zur Welt etwas ist, was man tun kann, als einzelne Person. Beschreiben wir die Liebe zur Welt also einerseits als Haltung, aber auch als individuellen Handlungsimpuls.

Und dann stellen wir uns mit Hannah Arendt folgende Frage: »Amor Mundi – warum ist es so schwer, die Welt zu lieben?«5

Nun kann man im Lichte dieser Frage viele politische Ereignisse und Tendenzen bewerten, die zuletzt stattfanden. Nehmen wir den Aufstieg des »Rechtspopulismus« als Kernbeispiel. Ausgehend von dieser Frage kann eine Antwort einerseits sehr einfach, andererseits sehr schwierig sein.

Denn man könnte es sich leicht machen und sagen: Ja, diese Rechten von der AfD oder dieser Donald Trump, die betreiben eben Hass und Hetze, man muss nur Liebe dagegensetzen. Die Frage wird also zurückgegeben, und zwar etwa so: Lieber Donald Trump, warum bist du eigentlich so ein hasserfüllter Mensch? Warum fällt es dir so schwer zu lieben?

Die Folge dieser Bewertung wäre ein tiefes Kopfschütteln und eine Art Liebes-Offensive. So könnte man sich moralisch in die Position versetzen zu sagen: Ich bin der Liebende und du bist der Hassende. Du bist eine verachtenswerte Person und ich bin dir überlegen.

Nun kommt man leider zu dem Punkt, dass im Fall von Donald Trump die verachtenswerte Person, ja dieser scheinbare Hass-Mensch, um im Bild zu bleiben, auf demokratischem Wege die Wahl gewonnen hat, Präsident wurde und als solcher entscheidet und regiert.

Nun gibt es darauf eine einfache Antwort. Man verbringt vier Jahre kopfschüttelnd und vergewissert sich selbst darüber, dass man selbst zu den Guten gehört, während Trump und die Trumpisten einfach nicht in der Lage sind, die Welt zu lieben. Man liest etwa bestimmte Bücher – nennen wir für den deutschen Kontext das Buch von Carolin Emcke »Gegen den Hass«6 – und begnügt sich damit, sich als liebende Person selbst gut zu finden. Damit spricht man dann in eine liberale Echokammer hinein, die wie ein Zirkel der Selbstbestätigung und der Ermunterung wirkt: Du bist nicht allein. Du bist auf der guten Seite. In dieser Echokammer bestärkt man sich selbst seiner »Haltung«. Im Sinne von: Also »für mich« ist es leicht, die Welt zu lieben. Und für meine Freunde auch.

Daraus folgt dann oft die Mission: Seht es doch genauso wie ich oder wir! Liebt doch einfach! Was ist daran schon so schwer?

In dieser Echokammer wird eine Haltung gefordert.

Mein Argument in diesem Buch ist aber, dass es sehr oft bei der selbstreferenziellen Haltung bleibt und die Haltung auf diese Weise erstens selten in Handlung mündet und zweitens Distinktionen befördert. Kurz: Diese Haltung hat oft eine trennende Konsequenz und keine vereinende. Sie ist eine Form der Identitätspolitik, die genauso wie die rechte Identitätspolitik eines Donald Trump oft suggeriert: Bist du auf meiner Seite oder bist du es nicht? Entscheide dich.

Diese Identitätspolitik ist aus meiner Sicht, egal ob sie von Liberalen oder von Rechten kommt, eines der zentralen Probleme der politischen Diskursführung dieser Tage. Meine zwei zentralen Argumente sind: Erstens: Mit dieser Form der Identitätspolitik steht sich die Linke selbst im Weg. Zweitens: Liebe zur Welt kann man weniger durch Haltung beweisen, sondern vor allem durch Handlung. Ohne den Mut zur Verantwortung kann man die Liebe zur Welt nicht realisieren. Es kommt immer darauf an zu verändern. Also nicht nur reden, sondern auch machen. Realität wird in erster Linie materiell geschaffen. Der Diskurs hingegen hat kein Eigenleben, keine Parallelexistenz, obwohl es heute vielfach so wirkt. Der Diskurs kann sich über das Reale weder ermächtigen noch ist er mächtiger. Wer glaubt, dass alles Diskurs ist, der irrt. Wer sich also zentral auf den Diskurs selbst fokussiert, verliert sich und verliert politisch.

Ich werde in diesem Buch argumentieren, dass es einer Reformlinken darum geht, in einem sozio-ökonomischen Sinne Reformen zu unternehmen, die Sicherheit und Wohlstand für alle zum Ziel haben, wohingegen es einer Kultur- oder Diskurslinken hauptsächlich darauf ankommt, über ihre Haltung und ihre Weltsicht zu sprechen. Die Reformlinke ist materiell orientiert, wohingegen sich die Diskurslinke in einer selbstgeschaffenen Illusion eines Eigenlebens und einer Eigenmächtigkeit des Diskurses verliert. Ihr sturer Vorsatz, sich einzig auf die öffentliche Meinung und ihre Auswirkungen zu konzentrieren, hält sie davon ab, etwas zu tun. Die Reformlinke hingegen ist darauf ausgelegt, Gesetze durch den Bundestag zu bekommen, die das Leben ihrer Repräsentierten materiell verbessern oder sichern.

Dieser Konflikt innerhalb der Linken ist nichts Neues, er ist jedoch in den letzten Jahren offen zutage getreten und erschwert nicht nur die Mehrheitsfähigkeit der politischen Linken als Ganzes, sondern drängt den politischen Diskurs in eine identitätspolitisch getriebene Form. Die Folge dieser identitätspolitischen Wende ist Poesie-Politik, Stimmungspolitik und das Vordringen der politischen Kommunikation als zentrales Spielfeld politischer Aktion – wohingegen die konkrete Realpolitik im Klein-Klein des Regierungsapparates versandet. Anders gesagt: Die Diskurslinke dominiert gerade innerhalb der Linken und die Reformlinke ist in der Minderheit. Die Dominanz der Diskurslinken bestärkt und ermöglicht aber die identitätspolitische Wende. Das hat Auswirkungen darauf, »wie« Politik heute zunehmend gemacht wird und »wer« das tut.

Während sich der frühere Politikertypus anhand konkreter sachlicher Vorschläge zu profilieren suchte und dafür wusste, dass er selbst sich für seine Facharbeit umfassend zu qualifizieren hat, scheint heute ein neuer Politikertypus zu entstehen, der vor allem auf seine politischen Kommunikationsfähigkeiten achtet – insbesondere seine Social-Media-Arbeit – und in der Folge seine Facharbeit und die Qualifikation dafür vernachlässigt. Innerhalb der Linken ist diese Tendenz der Kommunikationswende besonders auffällig, wodurch die Linke zu einer politischen Kommunikationslinken avanciert, die viele Hashtags produziert, aber vergisst, an konkreten innovativen Vorschlägen für realpolitische Veränderung zu arbeiten. Besonders die SPD marginalisiert diese Kommunikationswende, wohingegen die Grünen von ihr profitieren, weil sie auf der Klaviatur der Stimmungspolitik besser zu spielen vermögen. Die Grünen waren schon immer mehr die Poesiepolitiker, wohingegen die Sozialdemokraten die realpolitischen Malocher waren. Seitdem die Sozialdemokraten diese realpolitische Reformfähigkeit schleifen lassen und die Grünen dürftig nachahmen, gehen sie unter, verscheuchen Wähler ins Nicht-Wähler-Lager und zu anderen Parteien, tendenziell zu rechten und rechtsliberalen Parteien, und tragen so erst recht zu einem »Rechtsruck« der Gesellschaft bei, den sie anschließend nur umso heftiger beklagen. Zudem machen sie die Grünen und ihre Poesie – man darf hier auch von der grünen kulturellen Hegemonie reden – erst recht stark. Für die SPD und Linkspartei muss daher eine Veränderung geschehen.

Aus meiner Sicht muss die politische Linke – wozu ich hier momentan eindeutig nur die SPD und die Linkspartei zählen kann und will – daraus ausbrechen, zentral über Werte und Weltbilder zu sprechen. Gemeint ist hier vor allem aber die Sozialdemokratie. Sie muss vielmehr wieder eine Reformlinke werden, die etwas mit Gesetzen verändern will.

Diese Forderung ist nicht neu, aber relevant wie nie.

Der US-amerikanische Philosoph Richard Rorty hat die Problematik zwischen der Kulturlinken und der Reformlinken schon vor gut 20 Jahren auf den Punkt gebracht, als er in seinem Buch »Stolz auf unser Land« schrieb:

»Die Linken in den Hochschulen haben es zugelassen, daß Kulturpolitik an die Stelle der eigentlichen Politik trat, und haben der Rechten in die Hände gespielt, indem sie kulturelle Fragen in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion stellten. Statt neue Gesetze vorzuschlagen, vergeuden sie ihre Kräfte auf Fragen, die von den Bedürfnissen des Landes so weit entfernt sind wie Adams’ Gedankenspiele über die Jungfrau und den Dynamo.«7

Wehmütig klagt er in diesem Buch darüber, wo denn die reformistische Linke geblieben sei. Die Kulturlinke ziehe sich in die Rolle des Beobachters und des Zuschauers zurück und vergesse ihren Handlungsauftrag. Denn die Linke sei nun mal eine »Partei der Hoffnung« und wenn sich »eine Linke auf Zuschauerrolle und Rückblick beschränkt, ist sie keine Linke mehr«.8

Übertragen auf heute bedeutet das in etwa, dass die Linke sich nicht nur als Kommentator der Entgleisungen von rechts begreifen sollte, nicht den 1. Mai nur als Folklore begehen und nicht nur darüber sprechen sollte, welche Werte zu haben eigentlich richtig ist.

Richard Rorty rief in seinem Buch damals unüberhörbar der Linken zu: Ihr müsst euch als Handelnde begreifen!

Und es ist genau das, was ihm bei der »neuen Linken« fehlt. Anstatt auf »politischen Wandel« hinzuwirken, wolle sie vor allem nur noch »kulturellen Wandel« bewirken. Polemisch gesagt: Die linken Intellektuellen schreiben schöne Essays darüber, welche Sexualmoral korrekt und welche Haltung insbesondere zu religiösen und ethnischen Fragen und zum Zusammenleben im Generellen richtig ist, machen aber kaum noch Vorschläge, wie man den Kapitalismus sozial eindämmen könnte. Sie haben auch keine Hoffnung mehr. Die »konkrete Utopie« (Ernst Bloch) ist ihnen gewissermaßen abhandengekommen. Stattdessen spezialisierten sich die Vertreter der neuen Linken, so Rorty, auf eine »Politik der Differenz oder der Identität oder der Anerkennung. Diese kulturelle Linke beschäftigt sich mehr mit dem Stigma als mit dem Geld.«9 Oder wie er es versinnbildlicht: Die Linke habe sich von Marx abgewandt und Freud zugewandt.10 So konnte es passieren, dass die linken Intellektuellen so etwas wie Psychologen und Pädagogen der Gesellschaft wurden und den Materialismus weitgehend vergaßen. So sei der »Hauptfeind« der neuen kulturellen Linken heute ein »geistiges und kein Wirtschaftssystem«.11 Kurz gesagt: Sie wollten eher Erzieher als Reformer sein. »Sie spricht eben nicht gern vom Geld.«12 Dieses harte Urteil über die kulturelle Linke hat Rorty wohlbemerkt bereits vor 20 Jahren geschrieben und sah darin bereits damals das zentrale Problem der Linken.13

Die Linke – womit er vor allem die linken Intellektuellen meint – habe ihren Reformeifer also aufgegeben. Was Rorty damit meint, ist, dass die Linke auch ihren Widerstand und ihren Kampf gegen die »Kapitalisten« habe schleifen lassen. Das habe nun aber Folgen.

Dadurch, dass die Linken ihren Widerstand gegen soziale Ungleichheit und Unsicherheit schleifen ließen, ermöglichten sie einer »kosmopolitischen Oberschicht«14 den Aufstieg. Und bereits damals analysierte Rorty treffend, dass ein »wirtschaftlicher Kosmopolitismus« eine Hochzeit mit einem »kulturellen Kosmopolitismus« eingehe, der nur auf das »reichste Viertel der Amerikaner beschränkt« sei.15 In gewisser Weise wirft Rorty den linken Intellektuellen – also seinesgleichen – vor, mit ihrer Art, »links« zu sein, doch nur der Bourgeoisie zu dienen. Doch irgendwann hätten die Abgehängten und die frustrierte Mitte genug von all der ökonomischen Unsicherheit, der Erosion des »Amerikanischen Traums« und der Einseitigkeit der Linken mit ihren Kulturthemen und dann würde es einen »Bruch« geben: »Die ärmeren Wähler würden zu dem Schluß kommen, daß das System versagt habe, und einen starken Mann wählen wollen, der ihnen verspricht, daß unter ihm die feinen Bürokraten, raffinierten Anwälte, überbezahlten Anlageberater und postmodernistischen Professoren nicht mehr das Sagen haben werden.«16 Genauso ist es gekommen. Der »starke Mann« kam. Es war Donald Trump. Rorty hat vor 20 Jahren Donald Trump vorhergesagt.17

Ich will hier nur kurz darauf hinweisen, dass Rorty vor allem sozial- und steuerpolitische Reformen gegen Auswüchse des neoliberalen Kapitalismus im Auge hatte, die auch schon zum Ende der 1990er-Jahre unübersehbar waren. Eine rein kapitalismuskritische Reformlinke würde jedoch zu kurz greifen und ein offenes Feld für moderate Konservative liefern. Daher sollte eine Reformlinke nicht nur nach der Verteilung des Wohlstandes fragen, sondern immer auch danach, wie ein Land eigentlich seinen Wohlstand verdienen will. Wachstumspolitik, die etwa den Staat als treibendes Instrument kluger Industrie-, Bildungs-, und Forschungspolitik und damit letztlich als den zentralen Investor der Nation betrachtet, sollte auch zur Agenda der Reformlinken gehören – und damit sollte die Reformlinke immer auch eine Wirtschaftslinke sein. Jedenfalls ist es so, dass die Diskurslinke oder Kulturlinke für moderat Konservative, kluge Liberale und Rechtspopulisten die größtmögliche Angriffsfläche bietet und die größtmögliche Leerstelle hinterlässt. Die Diskurslinke hinterlässt ein offenes Feld, in das andere Parteiformationen wie Eroberungstruppen einfallen können, solange eine Reformlinke fehlt, die das Feld verteidigt.

An dieser Stelle wird das Dilemma deutlich, das mit folgender Frage beginnt: Warum ist es so schwer, die Welt zu lieben?

Denn auch wenn es richtig ist, dass Linke jahrelang, ja jahrzehntelang für eine neue Kultur warben, die etwa Minderheiten mehr Teilhabe und Sichtbarkeit bringen, Hass und Ressentiment mildern, die Menschen freundlicher und friedlicher machen sollte, so gibt es doch einen Punkt, an dem vielen bewusst wird: Es geht ihnen eben nicht nur darum, dass wir darüber sprechen, welche Moral heute geboten ist. Stattdessen schauen sie auf ihren Kontostand, werfen einen Blick in ihren Geldbeutel, betrachten ihre ganz persönliche Situation und sagen: Mich nervt es, dass ich so wenig habe und andere so viel. Oder sie fragen: Was wird eigentlich aus meinem Betrieb? Und was kann die Politik tun, um mir zu helfen? Die Angst vor einer ungewissen Zukunft ist in den alten Industrieländern nahezu mit Händen zu greifen. Die Angst ist real.

Aus Angst können Wut oder Frust entstehen. In dem Fall kommt es darauf an, wie man diese Gefühle kanalisiert. Man kann sie links kanalisieren, indem man Reformen vorschlägt, die möglichst untere und mittlere Einkommen verbessern, Vermögensungleichheit zurückfahren, Industriepolitik betreiben, mit Bildungsgerechtigkeit Ernst machen, die Integration ohne Ressentiments und mit realistischem Blick anpacken und Integrationspolitik nicht als Blümchenpolitik betreiben, damit sie in der Wirklichkeit gelingt – denn am Ende zählt, wie die Wirklichkeit aussieht, und nicht, wie man sie sich konstruiert. Das wäre der eine Weg, mit Wut und Frust umzugehen.

Es gibt aber noch einen zweiten Weg, der darin besteht, die Wut zu ignorieren, herunterzureden und als Hirngespinste entlarven zu wollen. Dabei wird versucht, die Wut wegzukonstruieren. Oder vielmehr: sie als Ergebnis eines falschen Denkens darzustellen. Die Wut wird dann als »unvernünftig« oder »ohne jeden Rückhalt in der Wirklichkeit« angesehen. Im Sinne der Kontingenz, der zufolge man etwas so oder auch anders sehen kann, wird einfach gefolgert, dass man nur im Kopf umparken müsse und eben »richtig« auf die Dinge blicken solle. Die Wut wird als Denkfehler »dekonstruiert«. Der Schlachtruf hieße schlicht: Denkt doch anders! Und dadurch, dass alles ja kontingent sei, könne man eben auch anders denken. Niemand müsse wütend sein. Es zähle nur, wie man denkt. In der Sprache soll dann das neue Denken vollzogen werden. Oder symbolisch gesprochen: Wer vorher Wutsmileys in den Social Media gepostet hat, soll nun ein Herzchen verwenden. Und je sensibler man in seiner moralischen Kommunikation werde, desto mehr helfe man dem »Diskurs« dabei, eine neue Wirklichkeit zu schaffen. Das Argument, das dieses Denken rechtfertigen soll, kann sich also nur rückblickend als sinnvoll erweisen, nämlich dann, wenn es durch eine Diskursverschiebung zu einer Veränderung der Wirklichkeit kommt. Hier geht es also zentral um »Diskursarbeit«. Nennen wir diese Vorgehensweise den »postmodernen Weg«.

Nun gibt es noch einen dritten Weg, auf die Wut zu reagieren. Dies ist ein Weg der rechtspopulistischen Parteien – die diesem Kurs zwar nicht immer in Idealform und nicht immer völlig offen, oft aber zumindest in der Suggestion folgen. So kann man auch dahingehend argumentieren, dass bestimmte Gruppen schuld daran seien, wie es einem geht. Trump hat so etwa einen ganzen Strauß an Ressentiments bedient, denen entsprechend wahlweise die Chinesen, mexikanische Migranten oder die Afroamerikaner an allem schuld seien. Und es verwundert kaum, dass es gerade dieser Weg war, der in den USA Erfolg hatte.

Denn der zweite, postmoderne Weg konnte Trump nichts anhaben. Trump hat seine Wahrheit schlichtweg selbst »konstruiert«, selbst seine Interpretationen vorgenommen. So konnte man sich nicht auf die Realität verständigen, sondern befand sich im Deutungskampf um diese und auch darüber, ob man überhaupt wütend sein dürfe oder eben nicht.

So konnte es auch passieren, dass »wie man über bestimmte Gruppen denkt« nun wieder zur Diskussion gestellt wurde. Die Kontingenz war das Einfallstor. Dagegen, dass Trump einfach andere Interpretationen vornahm, waren die »Postmodernen« machtlos, denn sie hatten ja alles für kontingent befunden, und demnach es für ziemlich einfach erklärt, ohne Weiteres seine Meinung zu ändern und eine andere »Ansicht« zu haben. So passierte es, dass die Fortschritte der Sozialmoral, die zweifelsfrei im 20. Jahrhundert erzielt worden waren, angegriffen und konterkariert wurden. Und zwar einfach dadurch, dass jemand beschlossen hat, nun anders darüber zu sprechen.

Auch das hat Richard Rorty schon vor 20 Jahren so vorhergesehen. Er schrieb damals:

»Eines dürfte sehr wahrscheinlich geschehen: Die Fortschritte der schwarzen und braunen Amerikaner und der Homosexuellen in den letzten vierzig Jahren würden weggefegt. Man würde wieder witzelnd verächtlich über Frauen reden. Die Wörter ›Nigger‹ und ›Itzig‹ würden wieder am Arbeitsplatz zu hören sein. Der ganze Sadismus, den die akademische Linke für ihre Studenten unannehmbar machen wollte, würde zurückfluten. Die ganzen Ressentiments, die Amerikaner mit schlechter Schulbildung dagegen haben, daß ihnen die Akademiker gute Sitten vorschreiben wollen, würden ein Ventil finden.«18

Nun ist Trumps Erfolg aber nicht allein darauf zurückzuführen, dass die Demokraten unter Hillary Clinton mit ihren Verweisen auf die Sozialmoral im neuen Konstruktionswettbewerb politischer Erzählungen untergingen, auch nicht nur darauf, dass sie versagten, die »soziale Frage« zu stellen und vergaßen, sich über »Wirtschaft« Gedanken zu machen (ein anderer Clinton gewann so bekanntlich einmal eine Wahl), und realistische Antworten auf die Migration aus Südamerika zu geben, sondern auch darauf, dass von ihnen ein Habitus der moralischen Überlegenheit versprüht wurde. Wieder war hier der Tenor: Man muss doch nur anders denken. Und wer es nicht oder noch nicht tut, der ist eben verkehrt drauf.

Man denke hier nur an die Aussage von Hillary Clinton, dass die Hälfte der Trumpwähler ein »Haufen von Erbärmlichen« (»basket of deplorables«) sei. In diesem Statement kam eine ganze Haltung zum Ausdruck, die liberale Akademiker im Zuge der Kulturalisierung der Linken gewonnen hatten. Ihre Antwort auf Trump war – und ist es oft noch – eine moralische Antwort. Sie können, um bei der Begrifflichkeit von Richard Rorty zu bleiben, ihn lediglich für seinen »Sadismus« kritisieren, für seine Art und Weise zu reden. Sie blieben – und bleiben oft noch – in einer Wertedebatte gefangen. Das ist zwar nicht völlig falsch, aber eben zu wenig. Menschen schlicht und einfach aufzufordern, »anders« zu denken, ist zu wenig. So lässt sich nicht mit Wut umgehen, lassen sich Konflikte nicht lösen, Probleme nicht adressieren und Herausforderungen nicht meistern. Wer sich nur noch in Rhetorik verliert, vergisst, dass die Welt durch Handlung verändert wird. Man mag sagen: Sprechen ist Handeln, Sprache verändert doch die Welt. Ändert sich das »Framing«, ändern sich die – realistischen – Handlungsoptionen. Aber so viel lässt sich selbst dann sagen, wenn man so denkt: Hillary Clintons Framing funktionierte nicht.

Vor allem trug die postmoderne Identitätspolitik aber dazu bei, dass Trumps Taktik der Ressentiments aufging. Sie trug dazu bei, dass der letzte Präsidentschaftswahlkampf eben von Identitätsfragen geprägt war.

So passierte es, dass jene »Elite«, die Trump im Wahlkampf kritisierte, und jener Sumpf, den er hatte trockenlegen wollen, sich nicht direkt aus den wirtschaftlichen Kosmopoliten, sondern den kulturellen Kosmopoliten zusammensetzte. Seine Elitenkritik richtete sich im Kern gegen die postmodernistischen Akademiker, die in Harvard oder bei der New York Times sitzen (zumindest aus Trumps Sicht) und ihre schönen Essays schreiben. Er suggerierte den Menschen im Rust Belt und im Mittleren Westen der USA dann, dass linken Intellektuellen und linken Aktivisten Heimat, Werte und Traditionen unwichtig seien und sie sie doch nur bevormunden und am Ende eigentlich verächtlich betrachten würden. Das berührte diese Menschen in ihrer Identität. Denn sie sind stolze Amerikaner. Sie sind stolz auf ihr Land. Doch die eigentliche Kritik an der Elite, die sie oft vertreten haben und noch vertreten – ohne sich dessen immer bewusst zu sein – war eine sozio-ökonomische Kritik. Sie fühlten sich vernachlässigt und vergessen. Während an den Küsten von New York und San Francisco tendenziell ein höherer Wohlstand herrscht – auch wenn es hier eklatante Schwankungen gibt –, hatte man an vielen Orten der USA, insbesondere im Landesinneren, das Gefühl, dass man vor allem ökonomisch abgehängt worden sei und dass das Versprechen des »amerikanischen Traums« nur noch eine leere Hülse sei. Die Hillbilly-Elegie des Autors J.D. Vance19 oder das Buch »Fremd in ihrem Land« von der Soziologin Arlie Hochschild20 illustrieren dieses Gefühl von Vergessenheit und Unverstandenheit nicht nur im ökonomischen, sondern auch im identitären Sinne perfekt – so wie es zuvor bereits das Werk »Rückkehr nach Reims«21 in Frankreich getan hat.

Egal, ob man zur Erklärung des Aufkommens von Unzufriedenheit und Populismus der »Kulturalisierungsthese« folgt und entsprechend annimmt, dass der liberale Kulturkosmopolitismus eine Antithese zum Rechtspopulismus bildet, und dieser liberale Kulturkosmopolitismus scheinbar zum Teil eine reaktionäre Wende der Konservativen und ein Aufkommen heftiger Strategiedebatten im linken Lager provoziert hat, oder ob man der »Globalisierungsverliererthese« zustimmt, die besagt, dass der Linkspopulismus ebenso wie der Rechtspopulismus eine Antwort auf die egalitären Versäumnisse der letzten 30 Jahren ist – im Populismus äußern sich Elitenkritik und Protest gegen das, »was ist«. Populismus deutet auf »Herrschaftskonflikte« (Cornelia Koppetsch) hin.22 Ein »doppelter Liberalismus« kultureller wie ökonomischer Provenienz, wie die Soziologin Cornelia Koppetsch schreibt, sei zur herrschenden Ideologie geworden.23 Da aber die »kulturell hegemoniale Gruppe der Kosmopoliten blind für die soziokulturelle Standortgebundenheit und die Machtdimension ihrer gefühlten selbstverständlichen Ansichten«24 sei, komme es in der Gegenbewegung zu einer »Koalition der Deklassierten«.25

Im Grunde genommen, so glaube ich, ist eine ökonomisch zentrierte Antwort auf diese neuen Herrschaftskonflikte die richtige, allerdings verbunden mit einem neuen Sicherheitsgefühl. Sicherheit betrifft nicht nur »ökonomische Sicherheit«, sondern auch »soziale Sicherheit«, »Klimasicherheit«, »innere Sicherheit«, »Heimatsicherheit«. Sicherheit ist das Thema der Stunde. Nur über die Sicherheit bringt man die gespaltenen Gesellschaften des Westens wieder zusammen. Aber, und das ist der Kernpunkt, wer diese Sicherheit nicht zu allererst als eine Notwendigkeit zur Rückkehr sozio-ökonomischer Konflikte identifiziert und das bewusst annimmt, der wird zusehen müssen, wie die politischen Verhältnisse innerhalb der etablierten Industrienationen des Westens zunehmend chaotischer werden und die politische Stimmung gereizter und hässlicher wird. Jetzt ist also Zeit für mehr politische Ökonomie. Das gilt auch für die immer wieder ins Feld geführte »Mitte« der Gesellschaft. Der Bezug auf die Mitte sollte nicht als Ausrede dafür dienen, materielle Politik zu unterlassen (nach dem Motto: Die Mitte ist doch zufrieden), sondern gerade die Mitte ließe sich mit materieller Politik, wenn auch eher Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, erreichen, während die »Deklassierten« eine neue Sozialpolitik brauchen und auf eine bessere Bildungspolitik angewiesen wären.

Hätte Hillary Clinton etwa in ihrem Wahlkampf eine sozioökonomische Kritik übernommen, beispielsweise so, wie Bernie Sanders sie Wahlkampf 2015/2016 formulierte, und wäre ihr für ihre Wirtschaftspolitik mehr eingefallen als Ich-mag-die-Wall-Street, hätte sie einen identitätspolitischen Konflikt stärker vermieden und dazu beigetragen, dass viele Menschen begriffen hätten, welche Elitenkritik sie eigentlich meinen und was sie eigentlich wollen.

Es lag aber auch ein politisches wie intellektuelles Unvermögen von Hillary Clinton darin, nicht erkennen zu können, dass in dem neuen Protektionismus Trumps wiederum selbst eine Form der Kritik an einer wirtschaftlichen Praxis zutage trat. Mithilfe dieser Form der sozioökonomischen Agenda konnte Trump viele Arbeiter und Frustrierte der Mitte an sich ziehen, indem er sagte: Ich werde mich jetzt mit China und dem Rest der Welt anlegen, damit wieder mehr Jobs verfügbar sind und Löhne steigen. Für Trump ist die Handelspolitik sein zentrales ökonomisches Programm. Auf diese Weise sprengte er auch die klassische linke Umverteilungsagenda und umging ebenso die keynesianische Wirtschaftspolitik. Gerade aber, weil diese linke Umverteilungsagenda und keynesianische Wirtschaftspolitik nicht von Clinton ausgingen und ihre Wertedebatten alles überstrahlten und ihr Bild im Diskurs prägten, konnte Trump mit seiner primär identitätspolitischen Agenda Amerikaner erreichen, die früher einst Kernklientel der Demokraten gewesen waren.

Es überrascht nicht, dass Trump mit seiner Steuerreform und seinen Deregulierungspaketen harten Neoliberalismus betrieben hat. Nur war dies weniger eine internationalistische Form von Neoliberalismus, sondern eher eine nationale Form davon – auch und gerade in der Rhetorik. Trump musste sich noch nicht einmal mit den »internationalen Superreichen arrangieren«, so wie Richard Rorty vermutet hatte, was ein »starker Mann« tun würde, wenn er an die Macht käme.26 Denn Trump ist ja selbst ein Superreicher. Seine ganze Elitenkritik und sein Spiel mit der Kritik am Neoliberalismus waren also nie klassisch links einzuordnen. Nein, er hat vielmehr eine Form eines autoritären Wirtschaftsliberalismus erfunden, der zugleich unter eigentlich linken Wählern punkten kann, weil er diese Botschaft in sich trägt: Das Ziel ist, dass wir als Nation gewinnen und die anderen verlieren. »America first« eben.

»America first« ist links, liberal, konservativ. Es steckt alles drin. Es kommt nur darauf an, was davon man herausnimmt. Allerdings werden ökonomische Fragen innerhalb dieses »America first« oft mit Identitätsfragen vermischt – Handelspolitik hat so etwa stets den Unterton »Wir gegen die Anderen«. Trumpismus ist zwar auch ökonomisch. Aber vor allem selbst ein Sammelsurium an Identitätspolitiken.

Welche Auswirkungen hatte der Trumpismus? Die »Wiederkehr des Sadismus«, wie Rorty schrieb, würde die »Auswirkungen des Egoismus« nicht ändern.27 Er hat Recht behalten. Vielmehr: Trump hat den Egoismus gesteigert. In doppelter Weise: Er hat den nationalen Egoismus gesteigert und er hat mehr Neid und Missgunst zwischen den Amerikanern geschaffen. Spaltung, Neid und tief greifendes Lager-Denken sind Ergebnisse dieses Trumpismus. Das verändert auch politische Debatten.

Ich möchte ein Beispiel aus Deutschland anführen, um zu illustrieren, wie so etwas funktionieren kann und welche Folgen es hat.

Ende Oktober 2018 gab es in Deutschland eine »Debatte« – schlimm genug, dass überhaupt über so etwas debattiert wird – darüber, dass die junge muslimische Berliner SPD-Staatssekretärin Sawsan Chebli eine Uhr der Marke Rolex besitzt. Darüber entflammte eine Neid-Debatte, in der die Krise der SPD gespiegelt werden sollte. Eigentlich ging es um die Frage »Darf sie das oder nicht?«. Bei der FDP hätte es keinen gejuckt. Bei der SPD ist es zumindest ein Thema – wie einst die Brioni-Anzüge von Gerhard Schröder.

In der Sache selbst ist es aber eigentlich banal. Die Rolex kann man dadurch legitimieren, dass Chebli es als Kind sehr schwer hatte, und sie ihren sozialen Aufstieg nun auch mit Statussymbolen untermauert. So what. Keine große Sache. Sofern es mal bei einer Uhr bleibt, und man daran denkt, dass andere es schlechter haben und es besser haben sollen, ist nicht viel dabei. Sozialdemokraten sind keine Sozialisten. Aufstieg darf sich auch lohnen. Dem Facharbeiter beim Daimler, der sich selbst einen Mercedes gönnt, wirft man das auch nicht vor. Sofern »Das man sich verdient« nicht in einen radikal libertären Wirtschaftsliberalismus umschwenkt, der von Regulierung, fairen Löhnen und Umverteilung gar nichts mehr wissen will, soll sich Leistung bitte auszahlen. Das ist in vielerlei Hinsicht sozialdemokratisch.

Das Problem beginnt damit, und da haben viele Kulturlinke am Ende natürlich Recht, dass Sozial-Neid bei dieser Debatte nun mit Ressentiments verwischt werden kann, beispielsweise durch den Gedanken: Diese Muslima hat das nicht verdient. Oder: Was erlaubt die sich eigentlich? Chebli hat in dieser Debatte schnell ihren Facebook-Account deaktiviert. Man will sich nicht ausmalen, welche Art von Kommentaren in dieser »Debatte« an sie adressiert wurden. Die Deaktivierung mag übertrieben sein und wiederum selbst nützlich, um eine neue Schlagzeile zu schaffen – Frau Chebli ist ja kein mediales Kind von Traurigkeit. Dennoch darf man annehmen, dass sie im momentanen gesellschaftlichen Klima Kommentare weit unter der Gürtellinie lesen muss. Sicher ging es darin oft um sie als Muslima.

Der Rechtspopulismus hat diese Art von Ebenenvermischung befördert. Schnell landet man dann von ökonomischen Fragen bei ethnischen oder religiösen Deutungen. Trumps Amerika zeigt das in Extremform. Identitäten werden immer wichtiger in Debatten und auch für Debatten. Denn, polemisch gefragt: Hätte es die Chebli-Debatte gegeben, wenn die SPD-Politikerin Lisa Müller hieße? Spezielle Identitäten und Identitätsfragen – auch, und gerade in, Abgrenzung zu anderen – werden wichtiger. Mittlerweile fühlen sich NRW-Ministerpräsidenten bemüßigt in großen deutschen Wochenzeitungen zu satirischen Kinderliedern Stellung zu nehmen. Armin Laschet äußerte sich in einem Gastbeitrag in der »Zeit«28 zu der #Umweltsau-Debatte um ein mehr oder weniger verunglücktes Lied des Kinderchors des WDR. Dieses Lied hielt Twitter tagelang auf Trab, und führte letztlich zu Morddrohungen – ein verdammtes Kinderlied. So etwas bilden heute schon »Debatten«. Und solche Debatten werden – nicht nur bei Twitter – gefühlt bald wöchentlich durch die öffentliche Manege getrieben. Interessant in diesen Debatten ist dann nur, wer welche Seite einnimmt – was man in der Regel allerdings schon vorher weiß, und nach Parteibüchern bestimmen kann.

Identitätspolitik als solche befördert Identitätsdebatten und auch Identitätskonflikte. Und das ist ein Fehler, weil sich die meisten Bürger eben als normale Bürger, als Durchschnitt, als Otto Normalverbraucher sehen. Der normale Bürger will nicht immer über Identitäten reden. Er will über Materielles reden. Die politische Elite – vor allem die linke – tut sich also keinen Gefallen damit, sich derart von Identitätsfragen einnehmen zu lassen.

Und deswegen ist es so bedauerlich, dass die Kulturlinke nicht sieht, dass sie sich mit ihrem expressiven und demonstrativ lauten Dagegenhalten gegen die Rechten auch oft selbst schadet und generell die Weltbilddiskussionen zum Kerngespräch der Gesellschaft macht. Ignorieren und nicht über jedes Stöckchen springen wäre da manchmal schlicht vernünftiger. Denn damit kommt Hitze aus dem Kulturkampf, den wir ohnehin schon haben.

Demonstrative und laute Weltbilddiskussionen in der Wiederholungsschleife kommen den »Rechten« sogar zugute und verhindern sie nicht. Besser ist hier allerdings von »Rechtsradikalen« und »Rechtspopulisten« zu sprechen, denn »rechts« zu sein ist erlaubt, demokratisch legitim und ein CDU-Rechter ist in der Regel natürlich ein anständiger Demokrat. Der Kulturkampf dieser Tage wird hauptsächlich zwischen Linken und (Links-)liberalen und den ganz Rechten ausgetragen – am auffälligsten ist hier in Deutschland eine neue Polarisierung zwischen Grünen und AfD, die im Kern anhand der Polarisierung liberal/illiberal und offen/geschlossen geht. Die CDU-Konservativen stehen in diesem Kulturkampf oft dazwischen, ebenso wie »linke Realisten«.

Aber der neue Kulturkonflikt geht eigentlich durch alle Parteien. In der FDP finden sich mit Christian Lindner und Oliver Luksic zwei prominente Kritiker von zu viel Identitätspolitik, während Konstantin Kuhle und andere wiederum in jenem (links-)liberalen Sinn – fast so wie die Grünen – agieren. In der CDU gibt es mit Daniel Günther einen nahezu (links-)liberalen Ministerpräsidenten und mit Ruprecht Polenz jemanden, der manchmal genau so redet wie ein Kommentator der linken »Taz«. Aber in der CDU gibt es auch einen Hans-Georg Maaßen und einen Carsten Linnemann. Das ist also weder »eine« CDU noch »eine« FDP. In der SPD ist es ähnlich. Dort gibt es Kevin Kühnert und viele Jusos, Katarina Barley, Lars Klingbeil, Ralf Stegner, Saskia Esken, die sich zwar in dem Ausmaß ihres sozio-ökonomischen Linksseins unterscheiden, aber nicht in ihrem Verständnis ihres gesellschaftspolitischen (Links-)Liberalismus. Auf der anderen Seite gibt es in der SPD Sigmar Gabriel, Rainer Sontowski, Heinz Buschkowsky, Franziska Giffey, Sören Link und auch mich selbst (da ich Sozialdemokrat bin), die in der Gesellschaftspolitik für weniger Identitätspolitik und für mehr Realitätssinn sind. In der Linkspartei zieht sich der gleiche Konflikt durch. Dort gibt es Katja Kipping auf der einen Seite und Sahra Wagenknecht auf der anderen Seite. Einzig die Grünen sind »ideologisch« geschlossen – nimmt man Boris Palmer und auch Winfried Kretschmann (ihn zumindest so halb) einmal aus. Und die AfD ist weitgehend geschlossen – auch wenn »Ideologie« hier eine Ideologie ist, die in vielen Fällen nicht mehr sonderlich demokratisch genannt werden kann. Der kulturelle Konflikt dieser Tage ist also ein gesamtgesellschaftlicher. Er durchzieht so gut wie alle Parteien. Darum ist er auch nicht nur ein Problem für die politische Linke, aber er wird rein elektoral für Parteien wie die SPD oder die Linkspartei zu einem großen Problem – während die Grünen davon sogar profitieren. Und es ist exakt diese politikstrategische Unfähigkeit innerhalb der SPD und der Linkspartei, nämlich nicht zu verstehen, dass alle drei »linken« Parteien – wenn man die Grünen überhaupt dazu zählt – gerade mehr oder weniger eine Überdominanz einer Spielart eines gesellschaftspolitischen Liberalismus aufweisen und dies nicht für alle gut ist. Für die Grünen geht das gut aus. Für die SPD und die Linkspartei eher nicht.

Zumindest eine »realistische« linke Partei braucht man in Deutschland. Die Linkspartei hätte dies durch den Einfluss von der Sammlungsbewegung »Aufstehen« werden können. Das ist vorerst gescheitert, sodass es nun eigentlich die SPD sein muss, die eine strategische Realismuswendevollziehen muss, auch um elektoral zu überleben – und wofür ich selbst seit mehr als zwei Jahren werbe. Die politische Linke in Deutschland erreicht weder eine rechnerische noch eine gesellschaftliche Mehrheit für »R2G« (Rot-Rot-Grün), wenn sie selbst nicht zu strategischem Pluralismus fähig ist, wenn sie nach ähnlichen Wählermilieus schielt, wenn sie habituell kaum zu unterscheiden ist, wenn sie (hier SPD und Linkspartei) die Grünen dürftig nachahmen und durch ihr Kopieren nur eine Hegemonie stärken, aufgrund derer sie letztlich selbst so schlecht da stehen.

Auch wenn Kevin Kühnert und Saskia Esken es natürlich nicht wahrhaben wollen, aber eine SPD, die im diffusen Niemandsland zwischen der Nachahmung der Grünen in der Gesellschaftspolitik und Umweltpolitik und der Linkspartei in sozio-ökonomischen Fragen steht, wird elektoral wegsterben, genauso wie eine Mitte-SPD wegsterben würde, die gesellschaftspolitisch übertrieben liberal ist und ökonomisch eine halbneoliberale Partei ist. Die SPD muss lernen, wieder sie »selbst« werden zu wollen. Sie hat, und hier trifft das Wort »Identität« zu, eine »Identitätskrise«. Und ich bin im festen Glauben, dass einzig und allein ein »linker Realismus«29 der SPD sowohl aus ihrer »Identitätskrise« hilft als auch sie elektoral wieder stabilisiert. Und das hat einen Grund: Der »linke Realismus« ist etwas Neues – etwas »sui generis« und nicht einfach nur eine Strategie.

Nach der für die britische Labour-Partei verlorenen Wahl in Großbritannien, schrieb der Zeit-Journalist Robert Pausch in einem Kommentar, dass vier programmatische Strategien der Sozialdemokratie zuletzt gescheitert seien: